Der unheimliche Mönch

  • Auch Sarah wurde heute vom Gynäkologen untersucht, aber der Heilungsverlauf war eigentlich ganz zufriedenstellend. „Warum bin ich denn immer noch so schwach und mein Kreislauf macht nicht immer mit?“ fragte sie ganz verzagt, aber der Doktor beruhigte sie: „Frau Jäger, sie hatten einen massiven Blutverlust. Ihr Körper arbeitet zwar auf Hochtouren, aber er wird einfach noch eine Weile brauchen, bis er das Defizit aufgeholt hat und durch das Stillen dauert es vielleicht nochmals ein wenig länger, aber das ist egal-sie tun für ihr Kind dadurch einfach das Beste. Früher hätten sie eine Bluttransfusion bekommen, aber heute versucht man das zu vermeiden, um das Immunsystem nicht zu verwirren. Wir werden ihnen weiter Eisen geben und bitte viel trinken, ruhen und gut essen, damit sie wieder zu Kräften kommen und das Knochenmark die Blutbildung vorantreibt. Heute kontrollieren wir nochmals die Blutwerte, aber ich gehe eigentlich davon aus, dass die sich schon verbessert haben!“ sagte er sachlich und trotzdem brach Sarah jetzt in Tränen aus. Sie wusste überhaupt nicht wie ihr geschah, aber eine tiefe Traurigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Der Gynäkologe reichte ihr wortlos ein Taschentuch und sagte: „Das sind jetzt auch ein wenig die Hormone-im Wochenbett ist die Gemütslage einfach sehr wechselhaft!“ versuchte er sie zu beruhigen, aber Sarah schluchzte nur noch lauter. „Meinem Mann geht es sehr schlecht, der musste heute Nacht nochmals notoperiert werden!“ presste sie unter Tränen heraus und der Arzt, der davon noch nichts gewusst hatte, sagte betroffen: „Das tut mir leid, aber er ist bei uns doch bei meinen Kollegen in den besten Händen, sie wissen doch welch hohen medizinischen Standard wir hier im Haus haben!“ versuchte er sie zu beruhigen, aber Sarah weinte nun: „Da bin ich mir gar nicht mehr so sicher!“
    In diesem Moment klopfte die Hebamme kurz an der Tür, trat dann ein und bat den Gynäkologen in den Kreißsaal zu einer Neuaufnahme. Sie selber nahm Sarah danach wortlos in die Arme, strich ihr, die jetzt bitterlich weinte, tröstend über die Haare und brachte sie in ihr Zimmer zurück. „Du wirst sehen-es wird alles gut werden und deine Kleine ist ein richtiger Wonneproppen und wird mal bildhübsch, wie die Mama!“ versuchte sie sie aufzumuntern, aber Sarah verkroch sich jetzt unter ihrer Decke und heulte weiter. „Ach immer dieser Babyblues!“ murmelte die Frau, während sie ihrer weiteren Arbeit nachging und Sarah versuchte, sich wieder zu fassen, damit sie zu Ben konnte, aber gerade war ihr alles zu viel.


    Semir fühlte sich wieder ein wenig besser. Man hatte ihm eine Glukoselösung angehängt, denn er durfte immer noch nichts essen und nur schluckweise Wasser trinken und so waren zwar durch das CPAP die Blutgase besser geworden, aber dafür der Zuckerspiegel abgesunken. Tatsächlich fühlte er sich bald ein wenig kräftiger und nachdem die betreuende Schwester ihm gesagt hatte, dass er ruhig sitzen sollte, denn die Lunge wurde da besser belüftet als im Liegen, bat er darum, seine Kabel so anzubringen, dass sie bis zum Nachbarbett reichten und saß dann wenig später auf einem bequemen Stuhl bei seinem Freund, dem es richtig dreckig ging. Trotz fiebersenkender Medikamente, Katecholaminen und Infusionen fühlte sich Ben massiv schlecht. Er bekam immer wieder etwas gegen die Schmerzen, das half auch und machte ihn benommen, aber sein Organismus kämpfte-unterstützt von den Antibiotika, die man alle sechs Stunden anhängte- vehement gegen die Sepsis. Einen Augenblick war ihm warm, um im nächsten wieder zu frieren. Seine Hände fühlten sich dick und unförmig an, denn da staute sich das Wasser, während es im Kreislaufsystem in den Gefäßen fehlte. Allerdings konnte man einfach nichts tun, außer Flüssigkeit zu geben, um die Organversorgung zu gewährleisten. Mittags kam der Chefarzt nochmals zu seinem Sorgenpatienten-jetzt würden alle aufpassen, dass ihnen nicht nochmals ein Fehler unterlief und sie etwas übersahen, aber die Problematik war immer noch dieselbe und so entschied der Doktor, dass Ben anstatt der Arterie im Arm nun doch einen Piccokatheter in der Leiste bekommen sollte, wo man durch raffinierte Computerberechnungen dann feststellen konnte, wann der Flüssigkeitsbedarf ausgeglichen war, was man ansonsten nur mit dem Versuch-Irrtum herausfinden konnte und wenn das Wasser zu viel wurde, drohte eine Atemproblematik, wenn die Lunge voller Wasser lief.

    Der Stationsarzt und die Schwester mit dem Eingriffswagen kamen dann auch gleich und weil man sah, wie gut die Anwesenheit seines Freundes dem Patienten tat, ließ man ihn einfach am Bett sitzen. Semirs Werte waren jetzt ganz ok und der hielt Ben´s Hand, während man dessen Leiste erst betastete, dann rasierte und schließlich abstrich und steril abdeckte. Der grün vermummte Arzt erklärte: „Herr Jäger, das wird jetzt ein wenig pieken. Ich punktiere nun ihre Femoralisarterie und schiebe dann ein Schläuchlein vor und nähe es fest!“ und kaum hatte er es angekündigt, stach es auch schon. Ben, der schon Mühe hatte, weil man für diesen Eingriff das Bett so flach gestellt hatte und er jetzt schlechter Luft bekam, sagte zwar keinen Pieps, aber Semir merkte, wie er sich an seiner Hand festklammerte, denn das war mehr als unangenehm, als der Arzt mehrmals unter Tasten die Stichrichtung änderte, bis er endlich die Arterie getroffen hatte und das Blut pulsierend durch die Punktionsnadel herausschoss. Schnell schob man einen sogenannten Seldingerdraht durch die Nadel in das große Blutgefäß, entfernte die Punktionskanüle, fädelte den Piccokatheter über den Draht auf und nähte ihn fest, was Ben dazu brachte, nochmals die Stirn zu runzeln und seinen Griff um Semir´s Hand zu verstärken. „Ich hätte ihnen jetzt auch eine Lokalanästhesie spritzen können, aber das wären auch mindestens drei Stiche gewesen!“ erklärte der Arzt entschuldigend, aber Ben wusste jetzt auch nicht was besser war-allerdings war er schon sehr froh, als endlich ein Pflaster auf der Einstichstelle klebte und das Messsystem aufgebaut war. Nachdem der Arzt verschiedenste Daten in den PC eingegeben hatte, spritze er mehrfach 20ml eiskalte Kochsalzlösung in den ZVK, wo man ebenfalls einen Temperatursensor angebracht hatte und aus der Verteilungskurve, wann die minimale Temperatursenkung in der Leistenarterie ankam, errechnete der Computer allerlei Werte und nachdem der Arzt die anhand einer Tabelle interpretiert hatte, kam man zu dem Schluss, dass Ben noch mehr Flüssigkeit brauchte, die man auch gleich anhängte. Die Arterie am Unterarm wurde dann wenigstens gezogen und Semir bekam die Aufgabe, da eine Weile einige Kompressen fest auf die Einstichstelle zu drücken, damit das nicht nachblutete. Voller Sorge betrachtete er seinen Freund, der nun zwar wieder mit leicht erhöhtem Oberkörper, aber dennoch schwer atmend in seinen Kissen lag. Hoffentlich riss der das Ruder bald herum, denn Semir hatte die Blicke des Arztes und der Schwester sehr wohl bemerkt und die sahen nicht zufrieden aus.

  • Es wurde Mittag. Sarah zwang sich etwas zu essen, obwohl ihr der Appetit eigentlich vergangen war, aber die Worte des Arztes hallten in ihren Ohren und außerdem musste sie zu Kräften kommen, denn ihre Kinder brauchten sie-vor allem wenn….sie getraute sich den Gedanken gar nicht zu Ende zu denken, aber ihre momentane Stimmung gab ihr das ein. Ben hatte schon so oft in seinem Leben so verdammtes Glück gehabt, dass er gerade noch so davon gekommen war-vielleicht war dieser Topf jetzt ausgeschöpft und eine höhere Macht hatte beschlossen, dass es das gewesen war? Nach dem Essen stillte sie und schleppte sich dann mühsam wieder auf die Intensiv.

    Semir machte inzwischen wieder Atemgymnastik und lag in seinem Bett, aber er erzählte ihr-ein wenig undeutlich mit der Maske auf der Nase-dass er den halben Vormittag an Ben´s Bett gewacht hatte, der jetzt mühsam atmend und hoch fiebrig in seinen Kissen lag. Sarah küsste sanft die schweissfeuchte Stirn und Ben sah sie kurz an, um dann die Augen wieder zu schließen. Er war in einem Zwischenreich zwischen Wachen und Träumen und immer wieder schossen ihm Sequenzen der letzten Tage durch den Kopf, von der dramatischen Geburt im Keller, von seinen Verhandlungen mit den Entführern und wieder und wieder endete der Wachtraum mit dem furchtbaren Schmerz, der ihn durchfahren hatte, als er an das Gitter gefasst hatte. Dann schreckte er wieder hoch, sah Semir neben sich sitzen, dann wieder einen Arzt oder eine Schwester, die sich über ihn beugten, ihn untersuchten, oder frisch machten und dann war Sarah da und eigentlich sollte jetzt alles gut sein. Er war im Krankenhaus, beiden Kindern ging es gut, aber er bemerkte wohl, wie blass und angegriffen seine Frau war. Außerdem hatte sie geweint, wie er sehen konnte. War das wegen ihm? Oder war doch etwas mit Mia-Sophie oder Tim? Mühsam krächzte er, obwohl ihm die Luft eigentlich zum Sprechen fehlte, denn es war schon anstrengend genug zu atmen und er merkte auch, dass er hoch Fieber hatte: „Die Kinder-ist was mit den Kindern?“ aber Sarah schüttelte den Kopf und sagte beruhigend: „Alles ok, die beiden sind wohlauf!“ Dann fragte er: „Und was ist mit dir, warum hast du geweint?“ und nun konnte Sarah sich fast nicht mehr beherrschen, denn schon wieder funkelten ihre Augen verdächtig. „Mit mir ist auch alles o.k.-ich war heute schon bei der Untersuchung beim Gynäkologen, es ist soweit in Ordnung, ich brauche nur noch ein bisschen Kraft und darf auch noch im Krankenhaus bleiben!“ teilte sie ihm mit und tatsächlich-wenn sie sich jetzt vorstellte in ihrem Zustand alleine ohne Ben´s Unterstützung mit den beiden Kindern zuhause zu sein, dann war das ein Ding der Unmöglichkeit und nun begann sie tatsächlich wieder zu weinen, obwohl sie doch Ben nicht beunruhigen wollte und barg ihren Kopf an seiner Brust. Er fasste mit dem halbwegs unverletzen Arm, an dem nur die Handfläche noch verbunden war nach oben und strich ihr sanft durchs Haar. „Es tut mir leid!“ flüsterte er dann und nun hob Sarah verständnislos den Kopf. „Was tut dir leid?“ fragte sie, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich ein wenig zu fassen. „Dass ich hier so hilflos daliege und dich nicht unterstützen kann, wie es meine Aufgabe als Mann und Papa wäre!“ versuchte Ben seine Gedanken in Worte zu fassen und rang dann wieder nach Luft, zu sehr hatten ihn die Worte angestrengt. „Ach du Quatschkopf!“ sagte Sarah nun heftig und zugleich gerührt. „Um das geht es doch nicht-du musst das nur überleben und wieder nach Hause kommen, dann ist Alles gut!“ und Ben sagte nun mit letzter Kraft, bevor ihm die Augen vor Erschöpfung wieder zufielen: „Ich arbeite dran!“ und dem war nichts mehr hinzu zu fügen.

    Sarah ging dann auch bald wieder auf ihr Zimmer zurück und als Hildegard wenig später mit Tim kam, der ein neues Spielzeug stolz mit sich trug und das der Mama gebührend vorführen musste, wurde sie auch von der getröstet. „Ach je, Kindchen, spielen die Hormone ein wenig verrückt?“ sagte Hildegard mitleidig und schloss Sarah, die sie als Ziehtochter betrachtete, mütterlich in die Arme und die ließ sich jetzt eine Weile gehen und weinte bitterlich, so lange, bis Tim ebenfalls zu heulen begann, weil er überhaupt nicht kapierte, was mit der Mama los war. Nun riss sich Sarah allerdings zusammen, nahm ihren Sohn hoch und versuchte ihm kindgerecht zu erklären, was los war, aber Hildegard übernahm das nun. „Tim-die Mama hat ein Aua-darum hat sie geweint!“ und das konnte der Knirps verstehen und beruhigte sich schnell. Nun wurde die Mama in die Funktionsweise des Spielzeugs eingeweiht und Hildegard erzählte ihr auch, wo er das her hatte. „Wir waren gemeinsam im Dachboden und da war noch ein Karton aus der Kindheit meiner eigenen Tochter und da haben wir so allerlei tolle Dinge gefunden. Tim ist sehr beschäftigt damit, das zu sortieren und ist total brav dabei!“ erzählte sieund Sarah hörte aufmerksam zu. Als sich Hildegard und Tim eine Weile später verabschiedeten, nicht ohne dass Tim zuvor seine kleine Schwester noch ganz wichtig im Arm gehalten hatte, pustete ihr kleiner Sohn Sarah an und brabbelte dann. „Aua wieder gut?“ und jetzt musste Sarah sozusagen unter Tränen lachen, drückte ihn an sich und sagte mit fester Stimme: „Ja Tim-Mamas Aua ist jetzt wieder gut, du hast es heile gemacht!“ und so zog der kleine Mann mit siegessicherem Lächeln an der Hand seiner Ersatzoma wieder ab.


    Bei Ben wurden nun die Blutgase immer schlechter, er begann zu übersäuern und man schnallte ihm nun ebenfalls eine Atemmaske auf die Nase. Allerdings funktionierte das so nicht, denn Ben´s Nase war verstopft, vermutlich hatte er sich im Keller zusätzlich noch erkältet und so ersetzte man die angenehmere Nasenmaske bald mit einer Maske, die Mund und Nase umschloss und um den Kopf straff festgeschnallt wurde, was Ben ein wenig Platzangst bescherte. Allerdings merkte er, dass er dadurch besser Luft bekam und als sich dann noch Semir neben ihn setzte und beruhigend seine Hand hielt, konnte er es aushalten-schließlich musste er sich mit dem Gesundwerden beeilen-seine Familie brauchte ihn!

  • Trotz aller Anstrengung verschlechterte sich Ben´s Zustand und als Sarah wieder auf der Intensiv erschien, lag Semir wieder in seinem Bett und mehrere Ärzte standen um den jungen Polizisten herum. Gerade hatte die Schwester erneut ein Blutgas abgenommen und wenn das nicht besser als das Vorherige war, dann musste man handeln. Sarah schlich regelrecht an Ben´s Seite, der sie kaum mehr erkannte, so hoch war das Fieber. Sie sah auf die Werte am Monitor, konstatierte wie schlecht es um ihn stand, griff dann hilflos nach seiner Hand und wartete ängstlich auf die Entscheidung des Chefarztes. Sie hatte auch einen Blick auf die kleine Beatmungsmaschine geworfen, die mittels der Maske Ben beim Atmen half, aber da war der Sauerstoff bereits auf 90% hoch gedreht und die Drücke waren so hoch, dass die komprimierte Luft teilweise seitlich neben der eng verschnallten Maske heraus pfiff, ohne dass Ben´s Sauerstoffsättigung über 85% hinausging.
    Endlich betrat ihre Kollegin den Raum und reichte wortlos dem Chefarzt den Zettel, den das Blutgasgerät ausgespuckt hatte. Seine Miene wurde ernst, als er die Werte betrachtete und dann sagte er entschlossen: „Es macht keinen Sinn mehr, so weiter zu machen-wir intubieren und dann kommt er gleich auf den Bauch!“ und alle Anwesenden nickten. Ben der schon mitkriegte, dass es um ihn ging, aber da zu erschöpft und krank war, alles was um ihn herum geschah, zu ermessen, suchte Sarah´s Blick, deren Augen schon wieder verdächtig zu glänzen begannen. „Es wird Alles gut mein Schatz!“ versicherte sie ihm, aber man konnte deutlich die Panik in ihrer Stimme hören.


    „Frau Jäger-ich denke es ist besser, sie verlassen den Raum!“ sagte der Chefarzt mit Autorität in der Stimme, aber Sarah packte Ben´s Hand fester und schüttelte den Kopf. „Ich gehe-aber erst wenn er schläft!“ sagte sie und straffte ihren Rücken und der Stationsarzt der seine Sarah ja viel besser kannte als der Chef, musste insgeheim ein wenig schmunzeln. Dem war die Reaktion des Personals nicht entgangen und so ließ er sich auf den Kompromiss ein und nickte. „Meinetwegen!“ sagte er schroff.
    „Schatz-du darfst jetzt wieder ein bisschen schlafen und wenn du aufwachst, geht es dir sicher schon besser. Ich bleibe bei dir, du musst keine Angst haben!“ sagte Sarah voller Liebe und so konnte Ben nun aushalten, was um ihn herum geschah und er schloss nur noch die Augen, während die Gerätschaften aufgebaut wurden. Semir verfolgte ängstlich, was mit seinem Freund gemacht wurde und er dankte Gott, dass Sarah genau im richtigen Moment aufgetaucht war. Er hätte sie sonst rufen lassen, aber vermutlich wäre sie zu spät gekommen und der Chefarzt hätte sicher nicht erlaubt, dass er als Mitpatient-auch wenn er der beste Freund war- nahe bei Ben wäre und dem die Angst nahm. Der Notfallwagen wurde herein gefahren, routiniert bereiteten Sarah´s Kollegen den Tubus, die Medikamente, die große Beatmungsmaschine und die Lagerungskissen für die Bauchlage vor. Der Monitor wurde laut gestellt, so dass das schnelle Piepen von Ben´s Herzschlag den Raum erfüllte, man nahm alle Schienen und Kissen aus dem Bett, ließ das Kopfteil aber hoch, denn er hätte es nicht geschafft zu atmen, wenn man das Bett flach gestellt hätte. So würde der Stationsarzt in halb sitzend intubieren, was eine Standardnarkoseeinleitung bei nicht nüchternen Patienten war, was man jetzt zwar bei Ben nicht behaupten konnte, dessen Magen nun schon seit vielen Tagen leer war, aber er hatte so viel Flüssigkeit in sich, dass der Organismus sich sozusagen selber die Luft abschnürte und er dadurch nur noch eine geringe Atemoberfläche hatte. Trotz alledem war so eine geplante Intubation, die keine absolute Notfallindikation hatte, für den Patienten sicherer und manchmal war es einfach wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Anscheinend waren die Sepsis und die Peritonitis bei Ben nun erst so richtig aufgeflammt, aber das hatte man vorher ja nicht wissen können, sonst hätte man ihn nach der OP gar nicht extubiert. Würde man nun allerdings zu lange warten, würde er sich erschöpfen und manchmal kam es dann in dem Moment, wo man die Atemmaske weg nahm zu einem dermaßen starken Einbruch, dass die Patienten in diesem Augenblick an Herz-Kreislaufversagen verstarben. Um dem vorzubeugen intubierte man jetzt rechtzeitig und die Bauchlage diente dazu, Areale der Lunge dem Gasaustausch zur Verfügung zu stellen, die ansonsten lagebedingt nicht zur Verfügung standen.


    Alles war bereit und auch die Sedierungsperfusoren hingen. Das Muskelrelaxans war aufgezogen und jetzt nickte der Chefarzt. Der Stationsarzt trat hinter Ben´s Bettkopfende, entfernte dort zunächst das Bettbrett und ließ sich ein Treppchen geben, damit er gut rankam. „Herr Jäger-sie dürfen jetzt ein wenig schlafen, haben sie keine Angst!“ sagte er begütigend und Sarah hielt die Hand ihres geliebten Mannes nun ganz fest und versuchte ihm so Kraft und Zuversicht zu signalisieren. Was jetzt gemacht wurde geschah zu seinem Besten, das war klar und sie würde ihm beistehen, solange er bei Bewusstsein war und dann draußen warten. Man hatte das CPAP-Gerät auf 100% gestellt, um wenigstens ein wenig Sauerstoffüberschuss im Körper zu haben, aber trotzdem musste es schnell gehen, denn Ben hatte keine Reserven mehr. Ben fixierte nun mit müden Augen seine Sarah und als er den Opiatbolus bekam, wurde ihm zwar schon ein wenig komisch im Kopf, aber er war noch bei Bewusstsein. Als dann allerdings das Propofol in ihm anflutete, kapitulierte er und glitt in die ersehnte Narkose, in der er keine Angst, keine Mühe und keine Schmerzen mehr spürte. Noch als das Muskelrelaxans gespritzt wurde, verließ Sarah weisungsgemäß den Raum-jetzt bekam Ben nichts mehr mit und ihre Mission war damit erfüllt.
    Sie fühlte sich wie ausgehöhlt und ein älterer Kollege, der heute Spätdienst hatte, trat draußen zu ihr, legte den Arm um sie und führte sie ins Stationszimmer. „Na komm-setz dich und trink erst mal ein Tässchen Tee, du weisst, dass wir alles tun, damit deinem Mann bestmöglich geholfen wird!“ sagte er begütigend und Sarah nickte stumm. Sie umklammerte ihre Teetasse und nippte immer wieder daran. Ihr war jetzt selber so kalt und sie fühlte sich so unendlich leer. Konnte dieser Alptraum nicht bald ein Ende haben?


    Im Zimmer wurde Ben derweil-sorgenvoll von Semir beobachtet-intubiert, man fixierte nach der Lagekontrolle den Tubus, schloss die große Beatmungsmaschine, die der Chefarzt mit viel Know How voreingestellt hatte an und dann fassten alle mit an, um ihn nach einem bestimmten Schema auf den Bauch zu drehen. Der Stationsarzt hielt den Tubus fest und sicherte den ZVK. Man zog Ben erst an eine Bettseite und drehte ihn dann unter Zuhilfenahme der Bettunterlage komplett auf den Bauch. Unter den Oberkörper kam ein breites Lagerungskissen, die Arme wurden nach oben ausgestreckt und nun unterlegte man überall, wo es Druckstellen geben könnte, kleine Polster. Der Kopf kam in einen Gelring, so dass Augen und Nase hohl lagen und endlich waren die beiden Ärzte und die Schwestern zufrieden. Man hatte zwar das Arterenol wegen der Sedierung wieder steigern müssen, aber die Sättigung war schon im Ansteigen begriffen-er profitierte also von der Bauchlage. Die EKG-Elektroden hatte man vor dem Drehen auf der Brust entfernt, die kamen jetzt auf den Rücken und bald konnte man problemlos den Sauerstoff reduzieren. Man spielte noch ein bisschen mit der Dosierung der Katecholamine, konnte auch wieder Flüssigkeit geben, was die letzte Piccomessung angezeigt hatte, was aber ohne Intubation nicht möglich gewesen wäre und jetzt legte man nur noch ein kleines Tüchlein auf Ben´s Po, der ansonsten ganz nackt war und holte dann Sarah wieder herein, die sich still neben ihren Mann setzte und ihn selbstvergessen streichelte. „Du musst kämpfen Ben-du hast es mir versprochen!“ flüsterte sie leise und Semir im Nebenbett zog es vor Mitleid fast das Herz zusammen. „Das wird er, Sarah, da bin ich mir ganz sicher!“ tröstete er sie mit undeutlicher Stimme, um sich dann wieder voll auf seine eigene Atemgymnastik zu konzentrieren.

  • Die Intubation und die Bauchlage waren die richtige Entscheidung gewesen. Ben´s Blutgase besserten sich und als Andrea am frühen Abend-erst da hatte sie eine Betreuung für die Mädchen organisieren können-zu Besuch kam, erschrak sie zwar, ihren Freund erneut intubiert vor zu finden, aber Semir, der gerade wieder ohne Atemhilfe, nur mit Sauerstoff, vor seinem Bett auf einem Stuhl saß, erklärte ihr, dass es zu seinem Besten gewesen war. Auch bei Semir ging es anscheinend aufwärts, was man an der Tatsache erkennen konnte, dass er zum Abendessen heute bereits Suppe und Toastbrot bekommen hatte. „Weisst du Andrea-ich stelle mir das schrecklich vor, wenn die dir erklären, dass du jetzt intubiert wirst und du kriegst die Vorbereitungen mit und musst dir die ganze Zeit denken: „Vielleicht sind das die letzten bewussten Momente meines Lebens!“ sagte er nachdenklich und seine Frau stimmte ihm zu. In der Tat war das eine gruselige Vorstellung, aber vor einer Narkoseeinleitung wusste man das ja auch nicht, ob man aus der wieder aufwachte, obwohl einem die Ärzte versicherten, dass das alles Routine und völlig ungefährlich sei. Und trotzdem las man immer wieder von Zwischenfällen, von Wachkoma und anderen Katastrophen, auch wenn die meisten Narkosen harmlos waren, aber Garantie gab es eben keine.
    Wenn man allerdings bedachte, dass die Wahrscheinlichkeit, wenn man in ein Auto stieg ziemlich hoch zu bewerten war, dass man einen Unfall, vielleicht sogar mit schwerwiegenden Folgen oder gar mit Todesfolge erlitt, dann relativierte sich das Risiko wieder, aber weil Auto fahren eben so normal und alltäglich war, verdrängte man das einfach und ging davon aus, dass einem schon nichts passieren würde. Dabei war gerade Semir ja schon ziemlich oft verunglückt, allerdings meistens mit harmlosen Folgen, allerdings eben nicht immer und Andrea hatte schon voller Bangen an seinem Bett gewacht, als er nach einem Autounfall, den er und Ben nach einer Verfolgungsfahrt erlitten hatten, beatmet gewesen war und man schwerste Kopfverletzungen nicht hatte ausschließen können. Auch Tom hatte schon voller Angst an Semir´s Bett gesessen und dann war er selber vor wenigen Jahren ermordet worden, wie schon einige andere Partner vor und nach ihm. Ihr Beruf war einfach riskant und manchmal hatte Andrea das Gefühl, das nicht ertragen zu können-nie zu wissen, ob der Partner am Abend noch neben einem im Bett liegen würde, aber dann wieder konnte sie sich ein Leben ganz alleine oder an der Seite eines anderen Mannes auch nicht vorstellen. Jetzt hier und heute war Andrea einfach froh, dass es Semir besser ging und Ben tat ihr zwar furchtbar leid und natürlich auch Sarah, die jetzt massive Sorgen hatte, aber ein wenig war sie einfach froh, dass es nicht Semir war, der in kritischem Zustand auf dem Bauch an allen möglichen Maschinen hing und in akuter Lebensgefahr schwebte.


    Sarah hatte sich wieder ein wenig gefangen und war ziemlich bald nach Ben´s Intubation und Versorgung wieder zurück in ihr Zimmer gegangen. Sie musste sich jetzt einfach ablenken, ein wenig lesen oder fernsehen, damit sie nicht vor Sorgen verrückt wurde. Ben war so tief sediert, der merkte gerade nicht, ob sie neben ihm saß oder nicht und außerdem war ja Semir auch noch da, der auf Ben aufpasste und ihr Bescheid geben würde, wenn er sich verschlechterte. So versuchte Sarah sich jetzt so gut es ging zu erholen, damit sie neue Kraft hatte, wenn Ben so weit war, dass man ihn extubieren konnte und dann alle Fürsorge brauchte, die er kriegen konnte.


    So verging die Nacht, Ben stabilisierte sich, auch weil man ihm ausreichend Flüssigkeit zukommen lassen konnte und als am nächsten Morgen der Physiotherapeut kam, sagte er kopfschüttelnd, obwohl Ben ja fast mit Sicherheit nichts davon mitbekam, aber er wollte auch Semir ein wenig aufheitern, mit dem er im Anschluss noch spezielle Atemgymnastik machen sollte: „Also Herr Jäger-sie probieren doch Alles, damit sie nicht mit mir turnen müssen!“ und er entlockte Semir damit tatsächlich ein Schmunzeln. Trotz Bauchlage bewegte der Krankengymnast Ben minimal soweit möglich durch, gerade den beiden verbrannten Händen zollte er große Aufmerksamkeit und beendete seine Arbeit mit einer sicher wohltuenden Rückenmassage. Dann wandte er sich Semir zu, dem die Anleitungen und Erklärungen zur richtigen und tiefen Atmung ebenfalls gut taten und als die Unfallchirurgen später bei Ben noch die Drainagen am Fuß zogen und soweit in Bauchlage möglich die Feuchtverbände erneuerten, war Semir das erste Mal froh, dass sein Freund das nicht spürte, sondern weiter tief sediert vor sich hin schlief.

  • Weil die Sepsis bei Ben ja weiter bestand, obwohl schon eine gewisse Besserung eingetreten war, kam er gleich mittags wieder in den OP. Kurz zuvor drehte man ihn zurück auf den Rücken und Semir erschauerte, als er sah, wie entstellt sein Freund gerade aussah. Da er ziemlich viel Flüssigkeit in sich hatte und die der Schwerkraft folgte, waren seine Augen beide zugeschwollen, manche Körperstellen waren gerötet, aber Gott sei Dank war die Haut noch überall intakt. Diesmal war schon ein viel größerer Aufwand nötig, um ihn in den OP zu fahren, denn immerhin liefen noch hoch dosiert kreislaufstützende Medikamente, er hatte immer noch einen hohen Volumenbedarf und viele Kabel und Schläuche mussten mit. Semir bewunderte die Ärzte und Schwestern ein wenig, wie die da erstens den Überblick behielten und zweitens auch völlig gelassen mit den ganzen Gerätschaften hantierten, obwohl da ständig etwas pfiff oder piepte.


    Nach einer guten Stunde kam Ben zurück und Semir und Sarah, die gerade wieder von der Entbindungsstation hoch gekommen war, erfuhren vom operierenden Chirurgen, der ein wenig später vorbei sah: „Es war zwar gut, dass wir nochmals gespült haben, denn der scharfe Magensaft hat noch zu einigen kleineren Nekrosen im Bauch geführt, die wir entfernt haben, aber die Peritonitis ist nicht weiter fortgeschritten, wir mussten auch nur ein kleines Stückchen weiter aufmachen und hoffen, dass übermorgen, wenn die nächste Spülung ansteht, die Entzündung weiter abgeklungen ist!“ erklärte er und Sarah nickte, strich ihrem immer noch ziemlich entstellten Mann übers strähnige Haar und sagte: „Ich bin fast froh, dass er sich so nicht sehen kann. Auch wenn er es nicht zugibt, ist Ben doch ein wenig eitel und wäre zu Tode betrübt, wenn man ihm jetzt einen Spiegel vorhalten würde!“ und dazu konnte Semir, dem es auch besser ging, nur nicken.


    Danach kam der Intensivarzt und sagte: „Wir haben gerade den Befund der Bakteriologie bekommen und können jetzt eine ganz gezielte Antibiose geben, weil wir nun die Keime kennen, die in seinem Bauch herum schwappen und das Antibiogramm uns auch gesagt hat, wogegen die sensibel sind. Wir beginnen sofort mit der neuen Therapie und dann bin ich gespannt, ob sich sein Zustand nicht bald verbessert!“ hoffte er und versprach Sarah, die allerdings bald wieder zum Erholen auf die Wochenstation zurück ging, auch noch, ihn auf jeden Fall bis zur nächsten OP intubiert zu lassen. Zwei verschiedene intravenöse Antibiosen wurden angehängt, die Dosierung hatte man anhand Gewicht, Körperoberfläche und Nierenwerten ausgerechnet und siehe da-wenige Stunden später begann Ben sich zu stabilisieren. Die Piccomessung ergab erstmalig, dass er keine weitere Flüssigkeit mehr brauchte, was bewies, dass der Körper es jetzt schaffte, das Wasser im Gefäßsystem zu halten und es nicht ins umliegende Gewebe zu verschieben. Anscheinend schloss sich jetzt die Zellmembran und als dann langsam das Wasser aus dem Gewebe in die Gefäße zurück floss, konnten die Nieren es ausscheiden und jetzt kamen die Schwestern fast nicht nach, mit großen Behältern den Urinbeutel zu leeren, denn manche Stunde schied Ben über einen Liter aus und gleichzeitig konnte man das Noradrenalin reduzieren.


    Man hatte Ben nach der Spülung in ein sogenanntes Rotationsbett gelegt und so konnte man den Druck auf sein Gewebe immer wieder durch kleine seitliche Kippbewegungen verändern und auch als er zur Nacht wieder auf den Bauch gedreht wurde, was einfach gut für die Lunge war, profitierte er von den Druckentlastungen, so dass er am nächsten Morgen nach dem Drehen schon viel besser aussah, als am Vortag.
    Sarah hatte die Unterlagen studiert und sagte: „Wahnsinn-er war fast 20 Liter im Plus, hat also de facto 20 kg mehr gewogen, aber jetzt ist er beinahe wieder bei seinem Ausgangsgewicht angelangt.“
    Die Unfallchirurgen konnten nun ebenfalls beginnen-eben weil das Gewebe jetzt abgeschwollen und nicht mehr ödematös war-die Hautränder an Arm und Bein mittels der Signalfäden einander anzunähern und erneut war Semir froh, dass Ben dazu noch schlafen durfte. Trotzdem reduzierte man jetzt die Sedierung ein wenig, damit er wacher wurde und seine Atemmuskulatur trainierte. Die Beatmungsdrücke konnten verringert werden und als Semir-der inzwischen schon wieder alleine herumlaufen konnte, wenn man ihn von seinen Kabeln befreite-an das Bett seines Freundes trat und den anfasste und ansprach, flatterten seine Augenlider und er sah seinen Freund für einen kurzen Augenblick verständnislos an, bevor sie ihm wieder zufielen, aber Semir musste trotzdem lächeln-immerhin war Ben nicht mehr ganz so weit weg! Als Andrea ihm nachmittags eine Zeitung brachte, las er Ben Sachen, die den interessieren könnten, laut vor und hatte den Eindruck, dass er zumindest seiner Stimme lauschte. Ob er natürlich vom Inhalt etwas mitbekam, konnte er nicht sagen, aber letztendlich war das auch egal.

    Diese Nacht machte man keine Bauchlage mehr und als der Silberschwamm erneut im OP gewechselt wurde, konnte man das Abdomen bis auf einen kleinen Spalt verschließen. „Im Bauch hat es sauber ausgesehen, ich denke in zwei bis drei Tagen können wir die VAC-Therapie beenden, aber es spricht nichts dagegen, ihn ab sofort aufwachen zu lassen!“ beschlossen die Chirurgen und behandelnden Anästhesisten gemeinsam und Sarah, die ihr Tief überwunden hatte, nun nicht mehr depressiv war und sich auch körperlich besser fühlte, lächelte. „Na Gott sei Dank-langsam beginne ich zu hoffen, dass wir alle miteinander doch noch irgendwann zurück in unser Haus können!“ sagte sie und Semir sah sie nun merkwürdig an. „Willst du wirklich zurück ins Haus und nicht lieber wenigstens vorübergehend in die Wohnung, nach allem, was ihr dort erlebt habt?“ fragte er zweifelnd, aber Sarah sagte mit fester Stimme: „Das Haus kann da schließlich nichts dazu, dass sich böse Menschen die Räumlichkeiten, die Stromquellen und verborgenen Gänge zu Nutzen gemacht haben, ich fühle mich wohl dort und hoffe, Ben denkt da genauso drüber!“ und als sie ihm jetzt einen Blick zuwarf, hatte er die Augen offen und fixierte sie. „Na also-wird doch!“ bemerkte Sarah zufrieden und langsam löste sich auch bei Semir die Anspannung.

  • Am nächsten Morgen reduzierte man wieder die Sedierung und Ben war jetzt soweit orientiert, dass er zwar ruhig an der Maschine atmete und keine Schmerzen hatte, aber einfache Aufforderungen durchaus befolgen konnte und als der Krankengymnast heute zu ihm kam, konnte er tatsächlich schon richtige Übungen mit seinem Patienten machen. „Na sehen sie Herr Jäger-jetzt geht es aufwärts!“ sagte der erfreut und als sich Ben bei der abschließenden Lymphdrainage sichtlich entspannte und das Bein und der Arm deutlich dünner wurden, als die Lymphe aus dem Gewebe abtransportiert wurde, war er mit seiner heutigen Arbeit zufrieden.
    Ein letztes Mal legte man Ben noch schlafen, als die Unfallchirurgen kamen und die Haut wieder ein Stück zusammen zurrten, das war eben der Vorteil der Beatmung-man gab einen Bolus Narkosemittel, der Patient war kurz weit weg und bekam von der schmerzhaften Behandlung nichts mit, die Maschine übernahm vorübergehend die Atemtätigkeit und als der Eingriff vorbei war, wurde er wieder ziemlich wach, allerdings nicht so, dass ihn der Tubus störte.


    Semir, der sich die Sache interessiert aus dem Nebenbett ansah-auch bei ihm wurden die Laborwerte und Blutgase besser-bemerkte schmunzelnd zu Sarah, die daraufhin in glockenhelles Lachen ausbrach: „Ja, ja-so hättet ihr uns Männer gerne! Gefügig-keine Widerworte und wenn wir uns wehren, gibts ein Schlafmittel, damit wir zu willenlosen Puppen werdet und ihr mit uns machen könnt, was ihr wollt!“ lästerte er, aber als Sarah aufgehört hatte zu lachen, sagte sie ernst: „Glaub mir Semir-wir Frauen wollen gar keine Marionetten, sondern Männer mit Ecken und Kanten mit denen man auch mal streiten kann, die aber vor allem das Eine sind-eine Persönlichkeit!“ und als Ben, der zwar Mühe gehabt hatte den Worten zu folgen und auch nicht alles verstanden hatte, nun den Daumen hob, denn mehr war leider nicht möglich, weil seine Hände festgebunden waren, da wussten sie, dass er über dem Berg war.


    Am nächsten Morgen wurde er ein letztes Mal in den OP gefahren, man inspizierte den Bauch nochmals und verschloss dann die Wunde mit stabilen Nähten.
    Wieder zurück auf der Station schaltete man die Sedierung komplett aus und ließ nur noch niedrig dosiert das Schmerzmittel mitlaufen und zwei Stunden später war es so weit! In Semir´s und Sarah´s Beisein wurde er extubiert und lag zwar hinterher noch eine ganze Weile ziemlich erschossen in seinen Kissen, aber dann wurde er immer wacher und wollte wissen, wie es seinen Kindern ging und wie lange er geschlafen hatte. „Ben-seit Mia-Sophie´s Geburt sind jetzt zehn Tage vergangen, es wird jetzt langsam Zeit, dass du so weit fit wirst, dass sie dich auf Normalstation legen können, damit du die Kleine und vor allem auch Tim, der ständig nach dem Papa fragt, endlich wiedersehen kannst!“ wies Sarah ihn an und er lächelte nun, während er auf Sarah´s Handy die neuesten Bilder und kurzen Filmchen von seinem Nachwuchs ansah.


    Man hatte die kreislaufstützenden Medikamente bei Ben schon länger ausschalten können und das einzige was jetzt noch fehlte war, dass er abführte. Nachdem alle mechanischen Mittel nichts halfen, hatte er einen harten Nachmittag, als man nun einen Neostigminperfusor anhängte und seine Eingeweide daraufhin Samba tanzten, aber letztendlich war das Ganze dann doch von Erfolg gekrönt und als Semir, dessen Arterie man schon entfernt hatte und der mit Andrea bereits über die Station laufen durfte, nach einer Weile das Zimmer betrat, lag Ben im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert in seinen Kissen, die Fenster waren gekippt und eine fürsorgliche Schwester hatte sogar Raumspray mit Rosenduft versprüht. Semir blieb in der Tür stehen und sagte scheinheilig: „Hmmm-nach was riechts denn da? Ach jetzt weiss ichs-nach Scheisse im Rosenbeet!“ und dann brach er in gackerndes Gelächter aus, in das Ben und Andrea befreit einstimmten.

  • Nachdem sein Arm und Bein jetzt auch ziemlich weit zugeheilt waren, tat die Behandlung der Chirurgen zwar weh, aber Ben wurde nicht mehr schlecht, wenn er hinsah und insgesamt verlief die Heilung sehr zufriedenstellend. So vergingen noch zwei weitere Tage, aber dann kam der große Tag der Verlegung auf die Normalstation. Sarah hatte das Zimmer schon hergerichtet, seine Zivilklamotten darin verteilt und Semir war direkt von Intensiv einen Tag vorher nach Hause entlassen worden, denn auf Normalstation herrschte Bettenmangel, aber das kam Semir gerade recht! Seine Mädels hatten sich unheimlich gefreut, als der Papa ohne Vorankündigung plötzlich mittags zuhause war, als sie von Schule und Kindergarten kamen und Andrea hatte auch erst gekuckt, denn Semir hatte das klammheimlich mit Hartmut ausgemacht, der ihn abgeholt und nach Hause gefahren hatte, denn Andrea musste wieder arbeiten und er wollte sie auf gar keinen Fall belasten.

    Hartmut war auch an Ben´s Bett getreten, der sich inzwischen ja auch wieder einigermaßen zurück unter den Lebenden fühlte, hatte dessen Hand gepackt, die der mit einem kräftigen Griff zurück umfasste und gesagt: „Hey du-ich freue mich, dass es dir wieder so halbwegs gut geht, aber bei aller Anstrengung-von diesem blöden unterirdischen Gang hatte ich vorher keinen Peil und ehrlich gesagt, habe ich da auch keine Verbindung hergestellt, als du von dem Stromverlust erzählt hast-ich dachte da eher an irgendwelche vorsintflutlichen Geräte, die da abzapfen was geht, bevor das Thema Energieeffizienz überhaupt in aller Munde war!“ beichtete er, aber Ben winkte ab. „Hör mal-das konnte ja keiner ahnen, was da unter unserem Grundstück so abging-wichtiger ist, dass wir das mit kaum Folgeschäden überlebt haben, vor allem dass es meinen Kindern gut geht. Bring du jetzt Semir heil nach Hause und glaub mir-wir werden deine Hilfe sicher noch mehr als einmal brauchen, denn so ein altes Haus bietet Betätigungsfelder auf Jahrzehnte!“ sagte er und Hartmut zog dann mit Semir, der sich zuvor noch herzlich von seinem Freund verabschiedet hatte, davon.


    Ben fieberte der Minute entgegen und als die Schwestern der Normalstation ihn endlich abholten und in sein Zimmer schoben, hielt es ihn kaum mehr aus. Er durfte zwar Wasser und Astronautenkost trinken, aber seine Energiebilanz wurde nach wie vor durch die Infusionen im Lot gehalten. Als er aber nun in seinem Einzelzimmer ankam, überall heimelig seine Privatsachen verteilt waren und wenig später Sarah freudestrahlend mit Mia-Sophie im Zimmer stand, nahm er ganz vorsichtig, aber innerlich strahlend vor Glück, seine Tochter in den Arm und lernte sie ein zweites Mal kennen. „Hallo Püppchen-ich bin dein Papa, auch wenn wir einen schweren Start hatten, aber ab jetzt haben wir alle Zeit der Welt uns kennen zu lernen!“ sagte er und seine Tochter sah ihn mit großen Augen, ohne zu weinen aufmerksam an. Ben barg sie in seinem Arm, der zwar noch feucht verbunden war, aber wunderbar heilte und Tränen stiegen in seine Augen. „Sarah-danke für diese wundervolle Tochter!“ sagte er voller Emotionen und seine Frau schmiegte sich jetzt an ihn und konnte ihren Gefühlen ebenfalls keinen Einhalt mehr gebieten. „War sie das Ganze wert?“ fragte sie sinnend und Ben musterte sein Kind und seine Frau mit einem Blick voller Liebe. „Auf jeden Fall!“ sagte er voller Überzeugung. „Was soll eigentlich die Frage?“
    ENDE

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