Der Finne - Das ewige Lied des Nordens

  • Diese Geschichte ist der erste Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:



    1.Fall: -
    2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
    5.Fall: Blackout
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: Vertrauen
    8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
    9. Fall: Kalter Abschied

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    Ein Mann hastete durch den Nebel. Er musste seine Kollegen finden, ihnen berichten, was er gesehen hatte. Sein Herz raste und hämmerte wie ein wilder Kolibri gegen seinen Brustkorb. Verzweifelt versuchte er die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen. Er musste klar denken, wenn er hier wieder rauskommen wollte! Verdammt, er hatte sich immer auf seinen Verstand verlassen können, warum schaltete er sich ausgerechnet in diesem Augenblick aus?
    Dann tauchte eine Silhouette vor ihm im Nebel auf, brachte seinen Körper dazu sich zu beruhigen. Er war gerettet. Sie hatten ihn rechtzeitig gefunden! Doch er hatte sich getäuscht. Seine Rettung sollte sein Untergang sein. Die Gestalt hob den Arm und richtete eine Waffe auf ihn. Es war zwei Uhr, als Schüsse den finnischen Nebel durchbohrten.


    1.500 km südlich
    „Ben!“, schimpfte Semir laut und schüttelte seinen jüngeren Partner unsanft an der Schulter. „Mach die Augen wieder auf!“ Der Angesprochene rieb sich verschlafen die Augen. „Ist ja gut, ist ja gut … ich bin ja schon wach. Man wird sich jawohl um zwei Uhr in der Nacht eine Pause gönnen können!“, murrte er. „Jaja und ich soll die ganze Arbeit für dich machen oder was?“ Ben lehnte sich in seinen Sitz zurück und lächelte. „Da würde ich nicht Nein sagen.“ Semir warf seinem Nebenmann einen strengen Blick zu. Aufgebracht schüttelte er den Kopf. „Du warst derjenige, der diesen Fall unbedingt wollte, darf ich dich daran erinnern?“ Der Braunhaarige rümpfte die Nase. Langsam glaubt er, dass es ein verdammter Fehler war, sich mit dem Fall Seifert einzulassen. Seit knapp zwei Wochen beschattete das Team diesen Seifert, weil man glaubte er hätte Verbindungen zur Drogenszene, aber bisher tappten sie vollkommen im Dunkeln. Es war unmöglich Seifert irgendetwas anzuhängen. Der Typ war ein Phantom. Das Einzige was sie hatten war ein Hinweis von einem Informanten, der kurze Zeit später unter tragischen Umständen auf der Autobahn ums Leben gekommen war. Nicht einmal das hatten sie Seifert nachweisen können. Dieser Umstand war doch tatsächlich als ein normaler Unfall durchgegangen. Er sah gelangweilt auf die große Villa und merkte, wie die Müdigkeit ihn übermannte und er zurück in den Schlaf sank.


    Ben fand sich in einer Schulklasse wieder. Vor der Tafel stand eine blonde Frau, seine Lehrerin Frau Schmitz, daneben ein Junge. Seine schwarzen Haare standen wirr in alle Richtungen, seine blauen Augen waren auf den Boden gerichtet. Er wirkte, als wolle er gerade überall sein, nur nicht in diesem Raum. „Kinder, das ist Michael Hansen. Er hat gerade einige Klassen übersprungen…“, begann die Lehrerin und er stöhnte innerlich auf. Ein Streber hatte ihm gerade noch gefehlt. Seine Augen weiteten sich, als die Lehrerin auf den freien Stuhl neben ihm zeigte. „... Schau Michael dahinten ist noch ein Platz frei.“ „Aber Frau Schmitz hier sitzt doch Mark“, erwiderte der braunhaarige Junge schnell und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Sollte sie ihn doch vorne neben Anne-Marie setzen. Die würden prima zusammenpassen. „Ben. Ich denke, wir werden für Mark schon einen anderen Platz finden“, sagte Frau Schmitz mit einem breiten Lächeln, „setz dich ruhig hin Michael. Dann können wir gleich mit dem Unterricht beginnen. Der kleine schwarzhaarige Junge löste sich schüchtern von der Seite der Frau und setzte sich dann stillschweigend neben seinen neuen Tischnachbarn. Im nächsten Augenblick verdunkelte sich der Raum und rote Flammen stiegen durch das Fenster.


    „Nein! Renn weg!“ Schweißgebadet wurde Ben aus seinem Traum gerissen. Er schnappte hektisch nach Luft und begann erst langsam zu realisieren, wo er war. Im Auto, bei einer Observation. „Ben … ist alles in Ordnung?“, fragte Semir besorgt und der Angesprochene spürte, wie sein Partner seine Hand auf seine Schulter legte. Er nickte leicht, merkte aber, wie er weiterhin zitterte. „Ja … ich … es war nur ein Traum. Ein ziemlich abgedrehter Traum.“ Sein Nebenmann zog irritiert die Augenbraue hoch. „Erzähl, was für ein Traum? Muss ja schlimm gewesen sein, du hast geschrien, als würde es um Leben und Tod gehen.“ Ben lächelte gequält. „Es ist lange her und eigentlich … eigentlich will ich da jetzt auch nicht drüber reden.“ Er merkte, wie Semir erneut ansetzen wollte. „Wirklich Semir, ich will nicht darüber sprechen“, wiederholte er genervt und drehte den Kopf in Richtung Fenster. Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Der Traum hatte ihn aufgewühlt und es war mehr als schwer vor seinem Partner die Fassung zu bewahren. Er hörte, wie Semir noch ein paar Mal versuchte die Wahrheit aus ihm herauszulocken, dann jedoch schließlich aufgab, als Ben dazu übergegangen war überhaupt nicht mehr auf ihn zu reagieren und stattdessen gedankenverloren aus dem Fenster sah.


    *


    Ben war froh, als er endlich zu Hause in seinem Bett liegen konnte. Die letzten Stunden der Observation waren nicht nur wegen der Langeweile eine Qual gewesen, sondern auch weil ihn der Traum beschäftigte. Er hatte diesen Traum schon lange nicht mehr gehabt, geglaubt, dass er diesen Verlust endlich abgehakt hatte. „Vielleicht verfolgt er dich, weil du schon so lange sein Grab nicht mehr besucht hast?“, murmelte er sarkastisch zu sich selbst. Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie Michael wohl heute aussehen würde, ohne Erfolg. Das Gesicht seines toten Freundes begann vor seinem inneren Auge zu verblassen. Er seufzte und begab sich in sein Bett, schließlich musste er in paar Stunden wieder zum Dienst erscheinen und der hatte Schlaf bitter nötig.


    „Ben!“, schrie eine Jungenstimme, „komm her, schau dir das Mal an!“ Der Braunhaarige rannte in großen Schritten zu seinem Freund. Michael hielt ihm mit einem breiten Grinsen eine Kette entgegen. „Cool, oder? Hab ich gestern von meinem Papa bekommen. Er hat sie mir geschenkt, einfach so!“ Ben sah das Schmuckstück skeptisch an. „Ketten sind noch nur etwas für Frauen“, lachte er. Sein Gegenüber sah ihn traurig an. „Okay, naja … dann schenke diese doch einfach deiner Schwester“, sagte er leise und drückte ihm ein zweites Exemplar in die Hand. „Ich muss dann auch los. Wir sehen uns ja dann morgen zur Mathearbeit.“ Ben sah ihm hinterher. Es war seinem Freund anzusehen, dass er ihn durch seine Aussage verletzt hatte. „Michael! Komm, das war nicht so gemeint. Ich werde dir Kette morgen ganz sicher umhaben. Wir sind doch beste Freunde!“, schrie er in die Richtung, in der sein Freund verschwunden war. Sein Freund drehte sich um, doch urplötzlich schossen um sie herum Flammen aus dem Boden. Es wurde unglaublich heiß und er verlor Michael aus den Augen. „NEIN!!! Michael, warte!“


    „Michael!!“ Laut schreiend fuhr Ben aus seinem Albtraum hoch. Er zitterte, Angstschweiß lief sein Gesicht herunter. Sein Herz pochte rasend schnell gegen seinen Brustkorb, Tränen rannen über seine Wangen. Seine Hände hatte er fest in die Bettdecke gekrallt. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, jammerte er genervt. Warum zur Hölle jetzt! Warum wurde er diese Sache einfach nicht los! Es dauerte lange, bis er seine Atmung und seinen Körper wieder unter Kontrolle bekam. Er schüttelte einige Male energisch den Kopf, um die Bilder loszuwerden. „Es war nur ein Traum … ein dummer, naiver Traum!“, redete er sich immer und immer wieder ein und merkte, wie sein Körper langsam wieder zur Ruhe kam. Er schloss die Augen erneut, doch als die Bilder zurückkehrten, riss er sie wieder auf. Er würde heute Nacht wohl keinen Schlaf mehr finden. Mit einem lauten Seufzer hob er die Beine aus dem Bett und ging mit müden, schwerfälligen Schritten zu einer Kaffeemaschine, um sich eine Tasse zu brühen.


    Danach führte sein Weg zu seinem Nachtschränkchen. Er nahm seine Kette, die er fast täglich trug, in die linke Hand. Seine Finger glitten über den Anhänger und er spürte, wie sich Trauer und Wehmut an die Oberfläche kämpften. An sich war der Anhänger nicht wirklich besonders. Ein Oval, mit der Silhouette eines Mannes, vielleicht ein antiker Denker oder Herrscher – er hatte es nie wirklich nachgeschaut. Darunter ein kleines Viereck. Dennoch war sie für ihn mit vielen Erinnerungen verknüpft. Michael hatte sie ihm geschenkt. Es war die wichtigste Erinnerung an seinen Freund, die er hatte. Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie sich in den ersten Monaten nach ihrem ersten Treffen überhaupt nicht Grün waren. Er hatte für einen dämlichen Streber gehalten und ihn das nicht nur einmal spüren lassen. Doch alles hatte sich geändert, als er an einem Nachmittag seine kleine Schwester Julia vor irgendwelchen Schulschlägern beschützt hatte. Michael hatte dabei selbst einiges abbekommen, aber die Tatsache, dass er sich alleine sieben älteren Jungen entgegengestellt hatte, hatte ihn imponiert. Doch Michael war tot. Er war gemeinsam mit seinen Eltern in einem Brand gestorben. Ben war Polizist geworden - wegen ihm. Sie hatte diesen Traum zusammen gefasst, auch wenn er sich heute sicher war, dass sie ihn vielleicht nicht gemeinsam verfolgt hätten, wäre Michael nicht gestorben. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die Jahre nach dem Tod seines Freundes waren wirklich schlimm gewesen, aber inzwischen hatte er geglaubt, dass er darüber hinweg war. Eine Fehleinschätzung, wie sich jetzt herausstellte. Er konnte ihn einfach nicht vergessen. Er war immer noch ein Teil von ihm und würde es wohl immer bleiben.


    Er stöhnte auf und legte die Kette wieder auf das Schränkchen, als könnte er dadurch die trüben Gedanken in seinem Schädel vertreiben. Danach setzte er sich auf das Bett und starrte ins Leere, die Kaffeetasse mit seinen zittrigen Händen fest umgriffen. Als Michael gestorben war, war das seine erste Begegnung mit dem Tod gewesen und doch erinnerte er sich noch genau an die Beerdigung. Es hatte geregnet und an seinen feinen, schwarzen Schuhen hatte anschließend der Schlamm geklebt. Seit diesem Augenblick war Ben oft an dem Grab gewesen, manchmal mehrmals in der Woche, bis es schließlich immer mehr nachgelassen hatte. Sein letzter Besuch war nun über vier Monate her. Vielleicht sollte er morgen vorbeischauen. Eventuell würden dann diese Albträume endlich nachlassen? Ben stöhnte auf und stellte die Tasse auf dem Nachtschränkchen ab. Er musste dringend versuchen noch etwas Schlaf zu finden, sonst würde Semir sich bei seinem Anblick fürchterliche Sorgen machen.


    Ben erwachte nach nur wenigen Stunden unruhigem Schlaf erneut. Er wurde diesen Albtraum und die damit verbundenen Erinnerungen einfach nicht mehr los. Er stand auf, weil er wusste, dass er sicherlich eh keinen Schlaf mehr finden würde. Er stiefelte in die Küche und zwang sich etwas zu essen, obwohl er eigentlich keinen Hunger hatte. Danach saß er noch lange auf seinem Sofa und starrte die Wand gegenüber von ihm an, bis die Uhr endlich angab, dass es Zeit war loszufahren. Er zog sich seine Lederjacke über und griff nach den Autoschlüsseln, um zur Dienststelle aufzubrechen.

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  • Die Tatsache, dass er die Nacht nicht wirklich Schlaf gefunden hatte, blieb seinem Kollegen nicht verborgen. Semir musterte ihn mit besorgter Miene. „Du siehst ganz schön mitgenommen aus“, kommentierte er, als Ben in das Büro trat und sich auf seinem Platz niederließ. „Ich habe nur schlecht geschlafen, nichts Wildes. Ein Kaffee und ich bin wieder fit“, erwiderte Ben und setze ein falsches Lächeln auf. Was er jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, waren die Sorgen seines Kollegen. Semir nickte nachdenklich, schien ihm seine Geschichte aber nicht vollständig abzukaufen.


    „Susanne hat uns übrigens ein paar Informationen zu Seifert zusammengestellt, vielleicht gibt es ja irgendetwas, was uns weiterbringt.“ Er nickte und griff mit der rechten Hand nach der grünfarbenen Akte, die auf seinem Schreibtisch lag. Als er den Deckel aufschlug, fühlte er sich an als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Die Erde unter ihm fühlte sich nicht mehr fest und solide an, sondern wie von einem Erdbeben erschüttert. „Ben ist alles in Ordnung?“, wollte Semir wissen. Er nickte unsicher. „Ja … es ist nur … ich kenne diesen Mann“, murmelte er leise. „Wen? Andreas Hansen?“ „Ja“, antwortete er mit dünner Stimme. Vielleicht war das der Grund, warum er diesen Fall unbedingt haben wollte? Vielleicht lag es daran, dass er Seifert irgendwann schon einmal gesehen hatte in seiner Jugend? Etwas mit ihm verband? „Woher?“, ertönte Semirs Stimme erneut. „Ich und sein Sohn, wir waren Freunde … Michael … er hieß Michael. Sie, er ist bei einem Hausbrand gestorben, als ich 16 war … er war zwei Jahre jünger und …“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist eine alte Geschichte und wird uns nicht weiterbringen. Andreas Hansen ist tot, es gibt keinerlei Verbindung mehr zwischen ihm und Seifert.“


    Semir schien zu merken, dass da mehr war. „Ist dieser Michael der Grund, warum du seit gestern so nachdenklich bist?“ Ben überlegte einen Moment, ob er seinen Partner anlügen sollte, entschied sich dann aber zur Wahrheit. „Ja … wir waren ziemlich gute Freunde. Nichts konnte uns trennen“, seine Stimme wurde leiser, „naja, fast nichts. Der Tod hat es schließlich getan. Ich habe von ihm geträumt.“ „Vielleicht war es dein Unterbewusstsein, weil er mit Seifert zusammenhängt. Vielleicht hast du ihn dort mal gesehen oder so.“ „Vermutlich“, murmelte Ben und senkte den Blick wieder auf die Akte. „Da steht … ich meine … er war ne Größe im Drogengeschäft?“ Er sah verwirrt hoch und musterte seinen Partner. „Das kann nicht sein. Michaels Vater, also Andreas Hansen, er war … er hatte eine Baufirma, wie mein Vater.“ „Ben. Es tut mir leid, aber es ist bewiesen. Dein eigener Vater hat ihn dafür angezeigt damals.“ „M-mein Vater?“ „Ja, Konrad Jäger hat damals der Polizei einen Tipp gegeben. Es ist in den Akten vermerkt.“


    Ben sah seinen Kollegen ungläubig an. In seinem Gehirn tanzten die Gedanken und er konnte sie nicht zu fassen kriegen. Andreas Hansen war kriminell gewesen? Sein Vater hatte davon gewusst? Wie in Trance griff er nach seiner Jacke und stand auf. „Ich … Semir“, er schluckte. „Semir, ich werde bei meinem Vater vorbeifahren. Ich muss das jetzt wissen.“ „Ben, ich weiß nicht … vielleicht solltest du noch etwas warten, bis du dich beruhigt hast“, widersprach Semir sofort, doch er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich werde dort jetzt hinfahren und dann will ich, dass er mir die Wahrheit sagt!“


    „Du hast mich belogen, Papa!“ Diese fünf Worte waren es, die Ben zur Begrüßung sagte und dennoch schien Konrad Jäger sofort zu verstehen. Natürlich verstand er, Ben hatte ihm erst vor einer Woche davon erzählt, dass sie einen Fall hatten, wo sie nicht weiterkamen. Er war sogar so dumm und hatte den Namen ‚Sebastian Seifert‘ erwähnt. „Du hast das mit Andreas Hansen herausgefunden?“, sagte sein Vater schließlich. „Ja und ich will dafür eine Erklärung. Wieso hast du mir nie gesagt, wer dieser Mann wirklich war!?“ Der Körper des Jungkommissars zitterte und bebte vor Wut und Erregung. Er hatte geglaubt, dass er sich auf der Fahrt hierher beruhigt hatte, doch das war ein Trugschluss gewesen. Als er vor der Tür zur Villa seines Vaters gestanden hatte, war alles wieder hochgekommen. „Ben … du musst verstehen. Du warst doch noch ein Kind. Ich konnte dir doch solche Dinge nicht zumuten!“, verteidigte sich sein Vater. „Deshalb wolltest du nie, dass ich zu Michael gehe zum Spielen. Deshalb hast du immer versucht mich von ihm fernzuhalten!“ Konrad Jäger nickte schüchtern, als wäre er ein kleines Kind, was etwas Falsches gemacht hat. „Bitte Ben, ich wollte wirklich nur dein Bestes!“


    Ben fuhr sich mit den zittrigen Händen durch die Haare. „Es bringt eh nichts mehr. Michael ist tot … er lebt nicht mehr.“ Resigniert ließ er sich in einen der Sessel fallen, die im Eingangsbereich der Jäger-Villa standen. Er atmete einige Male tief durch und sah seinem Vater in die Augen. „Ich träume von ihm.“ „Michael?“ „Ja. Immer und immer wieder und sie enden immer gleich. Flammen schießen aus dem Boden und er kann nicht entkommen.“ Sein Vater trat näher und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nach seinem …“, Konrad Jäger stockte, „… Tod … da hattest du auch diese Träume. Ich bin mir sicher, sie gehen vorüber, Ben.“ Er nickte. „Vielleicht hast du Recht Papa. Es ist sicherlich nur der ganze Stress.“ Ben schloss für einen Augenblick die Augen und öffnete sie erst dann wieder, als sein Körper sich beruhigt hatte. „Ich vermisse ihn“, kam es nun mit dünner Stimme. „Das verstehe ich, ihr wart sehr gute Freunde.“ Ben wollte etwas erwidern, wurde jedoch von dem Klingeln seines Handys unterbrochen. Er fischte es aus der Tasche und als Semirs Name erschien, ging er ran. „Was gibt es?“ Die Worte seines Partners ließen ihn sofort hellhörig werden. „Ich muss los. Es gibt einen Mord.“ Er atmete ein letztes Mal tief durch, umarmte seinen Vater kurz zum Abschied und machte sich dann auf dem Weg zum Fundort der Leiche.


    Es hatte nicht länger als eine halbe Stunde gebraucht und Ben war am Tatort, einer Autobahnbrücke angekommen. Er gehörte zu den Letzten, die vor Ort eintrafen. Die Spurensicherung, der Tatortfotograf, er Notarzt, der Gerichtsmediziner und sogar die Schrankmann von der Staatsanwaltschaft waren schon da. Der Autobahnkommissar schlüpfte unter der Absperrung durch und begab sich mit schnellen Schritten in Richtung der Leiche. Als Semir ihn erblickte, sah er auf. „Der Mann ist regelrecht hingerichtet worden. Sieben Kugeln haben seinen Körper durchbohrt. Er hatte keine Chance.“ Ben kniete sich zu der Leiche runter und suchte in den Taschen nach einem Portemonnaie, das er schließlich neugierig öffnete. „Wer immer das war, er war sicher nicht gut zu sprechen auf unseren ...“ Er warf ein Blick auf den Personalausweis des Mannes, „... Herrn Meiers“. Er stutzte und sah zu Semir auf. „Meiers, das ist doch dieser Typ, der für Seifert gearbeitet hat!“, sagten beide gleichzeitig. „Na den kaufen wir uns! Komm Ben!“, sagte Semir voller Euphorie und ging schnellen Schrittes zum Auto. Ben folgte seinem älteren Kollegen und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Ob das wohl das Ende der wochenlangen Ermittlungen ist?, schoss Ben durch den Kopf. Doch da hatten die beiden Kommissare falsch gedacht. Noch zwei Wochen später versuchten sie irgendwie einen Hinweis darauf zu bekommen was Seifert mit der Sache zu tun hatte. Doch der hatte ein wasserdichtes Alibi. Zog sich immer und immer wieder aus der Schlinge. Nicht nur der Fall Seifert ging Ben in dieser Zeit nicht aus dem Kopf. Seine Albträume aus der Vergangenheit nahmen inzwischen zu und sorgten dafür, dass eine ruhige Nacht Mangelware wurde. Ben versuchte immer noch zu verstehen, warum die ganze Sache gerade jetzt hochkam. Es war Jahre her, er war damals noch ein Jugendlicher gewesen. Manchmal schien es ihm sogar in einem anderen Leben gewesen zu sein und dennoch ließ es ihm keine Ruhe mehr. Die Tatsache, dass Andreas Hansen offensichtlich ein Krimineller gewesen war, erleichterte es nicht besonders. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er nach der Arbeit zu dem Platz fuhr, wo damals die Villa von Hansen gestanden hatte. Heute stand dort eine kleine Tierhandlung. Er verbrachte Stunden damit auf den Eingang des Geschäfts zu blicken und in Erinnerungen zu schwelgen. All die schönen, unbeschwerten Stunden seiner Kindes- und Jugendzeit. Dem obligatorischen Schneemann bauen, Eishockeyspiele auf dem gefrorenen See auf dem Grundstück seines Vaters. Schneeballschlachten. Radrennen, bei denen Ben sich nicht nur einmal das Knie aufgerissen hatte. Einmal war er mit vollem Tempo in einem Baum gelandet. Er hatte zum Nähen ins Krankenhaus gemusst und für eine Nacht dort bleiben müssen. Er dachte daran, wie Michael immer und immer wieder versucht hatte ihm beim Lernen für Mathe zu helfen. Für ihn schien diese Spielerei mit Zahlen ein Kinderspiel gewesen zu sein, während er schon an den einfachsten Gleichungen verzweifelt war. Sie wollten zur Polizei - gemeinsam. Ob Michael wohl geahnt hatte, womit sein Vater wirklich sein Geld verdiente?
    Die Stimme seines Freundes hallte in seinem Kopf wieder.
    Er wird es nicht merken, wenn wir ein paar Äpfel stehlen!
    Sei kein Frosch Ben, es wird ein toller Spaß werden.
    Wir werden beste Freunde bleiben. Für immer!


    Ben musste sich eingestehen, dass ihn die Vergangenheit nicht mehr losließ.

  • Ben stöhnte und blätterte die Akte ‚Seifert‘, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, eine Seite weiter. Seit Wochen suchten sie nun nach dem einen kleinen Hinweis, hatten aber einfach keinen Erfolg. Er hatte sogar daran gedacht sich in den Laden einzuschleusen. Doch das Unternehmen stellte sich als unmöglich dar. Seifert soll ein Fuchs sein, der einen Polizisten schneller entlarvt als diesem lieb ist. Bens Blick fiel auf den leeren Platz vor sich. Semir hatte heute frei und war mit seiner Tochter im Zoo. „Der Glückliche“, entkam es Ben leise, „was würde ich für einen freien Tag tun. Dieser Fall raubt einem ja den letzten Nerv.“ Frustriert senkte der Kopf wieder und ging ein weiteres Mal die Informationen durch, die sie inzwischen hatten, obwohl er wusste, dass er nichts Neues entdecken würde.


    „Ben“, ertönte eine Stimme und er sah auf. Susanne stand in der Tür und trat nun herein. „Ich habe einen Kollegen aus Finnland am Apparat“, sie sah auf ihre Notiz, „ein Joshua Lehto.“ „Finnland?“, entkam es Ben überrascht.„Er meinte, dass ihr womöglich den gleichen Mann sucht.“ Er lächelte. Endlich schien sich die Sache in die Richtung zu wenden, die ihm gefiel. „Stell ihn durch, Susanne!“, antwortete er der blonden Sekretärin und wartete angespannt auf das Klingeln seines Telefons. Als dieses endlich ertönte, riss er den Hörer regelrecht von der Gabel. „Jäger hier!“, meldete er sich nervös. „Guten Tag, mein Name ist Lehto … ich arbeite in Helsinki für das…wie heißt das auf Deutsch… Drugs Directorate“, kam es mit brüchigem Deutsch vom anderen Ende der Leitung. „Drogendezernat“, antwortete Ben ihm und die Person am anderen Ende bedankte sie freundlich für seinen Hinweis. „Wir sind seit einigen Monaten an einem Drogenfall dran. Wir wissen nicht, wer die Männer im Background sind, aber wir haben eine Verbindung von dem Phantom zu einem Seifert nach Köln gefunden.“ Ben nickte. „Ja Seifert ist unser Fall … aber wir haben bisher nichts gegen den Mann in der Hand. Er ist uns einen Schritt voraus“, ließ er seinen finnischen Kollegen wissen und bemühte sich dabei so langsam und deutlich wie möglich zu sprechen. Der Mann am anderen Ende der Leitung schien zwar gut Deutsch zu können, aber er wollte es ihm dennoch nicht schwerer als nötig machen. Er hörte ein Stöhnen. „Nothing?“, hakte Lehto nach. „Nichts“, beteuerte er abermals. „Gut, gut … ich werde das meinem Chef mitteilen. Ich werde Sie informieren, wenn ich etwas Neues herausfinde, was vielleicht mit Seifert zusammenhängt.“ Sein Gegenüber hatte bereits aufgelegt, ehe Ben ihm ebenfalls seinen Dank ausrichten konnte. Ben sah das Telefon einige Minuten stumm an, dann schnappte er sich seine Jacke und fuhr mit dem Motorrad in Richtung Park. Er hatte das Gefühl, als könnte er auf der Wache auch nichts ausrichten. Manchmal packte ihn die Wut, dass er damals so energisch war und die Chefin so lange weichgeklopft hatte, bis sie den Fall anstelle des Drogendezernats übernehmen durften. Das hatte er nun davon. Sie saßen mehr im Büro, als das sie Streife fuhren!


    Als er am Park angekommen war, stellte er seine Maschine ab und schlenderte in Richtung des Teiches, der sich in etwa in der Mitte der Parkanlage befand. Er setzte sich auf eine der Bänke und starrte in die Leere. Warum nur konnten sie Seifert nicht schnappen? Was hatte er mit diesem finnischen ‚Phantom‘ zu tun? Was nur hatte das alles zu bedeuten? Irgendwie hatte er das Gefühl, als liefe alles in die verkehrte Richtung. Sie entfernten sich mehr von Seifert, als das sie ihm näher kamen. Dazu diese elenden Träume, die ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen ließen. Seine Konzentration war schon lange nicht mehr bei dem Fall. Wut stieg in ihm auf, wie eine Flutwelle. Er versuchte sich unter Kontrolle zu halten, doch es klappte einfach nicht mehr. „Fuck“, schrie Ben aus sich heraus ohne darüber nachzudenken, dass er sich mitten in der Kölner Öffentlichkeit befand.

    *

    Auch in der folgenden Nacht fand Ben keinen Schlaf. Das Ereignis aus seiner Jugend verfolgte ihn und trieb ihn immer tiefer in die Schlaflosigkeit. Inzwischen hatte er begonnen den Großteil der Nacht ruhelos vor dem Fester zu verbringen. Vermutlich war das auch der Grund, warum er es endlich schaffte auch einmal pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen und nun schon seit 15 Minuten über den Akten saß, mit der Hoffnung, dass die tiefe Eingebung doch noch kommen würde. „Morgen Partner“, begrüßte Semir ihn. Der Familienvater grinste über beide Ohren. „Das war ein echt toller Tag gestern. Wir waren erst im Zoo und danach …“ Er verstummte augenblicklich und sah mit Sorge auf seinen jungen Kollegen, der sich verschlafen die Augen massierte. „Ben? Sag Mal ist bei dir alles Okay. In letzter Zeit bist du total neben der Spur und …“ „Jaja Papa, es ist alles gut. Ich komme schon klar, mach dir keine Gedanken“, winkte Ben ab. Semir wollte erneut die Stimme erheben, doch als er sich einen wütenden Blick einfing verstummte er und widmete sich stattdessen wieder den Akten, wobei er immer wieder vorsichtig den Kopf hob und Ben mit Sorge betrachtete.


    „Jäger, Gerkhan in mein Büro!“, ertönte es durch die Diensträume der Autobahnpolizei. Die beiden Hauptkommissare sahen auf, tauschten vielsagende Blicke aus und standen schließlich auf, um dem Befehl von Kim Krüger Folge zu leisten. „Was haben wir den nun wieder angestellt?“, fragte Semir, während sie in Richtung des Büros ihrer Chefin gingen. „Naja einen Dienstwagen hast du ja sicher nicht geschrottet. Wir haben ja in den letzten Wochen höchstens 40 Kilometer Streife gefahren!“, kam es mit einem verstohlenen Grinsen von Ben. Bereits auf dem Weg zum Büro der Chefin merkten die beiden, dass diese sich bereits angeregt zu unterhalten schien. Auf den Stühlen saßen zwei Personen, die mit Frau Krüger fachsimpelten. „Kommen sie herein“, forderte Kim Krüger sie auf, als sie an der Tür angekommen waren und sichtlich unsicher schienen, ob sie das Gespräch einfach unterbrechen sollten. Als Ben und Semir das Büro betreten hatten, fuhr sie fort: „Das sind Lehto und Lindholm aus Finnland. Die Beiden werden sie ab heute im Fall Seifert unterstützen. Die Staatsanwaltschaft besteht darauf.“


    Ben musterte die beiden Kollegen. Sein Anrufer musste der jüngere der beiden Polizisten sein. Er war schlank, durchtrainiert. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab, die klaren blauen Augen strahlten Fröhlichkeit aus. Er war in seinem Alter oder nur geringfügig jünger. Der ältere Kommissar war hingegen schon an die 50, hatte bereits die ersten grauen Strähnen und wirkte, anders als Lehto, schon auf dem ersten Blick starrsinnig und eigen. Während Ben noch die beiden Kommissare musterte, hielt ihm der Jüngere bereits die Hand entgegen und lächelte. „Es ist schön Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Unser Gespräch hat ja nicht besonders lange gedauert.“ Ben erwiderte den Händedruck und lächelte nun ebenfalls. „Auf gute Zusammenarbeit.“


    Nach einer kurzen Begrüßung, berichtete ihnen Lindholm von ihren bisherigen Ergebnissen. Ben spielte mit seiner Tasse frischgebrühtem Kaffee, den ihnen Susanne vor wenigen Minuten gebracht hatte und lauschte jedem Wort des Finnen. „Wir sind seit einigen Monaten an unserem Phantom dran und waren drauf und dran einige Antworten zu bekommen. Wir haben einen Kollegen eingeschleust“, erzählte Lindholm und genehmigte sich einen Schluck Kaffee, ehe er mit starker und bestimmender Stimme fortfuhr: „Aber es scheint als sei ihm der Arbeitseifer dazwischen gekommen ...“ „… das kannst du so nicht behaupten!“, fuhr ihm Lehto dazwischen. Ben konnte die Anspannung im Raum regelrecht fühlen. Die Freundlichkeit in den Augen des jungen Finnen hatte sich inzwischen in Wut gewandelt. Lehto schien den Kollegen also gut zu kennen, der dort eingeschleust wurde. „Mikael hat … er hat…“ Die Stimme von Joshua Lehto versagte und Lindholm übernahm wieder das Wort: „Kollege Häkkinen hat überschnell gehandelt und nun ist unser Informant tot und er selbst im Krankenhaus. Das passiert wohl, wenn man die Jugend auf so einen großen Fall loslässt.“


    Ben sah, wie der Jüngere feuerrot anlief und die Hand zu einer Faust ballte. Er befürchtete schon das Schlimmste und machte sich bereit, doch dann sprang Lehto nur auf und verließ den Raum. „Entschuldigen Sie mich“, brachte er noch raus, ehe die Tür sich mit einem lauten Knall schloss. Der ältere Kollege schien von dem Wutausbruch seines Kollegen unbeeindruckt. Er sah auf die geschlossene Tür und schüttelte nur den Kopf. „Herr Lehto bestätigt nur meine Rede. Man sollte wirklich darauf achten, dass die Jugend von heute nicht gleich die harten Fälle bekommt, nur weil sie ein bisschen bettelt und den Dackelblick aufsetzt. Am Ende stellt sich dann eh heraus, dass sie an der Herausforderung verrecken.“ Bei diesen Worten hatte Ben das Gefühl, als durchbohrten ihn Lindholms Blicke. Er war nun wirklich der abartigste Typ, den er in seiner Laufbahn kennengelernt hatte. !

  • Ben lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und betrachtete die Decke. Draußen war es bereits Dunkel und in der Dienstelle war es still. Die einzigen Kollegen, die um diese Zeit arbeiten mussten, waren auf Streife. Ben selbst hatte schon seit Stunden frei, wollte aber nicht nach Hause. Er wusste, dass dort die Albträume auf ihn warten würden. Er wollte nicht mehr davon träumen und hatte die Hoffnung, dass er sich mit Arbeit ablenken konnte. Die Realität sah anders aus. Auch wenn die Akten vor ihm lagen, hatte er in den letzten Stunden nicht daran gearbeitet, sondern über Michael nachgegrübelt. Er verstand weiterhin nicht warum ihn sein toter Freund so beschäftigte. Er war am Vormittag an seinem Grab gewesen, doch der Besuch hatte nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Noch immer spukte er in seinem Kopf herum.


    Ben wurde hellhörig, als er eine Stimme hörte. Das war kein Deutsch, was er hörte, sondern etwas anderes. Er begab sich vorsichtig aus dem Büro, die Hand auf die Waffe gelegt. Als er wenig später jedoch den „Eindringling“ ausgemacht hatte, löste sich die Hand sofort wieder von der Pistole. Auf dem Gang stand Joshua Lehto und telefonierte offenbar. Als er sich zu ihm drehte, erschrak der junge Polizist und ließ beinahe das Gerät aus der Hand rutschen. Er fing sich jedoch schnell wieder. Der Blonde sprach noch etwas in sein Handy und legte dann auf.


    Lehto schob das Handy in seine Hosentasche und lächelte. „Ist die deutsche Polizei so spät immer auf ihrer Dienststelle? Was treiben Sie denn zu so später Stunde noch hier?“ Ben sah ihn mit einem schrägen Blick an. „Das könnte ich Sie auch fragen!“, erwiderte er, „schließlich sind Sie ja der Gast und nicht ich!“ Sein Gegenüber nickte verlegen. „Ähm ... ja ... also ... wissen Sie im Hotel gab es nur noch ein Doppelzimmer und ich möchte es gerne vermeiden meine Freizeit auch noch mit Lindholm zu verbringen“, schoss dann aus ihm heraus. Dafür hatte Ben Verständnis, dieser Lindholm war wirklich ein komischer Vogel und sicherlich keiner dieser Leute mit denen man lange zu tun haben wollte. „Na dann mach es dir ...äh Entschuldigung, machen Sie es sich ruhig bequem.“ Sein nächtlicher Gast lachte leise. „Lass uns beim Du bleiben, das ganze Sie ist doch etwas albern oder nicht? Ich bin Joshua.“ „Ben“, erwiderte er. Joshua nickte und Ben wies mit dem Arm in sein Büro. Ben setzte sich auf seinen Stuhl, während sich der Gast aus Finnland es sich auf Semirs Platz bequem machte.


    Seit diesem Augenblick, so hatte Ben das Gefühl, vergingen Stunden, ohne das jemand etwas sagte. Er suchte nach Worten um die Stille zu durchbrechen. Er wollte gerade zum Gespräch ansetzten, als Joshua ihm zuvor kam. „Woher hast du eigentlich diese Kette?“ Ben blickte auf und suchte nach einer passenden Antwort. Eine Erinnerung an einen guten Freund fand er hier unpassend, schließlich kannte er sein Gegenüber gerade mal ein paar Stunden. „Billiger Ramsch“, antworte er schließlich, „fand sie ganz schön, als ich sie auf dem Flohmarkt gesehen habe.“ „Aha“, erwiderte Joshua und man verfiel wieder in Schweigen. Diesmal war es Ben der die Stille durchbrach und versuchte ein Gespräch aufzubauen. „Dieser Häkkinen ist das ein Freund von dir?“ Er schaute Joshua mit erwartungsvollem Blick an. „Ja, wir kennen uns schon ewig …“


    Ben nickte. „Und was ist bei diesem Zugriff passiert?“ Joshua zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Mikael war schon länger an der Sache dran. Er war schon seit einigen Monaten undercover … dann rief er mich an dem Abend hektisch an, dass man ihm auf die Schlichte gekommen sei und als ich angekommen war, das war bereits alles vorbei“, er schluckte, „sie hatten ihn niedergeschossen. Er war bereits bewusstlos und nun erinnert er sich nicht mehr daran, was an dem Abend passiert ist.“ Joshua blieb lange still, doch Ben konnte sehen, dass da mehr war. „Mikael ist kein schlechter Polizist. Ich bin mir sicher, jemand hat ihn verraten.“ Ben nickte nur, erwiderte jedoch nichts auf Joshuas Erzählung. Was sollte er auch sagen? Er kannte den Kollegen nicht und konnte überhaupt nicht einschätzen, ob es ein fähiger Polizist war oder nicht.


    Er beobachtete Joshua dabei, wie er ein Foto aus der Akte hob und es stumm betrachtete. Der Blonde lächelte dabei leicht und legte es erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder hin. Ben warf neugierig einen Blick darauf. Ihn interessierte ungemein über welchen Tatverdächtigen sich sein Kollege Gedanken machte. Er sah in das Gesicht von Andreas Hansen. Bens Kopf hob sich wieder und er betrachtete Joshua Lehto verwirrt. „Warum hast du dir das Bild so lange angesehen?“ „Hmm?“ „Das Foto, warum hast du es so lange angesehen?“, wiederholte er seine Frage erneut. „Das?“ Joshua zeigte auf das Bild, welches er vorhin auf den Schreibtisch gelegt hatte und Ben nickte. „Ich war in Gedanken, habe es mir nicht wirklich angesehen.“


    Der deutsche Hauptkommissar stutze kurz auf die Antwort seines Kollegen, wendete seinen Blick dann jedoch wieder zur Decke. „Es wird Zeit, dass wir endlich was Brauchbares gegen Seifert finden“, murmelte er in Gedanken und vernahm eine leise Zustimmung von der anderen Seite des Büros.

    *

    Seine Augen verfolgen argwöhnisch, wie der junge Mann das Krankenhaus verließ. Dessen rechte Hand fuhr durch die Haare, die wenig später leicht abstanden. Die tiefblauen Augen scannten für einen Augenblick die Umgebung, ehe er weiterlief. Er griff nach seinem Mobiltelefon. „Häkkinen hat das Krankenhaus verlassen, was soll ich als nächstes tun?“ „Folge ihm“, kam es vom anderen Ende der Leitung und er legte wieder auf und stieg aus dem Wagen. Mit langsamen Schritten folgte er dem Mann durch die Straßen Helsinkis zu dessen Wohnung, die im Zentrum der Stadt lag. Er verfolgte, wie er die Tür öffnete, darin verschwand. Wenige Stunden später öffnete sich die Tür abermals und er stieg in ein Taxi. Er wartete einige Minuten, ehe er sich Zutritt zur Wohnung verschaffte.


    Die 2-Zimmer-Wohnung war nur mit wenigen Möbeln bestückt und wirkte eher trostlos. An den Wänden hingen keine Bilder und in dem Regal stand nur ein Foto. Er griff danach und betrachtete es kurz. Ein Gruppenbild mit ein paar jungen Polizisten. Er stellte es wieder in das Regal und schaute sich im Zimmer um. „Ah, da haben wir es ja!“ Er bewegte sich auf die andere Seite des Raumes und öffnete das Notebook, welches auf dem Sofa stand. Zu seinem Glück hatte Häkkinen kein Passwort, um seinen Rechner zu schützen. Seine Hand führte die Maus zu einem Ordner, der mit einer Aktennummer bezeichnet war. „Perkele“, fluchte er leise, als sich nun ein Dialogfeld öffnete, welches ein Passwort verlangte. Er schloss das Fenster und stöhnte auf. Er hatte sich wohl zu früh gefreut. Es hatte keinen Zweck, er würde es nicht knacken können. Statt sich weiter an den Ordnern und Daten auf dem Desktop aufzuhalten, öffnete er nun den Browser und ließ sich den Verlauf anzeigen.


    Seine Augen fuhren über den Bildschirm. Er hatte Abflugzeiten vom Flughafen Helsinki - Vantaa aufgerufen, einen Flug nach Düsseldorf im Detail anzeigen lassen. Er sah auf die Uhr in der rechten Ecke des Desktops. Das Flugzeug würde ihn nur einer Stunde gehen. Er klappte den Deckel des Notebooks wieder zu und zog sein Telefon aus der Hosentasche. „Er ist auf dem Weg nach Köln, hat einen Flug nach Düsseldorf gebucht.“ „Gut, danke dir. Wir werden dafür sorgen, dass er gebührend empfangen wird.“

  • Ben lehnte sich in seinem Sofa zurück und bettete den Kopf an die Lehne. Er starrte an die Decke und ließ die Gedanken kreisen. Er wusste langsam nicht mehr, wie er überhaupt den Tag überstehen sollte. Der Schlafmangel machte sich immer mehr bemerkbar und neben der Sorge seines Partners, war er auf der Dienstwache auch dem finnischen Kollegen Lindholm ausgesetzt. Dieser Typ hatte etwas an sich, was Ben ihm unangenehm aufstoß. Joshua hatte ihm erzählt, dass Lindholm einfach ein Problem mit jüngeren Kollegen hatte. Er hatte gelächelt, wenn er davon berichtete, dass dieser Lindholm und sein Freund sich fast täglich Wortgefechte geliefert hatten. Er selbst würde dem Kollegen aus Finnland ebenfalls seine Meinung sagen, hatte sich bisher aber noch in Schach halten könnten, vor allem auch, weil es vor allem Semir war, der mit ihm zusammenarbeitete. Sein Partner schien gemerkt zu haben, dass er im Augenblick andere Sorgen hatte. Alles drehte sich im Kreis: Der Fall Seifert und auch seine Träume. Er hatte bereits zu Schlaftabletten gegriffen, aber ohne Erfolg.


    Er hoffte inständig, dass man bald was gegen Seifert hatte und dann vielleicht die Träume enden würden. Die letzten Abende verbrachte er damit auf dem Sofa zu sitzen und die Wand anzustarren. „Vielleicht sollte ich mich einfach der Vergangenheit stellen“, dachte Ben laut und ging geradewegs auf seinen alten Schrank zu und holte eine kleine Kiste hervor. Sorgfältig wischte er eine dicke Staubschicht herunter und dachte bei sich, dass es wohl mal wieder an der Zeit sei, Staub zu wischen. Er setzte sich aufs Sofa und öffnete behutsam die Schachtel und blickte auf die Erinnerungen seiner Kindheit. Jedes dieser Stücke hatte für ihn einen ganz besonderen Wert und war mit Ereignissen verknüpft. Der junge Kommissar nahm eine alte Spielkonsole in die Hand. Er wusste noch ganz genau, wie er Michael angebettelt hatte sie nur eine Woche ausleihen zu dürfen. Nun wird er sie wohl für ewig aufbewahren. Er hatte sie nie benutzt, nachdem Michael gestorben war. Nie eingeschaltet und doch hatte er nie den Mut aufgebracht dieses alte Erinnerungsstück wegzuschmeißen.


    Ben schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er die Türschelle vernahm. Er überlegte kurz, ob er überhaupt öffnen sollte. Momentan war er einfach nicht in der Stimmung für Besuch. Letztendlich erhob er sich aber dennoch und zog seine Wohnungstür auf. „Papa, was machst du den hier?“, fragte er erstaunt, als er in die Augen seines Vaters sah. Sein Vater quetsche sich an ihm vorbei und ging auf das Sofa zu. „Ben, mein Junge, ich möchte nicht, dass du weiter an dem Fall arbeitest“, kam sein alter Herr schnell zum Punkt. Er sah ihn verwirrt an. „Wie meinst du das? Es ist mein Job, solchen Menschen das Handwerk zu legen“, schimpfte er leise. Er hasste es, wenn sich Konrad Jäger in seine Angelegenheiten mischte. Langsam war er alt genug die Dinge selbst zu lösen. „Ben bitte vertraue mir doch, nur dieses eine Mal. Ich glaube, die Sache ist zu groß für dich.“ „Ich denke, dass ich das ganz gut Selbst entscheiden kann“, sagte er nun etwas lauter. „Junge schau dich doch an. Du bist vollkommen erschöpft. Ich denke nicht, dass das so gut ist, wenn du weiter an dem Fall arbeitest. Man sieht doch, wie kaputt er dich macht.“ Ben verschränkte die Hände vor der Brust. „Deshalb bist du hier? Nur um mir vorzuhalten, dass ich müde bin? Natürlich bin ich müde, ich habe einen Fall, der das ganze Team rund um die Uhr fordert.“ „Ich mache mir doch nur Sorgen!“„Ich komme klar, Papa. Wirklich …“ Ben schaute seinem Vater in die Augen. Konrad Jäger war anzusehen, dass er sich wirklich Sorgen machte. Er atmete tief durch. „Ich denke, dass es besser ist, wenn du jetzt gehst“, begann Ben. Sein Vater schüttelte den Kopf. „Du träumst immer noch von Michael, nicht wahr?“ „Und wenn es so wäre, was dann?“, konterte Ben genervt. Er wollte nicht an diese Schwäche erinnert werden. Er wolle nicht über seinen alten Freund reden. „Dann sage ich dir, dass es Zeit wird ihn zu vergessen. Bitte Ben, es ist nicht gut für dich … du musst diese Sache endlich hinter dich lassen!“ „Papa, bitte geh jetzt!“ Ben zog seinen Vater vom Sofa in Richtung Tür. „Ben, Bitte“, wiederholte Konrad Jäger abermals, doch er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich möchte nichts mehr hören. Du bist es doch, der Schuld ist, dass ich das alles nicht mehr loswerde. Du hast mir nie gesagt, dass sein Vater ein Drogendealer war und ein Bekannter noch dazu. Wie soll ich deiner Meinung nach Michael vergessen, wenn ich die Akte von seinem Vater vor mir liegen habe?“ Die Lippen seines Vaters öffneten sich und er wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht mehr dazu. Ben hatte ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, ehe ein Wort seinen Mund verlassen konnte.


    Auf dem Rückweg in sein Wohnzimmer begann sich plötzlich alles zu drehen. Ben kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Doch das machte das ganze nur noch Schlimmer. Die Möbel vor ihm verschwammen vor seinen Augen. Ben streckte die Hände nach der Wand aus, doch mit einem Mal schien diese meilenweit entfernt zu sein. „Scheiße, scheiße, scheiße“, presste er mit zittriger Stimme hervor und rührte sich für einige Sekunden nicht, hoffte darauf, dass es besser werden würde. Er atmete tief ein und aus und endlich schienen die Umrisse der Möbel wieder schärfer zu werden. Mit zittrigen und weichen Knien begab sich Ben langsam zurück zu seinem Sofa und ließ sich einfach fallen. Erschöpft schloss er die Augen und drückte sich tiefer in das Kissen. „Was für ein scheiß Tag“, murmelte er leise.


    *


    „Hallo Herr Jäger.“ Konrad blickte sich langsam um und zuckte dann zusammen, als er das Gesicht seines Verfolgers sah. „Sie sind schreckhaft … Angst, dass die Vergangenheit Sie einholt?“, sagte der Mann vor ihm in einem leicht zynischen Ton. Konrad presste mühselig ein Lächeln heraus und zeigte auf sein Auto. „Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Der Mann folgte ihm und setzte sich auf den Beifahrersitz. Konrad Jäger wollte gerade denn Motor starten, als der junge Mann dazwischen ging und seine Hand auf seinen Arm legte. „Lassen Sie nur, wir können das auch hier klären.“ Konrad nickte und betrachtete seinen Beifahrer. Er sah wirklich aus, wie er. Das schwarze Haar, die Gesichtszüge. Der einzige Unterschied waren die Augen. Der Mann neben ihm hatte strahlend blaue Augen. Er verfolgte, wie der junge Mann in seine Jackentasche griff. Sein Gesicht verzog sich dabei für einen Augenblick mit Schmerzen. Er zog einen Umschlag heraus und hielt ihn in seine Richtung. „Hier ein Scheck. Wissen Sie, Ihre Fürsorge in allen Ehren, aber ich möchte das Geld nicht. Es ist alles noch da, ich habe keine Cent angerührt.“ „Ich meinte es nur gut, du brauchst kein…“, weiter kam er nicht, bevor der junge Mann ihm erneut ins Wort fiel: „Ich will es wirklich nicht. Ich habe es auch ohne das Geld geschafft. Wenn Sie sich damit reinwaschen wollten, hat es nicht geklappt.“ Die blauen Augen sahen ihn eindringlich an. „Ich bräuchte Ihre Hilfe in einer anderen Sache.“ „Was kann ich für dich tun?“ „Ich bräuchte eine Waffe … nur für den Selbstschutz natürlich.“ Die Augen von Konrad weiteten sich. „Das kann ich nicht machen, beim besten Willen nicht!“, brachte er mit zittriger Stimme heraus. „Hören Sie, Herr Jäger, ich werde niemanden damit ermorden. Sie werden keinen Ärger mit mir bekommen“, er machte eine Pause, ehe er fortfuhr. „Ich werde Ihren Sohn nicht in die Sache mit reinziehen … das ist es doch, was Sie wollen? Dass Ben nie erfährt, dass Sie ihn all die Jahre belogen haben. Er wird nichts erfahren, nichts merken.“ Konrad seufzte laut auf und öffnete zögerlich das Handschuhfach. „Was auch immer du vor hast Michael. Ich will, dass du auf dich aufpasst!“ Er reichte ihm langsam die Waffe. Der Angesprochene nahm sie entgegen. „Danke“, sagte er. Danach öffnete er die Autotür und stieg aus. „Ich werde mich an das Versprechen halten, Herr Jäger.“ Konrad verfolgte, wie der Mann in der Dunkelheit verschwand, danach schaltete er den Motor ein und fuhr Richtung Villa, nichtsahnend das sein Gespräch nicht unbeobachtet geblieben war.

  • Der Heißhunger überfiel Ben kurz nach Zehn, als er in seinem Büro damit beschäftigt war einige Listen zu überprüfen und nach Verbindungen zu Seifert zu durchforsten. Das Knurren seines Magens durchbrach seine Konzentration wie ein Donnerschlag. „Hunger?“ Er hob den Kopf und sah Joshua an. „Schon … ein wenig“, murmelte er. Der Hunger ließ kurz darauf seinen Magen erneut grummeln. „Gut, vielleicht auch etwas mehr“, gestand sich der deutsche Kommissar jetzt mit einem Lachen ein. Er griff nach seiner Jacke. „Vielleicht fahre ich kurz zu einem Bäcker und hole mir etwas. Soll ich dir etwas mitbringen?“ Joshua nickte, kramte in seiner Tasche und hielt ihm sein Portemonnaie hin. „Schokobrötchen und irgendetwas Belegtes wäre super.“ „Das lässt sich sicher einrichten.“


    Die Fahrt zur nächsten Raststätte, wo es einen ausgezeichneten Bäcker gab, hatte Ben am Ende nur wenige Minuten gekostet. Nun stand er vor der Theke und überlegte fieberhaft, was er Semir mitbringen sollte. Sein Partner schob die ersten Tagesstunden immer gemeinsam mit Lindholm Wache vor Seiferts Wohnung, ehe sie am Nachmittag von Joshua und ihm abgelöst wurden. „Was darf es sein?“ Er blickte hoch und gab seine Bestellung auf, die am Ende doch größer ausfiel, als er gedacht hätte. Er müsste wohl wirklich erst einmal auf Joshuas Geld zurückgreifen. Nachdem er aus seinem Portemonnaie die Hälfte des Geldes zusammengekratzt hatte, öffnete er das von Joshua. Gerade als er einen Fünf-Euro-Schein herausziehen wollte, fiel sein Blick auf ein Foto. Er spürte, wie ihm für einen Moment schwindelig wurde. Alles begann sich zu drehen. Das konnte nicht sein, das war unmöglich! Er musste einen Traum haben. Das Herz hämmerte in der Brust und er begann zu zittern. Er schaffte es nicht mehr einen klaren Gedanken zu fassen.


    „Geht es Ihnen nicht gut? Hallo?“ Er schreckte auf und sah der Frau hinter der Theke in die Augen. „Wie?“ „Ob es Ihnen nicht gut geht … Sie wirken, als wäre etwas Furchtbares passiert.“ Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. „Nein, nein … alles gut“, beschwichtigte er und reichte ihr einen Schein. „Das stimmt schon so“, nuschelte er, während er, wie in Trance den Laden verließ und sich in sein Auto setzte. Er holte das Portemonnaie einmal mehr heraus und betrachtete das Foto erneut. Das war Joshua mit einem anderen Mann in seinem Alter. Schwarze Haare, blaue Augen … die gleichen Gesichtszüger, der Anhänger an seinem Lederarmband. Wie konnte das sein? Michael war tot. Er war nicht mehr und doch glich diese Person ihm so sehr, dass es kein Zufall sein konnte. „Es gibt nur einen, der dir das beantworten kann“, sagte er leise zu sich selbst und startete den Motor, um wieder in Richtung PAST aufzubrechen und Joshua zur Rede zu stellen.


    „Joshua!“ Ohne dass sich der finnische Kollege wehren konnte, zog Ben ihn hinter sich her aus der Dienststelle auf den Parkplatz und drückte ihn dort gegen die Hauswand. „Was soll denn das?“, fragte der finnische Kollege überrascht. „Was das soll?“ Er klappte das Portemonnaie auf und hielt ihm das Foto vor die Nase. „Was hat das zu bedeuten? Wer ist der Kerl und-und warum …“ Bens Arm löste sich von Joshua. „Ich meine … Michael … er ist tot und dieser Mann ... er-er sieht genau wie er aus … und dieses Armband …“, stotterte er und spürte, wie er begonnen hatte zu zittern. Er begann wieder die Kontrolle über diese Situation zu verlieren. „Er wollte nicht, dass ich mit dir rede“, murmelte Joshua. „Es-es stimmt also … es ist Michael?“, schloss Ben aus der Aussage. „Wie-wie kann das sein? Er war tot … ich habe an seinem Grab gestanden.“ Seine Hand schlug wütend gegen die Wand. „Ich habe an seinem Grab gestanden!“ „Andreas Hansen hat diesen Hausbrand nur vorgetäuscht. Seine Familie ist in Helsinki untergetaucht mit einem neuen Namen und …“ Ben lachte. „Hansen lebt? Dir ist klar, dass ihr gerade Ermittlungen behindert!“ „Er lebt nicht mehr …“, fuhr Joshua nun dazwischen. Ben sah sein Gegenüber verwirrt an. „Wie?“ „Er und seine Frau sind bei einem Verkehrsunfall gestorben, als Mikael 17 war.“ Joshua sah ihn ernst an. „Du darfst niemanden davon erzählen. Niemand darf wissen, dass Mikael … dass er in Wirklichkeit Michael Hansen ist. Ein Sohn von einem Drogenboss wie Hansen setzt bei der finnischen Polizei keinen Fuß mehr auf die Erde. All seine Ermittlungserfolge in der Drogenfahndung werden urplötzlich in einem anderen Licht erscheinen … Sie werden ihn durch den Fleischwolf drehen! Mikael braucht diesen Job. Er hat nur diese eine Sache!“ Ben sah den finnischen Kommissar schief an. „Dir ist klar, dass er genau wie Andreas Hansen aussieht. Denkst du, dein Kollege stellt die Verbindung nicht her?“ „Ich habe das Foto aus der Akte entfernt“, sagte Joshua nun, „an dem Abend, wo wir gemeinsam in der Dienststelle waren und in Helsinki hat Andreas Hansen seine Geschäfte nie selbst geführt, er hatte Stellvertreter … niemand kennt seine Identität.“ „Du bist also nicht geflüchtet vor Lindholm? Es war die ganze Zeit dein Plan?“ „Mikael ist mein Freund, ich würde alles für ihn tun“, antwortete Joshua ihm mit bestimmter Stimme. Ben lachte leise auf. „Das dachte ich auch, da ist er abgehauen und hat nie wieder etwas von sich hören lassen!“ „Ich denke nicht, dass man das vergleichen kann.“ Der deutsche Kommissar verschränkte seine Arme vor der Brust und atmete hektisch ein und aus. „Nein? Er hat sich nie gemeldet! Was dachte er, dass es mir nichts ausmacht … dass ich ihn vergessen habe?! Ich habe ihn nie vergessen. Ich habe vor seinem Grab geweint! Ich habe meinen Freund vermisst! Ich …“ Ben stockte. „Er-er lebt und …“ Er löste seine Arme von seiner Brust und drückte Joshua nun mit dem rechten Arm wieder an die Wand. „Wo ist er jetzt?!“ „Wo wohl?! Im Krankenhaus! Man hat ihn niedergeschossen … schon vergessen!?“ Ben kniff die Augen zusammen und betrachtete sein Gegenüber. „Dir hat er also alles von mir erzählt?“ „Ja“, murmelte Joshua kleinlaut. „Wann?“ „Wie, wann?“ „Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Wann hat er dir davon erzählt? Dass er Michael Hansen heißt, aus Köln kommt!“ Joshua löste Bens Arm von seiner Brust. „Er heißt Mikael, er hat sich nie anders genannt, nachdem er nach Finnland gekommen ist und du weißt, dass seine Eltern ihn auch hier in Deutschland immer so genannt haben.“ Ben nickte seicht. Es war wahr, seine Eltern hatten ihn oft so genannt. „Wie auch immer“, stieß er genervt auf und wartete darauf, dass Joshua ihm endlich auf seine Frage antwortete. „Er hat es mir schnell erzählt“, fuhr Joshua schließlich fort, „Wir waren gute Freunde, waren auf einer Wellenlänge …“ Jedes Wort aus dem Mund seines finnischen Kollegen versetzte Ben einen Stich in die Magengegend. War er wirklich so leicht austauschbar gewesen? Joshua schien seine Gedanken lesen zu können. „Deinen Platz konnte ich nie einnehmen, Ben. Du warst unantastbar, über allem.“ „Wieso hat er sich dann nie gemeldet?“, entfuhr es ihm wütend. „Er hatte Angst … Angst, dass er dich in diese Geschäfte mit reinzieht.“ „Aha … und als sein Vater tot war? Da hatte er es nicht mehr nötig sich bei mir zu melden, oder was?“


    Joshua ging an ihm vorbei in Richtung PAST, doch Ben griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn zurück. „Wir sind noch nicht fertig!“, schrie er laut. „Nein, diese Frage kann weder ich, noch Mikael dir beantworten …“, antwortete ihm der Blonde unbeeindruckt. „Wer sonst?“ „Dein Vater.“ Bens Griff um Joshuas Arm löste sich und er sah dem Finnen hinterher, wie er das Gebäude betrat. Sein Vater? Urplötzlich verstand er, warum sein Vater immer so gezögert hatte, wenn sie über den Tod seines Freundes gesprochen hatten. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und ihm nie etwas erzählt! Er hatte ihn an der Nase herumgeführt, ihn leiden gesehen und sich einen Dreck um seine Gefühle geschert. „Joshua!“ Ben rannte dem Blonden hinterher. „Ja?“ „Hat mein Vater es verhindert … ich meine, dass er sich meldet?“ „Ich denke schon. Ich habe öfters gehört, wie Mikael mit einem Herrn Jäger gesprochen hat … dein Name ist dabei gefallen.“ Er nickte schwerfällig, konnte die letzten Minuten immer noch nicht ganz verdauen. „Du-du hast nicht zufällig seine Handynummer … damit ich mich bei ihm melden kann und … naja du weißt schon.“ Joshuas Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Er ist mein Freund, natürlich habe ich seine Nummer. Ich kann sie dir geben, aber da er noch im Krankenhaus ist, wirst du ihn die nächsten Tage wohl nicht erreichen können.“ Ben nickte. „Ja … ich meine, das war mir natürlich klar, aber danach … da werde ich mit ihm reden.“ Joshua nickte. „Natürlich, ich schreib sie dir auf.“

  • Joshua sah sich ein letztes Mal um, ehe er in eine kleine Gasse lief. Er hatte nach Feierabend eine SMS empfangen und war sofort hergekommen, wenn es ihm auch etwas Zeit gekostet hatte, die Straße zu finden, da er ortsfremd in Köln war.


    Er stellte sich an die Wand und sah in die Dunkelheit. „Du bist spät.“ Er fuhr erschrocken zur Seite und sah in die blauen Augen von Mikael. „Verdammt! Wie oft denn noch, du sollst dich nicht immer so anschleichen!“ Sein Gesprächspartner zuckte mit den Schultern und lächelte. „Du solltest besser aufpassen. Ich hätte dich auch überfallen können.“ „Als wenn ich das so einfach zugelassen hätte!“„Gegen dich wäre ich alle Mal angekommen, Josh.“ Der Blonde lachte, wurde dann aber ernst. „Was machst du hier? Ich habe doch gesagt, du sollst in Helsinki bleiben. Hast du dich selbst entlassen?“ Joshua betrachtete seinen Freund. Einige schwarze Strähnen klebten auf der schweißnassen Stirn. „Natürlich hast du, was für eine dumme Frage von mir!“ Mikael lächelte schwach. „Ich muss diese Kerle kriegen, Josh.“ „Du musst überhaupt nichts! Es ist nicht mehr dein Fall und …“ „Ich denke, ich habe meinen Vater gesehen.“ Joshua erstarrte. „Wie?“ Sein Gegenüber fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich kann mich einfach nicht erinnern, da ist die Sperre, aber ich träume davon … es ist verschwommen, aber ich bin mir sicher, dass es mein Vater ist.“ „Mikael, er ist tot. Dein Gedächtnis spielt dir einen Streich“, versuchte Joshua, doch sein Freund schüttelte den Kopf. „Er hat diese Show einmal abgezogen, warum sollte er sie nicht ein weiteres Mal durchziehen?“ „Du weißt aber schon, dass es recht unwahrscheinlich ist.“ „Natürlich … ja, aber deshalb muss man es nicht ausschließen. Was habt ihr bei euren Ermittlungen rausgefunden?“ Joshua verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Der Herr Jäger hat herausgefunden, dass du nicht tot bist.“ Der Blonde verfolgte, wie Mikael für einen kurzen Moment alle Gesichtszüge entglitten. „Was? … ich meine wie?“ Joshua klappte sein Portemonnaie auf. „Er war Brötchen holen.“ „Du schickst ihn mit deinem Geld Brötchen holen? Kannst du dir nicht denken, dass er dabei auf dieses Bild schaut?“, fuhr Mikael ihn wütend an. „Entschuldige Mr. High-IQ, dass ich nicht wie du fünf Schritte vorausdenke!“ Mikael fuhr sich über das Gesicht. „Sorry … ich wollte dich nicht angehen. Es ist nur …“ „… du hast Angst, was er sagen wird? Naja begeistert war er nicht. Würde ich auch nicht sein. Du hast dich nie gemeldet bei ihm.“ „Du wusstest, dass es nicht ging. Du wusstest, dass ich es gewollt habe!“ Joshua lächelte. Er hatte dieses Gespräch schon viel zu oft mit Mikael geführt. Er hatte ihn ermutigt sich bei diesem Ben Jäger zu melden, aber Mikael hatte immer die Geschäfte seines Vaters vorgeschoben oder Bens Vater, der keinen Kontakt von Mikael zu seinen Kindern wünschte. In Wirklichkeit, so war Joshua sich sicher, hatte sein Freund einfach Angst und Angst war etwas, was Mikael nicht gerne zeigte und deshalb tief in seinem inneren vergrub. „Ich mache dir keinen Vorwürf, aber hör zu … du kannst hier nicht einen auf einsamer Rächer machen. Bitte, teile deine Beobachtung Lindholm mit. Er ist der leitende Ermittler seit du …“ Er betrachtete seinen Freund. „Naja du weißt schon.“


    Mikael sah ihn finster an. „Dem werde ich sicher nichts davon erzählen. Dieser Typ hat etwas an sich, da schrillen alle meine Alarmglocken!“ Der Blonde stöhnte. „Er ist ein Arschloch, ja, aber er ist sauber Mikael. Du kannst ihm vertrauen.“ „Diesem Mann? Nein …“ Mikael fuhr sich mit der dem Zeigefinger und Daumen über den Nasenrücken. „Du musst mir Zeit verschaffen. Ich kann diesen Fall noch zu Ende bringen, ich mach diese Nummer in der Lagerhalle wieder gut und …“ „Bist du noch ganz dicht! Nein, du wirst dich nicht einmischen, du wirst keinen Alleingang machen!“ „Es ist kein Alleingang, du weißt ja davon.“ Joshua lachte auf. „Willst du mich gerade verarschen!? Ich und du wissen, was du gerade angedeutet hast. Wir lösen dieses Problem nicht auf die gute alte Hansen-Tour … du bist Polizist, da gibt es Regeln.“ „Tolle Regeln! Ihr habt ja wirklich schon richtig viel herausgefunden in der Zeit, wo du hier bist!“, konterte der Schwarzhaarige. „Seifert ist clever und auch du wirst ihn nicht knacken können … Mikael, bitte, du musst dich Lindholm anvertrauen.“ Der Angesprochenen schüttelte energisch den Kopf und Joshua stöhnte auf. „Gut, du vertraust Lindholm nicht, aber unserem Chef wirst du jawohl über den Weg trauen? Informiere wenigstens ihn, dass du im Augenblick hier in Köln bist.“ „Jaja, mache ich dann vielleicht … aber im Augenblick steht mir das im Weg, wenn zu viele davon wissen.“ „Was genau hast du vor?“ Mikael stützte seinen Fuß an der Wand ab und sah in den Himmel. „Sebastian Seifert und mein Vater kennen sich sehr gut. Ich bin mir sicher, dass er mir helfen kann ihn zu finden. Er ist der einzige Mann, an den ich mich erinnern kann, als auf mich geschossen wurde.“ Joshuas Augen weiteten sich. „Du weißt, dass er dabei war und hast es keinem gesagt? Wir hätten ihn schon lange in einem Verhörzimmer haben können mit deiner Aussage.“ „Achja und für wie lange? Ein paar Stunden, dann wäre er wieder frei … jeder beschissene Anwalt zerreißt diese Aussage, wo ich mich an überhaupt nichts anderes erinnern kann.“ „Weiß Seifert, wer du bist?“ „Ja natürlich … wie gesagt, er und mein Vater …“ „…Jaja, ich hab’s ja begriffen! Was ich allerdings nicht begreife ist, warum du den Einsatz dann überhaupt angenommen hast? Du musstest davon ausgehen, dass Seifert dich erkennt … ich meine, du und dein Vater ihr seht euch so ähnlich!“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Ich hatte so ein Gefühl, das es da um viel mehr geht, als um Drogengeschäfte zwischen Köln und Helsinki. Ich musste dem einfach nachgehen.“ „Ich glaub es nicht!“ Joshuas Stimme bebte vor Wut. „Ein Gefühl!? Dieses verdammte Gefühl hat dich ins Krankenhaus gebracht! Weißt du eigentlich, wie viel Glück du hattest!? Du hättest dir fast die Radieschen von unten angesehen und du erzählst mir etwas von Gefühlen.“ „Ich stehe hier vor dir, also ist doch alles gut gegangen.“ „Nichts ist gut gegangen, ich hatte verdammt Angst um dich. Wir alle …“ Mikael ächzte leise und nickte. „Ich habe es begriffen! Also hältst du mir jetzt für ein paar Tage den Rücken frei?“ Joshua sah seinen Freund missmutig an. „Du hast mir nicht zugehört, oder?“ „Natürlich habe ich das …“ „Merkt man nichts von. Du ziehst diese einsamer Cowboy Nummer ja immer noch durch.“ „Ich rufe dich täglich an, wenn du dann zufrieden bist.“ Joshua stöhnte auf. Er würde Mikael ja doch nicht von diesem Vorhaben abbringen. „Ich will alle zwei Stunden eine SMS und am Abend einen Anruf“, stelle er seine Bedingungen. „Wenn du dich daran nicht hältst, informiere ich den Chef und Lindholm über deinen Alleingang.“ Mikael streckte ihm seine Hand hin und er schlug mit einem Kopfnicken ein. „Deal!“

  • Mikael hatte die ganze Nacht das Grundstück von Seifert beobachtet. Vor der Haustür war vor wenigen Stunden ein blauer Audi weggefahren, kurz darauf hatte an gleicher Stelle ein silberner BMW geparkt. Die Polizei überwachte Seifert also intensiv und er musste einen anderen Weg wählen als die Haustür. Zum Glück war er mit seinem Vater oft hier gewesen. Er schlich über den Nachbarsgarten herüber auf Seiferts Grundstück und machte vor der Kellertreppe halt. Vorsichtig testete er, ob sie verschlossen war. Dann zückte er aus seiner Tasche einen kleinen Draht und machte sich an dem Schloss zu schaffen. „Geschafft“, murmelte er leise und drückte die Tür offen.


    Mikael atmete tief durch, entsicherte die Waffe. Mit lautlosen und bedachten Schritten erklomm er die Kellertreppe, bis er in einem hellen und dürftig eingerichteten Wohnzimmer angekommen war. Der Mann, den er suchte, stand mit dem Rücken zu ihm und blickte aus dem Fenster. Er hob die Waffe an und zielte. „Sebastian“, sagte er mit bestimmter Stimme und der braunhaarige Mann vor ihm drehte sich zu ihm um. „Mikael“, antwortete er mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. „Na was verschafft mir den die Ehre?“ Er trat näher an Sebastian Seifert heran. „Wo ist mein Vater?“ „Wir beide haben seine Beerdigung besucht. Was denkst du, wo er steckt?“ Mikael lachte leise auf. „Ich habe ihn gesehen! In Helsinki … dich übrigens auch!“ „Und jetzt, was willst du jetzt machen? Mich erschießen?“ Mikael umgriff die Waffe fester. „Du denkst, ich zögere? Wenn es sein muss, werde ich abdrücken!“ Seifert stand nun nur noch wenige Meter vor ihm. „Du magst zwar noch besser treffen als dein Vater, aber ein Mörder bist du nicht, Mikael.“ „Sag mir, wo ich meinen Vater finde!“, schrie er nun und sein Finger legte sich auf den Abzug. „Ich weiß, dass du sein Versteck kennst. Du weißt, dass ich dich hochnehmen könnte?“ Seifert lächelte. „Du weißt genau, dass du mir nichts nachweisen kannst. Die Bullen versuchen schon lange mir was anzuhängen und jetzt glaubst du hier vorbeizukommen zu können, um mir zu drohen?“ Seifert schritt zu seinem Sofa und setzte sich. „Du hast viel von deinem Vater, Mikael. Du bekommst, was du willst – oder nicht? … Ach was rede ich, dafür bist du bei der Polizei bekannt.“ Der Arm des Braunhaarigen fuhr in die Luft. „Steile Karriere gemacht, habe gehört sollst bald zum Teamleiter werden.“ „Und? Hast du ein verdammtes Problem damit?“ Seifert lachte. „Nein. Es ist nur amüsant, wenn man bedenkt, dass die Leute keine Ahnung haben, wer du bist. Was wäre, wenn man wüsste, dass du der Sohn eines Drogenbosses bist? Deine Karriere wäre vorbei.“ Mikaels Blick verfinsterte sich. „Du willst mich erpressen?“ „Erpressen, was ein scheußliches Wort. Betrachte es als einen Denkanstoß. Du hast viel mehr auf dem Kerbholz, als du dir eingestehen willst, du solltest aufpassen, dass es nicht dein Untergang sein wird!“ Wut kroch durch seine Adern. Sein Finger drückte den Abzug etwas mehr durch. „Hörst du schlecht? Ich will wissen, wo sich mein Vater aufhält, ansonsten knall ich dich ab!“ Seifert lächelte abermals, stand wieder auf und ging mit schnellen in seine Richtung. Ohne dass er etwas dagegen unternahm, griff er nach seiner Waffe und nahm sie ihm aus der Hand. „Wirklich? Du hast nicht den Schneid jemanden eiskalt zu erschießen, das sagte ich dir ja.“


    Das Lächeln aus Seiferts Gesicht verschwand. „Du musst das Ding schon richtig in der Hand halten, wenn du damit eine Bedrohung darstellen willst. Aber wie kann man das auch …“ Er drückte Mikael gegen die Wand und der Schwarzhaarige musste sich bemühen, nicht vor Schmerzen aufzuschreien. Seiferts Hand lag genau auf der Stelle, wo ihn vor ein paar Tagen seine Männer erwischt hatten, um ihm zu sagen, dass er in Köln nicht willkommen war. „Mit so einer netten Verletzung. Du solltest besser aufpassen. Heutzutage ist es auf der Straße ziemlich gefährlich.“ „Arsch!“, zischte Mikael leise. Seifert sah ihn amüsiert an. „Und ich dachte, dass Andreas dir benehmen beigebracht hat … da habe ich mich wohl getäuscht!“ Mikael lachte. „Vor so einem wie dir, soll ich Respekt haben?“ „Es würde dir zumindest helfen, den heutigen Tag ohne weitere Verletzungen zu überstehen.“ Seifert zog ihn an seinem Pullover von der Wand weg und schob ihn zum Fenster. „Aber es ist gut, dass du gekommen bist. Ich brauche jemanden, der die da draußen von mir ablenkt. Ich habe einen wichtigen Termin und den möchte ungerne absagen.“


    Seifert drückte Mikael seine Waffe wieder in die Hand, doch bevor der junge Polizist erkannte, dass sein Gegner ebenfalls eine Waffe trug, hatte er bereits abgedrückt. Eine Kugel traf seine Schulter und er schrie auf, verlor fast den Halt um seine Waffe. Seine linke Hand fuhr an die Stelle, wo sich der Schmerz langsam in seinen gesamten Körper ausbreitete und er spürte warmes Blut unter seinen Fingerkuppen. Er sah Sebastian Seifert mit großen Augen an. „Was ist?“, höhnte dieser, „sag nicht, du hast geglaubt, dass ich dir nichts antun werde? Du hast keinen Welpenschutz mehr!“ Er griff nach seinem Pullover und zerrte ihn aus der Tür. „Und nun raus … sonst bringt mir das ganze Schauspiel wenig. Ich muss deinen Vater sehen!“ Mikael versuchte seine Gedanken zu sortieren. Jetzt nur nicht in Panik verfallen, dachte er. Doch es war zu spät. Er hatte schon längst die Kontrolle über die Situation verloren. Die Schnittverletzung hatte ihn schon zugesetzt, die Verletzung an der Schulter würde es ihm nicht leichter machten. Er schüttelte den Kopf, um die ausbreitende Dunkelheit zu vertreiben. „Hören Sie mich, Hallo?“ Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. „Gerkhan Kripo Autobahn, können Sie mich verstehen?“ Weit entfernt hörte er eine zweite Stimme, die finnisch sprach. Eine, die er ganz genau kannte. Er zwang sich dazu klar zu denken. Er musste hier weg. Er konnte sich jetzt nicht ergeben. Er musste seinen Vater finden. Er musste wissen, was das alles zu bedeuten hatte, wer ihn in Helsinki über den Haufen geschossen hatte. Seine zittrigen Finger umgriffen die Waffe fester. Er atmete ein letztes Mal tief durch. Zumindest hatte das Schicksal ihm einen Strohhalm zum Festklammern gegeben. Er war verdammt noch einmal Andreas Hansens Sohn. Aufgeben hatte er nicht gelernt!


    „Kripo Autobahn?“, hörte Semir den Mann vor sich leise murmeln. Er lächelte. „Ja, wir werden Ihnen helfen. Bleiben Sie ganz ruhig.“ Der Deutschtürke vernahm, wie Lindholm hinter ihm auf Finnisch schrie und blickte sich verwirrt um. „Was ist denn nun wieder das Pro…“ Im nächsten Augenblick spürte er, wie es in seinem Nacken kälter wurde. Der junge Mann krallte sich an ihm fest, drückte ihm seine Waffe an den Hals. „Aus dem Weg Lindholm!“, befahl er mit bedrohlichem Unterton. Der finnische Kollege blickte finster drein. „Geh aus dem Weg Lindholm und leg die Waffe auf den Boden!“, wiederholte die Stimme hinter Semirs Kopf, „Oder ich Knall ihn ab und dich gleich mit. Du weißt, dass ich es vollendet habe, ehe du nur deine Waffe zücken kannst.“ Lindholm machte einige Schritte zur Seite und legte seine Waffe auf den Boden. „Zur Seite treten!“, forderte der Mann und Lindholm kam dem Wunsch sofort nach. „Steckt der Autoschlüssel?“„Sie wissen, dass diese Aktion gerade das Ende Ihrer Karriere bedeutet?“„Die Antwort auf meine Frage, Lindholm!“ Semir spürte, wie sich der Druck der Waffe an seiner Haut verstärkte. „Der Autoschlüssel steckt“, antwortete der deutsche Kommissar jetzt für seinen Kollegen. „Gut, gehen Sie zum Auto“, befahl er und Semir spürte, wie die Waffe von seinem Nacken in Richtung Rücken wanderte. „Setzen Sie sich!“ Die Wagentür öffnete sich und der Geiselnehmer zeigte mit der Waffe auf den Fahrersitz. „Wenn Sie nur daran denken loszufahren, bevor ich sitze, werde ich Herrn Lindholm erschießen!“ Semir nickte. Er musste sich wohl oder übel dem Willen des Mannes beugen. Als der Mann sich neben ihm auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, fuhr die Waffe an Semirs Kopf. „Gut und nun starten Sie den Motor und fahren los!“ Er nickte und kam dem Wunsch des Schwarzhaarigen nach.


    Nach wenigen Minuten drehte Semir den Kopf zum ersten Mal in Richtung seines Angreifers. Er zitterte, sein Gesicht war bleich, feiner Schweiß bedeckte seine Haut. An seiner rechten Schulter breitete sich ein Blutfleck aus, an seiner linken Seite war der graue Kapuzenpullover ebenfalls mit Blut beschmiert. Allerdings war das bereits getrocknet. Die Größe deutete aber dennoch auf eine ernstere Verletzung hin. „Sie brauchen Hilfe“, kam es nun vorsichtig von Semir. „Setzen Sie mich einfach dort ab“, flüsterte der Mann nur, im gleichen Augenblick fiel der Arm, der die Waffe hielt, auf den Schoss seines Angreifers. „Wer sind Sie?“, wollte Semir wissen. „Das spielt keine Rolle.“ Der Arm hob sich wieder und Semir blickte auf den Lauf der Pistole, die vor seinen Augen auf und ab schwang. „Lassen Sie mich einfach irgendwo raus und Sie werden diese Sache lebend überstehen.“


    „Hören Sie, ergeben Sie sich. Sie haben keine Chance, wenn sie jetzt aus dem Wagen aussteigen, werden die Kollegen Sie als Freiwild betrachten. Glauben Sie mein Kollege wird niemanden informiert haben?“ Semir verfolge, wie die Augen des Mannes sich schlossen, ehe er sie im nächsten Augenblick wieder aufriss. „Das-das sollte nicht Ihr Problem sein. Machen Sie einfach, was ich ihnen sage!"


    Semirs Blick fiel in den Rückspiegel. Hinter ihnen fuhr ein blauschwarzer Jeep mit getönten Scheiben, also waren es ganz sicher keine Kollegen. „Freunde von Ihnen?“, fragte er in Richtung seines Beifahrers. Der Mann drehte den Kopf über seinen Schultern. „Nein … nicht-nicht wirklich", sagte er mit bedachter Stimme. Ehe Semir darauf antworten konnte, fiel bereits der erste Schuss. Die Heckscheibe zersprang, und sie zogen die Köpfe ein, als ein Schauer von Glassplittern auf ihre Haare niederregnete. Der Geiselnehmer preschte als Erster wieder in die sitzende Position und drehte den Kopf wieder nach hinten. „Halten Sie den Wagen ruhig, ich werde dem Theater ein Ende setzen.“ Ehe Semir der Aufforderung Folge leisten konnte, hatte sein Beifahrer bereits auf den Reifen der Verfolger gezielt und schon verlor der Jeep die Kontrolle. Reifen quietschten, als er seitwärts schlitterte und dann war ein Knall zu hören. Die Verfolger waren in einem parkenden Auto gelandet.


    Semir sah den Mann neben sich mit großen Augen an. Wie war er fähig in seinem Zustand überhaupt einen gezielten Schuss abzusetzen? Vor nur wenigen Sekunden war er der Ohnmacht nahe gewesen und jetzt das hier. „Wer sind Sie?“, fragte er abermals, „Wie ist Ihr Name?“ „Fahren Sie in das Parkhaus!“, befahl der Mann neben ihm, ohne auf seine Frage zu antworten. „Wer sind Sie, hören Sie, ich kann Ihnen helfen.“ Sein Beifahrer lächelte und hob die Waffe in seiner Richtung. „Sie haben doch gesehen, dass ich schießen kann, glauben Sie nicht, es ist dumm mich herauszufordern? Aus dieser Entfernung. Ihr Gehirn wird als Brei an der Scheibe kleben … also lenken Sie den Wagen in das Parkhaus!“Semir hatte überlegt, ob er dem Befehl nachkommen sollte, lenkte den Wagen schließlich aber in das große Parkhaus und fuhr bis auf Deck 4 herunter, ehe er den Wagen zum Stehen brachte. Er sah zur Seite auf den schweißgebadeten jungen Mann. „Was will Seifert von Ihnen?“ „Kripo Autobahn, nicht wahr?“ Semir nickte verwirrt. Sein Beifahrer lächelte erschöpft und drückte ihm etwas in die Hand. „Geben Sie das Ben Jäger von mir. Es ist wichtig.“ Im nächsten Augenblick stieg er aus dem Auto. Semir blickte verwirrt auf das Armband. Der Anhänger, der daran baumelte, kam ihm bekannt vor. Genau, Ben hatte den gleichen. Was hatte Ben mit der ganzen Sache zu tun? Die Gedanken um seinen Partner nahmen ihn so sehr ein, dass Semir erst viel zu spät begriff, was er in diesem Augenblick eigentlich wirklich hätte tun sollen. Er stieg eilig aus dem Auto aus, doch er war zu spät. Der Mann war bereits verschwunden.

  • Als Semir wieder an der PAST ankam, wurde er bereits von Ben empfangen, der nervös auf dem Parkplatz auf und ab lief. „Oh Gott, Semir. Ich habe mir Sorgen gemacht! Was ist passiert? Lindholm hat nicht viel gesagt, außer dass man dich als Geisel genommen hat und seit diesem Augenblick telefoniert er, wie wild, auf Finnisch.“ Ben klopfte seinem Partner auf die Schulter. „Aber wie ich sehe, geht es dir gut. Erzähl, wer war dieser Typ in Seiferts Wohnung?“ Semir stöhnte auf. „Das weiß ich leider auch nicht so genau, er hat sich bei mir nie vorgestellt.“ In diesem Moment fiel ihm das Armband wieder ein. Er kramte es aus der Tasche und hielt es hoch. Vielleicht konnte ihm Ben ja beantworten, wer dieser Mann war, immerhin hatte er seinen Partner bei Namen genannt. „Kennst du das?“ Bens Blick erstarrte und er griff mit zittrigen Fingern nach dem Anhänger. „Woher?“ „Von unserem Herrn Geiselnehmer. Er sagte, ich sollte dir das geben.“ Ben ging mit eiligen Schritten zu seinem Auto. „Ben?!“, fragte er verwirrt, erhielt jedoch keine Antwort mehr. Sein junger Kollege war bereits in seinen Mercedes gestiegen und verließ mit quietschenden Reifen den Parkplatz. „Ben! Was wird das denn jetzt für eine Nummer??!!“ Verdattert sah er noch einige Sekunden auf die Ausfahrt, ehe er sich dann kopfschüttelnd wieder in die PAST begab.


    Die Stimmungslage schien dort keinesfalls besser zu sein. Er hörte, wie Lehto und Lindholm sich anschrien. Er verstand kein Wort, aber es reichte, um zu verstehen, dass das was vor diesem Haus passiert war mehr Schwung in die ganze Sache brachte, als Semir lieb war. Er beobachtete die Szene, die sich ihm bot, die schließlich abrupt beendet wurde, als Lehto plötzlich seinen Dienstausweis und seine Pistole auf den Tisch legte. „Was hat das Ganze zu bedeuten?“, mischte sich Semir nun ein. Die beiden finnischen Kommissare drehten sich zu ihm. „Wo ist der Mann?“, wollte Lindholm wissen. „Der, der mich als Geisel genommen hat?“ „Ja natürlich! Wer sonst?“ Semirs Blick wanderte von Lehto zu Lindholm. „Er ist mir entkommen, fürchte ich … ist es jemand, den wir kennen müssten?“


    „Es handelt sich um den Kollegen Häkkinen und Sie, Sie haben ihn einfach entkommen lassen? Manchmal glaube ich, ich habe es nur mit unfähigen Beamten zu tun!“ Lindholms Halsschlagader quoll vor Wut aus dem Hals hervor. „Ich verspreche Ihnen, wenn ich diesen Kleinen erwische, dann gnade ihm Gott!“, schrie er und seine Hand knallte auf den Tisch. „Und dann erfahre ich, dass Kollege Lehto die ganze Zeit über gewusst hat, dass sein Kollege hier herumläuft.“ Semirs Kopf drehte sich zu dem Jüngeren. „Ich habe ihm versprochen nichts zu sagen, er wollte seinen Fehler in Helsinki wieder gutmachen“, verteidigte sich dieser sofort. Lindholm lachte. „Indem er einen Kollegen entführt? Was zur Hölle bringen die euch heutzutage auf den Polizeischulen eigentlich bei?!“ „Mein Dienstausweis liegt doch auf dem Tisch, Lindholm, was willst du mehr?!“ Joshua wollte das Büro verlassen, doch Lindholm hielt ihn fest und zog ihn brutal zurück. „Willst du mich verarschen, du weißt, dass ich diese Entscheidung nicht treffe! … Der Chef wird es Häkkinen sicherlich einmal mehr durchgehen lassen, also nimm deinen beschissenen Ausweis und deine Pistole und reiß dich zusammen!“ Joshua griff wütend nach seinen Sachen. „Zufrieden?“, murrte er und Lindholm nickte. „Ja … fürs Erste.“


    Lindholm sah nun wieder auf Semir. „Ich möchte, dass Sie eine Fahndung nach Mikael Häkkinen rausgeben … ich werde derweil wieder Stellung vor Seiferts Haus beziehen, auch wenn wir durch diese Nummer von unserem Kollegen sicherlich eine wichtige Gelegenheit auf neue Hinweise verpasst haben!“


    Semir kam nicht dazu Lindholm für sein Auftreten zurechtzuweisen, denn ehe er antworten konnte, hatte der finnische Kollege mit lautem Türknallen die Dienststelle verlassen. Er sah wieder auf Joshua, der ihn nun unsicher anlächelte. „Dein Kollege also? Macht er das immer so, Leute als Geisel nehmen?“ „Ich …“, begann der Blonde leise, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nein … nein, eigentlich macht er das nicht. Er ist manchmal etwas schwer zu Händeln, aber Mikael … du musst verstehen, er ist kein Verbrecher oder so … ich meine, er hatte sicherlich seine Gründe und …“ Dieses Rumgeeier von Joshua machte Semir nur noch nervöser. Was zur Hölle war mit diesem Mikael Häkkinen? Was verbarg er und vor allem, was hatte das alles mit Ben zu tun?


    *


    Ben blickte auf das alte Haus und sah auf den Anhänger. Die eingeritzte Zahl musste einfach auf dieses Haus bezogen sein. Langsam stieg Ben aus und lief in Richtung Haustür. Der Putz auf der Fassade des Fachwerkhauses war bröckelig und mit Wein überwachsen. Er überlegte, was ihn wohl erwarten würde. Er erinnerte sich daran, wie sie im Sommer immer hier gewesen waren. Das Haus lag etwas weiter außerhalb von Köln und ein paar Kilometer weiter entfernt hatte es einen See gegeben. Er war damals traurig gewesen, als erfuhr, dass man den See vor ein paar Jahren zugeschüttet hatte, um Platz für neue Häuser zu schaffen. Die Tür war angelehnt und so trat Ben langsam hinein. Das Haus stand leer, die wenigen verbliebenen Möbel waren voller Staub. Ben ging in Richtung des Wohnzimmers. Langsam öffnete er die Tür und blickte auf einen zusammenkrümmten Schatten vor einem Sofa. Der Mann sah zu ihm auf und er blickte in ein blaues Augenpaar. „Hallo…Ben“, flüsterte die Person nun kaum hörbar. „M..Mich…“, stammelte er vor sich hin. Die Person, die er all die Jahre so sehr vermisst hatte, saß genau vor ihm. Er hatte sich nicht verändert. Wäre er ihm auf der Straße begegnet, hätte Ben ihn sicherlich sofort erkannt. „Eigentlich Mikael, aber du kannst ruhig bei Michael bleiben, wie mein Großvater“, ertönte es von der zittrigen Stimme. Ben nickte und trat langsam näher. „Bist du alleine?“ „Ja“, murmelte Ben leise.


    Er starrte Mikael weiter an. Das konnte nicht sein. Er befand sich in einem Traum. Gleich würde er mit der Realität konfrontiert werden! Er hatte das alles nur geträumt … die letzten Tage. Den Augenblick, als er dieses Foto gesehen hatte. Der Moment, in dem Semir ihm diesen Anhänger gegeben hatte. Ein leises Stöhnen holte Ben wieder aus Gedanken. Erst jetzt sah er, wie sein Gegenüber die Hand auf eine Wunde an der Schulter presste und Blut durch seine Finger sickerte. Auch war er blass und Schweiß bedeckte seine Haut. „Mich..Mikael … also die Wunde ich mein du-du must in ein Krankenhaus“, stieß er nervös aus. Warum tauchte er in diesem Zustand bei ihm auf? Warum tauchte er überhaupt auf? Warum zur Hölle, hatte er ihm und nicht Joshua diesen Anhänger zukommen lassen?
    „Nein, bloß nicht!“, fuhr sein Gegenüber hoch. Ben nickte. Immer mehr Fragen kreisten durch seinen Kopf. Es fiel ihm schwer sich auf die momentane Situation zu konzentrieren. „Du hättest nicht zufällig Verbandszeug?“ Ben fuhr erschrocken hoch. „Ich? … Äh, ja … natürlich in meinem Wagen. Warte kurz, ich komme gleich wieder.“ Schnell eilte Ben wieder in Richtung Haustür und kam wenig später mit seinem Verbandskasten zurück.


    Er kniete sich neben Mikael hin und für einige Zeit sahen sie sich stumm an, beide in ihrer Bewegung erstarrt. „Ich wollte nicht, dass du es so erfährst“, begann Mikael schließlich. Ben antwortete nicht und so fuhr sein totgeglaubter Freund fort: „Es gab viele Augenblicke, wo ich dich anrufen wollte, aber ich habe mich nie getraut … ich habe Briefe geschrieben, aber ich denke, dass dein Vater sie immer abgefangen hat.“ „Ich habe nie etwas von dir gehört“, bestätigte Ben leise und Mikael nickte. „Ich weiß, dass es nicht wieder gutzumachen ist und …“ Der deutsche Kommissar nickte. „Du bist Polizist geworden, wie wir immer miteinander ausgemacht hatten“, murmelte er. „Ich bin bei der Drogenfahndung … aber das weißt du sicherlich … schon.“ „Ja“, stimmte Ben zu und öffnete dabei den Verbandskasten. „Wir-wir sollten uns um die Wunde kümmern, das sieht übel aus“, sagte er mit der Hoffnung, sich so aus dieser eigenartigen Situation zu befreien. Einerseits war da dieses Gefühl von Vertrautheit, andererseits aber auch gleichzeitig diese knisternde Distanz. Mikael nickte und zog sein T-Shirt über den Kopf und gab damit eine Wunde preis, die Ben noch nicht gesehen hatte. „Was ist das?“ Über die rechte Seite zog sich ein langer Schnitt, der schon ein paar Tage alt schien. Bens Finger glitten sanft über die Wunde. Etwas Eiter quoll hervor und sein alter Schulfreund schrie laut auf. Der Finne griff nach seinem Handgelenk. „Bist du verrückt!?“ Er atmete hektisch ein und aus. „Perkele!“ „Das hat sich entzündet … hast du das nicht richtig behandeln lassen?“, fragte er. Mikaels Händedruck ließ langsam nach. „Wenn sich die Entzündung noch verschlimmert … damit ist nicht zu spaßen.“ Er beobachtete, wie Mikaels Mund sich zu einem Lächeln verzog. „Was ist daran so witzig?“, wollte Ben mit gereizter Stimme wissen. „Es hat sich nichts verändert“, nuschelte der Schwarzhaarige. Ben sah ihn fragend an. „Du … du bist immer noch derjenige, der mich zurechtweist, auf mich aufpasst.“ Ben lächelte leicht. Es war tatsächlich für einen Augenblick so, als wären die letzten Jahre nie gewesen. „Du scheinst den Job nicht besonders gut zumachen“, konterte er nun. „Wir sollten zunächst deine Schulter verbinden, dann kümmern wir uns um diese fiese Schnittverletzung, woher hast du die überhaupt?“ „Seifert … er hat mir ein paar seiner Freunde geschickt, als ich vor ein paar Tagen hier angekommen bin.“


    Ben nickte und machte sich dann ans Werk. Er spülte die Wunden aus und verband sie dann jeweils mit einem festen Druckverband. Immer wieder erhaschte er während der Prozedur einen Blick in das Gesicht des Mannes neben ihm. Voller Schmerz verzog er das Gesicht und dennoch kam kein Schmerzschrei mehr über seine Lippen. Als Ben fertig war, sah er, wie Mikaels Augen sich erschöpft schlossen. „Du solltest schlafen … du musst müde sein.“ Mikael riss die Lider auf und schüttelte dann den Kopf. „Alles gut. Ich-ich … Ben, warum du herkommen solltest. Es gibt da etwas … Hinweise auf Seifert, denen bisher nicht nachgegangen wurde … du musst dafür sorgen, dass man ihm auch offiziell etwas anhängen kann.“ „Warum gehst du damit nicht zu Joshua? Er arbeitet doch auch an dem Fall?“ „Irgendwas stimmt nicht und ehe ich nicht weiß, was es ist … bitte Ben, du darfst mit keinem der finnischen Kollegen darüber sprechen. Es … es ist wichtig … hörst …“ Mikael fielen die Augen zu, er verlor langsam das Bewusstsein. Ben schlug ihm sanft in das Gesicht, woraufhin Mikael die Augen wieder öffnete, ehe sie sich schließlich abermals schlossen. Ben schüttelte ihn sanft. „Hey, nicht schlappmachen. Wo hast du die Beweise? Komm schon Mikael … wach bleiben!“ Panik breitete sich in ihm aus und er spürte sein Herz hämmern. „Du verdammter Idiot! Warum sagst du nicht, wie schlecht es dir wirklich geht! Wieso zur Hölle kommst du zu mir? Verdammt, ich sollte dich dafür hassen, dass du dich nie gemeldet hast und nun! … Komm schon wach auf!“


    „Ach, lassen wir ihn doch ruhig noch etwas schlafen.“ Ben erstarrte in seiner Bewegung. Er kannte diese Stimme! Er wollte herumfahren, doch ehe er jemanden erkennen konnte, traf ihn etwas an den Kopf und er sank in die Schwärze ab.

  • Ben schlug benommen die Augen auf. Er blinzelte einige Male, ehe der neblige Schleier verschwand und er endlich klare Linien erkannte. Was zur Hölle war passiert? Wo war er? Nur langsam kämpfte sich die Erinnerung zurück in sein Gehirn. „Michael!“ Er fuhr hoch, worauf ein stechender Schmerz seinen Schädel durchfuhr. Ein Stöhnen entkam seinem Mund. „Mikael … es heißt Mikael.“ Er blickte nach rechts. Mikael lehnte an einer der Wände und schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben. „Kopfweh?“, fragte er nun. „Ja, die haben mir ganz schön was mitgegeben. Hast du eine Ahnung, wer unsere Gastgeber sind?“ Der Schwarzhaarige schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin erst vor ein paar Minuten wach geworden. Aber ich kann mir denken, wer es ist … Seifert.“ Ben musterte Mikael. Er zitterte viel stärker als in dem Haus von Hansen. Er stand auf und ging auf seinen alten Schulfreund zu. Er legte die Hand auf die Stirn, zog sie jedoch sofort wieder weg. „Scheiße, du hast Fieber!“ Ben bekam ein sarkastisches Lachen als Antwort. „Was dachtest du, passiert mit dieser Verletzung an den Rippen?“ „Du hast dich nicht verändert … Galgenhumor scheint immer noch dein Spezialgebiet zu sein“, konterte Ben und setzte sich dann neben Mikael.


    „Joshua … er hat mir vor ein paar Tagen mal erzählt, dass du die Leitung einer Abteilung übernehmen sollst. Wirklich, du scheinst immer noch ein Überflieger zu sein.“ „Keine Abteilung, nur ein Team. Aber ich denke kaum, dass man mir noch eine Leitung in Irgendetwas gibt nach den letzten Stunden“, antwortete Mikael ihm in einer monotonen Stimmlage, als würde es um das Wetter gehen. „Ich habe einen Polizeibeamten als Geisel genommen und ich nehme an, dass Josh inzwischen sein Versprechen brechen musste und jeder weiß, wer mein Vater ist.“ „Und das ändert was daran, dass du ein guter Polizist bist?“ „Vielleicht nicht, aber daran, dass man in den Mühlen der Bürokratie keine Chance mehr hat.“ Mikael lehnte den Kopf gegen die Wand. „Mein Vater, er hatte die Geschäfte in Finnland nicht aufgegeben. Er hatte sie sogar noch ausgebaut und war schnell der Mann, den die Polizei unbedingt haben wollte, auch wenn sie nicht wusste, nach wem sie sucht. Ich denke nicht, dass es gut kommt, dass ausgerechnet sein Sohn im Drogendezernat arbeitet.“ Ben nickte. Das klang durchaus schlüssig. „Wie bist du da gelandet?“ Mikael sah ihn überrascht an. „Im Drogendezernat?“ „Ja, wo sonst? Du hast immer gesagt, du würdest gerne zum Mord.“ „Mein Chef, Harri, er hat mich seit dem ersten Tag auf der Polizeischule gefördert und dann bin ich irgendwie automatisch dort gelandet.“ Ben nickte. „Und du hattest nie den Wunsch doch noch zur Mordkommission zu wechseln?“ Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht … ehrlich gesagt, die sind alle etwas komisch dort. Ich denke nicht, dass man es dort lange aushalten würde.“


    Ben wollte etwas erwidern, doch dann öffnete sich dir Tür und Sebastian Seifert trat herein. „Ich sehe schon, unsere Gäste sind wach.“ „Was willst du?“, zischte Mikael und war aufgesprungen, doch Seifert grinste nur. „Ich brauche eine Information von dir. Ein Vögelchen hat mir bei meinem Treffen vorhin gezwitschert, dass du etwas hast, was uns gefährlich werden könnte.“ Mikael verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab keine Ahnung, wovon du überhaupt redest! Lass uns gehen!“


    Seifert pfiff gellend auf zwei Fingern und hinter ihm traten zwei bullige Typen in den Raum. „Kümmert euch um den da!“, wies er an und zeigte dabei auf Ben. Seifert selbst, verringerte indes den Abstand zwischen sich und Mikael. „Kommst du von selbst mit, oder willst du die harte Tour?“ Mit angstvollem Blick verfolgte Ben, wie Mikael stumm den Kopf schüttelte und Seifert dumm anlächelte. Sein alter Schulfreund hatte sich wirklich kaum verändert. Er war genauso Stur wie damals. „Mikael, du solltest …“, begann er, wurde jedoch von einem Schlag in die Magengegend gestoppt. Die beiden Typen hatten ihn in den Schwitzkasten genommen. „Ich schätze eure Aufmerksamkeit wirklich sehr, aber im Augenblick habe ich wirklich andere Prioritäten“, witzelte er und verpasste einem der Kerle einen Faustschlag ins Gesicht. Die Freude über den Erfolg ließ ihn allerdings für einen Augenblick unvorsichtig werden. Der zweite Angreifer packte ihn an den Haaren und knallte seinen Kopf brutal gegen die Wand hinter sich. Er verlor kurz die Orientierung und sank zu Boden. Vor seinem Augen breiteten sich weiße Punkte auf. Er sah, wie Mikael von Seifert einen Schlag auf die Wunde an der Seite abbekam, ehe letztendlich alles um ihn herum Schwarz wurde.


    Dienststelle Autobahnpolizei
    Semir beobachte aufmerksam, wie Joshua vor der Dienststelle nervös auf und ab lief. Immer wieder sah der junge Kollege auf sein Handy. Er schien eine Erklärung von seinem Freund zu erwarten. Ihm ging es momentan ähnlich. Er wartete seit Stunden vergeblich auf eine Nachricht von Ben und ärgerte sich nun darüber, dass er ihm nicht hinterhergefahren war, sondern stattdessen die Dienststelle betreten hatte. Der deutsche Hauptkommissar griff nach seiner Jacke, die auf der Rückenlehne seines Bürostuhls abgelegt hatte, und begab sich in Richtung des finnischen Polizisten. „Du wartest auf einen Anruf von deinem Kollegen?“ Joshua drehte sich herum und lächelte leicht. „Wir hatten vor einigen Tagen ausgemacht, dass er sich alle zwei Stunden mit einer SMS meldet. Er hat sich daran gehalten, seit heute Morgen … da kommt nichts mehr. Dass du gesagt hast, dass er schwer verletzt war, macht die Sache nicht wirklich besser.“ Er nickte. „Ich erreiche Ben auch nicht, seit er weg ist mit diesem Anhänger“, merkte er mit besorgter Miene an. „Du weißt etwas, was du vorhin gegenüber von mir und Lindholm nicht geäußert hast, oder?“ Joshua fuhr mit der Hand durch seine blonden Haare. „Mikael ist … ich weiß nicht, wie ich es jetzt am besten ausdrücken soll …“ Die Gesichtszüge des Finnen wurden ernst. „Du musst mir versprechen, dass du darüber stillschweigen bewahrst.“ „Du weißt, dass ich das nicht kann, Joshua. Wenn es etwas ist, was eine Bedeutung hat für den Fall, dem Verschwinden der Beiden.“ Der Blonde nickte schwerfällig. „Ich weiß“, murmelte er leise und sah dann wieder auf sein Handy. Er hatte während ihrer Unterhaltung pausenlos die Nummer seines Kollegen gewählt, als hätte er die Hoffnung, dass er sich doch noch meldete und er ihm gegenüber nicht die Wahrheit sagen musste. Joshua steckte sein Handy schließlich ein und seufzte. „Mikaels Vater ist Andreas Hansen. Er hat damals seinen Tod nur vorgetäuscht.“ Semir starrte seinen Gesprächspartner ungläubig an. „Du willst damit sagen, dass dein Kollege …“ „Er ist Michael Hansen. Er hat den Nachnamen seiner Mutter angenommen, dazu vor ein paar Jahren dann offiziell den Vornamen vor Gericht geändert. Es war keine große Sache, wo es die finnische Version des Namens ist und …“ Semir winkte ab, ehe sich der finnische Hauptkommissar um Kopf und Kragen reden konnte. „Das spielt doch jetzt keine Rolle, Joshua … was will er hier?“ Joshua sah ihn ratlos an. „Er sagte, er ist sich sicher, dass er seinen Vater gesehen hat – also du musst wissen, Mikaels Eltern hatte einen Unfall. Sie sind tot – als man auf ihn geschossen hat und er glaubt, dass er über Seifert an ihn herankommt.“ Semir fuhr sich mit den Fingern über seinen Stoppelbart. „Er ist also für Seifert gefährlich?“ „Ja, ich denke schon.“ „Hast du eine Ahnung, wo sich Mikael verstecken könnte?“ „Ich weiß nicht … ich denke, wir waren mal in einem alten Haus, als wir mit ein paar Freunden in Köln waren. Aber ich … es tut mir leid, ich kann mich nicht an die Adresse erinnern.“


    Joshua sah verlegen zur Erde. „Du wirst Mikael nicht schützen können, nicht wahr?“ „Du weißt, dass ich es nicht kann. Es ist unserer Job und dein Freund … er steckt ziemlich tief in dieser Sache drin.“ Der Kopf von Joshua preschte nach oben. „So kannst du das nicht sagen! Er hat die ganze Zeit als Polizist gehandelt! Er hat …“ „… uns wichtige Informationen vorenthalten! Mich als Geisel genommen“, beendete Semir den begonnenen Satz. „Du hast doch keine Ahnung, was das für ihn bedeuten wird. Er wird es nicht leichter haben in Helsinki. Bitte Semir, erzähl es niemanden, halte diese Hansen-Sache aus den Ermittlungen“, flehte der junge Kollege. „Und wie soll ich das machen? Wie zum Beispiel erkläre ich, dass Ben und dein Freund zur gleichen Zeit verschwunden sind? Wie erkläre ich, dass zwei Kollegen, die sich nicht kennen vielleicht gemeinsam in Schwierigkeiten geraten sind?“ Der Deutschtürke legte seine Hand auf die Schulter von Joshua. „Ich weiß, du meinst es nur gut, aber Joshua … du kannst ihm jetzt nicht mehr helfen. Er hat sich selbst in diese Situation gebracht und nun müssen wir ehrlich sein, damit wir ihm daraus helfen können.“ „Jaja“, hörte Semir kurz darauf den Finnen leise murmeln. Semir nickte. „Gut, ich werde jetzt reingehen und Susanne darum bitten, nachzuprüfen, ob Hansen noch ein Haus in Köln hat. Du versuchst weiter deinen Freund zu erreichen, okay?“ „Ja … okay“, kam es kleinlaut von Joshua, der nun wieder sein Handy aus der Hose zog.

  • Semir scannte mit seinen Augen den Raum. Vor dem Sofa lag Verbandszeug verstreut, Blut klebte in dem Teppich. Er vermutete, dass es das von dem finnischen Kollegen war – diesem Mikael Häkkinen. Er hatte schließlich mit eigenen Augen gesehen, dass er ziemlich viel geblutet hatte. Vor dem Haus hatte Bens Auto gestanden. Es waren also beide hier gewesen. „Es muss etwas passiert sein.“ Er drehte sich von dem Sofa weg. Joshua stand nur ein paar Metern hinter ihm. „Das denke ich auch“, bestätigte er die böse Ahnung seines Kollegen aus dem hohen Norden. Semir zückte sofort sein Handy und benachrichtigte die Spurensicherung. Sein nächster Anruf galt Hartmut. Der Techniker musste unbedingt herausfinden, ob er das Handy von Ben oder diesem Häkkinen orten konnte. Im Hintergrund hörte er, wie auch Joshua einige Anrufe zu machen schien. „Ich habe meinen Chef in Finnland benachrichtigt“, berichtete ihm Joshua, als er sein Handy wieder in die Tasche gleiten ließ. „Er wird morgen früh einen Flug nehmen … er möchte die Leitung in diesem Fall nun selbst übernehmen, also zumindest teilweise, euch kann er natürlich nichts vorschreiben.“Semir nickte. „Ist vielleicht keine schlechte Idee. Ein paar mehr Leute helfen sicherlich, um die beiden schnell zu finden.“


    Semir verfolge, wie Joshua durch die Wohnung streifte. Ab und an blieb er vor einigen Fotos stehen und betrachtete sie, ehe er dann weiterging. Er folgte Joshua und sah ebenfalls auf die Fotos, doch für ihn hatten sie sicherlich weniger Wert als für den jungen Kollegen. Er wusste, dass Mikael darauf abgebildet war. Immerhin hatte Andreas Hansen auch sonst keine Kinder gehabt. Er war darauf Sieben, würde er schätzen, und saß an einem Flügel. „Spielt dein Freund Klavier?“, erkundigte er sich. Semir war erpicht darauf mehr Informationen über diesen Häkkinen zu sammeln. Immerhin hatte dieser Mann ihm eine Pistole an den Schädel gehalten, auch wenn es natürlich eher dem Zweck gedient hatte von Lindholm und Seifert wegzukommen. „Nein, seit dem Tod oder Scheintod seines Vaters nicht mehr.“ Semir nickte und sah nun nach draußen. Das Haus lag in einer Siedlung, aber bisher hatten sie die Zeugenaussagen der Nachbarn nicht weitergebracht. Einige hatten einen silbernen Lieferwagen gesehen, andere einen schwarzen. Er seufzte und löste sich wieder von dem Fenster. Der Autobahn-Kommissar betrachtete die Tüten mit Beweisstücken, die ihnen die Spurensicherung, die inzwischen vor Ort war, auf den Tisch gelegt hatte. Er öffnete eine davon, die einige Zettel enthielt, und blättere sie durch. Beweisstücke konnte man das Gesammelte aber wohl nicht nennen. Es waren zum großen Teil alte Papiere: Rechnungen und Lieferscheine. Ein Zeugnis der fünften Klasse lag dazwischen. „Ein Musterknabe dein Kollege. Alles Einsen.“ Joshua, der nur unweit von ihm stand, lachte laut. „Das hat sich nicht wirklich geändert. Mikael ist Hochbegabt, wirklich verlassen tut er sich auf sein Gehirn aber dennoch nicht. Er ist einer dieser Bauchmenschen, was leider oft zu Problemen führt. Manchmal glaube ich er hat einen Schalter, um seine Intelligenz in den unpassendsten Momenten einfach auszuschalten.“Semir legte das Zeugnis wieder auf den Tisch. „Und die hat er sich wohl gerade wieder eingehandelt. Ich glaube ja, dass Seifert etwas damit zu tun hat. Er ist seit spurlos vom Erdboden verschluckt, wie unsere Kollegen.“ Der Deutschtürke fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich hoffe nur, Ben geht es gut“, murmelte er leise.„Mikael wird nicht zulassen, dass man Ben etwas antut.“ Semir sah hoch und blickte in Joshuas Gesicht. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Dir ist aber schon klar, dass dein Freund ziemlich übel zugerichtet ist? Vermutlich muss Ben eher auf ihn aufpassen.“„Glaub mir, ich kenne Mikael. Er weiß nicht, wie man aufgibt. Er macht weiter, bis sein Körper nachgibt und bis dahin wird er seinen Entführern keinen Gefallen tun.“


    In einer verlassenen Hütte
    Bens Hand löste sich langsam von Mikaels Stirn und er setzte sich neben ihn hin. Nachdem er nach dem Schlag wieder aufgewacht war, war Mikael zunächst verschwunden gewesen. Erst vor ein paar Minuten hatte Seifert ihn wieder in den Raum gebracht. Der deutsche Kommissar war sich sicher, dass das Fieber noch einmal gestiegen war. Mikael schien erschöpft. An seiner Stirn klaffte eine Platzwunde. Seifert hatte ihn also nicht wirklich liebevoll behandelt. „Sie werden merken, dass wir fehlen“, murmelte er leise, „halte nur noch etwas durch.“ „Ich hatte nicht vor aufzugeben“, gab ihm Mikael zu verstehen und richtete sich an der Wand hinter sich auf. „Ich hab schon Schlimmeres durchgemacht.“ Ben zog die Augenbraue hoch. „Und was soll das gewesen sein?“ Mikael schloss die Augen. „Es ist nicht wichtig“, flüsterte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Ben wollte erneut ansetzen, ließ es dann jedoch bleiben. Er hatte diesen Mann immerhin mehr als zehn Jahre nicht gesehen. Er konnte nicht verlangen, dass er ihm sofort blind vertrauen würde. „Was wollte Seifert von dir?“, fragte er stattdessen. „Er wollte wissen, wo ich die Informationen über seine Geschäfte gespeichert habe …“ „Und?“ „Was und?“„Na, hast du es ihm gesagt?“ Mikael lächelte, öffnete jedoch nicht die Augen. „Was denkst du?“ „Wo hast du diese Informationen? Werden Sie sie ohne deine Hilfe finden?“ Diesmal schlug Mikael seine Augen auf. „Nein, werden sie nicht!“, sagte er nur, ehe seine Lider sich wieder schlossen.


    Es herrschte für einige Zeit Stille und Ben dachte schon, dass Mikael eingeschlafen war, doch dann ertönte die Stimme des Schwarzhaarigen abermals. „Autobahnpolizei, wie kommt man dort hin?“ „Es sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein nach meiner Ausbildung, aber inzwischen fühle ich mich wohl und Semir ist ein guter Freund geworden.“„Der kleine Typ, den ich als Fluchtmöglichkeit genutzt habe?“„Ja … der. Du hättest auch etwas netter zu ihm sein können, im Übrigen.“Mikael zog den linken Mundwinkel nach oben. „Ich war doch eigentlich sehr nett zu ihm. Er hat doch keine Schramme, oder?“ „Ganz oben stehst du nach dieser Aktion auf Semirs Hitliste aber sicherlich nicht.“ „Das bin ich gewöhnt, ich bin nicht gerade der Typ, der sich schnell Freunde macht.“ Ben lachte leise. „Das warst du schon in der Schule nicht. Ich habe niemanden so gehasst wie dich, als du in meine Klasse gekommen bist.“„Du warst sicherlich auch nicht meine erste Wahl, also sind wir Quitt.“Ben atmete einige Male tief ein und aus. „Es war übrigens mein Vater, der Andreas Hansen damals bei der Polizei gemeldet hatte.“ Mikael öffnete seine Augen einen Spalt, nickte dann aber nur, um sie wieder zu schließen. „Er hat mich glauben lassen, dass du tot bist und mir all die Jahre etwas vorgespielt … ich habe keine Ahnung, wie ich ihm das je verzeihen soll.“ „Er wollte dich schützen“, antwortete ihm Mikael und Ben kam nicht umher den müden und erschöpften Unterton wahrzunehmen. „Wir sollten uns ein paar Stunden Schlaf gönnen. Vielleicht haben wir dann einen Masterplan, wie wir hier herauskommen“, sagte Ben schließlich und versuchte es sich irgendwie auf dem Holzboden bequem zu machen.

  • Ben machte sich langsam Sorgen. Er war sich sicher, dass das Fieber von Mikael gestiegen war, auch wenn sein Freund aus Kindertagen es nicht zugeben wollte. Kalter Schweiß bedeckte seine Haut und die Augen waren rotunterlaufen. „Du solltest schlafen“, ermahnte Ben sein Gegenüber, doch erhielt nur ein Kopfschütteln als Antwort. „Es ist nicht schlimm“, konterte Mikael mit kraftloser Stimme. „Ja sicher. Sieh dich an. Uns läuft die Zeit davon und das weißt du auch.“ „Es würde nichts ändern. Ich pack das schon – irgendwie.“


    Ben wollte etwas erwidern, doch wurde von einem Geräusch unterbrochen. Es wurde ein Schlüssel in der Tür gedreht, die sich dann wenig später öffnete. Sebastian Seifert trat herein und ging geradewegs auf Mikael zu. Ben preschte hoch und wollte sich schützend vor seinen Freund stellen, doch ehe er seinen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, wurde er von etwas oder jemanden zurückgezogen und gegen die Wand gedrückt. Ein bulliger Typ drückte ihn fest gegen die Holzbretter. „Du bleibst schön hier, Jäger“, zischte er ihm zu. Der Jungkommissar zappelte und wehrte sich gegen den Griff. „Lass mich los“, schrie er und verpasste dem Mann einen Tritt gegen das Schienbein. Ohne Erfolg. Der Griff wollte sich einfach nicht lösen und er musste erkennen, dass er zum Zusehen verdammt war.


    Seifert zog Mikael an der Wand hoch und Ben sah, wie sein Freund das Gesicht vor Schmerzen verzog, auch wenn kein Laut über seine Lippen kam. „Es wird Zeit, dass du mir einen kleinen Gefallen tust“, zischte Seifert leise, „ich warte schon viel zu lange auf die richtige Antwort von dir.“ Mikael lächelte. „Ich bin nicht der Typ, der Arschlöchern wie dir einen Gefallen tut!“ Seifert verstärkte seinen Druck gegen den Körper des Schwarzhaarigen. Wut blitzte in seinen Augen auf. „Ich habe so langsam genug von dir! Sag mir, wo du die Informationen hast!“, sagte Seifert nun etwas lauter. „Warum sollte ich? Ich glaube kaum, dass man uns dann gehen lässt.“ „Sieh dich an, wie lange glaubst du noch durchzuhalten? Einen Tag, Zwei Tage oder vielleicht eine Woche? Spätestens dann sollte es vorbei sein.“ Mikael begann zu lachen. Heißer und von schweren Atemstößen durchzogen. „Und wenn schon … dann bekommst du deine Antwort auch nicht!“


    Seifert grinste. „Dein Leben mag dir zwar nicht viel wert sein, Mikael … aber wie sieht es mit dem von deinem Freund aus.“ Bens Augen weiteten sich, als er begriff, worauf Seifert hinaus wollte. Nur unmittelbar danach richtete der Typ, der ihm in Schwitzkasten hielt, eine Waffe gegen seine Stirn. Bens Gedanken purzelten wild durcheinander. Er stand nun reglos, als könnte er damit verhindern, dass der Mann bei einer kleinen Bewegung von ihm schoss. Sein Herz pochte heftig und rasend schnell. Angst durchflutete seine Adern. Seifert war einer von den Kerlen, die keine leeren Drohungen machte. Er würde ihn erschießen lassen, wenn Mikael nicht tat, was er wollte.


    „Du bist ein Arsch Seifert!“ Mikaels scharfe Stimme durchschnitt die Stille. „Wenn du das machst, dann ist es dein letzter erbärmlicher Schachzug gewesen!“Sebastian Seifert lachte auf. „Eins, zwei …“ Ben schloss die Augen. „Dre…“„Finger weg von den beiden!“, ertönte es von einer markanten, tiefen Stimme und Ben spürte, wie sich die Waffe von seiner schweißnassen Stirn löste. Er öffnete die Augen und konnte kaum glauben, was er jetzt zu sehen bekam. Andreas Hansen stand in der Tür. Der Mann, der eigentlich tot sein sollte.Hansen trat näher heran und betrachtete seinen Sohn. Ben konnte sehen, wie dem Mann für einige Sekunden die Gesichtszüge entglitten, Mikael aber gleichzeitig wenig überrascht schien seinen Vater hier zu sehen. Er kniete sich zu Mikael herunter. „Sebastian, was hat das zu bedeuten?“ Der Mann inspizierte seinen Sohn, der unter seiner Berührung laut aufstöhnte. Hansen schob den Pullover leicht nach oben und betrachtete die Verletzungen, ehe seine Hand auf Mikales Stirn fuhr. „Was ist das für Verletzungen? Er hat Fieber, warum hat er Fieber?!“ Seifert lachte. „Er war in meinem Haus, wollte Informationen … ich habe etwas mit ihm gespielt.“ „Gespielt?!“, entfuhr es Hansen mit bedrohlicher Stimme. „Er ist mein Sohn! Du hast gesagt, du hast alles im Griff und was ist das hier?! Die Wunde an der Seite ist entzündet, sein Fieber viel zu hoch!“ „Und? Der Kleine ist gefährlich … du hast es selbst gesagt.“ Andreas Hansen preschte hoch und drückte Seifert gegen die Wand. „ER IST MEIN FLEISCH UND BLUT! Sieh zu, dass du einen Arzt herholst. Wenn der Junge stirbt, mache ich dich kalt!“ Seifert schubste seinen Angreifer von sich. „Mein Gott ist ja gut. Wenn ich deine Vatergefühle damit beruhigen kann, holte ich einen Arzt her.“ Ben beobachtete, wie Seifert aus dem Schuppen verschwand. Hansen drehte sich wieder zu ihnen um. „Mikael, sieh mich an!“, sagte er mit bestimmter Stimme und sein Sohn hob den Kopf, fixierte mühselig die Augen seines Vaters. Er ging auf Mikael zu und beugt sich herunter, flüsterte ihm etwas zu, was er nicht verstand. Danach richtete er sich wieder auf. Sein Blick traf für einen kurzen Augenblick den von Ben. „Du wirst nicht zu befürchten haben, aber ohne dich wird mein Plan leider nicht funktionieren.“ Ben wusste nicht, was er erwidern sollte, also nickte er nur stumm. Hansen gab dem Mann, der ihm noch immer im Schwitzkasten ein Zeichen und dieser lockerte sofort den Griff von ihm und dennoch sah Ben einfach nur zu, wie Andreas Hansen nun wieder den Raum verließ.


    Mikael starrte die Tür mit seinen fiebrigen Augen an. „Was hat er zu dir gesagt?“, wollte Ben wissen. Der Blick des Finnen wandte sich kurz zu ihm, ehe er wieder auf die Tür sah. „Das verstehe ich selbst nicht …“, nuschelte er leise. „Er sagte … er hat gesagt, dass er weiß, dass ich stark genug bin … es ihm Leid tut.“ Mikael sah ihn an. Seine blauen Augen schienen ihn zu durchbohren. „Ich verstehe nicht, was er meint. Ich verstehe nicht, warum wir dann hier sind, wenn es ihm alles Leid tut. Ich …“ „Vielleicht ist es ein Trick“, mutmaßte Ben nun. „Was für ein Trick soll das bitte sein!“ Die Stimme seines Freundes klang scharf und bedrohlich, fast schon so wie die seines Vaters vor wenigen Minuten. „Weiß nicht … uns in Sicherheit wiegen oder so … damit sie die Informationen bekommen.“ Mikael zog die rechte Augenbraue hoch. „Sicher, dass wird sein Plan sein“, murmelte er sarkastisch, lehnte seinen Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. „Was denkst du? Das er plötzlich seine Liebe zu dir wiederentdeckt hat? So wie ich das verstanden habe, hat er dich damals alleine gelassen, ist abgehauen und hat dich im Glauben gelassen, dass er tot ist. Übrigens muss das eine Familienangewohnheit sein.“ Sofort als Ben den letzten Satz ausgesprochen hatte, wünschte er, dass er seinen Mund gehalten hatte. „Was soll das nun wieder heißen?“, fuhr Mikael ihn an. „Was wohl … du hast es nie für nötig befunden mich darüber zu informieren, dass du nicht tot bist!“ Ehe Ben sich versehen konnte, war Mikael aus seiner Position hochgeprescht und stand nun direkt vor ihm. Seine hellblauen Augen blitzten in bedrohlich an. „Du denkst also, dass es mir Spaß gemacht hat so zu tun, als wäre ich tot?“ „Das habe ich nicht gesagt“, wehrte sich der deutsche Kommissar sofort. „Aber gedacht! Ich sehe es doch an deiner Mimik!“ „Ja sicher, sowas siehst du daran, wie ich dich in diesem Augenblick ansehe“, erwiderte Ben mit einem leichten Lächeln.


    Mikael sah ihn herausfordernd an und lachte leise auf. „Ich kann so einiges sehen. Zum Beispiel sehe ich, dass es dir überhaupt nicht passt, in diesem kleinen Raum eingesperrt zu sein! Du hattest nie Platzangst, also muss etwas passiert sein, weshalb du nun Platzangst hast!“ Bens Augen weiteten sich und er blickte Mikael lange stumm an. Diese Aussage hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. Er hatte in jedem Punkt Recht gehabt. Seit er in diesem Sarg eingesperrt war, hatte er Platzangst. „Woher?“, flüsterte Ben leise und ärgerte sich, dass er am ganzen Körper begonnen hatte zu zittern. „Ich sagte ja, ich sehe es an deiner Körperhaltung.“ Sein Freund löste sich wieder von ihm und setzte sich in der gegenüberliegenden Ecke auf den Boden. Mikael zog die Knie an seinen Körper und schlang die Arme darum, ehe er seinen Kopf darauf bettete. Ben wusste nicht, wie lange er Mikael nach dieser Auseinandersetzung einfach nur anstarrte. Er hatte sich selbst inzwischen wieder hingesetzt, aber seine Augen hatten Mikael immer im Blickfeld gehabt. Nach dem Wutausbruch wirkte der schwarzhaarige junge Kommissar nun erschöpft. „Sag mal und du hast das alles wirklich nur an meiner Körpersprache gesehen?“, fragte der Braunhaarige dann schließlich nach. Mikael hob seinen Kopf und sah ihn an. „Ja“, gab er ihm einsilbig Antwort. „Und bei Seifert und deinem Vater. Erkennst du da auch etwas in ihrer Mimik und Gestik?“ „Das willst du nicht wissen.“ „Was siehst du?“, hakte Ben nach. „Seifert ist kalt. Er wird kein Erbarmen zeigen, wenn es das ist, worauf du hinaus willst. Du solltest machen was er sagt, wenn du überleben willst.“ „Hast du ihm nicht gerade widersprochen?“ Mikaels Mundwinkel zogen sich nach oben. „Ich habe noch nie gemocht, wenn mir Leute gesagt haben, was ich zu tun und zu lassen habe und außerdem … im Gegensatz zu dir, habe ich einen Wert für ihn … er braucht etwas, was nur ich habe.“ „Und dein Vater? Was siehst du bei ihm?“ Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers verhärtete sich. „Nichts. Ich konnte nichts sehen“, murmelte er schließlich und ließ den Kopf wieder auf seine Knie sinken. „Ich bin müde, ich möchte schlafen …“ Ben wusste, dass es eine Lüge war. Mikael hatte irgendwas in der Körpersprache seines Vaters erkannt, wollte das aber offensichtlich nicht mit ihm teilen.


    Der deutsche Jungkommissar lehnte den Kopf gegen die Wand und sah nun an die Decke. Vielleicht war wirklich nicht alles, wie damals, als Mikael … nein er hieß damals noch Michael … verschwand. Es lagen immerhin mehr als zehn Jahre zwischen ihrer letzten Begegnung. Bens Blick senkte sich wieder und er musterte Mikael. Er wirkte immer noch klein und zerbrechlich wie damals, die Muskeln sprachen jedoch dafür, dass er regelmäßig zu trainieren schien. Über seinen Charakter wusste Ben überhaupt nichts. Bisher hatte Mikael ihm nur eine Seite gezeigt: Ein junger ernster Polizist, der nicht bereit war Seifert zu geben, was er wollte. Vielleicht waren sie ja überhaupt nicht mehr so etwas wie Freunde? Zehn Jahre, in so einer Zeit konnte viel passieren. „Wie bist du in Helsinki aufgewachsen?“ Mikael hob seinen Kopf nicht. „Hattest du eine gute Jugend? Viele Freunde, naja abgesehen von Josh. Er ist ja dein Freund oder?“„Und wer sagt dir, dass ich darüber reden möchte?“


    Ben verstummte für einen Augenblick aufgrund der Härte in Mikaels Stimme. „Ich dachte … wir waren immerhin mal sowas wie beste Freunde und zumindest ich, ich habe noch dieses Gefühl in mir, dass wir es immer noch sind.“ Mikael hob den Kopf. „Es war eine gute Jugend.“Ben wartete gespannt ab, ob noch etwas kommen würde, doch es kam nichts. Mikael speiste in mit fünf Wörtern ab. „Drei Fragen und fünf Wörter als Antwort. Respekt“, sagte er mit einem kleinen Lächeln.„Vier Fragen, du scheinst in Mathe immer noch nicht besonders gut zu sein“, konterte sein Gegenüber und lächelte ebenfalls. Ben zog die Beine an seinen Körper und bettete die Ellenbogen auf seine Knie. „Warum willst du wirklich nicht darüber reden?“ Ben wusste nicht, warum er diese Frage stellte, denn eigentlich erwartete er keine Antwort von Mikael, doch diesmal überraschte der Schwarzhaarige ihn. „Ich hatte in Finnland nie besonders viele Freunde. Eigentlich nur Joshua“, antworte Mikael ihm mit müder Stimme. „Wir haben in einer Wohnung gewohnt, nicht wie hier in einem Haus. Eigentlich, oder zumindest habe ich das immer geglaubt, waren wir eine glückliche Familie. Aber ich habe mich wohl geirrt.“ Der Schwarzhaarige seufzte. „Manchmal wünschte ich, dass mein Vater wie deiner wäre.“ Ben musste lachen. „Das wünscht du dir nicht wirklich. Er ist enttäuscht, dass ich das Unternehmen nicht weiterführe und Polizist geworden bin und er hat mich belogen … was dich angeht.“„Weil er dich beschützen wollte. Sieh dir meinen Vater an, der entführt mich. Glaub mir Ben, er meint es nur gut mit dir. Als ich ihn getroffen habe, da habe ich gesehen, wie sehr er …“„Du hast ihn getroffen?!“, fuhr Ben dazwischen, ehe Mikael seinen Satz beenden wollte. „Er hat mir immerzu Geld zugeschickt. Ich wollte es ihm zurückgeben … ich brauche sein Geld nicht. Ich bin immer klargekommen.“ Ben nickte. Sein Vater hatte Mikael also sogar Geld gegeben und doch nicht den Mut gehabt, ihm gegenüber zu erwähnen, dass sein bester Freund nie gestorben war. „Du solltest ihm verzeihen“, äußerte Mikael neben ihm und schloss dann die Augen. Ben saß noch eine Weile da und beobachtete seinen ehemaligen Schulfreund. Vielleicht hatte sich in den zehn Jahren ja doch nicht alles verändert. Schon damals war Mikael jemand gewesen, der sich nicht gleich jedem anvertraute und die Menschen um sich herum sorgfältig auswählte. Dass er sich ihm geöffnet hatte, war sicherlich ein Beweis dafür, dass er Ben immer noch dazuzählte.

  • Semir sah auf, als ein rundlicher silberhaariger Mann Mitte 50 das Großraumbüro der Dienstelle betrat. Er war elegant gekleidet und trug einen dunkelblauen Anzug. Einige Meter dahinter folgte eine blonde Frau, die ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Joshua war sofort aufgesprungen und hatte sich in Richtung der beiden Neuankömmlinge begeben, weshalb Semir davon ausging, dass es wohl die Kollegen aus Helsinki sein mussten, deren Hilfe der junge Kollege am gestrigen Tag verlangt hatte. Der deutsche Kommissar warf einen letzten Blick auf die Akte vor sich und begab sich dann ebenfalls in die Richtung der beiden Polizisten. „Das ist Harri Kaurismäki, er ist der Leiter des Drogendezernats“, erklärte Joshua und der Mann hielt ihm die Hand entgegen. „Semir Gerkhan“, stellte er sich vor. Joshuas Blick wandte sich zu der jungen Frau. „Sina Lehto“, sagte er und fügte ein leises „meine Frau“ an. Semir nickte und reichte ihr ebenfalls die Hand. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört“, sagte sie, „und von Ihren Fahrkünsten.“ „Also nur Gutes“, fuhr Joshua schnell dazwischen. Kaurismäki sah sich suchend um. „Wo ist Lindholm eigentlich? Ich hatte die Hoffnung, dass ihr beide mich einführen könntet.“ „Er ist einem Hinweis nachgehen. Sagte, dass wir nur dabei stören“, erklärte Joshua.


    Harri Kaurismäki nickte. „Gut, also wo treibt sich mein Problemkind rum? Was habt ihr bisher?“ Joshua kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „In der Wohnung konnten wir keine Hinweise finden, Mikaels und auch das Handy des Kollegen Jäger ist nicht zu orten und …“ „Ihr habt also nichts?“, fuhr der Chef des Drogendezernats dazwischen. „Ja“, gab der junge Mitarbeiter zu. „Nun gut, wie sieht es mit Seifert aus?“ „Er ist verschwunden, keine Spur … wir wissen nur, dass er seine Wohnung in den letzten Stunden nicht aufgesucht hat“, antwortete nun Semir. Kaurismäki fuhr sich über das Kinn. „Das ist in der Tat ein Problem, über ihn kommen wir also nicht an die beiden heran.“ Es herrschte einige Minuten betretene Stille, ehe der Mann erneut das Wort ergriff. „Lindholm hat mich bereits aufgeklärt … diese Sache mit Andreas Hansen. Gibt es von ihm wenigstens eine Spur, die Häkkinens Theorie vielleicht sogar unterstützt?“ Joshua schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben nichts gefunden und ehrlich gesagt, Harri, ich weiß Mikael hat ein sehr gutes Gedächtnis und so, aber es ist das einzige Detail, woran er sich erinnern kann. Vielleicht bildet er sich nur ein, dass es sein Vater war.“ „Das müssen wir natürlich in Betracht ziehen, Joshua. Dennoch sollten wir der Sache nachgehen und uns umhören. Wenn Hansen die Polizei ein zweites Mal ausgetrickst hat, will ich das wissen.“ Joshua nickte. „Gut, Chef … ich kümmere mich.“ „Ich will in zwei Stunden ein Update. Ich werde mich derweil mit Frau Krüger unterhalten. Wir hatten zwar schon einige Male das Vergnügen über Telefon, aber ein persönliches Gespräch hilft meistens mehr.“ Der Chef der Drogenfahndung löste sich von ihnen und Semir verfolgte, wie er nun auf das Büro der Chefin zutrat und darin verschwand.


    Als Kaurismäki verschwunden war, beugte sich Joshua nach vorne und drückte seiner Frau einen Kuss auf den Mund. „Ich habe dich vermisst“, ließ er verlauten. „Ich dich auch … es tut mir leid, hätte ich gewusst, dass Mikael wieder einen Alleingang plant, dann hätte ich ihn in Helsinki besser im Auge behalten.“ Der Blonde lächelte. „Du kennst ihn, er hätte einen Weg gefunden, dich auszutricksen.“


    *

    „Was sollte die Nummer mit deinem Sohn?“, schimpfte Sebastian Seifert. Er saß auf einer Bank und schüttete sich Wodka in den Rachen. Andreas Hansen lachte. „Die Frage ist wohl eher, was hast du für eine Scheiße gebaut! Hast du dir Mikael angesehen?“ Sebastian nahm erneut einen Schluck aus seiner Flasche und grinste. „Diese kleine Ratte ist in meiner Wohnung aufgetaucht, hat mich provoziert!“ „Das ist kein Grund ihn so zuzurichten! Was habe ich dir vor einer Woche gesagt? Finger weg von meinem Sohn“, fauchte er und riss seinem Gegenüber dabei die Flasche aus der Hand, um sie in den Abfluss des Waschbeckens zu kippen. Er hörte ein wütendes Grunzen von Sebastian, doch das störte ihn wenig. „Ich habe deinen Sohn in Helsinki nicht angeschossen!“, empörte er sich. „Das weiß ich, Sebastian … ich war dabei!“ Er fuhr sich durch die Haare. „Nachdem du so einen Mist gebaut hast, müssen wir umdisponieren. Mikael wird es sonst nicht schaffen … wir können es nicht lange hinauszögern.“


    Er entfernte sich von Sebastian und zog sein Handy heraus und wählte eine Nummer, die ihn trotz der langen Jahre noch bestens im Gedächtnis war. „Konrad Jäger“, meldete sich eine ihm gut bekannte Stimme nach einiger Zeit am anderen Ende. „Hallo, Alter Freund“, sagte er nur und wusste, dass Konrad sofort verstanden hatte, wer er war. „Ich habe hier etwas, was dir gehört“, fuhr er nach einer Weile fort. „Was hast du mit Ben gemacht!“ „Es geht ihm gut, Konrad … noch. Du kannst ihn freikaufen. Aber es gibt ein paar Regeln.“ „Keine Polizei, ich weiß“, antwortete sein Gesprächspartner für ihn. Andreas lachte leise. „Es ist mir egal, ob du die Polizei verständigst … sie werden mich ohnehin nicht bekommen.“ Er lehnte sich an die Wand. „Ich möchte 2,5 Millionen Euro. In unserer ersten Übergabe wirst du mir 1 Million überreichen, als Gegenleistung bekommst du meinen Sohn …“ Er hörte, wie Konrad die Luft einzog. „Nanana … ich würde an deiner Stelle jetzt nicht protestieren. Beim zweiten Mal bekommst du für 1,5 Millionen deinen Sohn. Willst du das Eine nicht, bekommst du auch nicht das Andere. Verstanden?“ Danach legte er auf und steckte das Handy wieder in die Hosentasche.


    Andreas Hansen sah seinen Freund an. „Hast du dich um einen Arzt gekümmert?“ Er bekam ein Lachen als Antwort. „Wo soll ich einen Arzt hernehmen, der uns nicht sofort verpfeift?“ Er löste sich von der Wand. „Du solltest es besser tun, du kennst mich. Mich möchtest du nicht als Feind haben Sebastian.“ Sebastian zuckte mit den Schultern. „Wenn dir der Kleine so wichtig ist, dann hättest du diesem Geschäft niemals zustimmen sollen. Du weißt, was von dir verlangt wird Andreas. Wozu willst du ihn verarzten? Du wirst ihn am Ende erschießen müssen, das ist Teil des Deals!“ Andreas Hansen Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Lass das mal meine Sorge sein Sebastian. Wir werden diesen Deal erfüllen und wir werden das Lösegeld bekommen.“

  • Ben hatte die letzten Stunden damit verbracht verzweifelt gegen die Tür zu schlagen, um das letzte Fitzelchen Menschlichkeit in Andreas Hansen und Sebastian Seifert zu finden. „Hören Sie, er hat Fieber. Er braucht einen Arzt!“ Er wartete auf eine Reaktion von draußen, doch es blieb still. Er löste sich langsam von der Tür und kniete sich vor Mikael hin. Sie waren nun schon drei Tage hier eingesperrt und es ging seinem Freund immer schlechter.Er lag zusammengerollt wie ein Embryo da, mit dem Gesicht zur Wand. Fieber bahnte sich den Weg durch seinen Körper um gleich darauf in Schüttelfrost überzugehen. Er schien Albträume zu haben, doch sprach auf Finnisch, so dass Ben sie nicht verstand. Verzweifelt fuhr sich der Jungkommissar durch die Haare. „Mikael, bitte gib jetzt nicht auf. Semir wird uns finden. Er wird nicht aufgeben! Komm schon, Kumpel … ich habe dich doch gerade erst wiedergefunden!“ Das Knarren der Holztür ertönte und Ben drehte sich blitzschnell um. Andreas Hansen stand in der Türzarge und hielt eine Flasche Wasser sowie eine Packung Tabletten in der Hand. „Dir ist hoffentlich klar, dass du keine Chance hast hier herauszukommen, auch wenn du mich jetzt überwältigen könntest?“, fragte er. Ben nickte. Natürlich war ihm das klar. Es wäre vielleicht kein Problem gewesen Hansen außer Gefecht zusetzen, aber dann hätte er Mikael hier lassen müssen und das konnte er nicht. Außerdem würde Seifert sicherlich nicht weit weg sein. Hansen trat nun langsam auf sie zu und hielt ihm die Flasche Wasser sowie die Tabletten hin. „Sorg dafür, dass er nicht stirbt. Seifert wird ihm keine Pause gönnen, bis er die Informationen von Mikael hat.“ Ben lachte leise auf. „Er ist Ihr Sohn! Verdammt, schützen Sie ihn! Er hat nichts getan. Mikael liebt Sie, er schätzt Sie und Sie, Sie missbrauchen diese Liebe und täuschen Ihren Tod vor!“ Andreas Hansen erwiderte nichts, hielt weiterhin die Flasche und Tablettenschachtel in seine Richtung. „Sie sind abscheulich! Sie sind widerli …“, setzte Ben nach, konnte seine Beschimpfung jedoch nicht beenden. Der Schwarzhaarige versetzt ihm eine schallende Ohrfeige und er verstummte auf der Stelle. „Du vergisst, dass du keinen Wert für uns hast Jäger. Du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort! Das können wir für uns nutzen, macht dich aber nicht zu einem wichtigen Gefangenen. Ich kann umdisponieren, du hast nur diese eine Wahl, um zu überleben“, zischte Hansen bedrohlich. „Ich würde dir raten nie wieder mich zurechtzuweisen, was meinen Sohn angeht!“ Ben funkelte sein Gegenüber wütend an und stand auf, um mit Hansen auf Augenhöhe zu sein. „Was hat er getan, dass er es nicht wert ist? Was!“ „Du glaubst, dass ich ausgerechnet mit einem Jäger diskutierte?“ Hansen lachte und drückte ihm die Flasche und die Medikamente in die Hand. „Glaub nicht, dass ich mit dir schon fertig bin. Du bist einen Schritt zu weit gegangen, Ben Jäger. Du konntest dein vorlautes Maul nicht halten!“, fauchte er, um dann aus der Hütte zu verschwinden.


    *



    Sebastian Seifert wippte nervös mit seinem rechten Fuß auf und ab. „Andreas, du riskierst gerade alles! Komm endlich zur Vernunft. Du kannst nicht beides haben. Geld oder Familie, du musst dich entscheiden!“Der Schwarzhaarige stand einige Meter von ihm entfernt und sah aus dem Fenster. Er war vor knapp zehn Minuten hineingestürmt und hatte sich lautstark über Ben Jäger aufgeregt, ehe er dann in Schweigen verfallen war.„Wir könnten uns mit dem Geld von Jäger eine gute Altersvorsorge anlegen“, antwortete Andreas ihm nach einer Weile. „Wir sind nicht auf diese korrupten Bullen angewiesen!“ Seifert schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Natürlich sind wir das! Scheiße Andreas, du denkst, dass du diesen Menschen überlegen bist, aber das bist du nicht. Die haben uns in der Hand und du weißt das. Internationaler Haftbefehl. Zumindest ich habe daran kein Interesse!“Er nahm einige Schlucke aus der Wodkaflasche. „Komm Andreas. Wir knallen ihn einfach ab und dann sind all unsere Sorgen vergessen.“Andreas Hansen stöhnte laut auf. „Wir hätten diese Sorgen nicht, wenn du nicht so unvorsichtig gewesen wärst!“„Ich konnte nicht wissen, dass dort eine Überwachung läuft, ja? Mach mich nicht alleine für unsere Probleme verantwortlich. Du bist nicht unschuldig, immerhin bist du es doch, der die Polizei für seine Spielchen gerne benutzt und nun benutzen sie uns für ihres!“, konterte Seifert wütend. Sebastian Seifert stand auf und stellte sich nun neben seinen Freund. „Hör zu Andreas, ich weiß der Kleine bedeutet dir viel, immerhin ist er dein einziges Kind, aber du musst dich jetzt und hier entscheiden. Willst du dich retten, oder ihn? Willst du dein restliches Leben wirklich hinter Gitter verbringen?“ Andreas Hansen blickte zur Seite. „Er ist mein Sohn. Ich habe ihn all diese Jahre behütet …“„ … glaub mir Andreas. Er wird nicht zögern und bringt dich in den Knast. Einer von euch wird am Ende der Sieger sein. Lass nicht zu, dass es dein Jüngling ist. Es geht hier doch um deinen Ruf bei den Geschäftspartnern“, gab Seifert zu bedenken und drückte mit seiner Hand für einen Augenblick fest die Schulter von seinem Freund, ehe er den Raum verließ und sich an die frische Luft begab. Er lehnte sich an ihren Wagen und fixierte ihre Unterkunft auf Zeit. Andreas war von seinen Geschäftspartner für seine Konsequenz gefürchtet, leider hatte er aber auch eine viel zu weiche Seite, was seine Familie anging. Manchmal wunderte er sich selbst darüber, wie sein Freund es damals geschafft hatte, dem Jungen seinen Tod vorzutäuschen, nachdem klar war, dass Mikael niemals seinem Vorbild folgen würde und sogar zu einer Gefahr wurde. Andreas Hansen konnte keinen Polizisten in seiner Familie brauchen. Es vergingen 15 Minuten, bis Hansen ebenfalls die Tür aufmachte und sich neben ihm an das Auto lehnte. „Du hast Recht Sebastian, Mikael ist gefährlich“, sagte er nach einer Weile. Die Köpfe der beiden Freunde drehten sich zu der kleinen Hütte. „Es wird Zeit, dass er uns endlich diese Dokumente übergibt.“

  • Semir saß auf einer Betonmauer auf dem Parkplatz der PAST und versuchte vergeblich seine Gedanken zu sortieren. Seit drei Tagen suchten sie mit einem großen Team nach Ben und diesem Häkkinen, doch bisher gab es keinerlei Hinweise. Langsam wurde ihm bewusst, dass der Ruf von Seifert nicht nur ein Mythos war. Dieser Mann war wirklich clever und schien keinerlei Fehler zu machen. „Hei!“ Semir sah auf. Joshua stand vor ihm und setzte sich nun neben ihm hin. „Denkst du, dass sie überhaupt noch leben?“, fragte der Finne nach einer Weile leise. „Natürlich tun sie das“, antwortete ihm der erfahrene Polizist sofort, doch im Grunde sprach Joshua nur den Gedanken aus, der auch ihn in mancher stillen Minute quälte. Seifert hatte bisher keinerlei Forderungen gestellt. Es gab keinerlei Lebenszeichen!
    Joshua nickte. „Ich bin Mikaels Theorie nachgegangen.“
    „Der, dass Andreas Hansen noch lebt?
    „Ja.“
    „Und?“
    Der Blonde zuckte mit den Schultern. „Dieser Typ, den alle im Drogendezernat von Helsinki nur das Phantom nennen. Es stimmt schon, er hat verdächtig viele von Hansens alten Handlangern um sich gescharrt.“ Joshuas Hände umgriffen die Kante der Mauer. „Aber ist das wirklich ein Hinweis?“„Wie meinst du das?“, hakte Semir nach.„Läuft das nicht immer so in der Drogenszene? Hast du einen aus dem Weg geräumt, wächst bereits der Nächste nach. Du bist nie fertig mit aufräumen.“


    Der Ältere nickte nachdenklich. Das stimmte schon, was Joshua sagte. In der Drogenszene tummelten sich viele Gestalten und freie Plätze in der obersten Liga wurden schnell wieder gefüllt. „Wie ist es, wenn du dir die Beziehung zwischen Seifert und Hansen noch einmal genauer ansiehst. Immerhin waren sie mal enge Partner. Ich will wissen, was sie verbunden hat.“ Joshua stand auf und lächelte. „Ja, das könnte uns vielleicht wirklich weiterbringen.“
    Semir sah zu, wie der junge Kollege wieder in Richtung der Dienststelle verschwand. Auch er erhob sich jetzt. Die Akten waren nicht der einzige Ort, wo man herausfinden konnte, ob Andreas Hansen noch lebte, oder nicht. Das war ihm gerade bewusst geworden, als er über Hansen und Seifert nachdachte.


    Nur 45 Minuten später stand Semir vor der Haustür von Konrad Jäger und schellte. Es dauerte nicht lange und die Hausdame öffnete ihm, um ihn dann in das Büro von Bens Vater zu geleiten. Konrad Jäger zeigte auf den Besucherstuhl, der direkt vor seinem Schreibtisch stand. „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie über kurz oder lang hier auftauchen Herr Gerkhan“, begrüßte er ihn. Semir kam der Bitte nach und setzte sich auf den alten, aber doch bequemen Holzstuhl. „Ich fürchte allerdings, ich werde von keiner großen Hilfe sein. Ich möchte das Leben von Ben nicht gefährden. Ich kenne Andreas und er wird kein Erbarmen zeigen. Er hasst mich.“
    „Moment“, fuhr Semir dazwischen. „Andreas Hansen?“
    „Ja. Deshalb sind Sie doch hier, weil er meinen Sohn hat.“
    „Sie wissen also, dass Hansen lebt?“
    Konrad Jäger löste seinen Blick von ihm und sah abwesend aus dem Fenster. „Nunja, sicher. Er hat schon kurz nach seinem Verschwinden, oder diesem Brand, Kontakt zu mir aufgenommen. Ich sollte ihm jeden Monat eine gewisse Summe überweisen, damit er meinen Kindern nichts antut. Das habe ich natürlich gemacht … und dann, dann war ja dieser Autounfall. Ich habe sofort aufgehört mit den Überweisungen und er hatte sich auch nicht gemeldet, bis vor ein paar Tagen. Er will Lösegeld für Michael und Ben.“
    „Für Mikael Häkkinen?“, hakte Semir nach.
    „Ohja, natürlich … die Familie hatte den Namen geändert“, antwortete Konrad Jäger in Gedanken.
    „Wie viel und wann soll die Übergabe stattfinden?“, schossen die nächsten Fragen aus Semir hervor. Endlich gab es Hinweise und gleichzeitig auf einen Grund, warum beide noch am Leben sein könnten.
    „Eine Million für Michael und 1,5 Millionen für Ben. Er hat sich noch nicht gemeldet wegen einem Übergabeort und Zeitpunkt.“
    „2,5 Millionen. Haben Sie denn so viel Geld?“
    Jäger begann zu nicken. „Ich bekomme das Geld von der Bank. Es wird keine Probleme geben. Ich werde nicht zulassen, dass Andreas meinem Sohn etwas antun wird. Auch wenn ich dafür Lösegeld für einen Menschen zahlen muss, der mir nicht viel bedeutet.“


    Semir nickte ebenfalls. „Gut, das ist gut.“ Es herrschte einige Sekunden Stille und man konnte das unangenehme Ticken der robusten Wanduhr hören.
    „Sagen Sie Herr Jäger, Sie und Andreas Hansen. Es tut mir leid, aber ich habe den Eindruck, als würde sie beide nicht nur die Freundschaft zwischen ihren Söhnen verbinden.“
    Konrad Jäger spielte mit seinem Kugelschreiber. „Ja, da haben Sie Recht“, gab er nach einer Weile zu. Er legte den Stift quer auf das Papier, was er gerade bearbeitete und lehnte sich zurück. „Ich und Andreas, wir waren als Kinder und Jugendliche Freunde. Nichts hätte uns trennen können.“ Der alte Jäger lächelte. „Fast so wie Michael und Ben – ironischerweise“, fügte er hinzu, um dann wieder zu seiner Erzählung zurückzukehren: „Irgendwann hatten wir uns entzweit. Andreas kam vom richtigen Weg ab und hatte allerlei Kriminelles am Laufen und ich habe die Firma aufgebaut.“ Konrad Jäger nahm einen Schluck Wasser. „Dann viele Jahre später, stand dieser Junge vor meiner Tür und will zu Ben. Sie haben sich ja mit Hansen beschäftigt und wissen, wie verblüffend die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ist. Ich wusste sofort, wer sein Vater war.“
    „Und dennoch haben Sie ihn mit Ben spielen lassen?“
    Konrad Jäger wog den Kopf hin und her, schien darüber nachzudenken, was die richtigen Worte waren. „Es mag absurd klingen, aber Michael hatte einen guten Einfluss. Ben war in der Schule plötzlich viel besser und hat sich auch engagierter gezeigt, was andere Aufgaben anging, wie zum Beispiel den Klavierunterricht.“
    Bens Vater nahm den Kugelschreiber wieder in die Hand und ließ ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger auf und ab wippen. „Michael war ein guter Junge. Liebevoll, hilfsbereit und intelligent. Er ist zu einem Teil der Familie geworden, war oft und lange hier. Ben, Julia und meine Frau waren am Boden zerstört, als sie von diesem Brand erfuhren.“
    „Und sie haben ihnen dennoch nie die Wahrheit gesagt?“
    „Nein, ich wollte sie schützen und nach Andreas Tod oder wie auch immer Sie es nennen wollen … als ich mit Michael gesprochen habe, war er verständnisvoll. Er hatte mir versprochen, keinen Kontakt zu Ben aufzunehmen und die alte Geschichte ruhen zu lassen. Immerhin hatte er sich ja inzwischen selbst ein eigenes Leben in Finnland aufgebaut.“
    Konrad seufzte. „Aber mein Sohn hat ihn wohl nie wirklich vergessen können. Wie oft ich ihn ermahnt habe, doch endlich diese dämliche Kette abzunehmen. Wissen Sie, sie war damals ein Geschenk von Michael. Beide Jungs hatten sie immer um.“
    „Ich verstehe“, antwortete Semir, dem langsam bewusst wurde, weshalb Ben Hals über Kopf verschwunden war, als er ihm das Armband mit dem Anhänger übergeben hatte. Er stand auf und reichte Konrad Jäger die Hand. „Bitte geben Sie mir bescheid, sollte sich Andreas Hansen bei ihnen melden.“


    Als Semir wieder auf die Dienststelle kam, wurde er in seinem Büro bereits von Joshua empfangen. „Ich habe etwas mehr über Hansen und Seifert gefunden, das Mikaels Vermutung bestätigen könnte.“
    „Sie stimmt. Bens Vater hat mit Andreas Hansen gesprochen. Er fordert Lösegeld für die beiden“, begann Semir, ehe ihm Joshua seine Entdeckung ausführlich erzählen konnte.
    „Was?“
    „Ja. Ich war gerade bei ihm, er hat es mir bestätigt.“
    Der Blonde setzte sich auf Bens Bürostuhl und schloss für einen Augenblick die Augen, um sich zu sammeln. „Mikael hatte also Recht und sein Gedächtnis hat ihm keinen Streich gespielt?“ „Scheint so“, bestätigte Semir. „Aber zu dir? Was hast du herausgefunden?“
    „Ich? … Achso, Seifert und Hansen. Sie sind im gleichen Viertel hier in Köln aufgewachsen, dicke Villen und so. Seiferts Familie zog weg, als er acht war, nach München. Sie haben wohl weiterhin Kontakt gehalten“, fasste Joshua zusammen.
    „Das spricht dafür, dass sie beide gemeinsam diese Sache hier planen“, äußerte Semir nun.
    „Ja, denke ich auch.“
    „Gut, kannst du deinen Chef über die neuen Informationen in Stand setzen? Ich versuche herauszufinden, wo sich die beiden verstecken könnten. Wir haben schon genug Zeit verloren.“ Der Finne nickte und war wenig später aus dem Büro verschwunden, während Semir seinen PC anschaltete.

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  • Ben sah auf, als Andreas Hansen in die Hütte trat. Er lächelte triumphierend. „Wir haben einiges zu bereden. Du wirst mir brav folgen, ansonsten werde ich nicht garantieren, dass Seifert Mikael vielleicht doch etwas antut und er die nächsten Stunden nicht überlebt.“
    „Du widerst mich an“, schimpfte Ben mit gefährlichem Unterton, folgte dem Mann dann aber doch noch, ohne großartig Widerworte zu geben. Ihm war nicht wirklich danach auch auszutesten, ob Hansen seine Drohung wahr machen würde. Als er nach draußen trat, musste er die Augen einige Mal zusammenkneifen, da die Sonne ihn blendete. Als sie sich jedoch an die helle Umgebung gewöhnt hatten, war ihm klar, wo sie waren. Es schien ein Bergwerk zu sein.
    „Komm Benny, wir haben keine Zeit! Ich habe Geschäfte zu machen.“ Unsanft zog ihn Andreas Hansen mit in ein größeres Gebäude aus Beton. Dort angekommen drückte er ihn auf einen Stuhl.
    „Was wollen Sie von mir!“, schrie Ben wütend. Andreas Hansen stellte sich vor ihn und lächelte belustigt. „Ist das so eine Art Funfrage? Ich kenne den Ermittlungsstand und ich weiß, dass ihr auf mich gestoßen seid. Also weißt du, was ich von dir will.“
    Er trat näher und packte seinen Kiefer in seine rechte Hand. „Du hast die Augen deiner Mutter, Ben.“ Der Druck von Andreas Hansen wurde fester. „Leider aber auch den Starrsinn deines Vaters. Es wird Zeit, dass er seine Schulden begleicht!“
    „Was für Schulden?!“
    Der schwarzhaarige Mann stöhnte auf. „Was für Schulden, fragt er. Weißt du, wie viel Geld mit durch die Aussage deines Vaters in dem Jahr verloren ging? Sehr viel und das will ich jetzt zurück. So einfach ist das. Dann ist da aber noch die Tatsache, dass Mikael einen großen Beschützerinstinkt hat, was die Menschen um ihn herum betrifft.“ Hansen lächelte. „Hast du die Verzweiflung in seinen Augen gesehen, als Seifert dich abknallen wollte? – Du solltest mir übrigens danken, dass er es nicht getan hat. Ich denke, dass kann man sehr gut nutzen, denn ich habe einen Job zu erledigen und ich erfülle immer die Wünsche meiner Auftraggeber.“
    „Glaubst du wirklich du kommst davon. DU hast zwei Polizisten entführt.“ Hansen klebte ihm ein Stück Klebeband vor den Mund und wickelte die restliche Rolle danach noch ein paar Mal um seine Beine. „Du unterschätzt mich gewaltig Ben. Ich habe die letzten Jahre problemlos überlebt ohne Stress mit der Polizei. Natürlich denke ich, dass ich davon komme! Und jetzt würde ich es bevorzugen, wenn du für einen Augenblick den Mund halten würdest.“
    Andreas Hansens Blick fuhr zur Tür, die sich vor wenigen Sekunden geöffnet hatte. Seifert trat herein, seine Arme fest um Mikael geschlungen. Er ließ ihn vor Ben auf die Erde fallen und lächelte Hansen an. „Ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist, Andreas. Der Junge wird nicht sprechen, wenn du ihm keinen Druck machst.“
    Andreas Hansen nickte und kniete sich vor Mikael hin. Seine Hand tätschelte seine Wangen. „Aufwachen, Junge. Du weißt, wir brauchen etwas von dir. Ohne das können wir dich nicht gehen lassen, egal wie viel Konrad Jäger uns für dich gibt.“
    Mikaels Augen öffneten sich einen Spalt. „Jäger wird … niemals für mich bezahlen … er hasst alles, was mit dir zu tun hat …“, nuschelte er leise. Ben sah, wie Mikaels Augen drohten wieder zu zufallen. Hansen gab ihm erneut sanfte Schläge auf die Wangen, wodurch sich die Augenlider wieder öffneten. „Wo hast du die Informationen gespeichert? In deiner Wohnung sind sie nicht, in unserem alten Sommerhaus auch nicht, also wo sind sie dann?“
    „Andreas, du bist zu sanft zu ihm“, mischte sich Sebastian Seifert ein. Er schob seinen Komplizen ein Stück zur Seite und nahm sich nun selbst dem Problem an. Er zog Mikael an den Haaren nach oben, bis er mit ihm auf Augenhöhe war. „Sag uns, wo diese verdammten Informationen sind!“
    „Ich sagte … doch … du kannst mir nichts! Sie sind da, wo du sie … niemals findest.“ Seifert entkam ein Grunzen und wenig später knallte seine Faust gegen Mikaels Kinn. Dieser taumelte und ging dann zu Boden. Seine Lippe war aufgeplatzt und Blut perlte herunter. „Lektion gelernt?“, bellte Seifert.
    Mikael entkam ein heißeres Lachen. „Das … ist alles?“
    „DU kleiner Wicht!“ Seifert holte mit der Faust erneut aus.
    „Warte!“ Andreas Hansen packte das Handgelenk von Seifert. „Was wieder Vatergefühle?“, knurrte dieser sofort, doch Andreas schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke nur nicht, dass es nötig sein wird.“
    Der Drogenboss kniete sich vor Mikael hin und griff nach seinem linken Arm. Der junge Kommissar wollte ihn sofort wieder zu sich ziehen, doch in seinem derzeitigen Zustand hatte er seinem Vater nicht viel entgegenzusetzen. „Sag, wie viel von meiner Vorsicht habe ich dir mitgegeben?“, fragte Hansen und löste dabei Mikaels Armbanduhr vom Handgelenk.
    Er hielt sie in Seiferts Richtung. „Sieh nach, ob dort vielleicht ein Speicherchip oder etwas Ähnliches drin ist.“
    „Du denkst, dass er es die ganze Zeit bei sich hatte?“, fragte Seifert missmutig, als ihm klar wurde, dass sie ihr Problem schon lange hätten lösen können.
    Andreas Hansen sah wieder zu Mikael. „Es ist doch in der Uhr oder? Jede winzige Information über die korrupten Polizisten, die für mich gearbeitet haben?“
    Mikael schwieg. „Du hattest Recht, da ist ein Speicherchip drin“, bestätigte stattdessen Seifert, der etwas entfernt an einem Tisch stand. Andreas Hansen drehte sich von seinem Sohn weg und stellte sich nun neben Seifert. Ben sah, wie er den Chip an seinem Laptop anschloss und einige Ordner erschienen. Er blickte nach links. Sein Freund war auf den Boden zusammengesackt und suchte nach Luft. Ben überlegte fieberhaft, wie sie hier nur rauskommen sollten. Aber er musste sich eingestehen, dass Hansen ihnen überlegen war. Jetzt, wo er hatte was er wollte, würden sie sicher bald die Radieschen von unten betrachten.


    Hansen blickte sauer auf seinen Laptop, rannte dann wutentbrannt auf Mikael zu und riss ihn in die Höhe „Willst du allen Ernstes versuchen mich zu verarschen? Das Passwort! Oder es knallt!“
    „Erst lässt du Ben gehen“, kam müde aus Mikaels Mund.
    „Ich denke es wird mal Zeit dir zu zeigen, wer zum Teufel hier das Sagen hat!“ Andreas Hansens Stimmlage hatte sich verändert. Die Wut war verschwunden und nun dominierte vor allem eins: Überheblichkeit. Hansen ließ seinen Sohn wieder auf die Erde fallen und wandte sich nun Ben zu. „Du willst also, dass ich Ben gehen lassen“, säuselte er und zog dabei eine Waffe aus seinem Hosenbund und richtete die Pistolenmündung auf den deutschen Polizisten. „Wie ist dieser Deal für dich? Du sagst mir das Passwort und ich werde dafür deinen Freund nicht erschießen.“
    „Du hast gesagt, dass uns nichts … passiert“, presste Mikael leise hervor. Der Schock stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Angst und Entsetzen zeichnete sich in den blauen Augen ab, die seinen Vater fixierten.
    „Du solltest doch inzwischen wissen, dass das Wort von deinem Vater nicht viel wert hat, oder nicht? Ich muss liefern und das nicht erst in ein paar Wochen. Du weißt, wie wichtig mit die Geschäfte sind. Also! Das Passwort oder ich muss Ben hier und jetzt erschießen.“
    Bens Augen trafen die von Mikael. Der Braunhaarige schüttelte sanft den Kopf, in der Hoffnung, dass Hansen nur bluffte. Immerhin hatte er doch auch einen Wert. Er brauchte ihn, damit er an das Geld von seinem Vater kam.
    „Mikael … deine Entscheidung“, forderte Hansen.
    Mikaels Atmung wurde hektischer. Sein Blick wanderte zwischen Ben und seinem Vater hin und her. Dann lachte Andreas Hansen. „Du brauchst zu lange, um die richtige Entscheidung zu treffen!“ Der Lauf der Waffe war noch immer auf Ben gerichtet, als sich der Schuss löste und auf ihn zu donnerte. Im selben Augenblick bohrte sich ein sengender Schmerz in seinen rechten Oberarm. Bens Kehle entfuhr ein Schrei, der allerdings durch das Klebeband vor seinem Mund gedämpft wurde. In seinen Augen wüteten Schmerz und Verzweiflung.
    Die Mündung der Pistole wanderte zu Bens Herz. „Bist du dir jetzt sicher, dass ich es ernst meine? Das Passwort Mikael!“
    Mikaels blassen Lippen öffneten sich und Ben hörte, wie er leise eine Zahlenreihe aufsagte, die Sebastian Seifert in den Laptop eintippte. Hansen lächelte. „Geht doch. War doch nicht so schwer, oder? Und nun zurück mit euch.“
    Ben sah, wie Seifert auf ihn zukam und das Klebeband von seinen Beinen und Händen löste. Ein letztes Mal fiel sein Blick auf Mikael. Er brauchte ihn jetzt. Vielleicht könnte er es schaffen, die beiden Männer irgendwie zu überwältigen? Doch ehe er seinen Gedanken auch in die Tat umsetzen konnte, traf ihn der Knauf von Hansens Waffe mit voller Wucht am Hinterkopf und alles begann sich schwarz zu färben.


    Als Ben wieder erwachte, spürte er wie jemand etwas um seine Verletzung band. Er öffnete die Augen und blickte in Mikaels blasses Gesicht.
    „Ist das gerade dein Ernst?!“, murmelte er benommen.
    Mikael hielt in seiner Bewegung inne und Ben griff nach der zittrigen, schweißnassen Hand seines Freundes. „Es geht mir besser als dir. Das ist nichts Wildes, blutet nur wie Sau.“
    „Es … ist meine Schuld, ich hätte sofort …“, begann Mikael, wurde jedoch von Ben unterbrochen. „Nein. Du hättest nichts daran ändern können. Das alles ist nicht deine Schuld!“
    „Nicht?! Verarschen kann ich mich selbst … du bist hier, weil du wegen mit an diesem Haus warst … nur deshalb!“
    Ben kämpfte sich langsam in eine sitzende Position. Seine linke Hand verkrampfte sich um seinen Oberarm. Der Verband den Mikael mit irgendwelchen Kleidungsfetzen gelegt hatte, hielt zumindest für den Augenblick, stellte er fest. Er musterte Mikael genau. Er schien am Ende seiner Kräfte. Er zitterte, seine Atmung ging stoßweise und seine rotunterlaufenen Augen fielen ab und an für einige Sekunden zu, ehe er sie wieder aufriss. „Hör zu. Wir werden hier raus kommen! Und das alles. Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür!“
    Mikael nickte, doch Ben war sich sicher, dass er sein Gegenüber nicht wirklich davon überzeugt hatte. „Sag, was ist das eigentlich für ein Dokument? Weißt nur du davon?“
    „Eine verschlüsselte Datei … ich-ich habe sie von einem PC in Seiferts Helsinkier Büro … ich glaube eine Liste mit Namen, aber ich konnte es nicht entschlüsseln … noch nicht. Josh und eine andere Kollegin wissen davon, aber es ist nicht in den Akten … wir wussten nicht, ob ein Polizist mit drinsteckt. Wir- wir haben schon seit einigen Monaten Probleme mit einem Maulwurf …“
    Ben nickte, während er seinen Verband betastete. „Und nun ist sie weg? Du hast keine Kopie?“
    „Doch … in … in meinem Kopf“, bekam er leise Antwort und Ben war sich nicht sicher, ob ihm diese gefiel. „Du kennst sie auswendig?“, hakte er abermals nach, obwohl er es wusste. Mikael hatte schon im Jugendalter vieles in wenigen Minuten Auswendiglernen können. Und das würde auch Hansen wissen. „Ja.“ Mikaels Stimme klang so dünn, dass Ben sie nun kaum noch wahrnahm. „Wir sollten versuchen ein paar Stunden zu schlafen“, sagte er nach einer Weile, doch die Augen seines Gesprächspartners hatten sich längst wieder geschlossen. Ben seinerseits lehnte sich an die Wand und beobachte Mikael in seinem unruhigen Schlaf. Das er das alles in seinem Kopf hatte, würde bedeuten, dass er sterben müsste, wenn Seifert und Hansen sicher gehen wollten, dass er die Daten nicht bekam.

  • Joshua beugte sich über eines der Waschbecken und schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die morgendliche Besprechung hatte seine Laune heruntergezogen. Er sah sich im Spiegel an. Dicke Ringe unter den Augen zeugten davon, dass er die letzten Nächte überhaupt nicht geschlafen hatte. Immerhin sah Semir ähnlich aus. „Das du Dummkopf dich auch immer in Schwierigkeit bringen musst“, schimpfte er leise über Mikael. Es war schon immer so gewesen, Mikael zog Probleme einfach magisch an. Sie hatten alle Anwesen, die Seifert gehörten durchkämmt, aber nichts gefunden. Hansen selbst hatte keine Grundstücke mehr, die auch auf seinen Namen zugelassen waren. Einige hatte er vor seinem Tod an andere Leute überschrieben, die wiederum wieder an andere überschrieben hatten. Bis alleine diese Verhältnisse geklärt waren, vergingen immer Stunden. Telefonate, persönliche Befragungen. Ein endloser Kreis, der sie kein bisschen näher zu ihren Kollegen brachte. Er hatte sogar überprüfen lassen, welche Grundstücke auf Mikaels Namen geführt wurden. Immerhin war dieses alte Haus auch auf seinen Namen in die Grundbücher eingetragen, nachdem es vorher zwei andere Besitzer hatte, die offensichtlich zu Hansen engerem Kreis gehörten. Er seufzte. Es brachte wohl nichts. Er müsste weiter darauf hoffen, dass in irgendeiner dieser verdammten Akten endlich der entscheidende Hinweise auf ihn wartete.
    Er drehte den Wasserhahn ab und trocknete sich die nassen Hände mit einigen Tüchern.


    „Das ist mir egal. Wir haben einen Deal Hansen. Wenn du nicht lieferst, werde ich meinen Boss benachrichtigen müssen und du weißt, dass es dann verdammt eng wird für euch!“ Joshua hielt inne, als er eine Stimme durch das gekippte Fenster der Toilette vernahm. Genauer gesagt, die Stimme von Akseli Lindholm. „Es geht doch … deine Belohnung steht bereit.“ Der blonde Finne brauchte einen Augenblick, bis die Informationen, die er gerade Wort für Wort deutlich hörte, verarbeitet hatte. Dann jedoch kannte er kein Halten mehr. Er stürmte nach draußen. Lindholm ließ gerade sein Handy in die Tasche gleiten. Als er ihn erblickte schien ihm sofort klar zu sein, dass er es wusste. Sein Blick hatte sich verändert und er trug ein zynisches Lächeln im Gesicht.


    Joshua zögerte nicht lange und drückte den älteren Kollegen unsanft gegen die Außenmauer der Dienststelle. „WO IST MIKAEL!?“
    „Denkst du wirklich, ich sage es jemanden wie dir, Lehto?“, stieß Lindholm mit einem teuflischen Grinsen aus. Lehto atmete wütend durch die Nase. Er griff an seinen Hals und drückte mit den Daumen und Zeigefingern zu. „Wo ist Mikael, du widerliches Arschloch!“ Lindholm lachte. „Ich schwöre dir, dass du diesen Tag nicht überleben willst, wenn du mir nicht sofort sagt, wo er ist!“ Der blonde Kommissar drückte fester zu und sah ihm dabei in sein Gesicht. Inzwischen war ihm die Überheblichkeit aus den Augen gewichen. Er hatte Angst. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Lindholm Angst vor ihm. Er hatte die Augen aufgerissen und suchte nach Luft. „WO IST ER!“ Er erhöhte den Druck abermals. Im Augenblick beherrschte ihn nur ein Gefühl und das war Wut.


    Semir wurde hellhörig, als er Stimmen von draußen hörte. Verstehen konnte er allerdings nicht, denn die beiden Kontrahenten sprachen Finnisch miteinander. Dennoch stand er auf und lugte aus dem Fenster. Lehto hatte Lindholm an eine Wand gedrückt und presste seine Hände um dessen Hals. Er bringt ihn noch um, dachte er auf einmal und rannte in schnellen Tempo auf die beiden Männer zu.
    „Joshua!“ Er packte seinen Arm. „Joshua, um Gottes Willen, du bringst ihn um!“ Der Finne hielt einen Augenblick inne und trat dann verängstigt ein paar Schritte zurück. Lindholm griff an seinen Hals und schnappte hektisch nach Luft.
    „Joshua, was ist los?“, fragte Semir und sah in die verschreckten stahlblauen Augen des jungen Kommissars. Dieser wollte gerade antworten, als die Stimme von Harri Kaurismäki über den Parkplatz hallte. Hinter ihm stand Sina, die ebenfalls durch die Schreie aufmerksam geworden war.
    „Was ist hier los! Was hat das zu bedeuten, Lehto?!“, wütete der finnische Chef und trat nun auf sie zu, um sich schützend vor Lindholm zu stellen.
    „Er weiß, wo sie sind. Er steckt mit denen unter einer Decke“, sage Joshua mit zittriger Stimme.
    „Ist das wahr? Weiß du wo Ben ist?!“, wollte nun auch Semir mit einem bedrohlichen Unterton wissen. Die Hände des Deutschtürken ballten sich zu Fäusten, doch Lindholm blieb still. „IST DAS WAHR, HABE ICH GEFRAGT!“, wütete Semir und wollte gerade eine Schritte auf Lindholm zumachen, da hielt ihn Sina zurück, indem sie seinen Arm wie eine Fessel umgriff.
    „Ich würde vorschlagen, wir beruhigen uns jetzt alle“, setzte Harri Kaurismäki mit ruhiger Stimme ein und drehte sich dann zu Lindholm. „Ich denke es ist besser, wir reden erst einmal in Ruhe, nicht? Komm mit.“
    „Haben Sie überhaupt zugehört? Er ist darin verstrickt. Er weiß, wo die Kollegen sind!“ Semir schüttelte entsetzt den Kopf. Reden. Was sollte der Blödsinn! Er würde Lindholm schon dazu bekommen seinen Mund aufzumachen. „Wo sind sie Lindholm, sag schon! Sonst prügel ich es aus dir raus!“
    „Nichts werden Sie! Es gibt Regeln und die gelten auch für die deutsche Polizei! Ich habe hier das Kommando und wenn Sie nicht wollen, dass ich die Staatsanwaltschaft und ihre Chefin über dieses Benehmen informiere, dann sind Sie jetzt still!“ Diese Aussage steigerte Semirs Wut weiter. Er riss sich von Sina Lehto los, wurde aber zugleich erneut gepackt. Diesmal allerdings von Joshua. „Du kannst Harri vertrauen. Er wird ihn nicht mit Samthandschuhen anpacken. Wir werden unsere Antworten bekommen“, beruhigte der junge Kollege ihn. Er drehte sich um und sah in Joshuas Augen. „Bist du dir da auch ganz sicher?“
    „Natürlich. Er hat einen guten Ruf. Warum denkst du, wollte ich zum Drogendezernat? Von ihm konnte ich viel lernen.“
    Semir nickte und verfolgte, wie Lindholm seinem Chef in Richtung Dienststelle folgte, die rechte Hand sanft um den Hals gelegt, wo vor wenigen Minuten noch Joshua zugedrückt hatte.
    „Er holt besser was Nützliches aus ihm raus, sonst werde ich es tun“, merkte Semir mit schroffer Stimme an.
    „Glaub mir Semir, ich bin da auf deiner Seite“, antwortete Joshua ihm.
    Der Deutschtürke kniff die Augenbrauen zusammen. „Nach deiner Aktion vorhin, werde ich mich hüten, dich zu ärgern.“
    Der Blonde zuckte mit den Schultern und begab sich dann mit langsamen Schritten ebenfalls in Richtung PAST. „Für solche Aktionen ist eigentlich Mikael zuständig. Vielleicht färbt er ab“, sagte er leise und griff dann nach der Hand seiner Frau.


    Semir blieb zurück. Er sah noch immer auf die Stelle, wo Lindholm mit Kaurismäki verschwunden war. Nur langsam sickerte es zu ihm durch, dass der Kollege die ganze Zeit über ein falsches Spiel gespielt hatte. Sicherlich, er war nicht einer von Semirs liebsten Zeitgenossen gewesen, dennoch hätte er diesem Mann niemals so etwas zugetraut. Er hätte nie gedacht, dass Lindholm einer dieser Polizisten war, die die Seiten wechselten, weil das Drogengeschäft sich als lukrativer herausstellte. Er war mehr als gespannt, was der finnische Hauptkommissar zu seiner Verteidigung zu sagen hatte und setzte sich nun ebenfalls in Bewegung. Noch bevor er den Haupteingang der Dienststelle erreichte, klingelte sein Handy. Als er die Nummer von Bens Vater erkannte, ging er sofort ran. „Ja, Gerkhan.“

  • Ein Schlurfen von der anderen Seite der Holzwände war zu vernehmen. Ben wusste, dass es sich um Hansen handeln musste. Inzwischen konnte er die verschiedenen Eigenarten im Gang der beiden Entführer ziemlich gut unterscheiden. Wenig später öffnete sich die Tür und seine Vermutung bestätigte sich.
    Hansen lächelte ihn unheilvoll an. „Es ist Zeit für das große Finale Ben!“, sagte er und trat dann auf sie zu. Er war aufgesprungen, platzierte sich schützend vor Mikael, der schon lange nicht mehr fähig war irgendeine Gegenwehr zu leisten und in einem Zustand war, wo er seine Umgebung kaum noch wahrnahm. „Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihrem Sohn etwas tun!“, schrie er und breitete die Arme aus. Hansen zog eine Braue nach oben. „Ist das dein Ernst? Was lässt dich glauben, dass du mir kräftemäßig überlegen bist?“
    „Wir können es ja herausfinden“, zischte Ben und sprang auf Hansen zu. Doch ehe er zuschlagen konnte, griff dieser nach seinem verletzten Arm und riss ihn herum. Schmerzvoll landete Ben mit seinem Körper an der Holzwand. Hansen fixierte ihn und drückte seinen Unterarm fest gegen sein Schulterblatt. „So Benny und nun sag, denkst du immer noch, dass du Mikael beschützen kannst? Dir wird dein Temperament zum Verhängnis, befürchte ich.“
    „Er ist ihr Sohn!“, schrie er wütend und wollte sich losreißen, doch Hansen ließ ihm dieses Mal nicht einmal die Chance etwas zu unternehmen. Der Schwarzhaarige griff in seine Jackentasche und wenig später, sah Ben im Augenwinkel eine Spritze mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er wehrte sich stärker gegen den Griff von Hansen. Doch trotz seines Alters schien ihm sein Gegner überlegen zu sein. „Es ist Zeit, dass Konrad lernt, wie es ist zu verlieren!“, säuselte Andreas Hansen und senkte die Nadel in Richtung seines Arms.


    „Ich lasse das nicht zu!“, keuchte eine Stimme leise hervor und im nächsten Augenblick wurde Hansen nach hinten gerissen. Ben drehte sich um und sah Mikael, der seinen Vater einen Schlag ins Gesicht verpasste. „Du hast also noch nicht ganz aufgegeben!“, presste Andreas Hansen heraus und betastete seine aufgeplatzte Lippe. „Scheint … als wäre deine Erziehung doch nicht ohne Früchte geblieben …“ Ben konnte sehen, wie Mikael Probleme hatte sich auf den Beinen zu halten. Er pumpte nach Luft wie ein Maikäfer, der gleich abheben wollte. Seine Augen drohten sich wieder zu schließen. Mikael taumelte, als er den nächsten Schlag nach seinem Vater setzen wollte, und ging auf die Knie. Er wollte sich wieder aufrichten, doch seine zittrigen Beine schienen ihm nicht mehr zu gehorchen. Hansen lächelte. „So viel dazu, mein Sohn.“


    „Lassen Sie ihn!“, schrie Ben wütend und warf sich auf Hansen, um ihn anschließend zu Boden zu werfen. Er rammte seinen Angreifer die Faust in den Magen. Hansen blieb für einen Augenblick die Luft weg, doch dann revanchierte er sich einem Hieb in Bens Rippen. Ohne Ben Zeit zu einer Reaktion zu lassen, umfasste er mit einem sicheren Griff dessen Arm und stieß ihm die Nadel in den Oberarm. Ben versuchte sich aus dem Griff zu befreien, verfolgte mit weit aufgerissenen Augen, wie die Flüssigkeit in seinen Körper gedrückt wurde. „Das war doch nicht so schlimm, oder?“, fragte Hansen, zog dann die Nadel wieder heraus und nutzte seine noch immer vorherrschende Überraschung, um seinen Kopf mit einem harten Stoß gegen den Boden zu schlagen. Alles um Ben herum wurde für einen Augenblick schwarz und als er wieder benommen zu sich kam, war Mikael weg. Hansen hatte ihn mitgenommen. „Fuck!“, nuschelte er leise und stemmte sich mit zittrigen Armen vom Boden hoch. Für einen Moment drehte sich alles um ihn herum, doch langsam wurden die Konturen wieder schärfer.


    „Wo ist er? Was hast du mit ihm vor? Hansen!“ Ben hämmerte gegen die Tür. Er hörte keine Schritte, die näher kamen. Nichts. „Hansen!! Mach diese verdammte Tür auf. Was hast du mir da gespritzt!!“ Er trat gegen die Tür, brüllte, doch wieder tat sich Nichts auf der anderen Seite. Dann plötzlich ertönte ein Schuss. Einen Augenblick später herrschte wieder gespenstische Stille. „Nein … nein“, entkam es Ben leise. Seine flache Hand lag noch immer auf der hölzernen Tür, doch er hatte aufgehört zu Klopfen. Sie hatten ihn erschossen. Sie hatten Mikael erschossen!
    Ben spürte, wie die Übelkeit langsam in ihm hochkroch. Er wusste nicht, ob es wegen dem Tod seines Freundes war oder wegen diesem Zeug, was er nun in seinen Adern hatte. Langsam rutschte er den Rücken an die Wand gelehnt abwärts. Mikael war tot, dabei hatte er ihn doch gerade erst wieder gefunden. Etwas schnürte ihm den Atem zu. Er atmete schwer, doch hatte das Gefühl gleich zu ersticken. Keuchend rang er nach Luft, das machte es allerdings nur noch schlimmer. Sein Herz hämmerte, als wollte es aus seiner Brust springen. Seine Hände zitterten und er spürte ein eigenartiges Taubheitsgefühl in seinem Arm und dann begann die Panik. Sie fraß sich immer tiefer in seinen Körper und ließ ihn noch hektischer atmen. Hansen würde ihn doch nicht vergiften? Er brauchte doch noch das Geld von seinem Vater? Noch hatte er doch einen Wert! Ben versuchte sich wieder aufzurichten, doch es misslang ihm. Er hämmerte gegen die Tür. „Bitte. Hilfe!“, schrie er, doch es hörte sich mehr wie ein panisches Krächzen an. „Hilfe!“
    Ben wand sich verzweifelt, als die Luft immer knapper wurde. Ihm wurde immer wieder schwarz vor Augen. Die Todesangst packte zu.

  • Semir saß aufgeregt neben Konrad Jäger im Wagen und blickte auf die Lichtung vor ihnen. Bens Vater hatte ihn vor einer Stunde angerufen und von der Übergabe berichtet. Überraschenderweise schien es Hansen egal zu sein, ob die Polizei darüber informiert wurde oder nicht. Er schien sich aus irgendeinem Grund sicher zu sein, dass ihm nichts passieren würde. Semir war sich nicht sicher, ob das Risiko, was sie eingingen nicht zu groß war. Wie konnten sie sich sicher sein, dass sich Andreas Hansen sein Wort hielt und ihnen bei der zweiten Übergabe auch Ben aushändigte? Welchen Nutzen hatte Konrad Jäger überhaupt davon, wenn er Mikael rettete. Woher wussten sie, dass Vater und Sohn nicht gemeinsame Sache machten. Sicher, Joshua war davon überzeugt, dass sein bester Freund ihn niemals betrügen würde, aber es war immerhin denkbar. So viel er von Kaurismäki gehört hatte, war Mikael Häkkinen nicht der brave Polizist, den Joshua umschrieb, sondern ging durchaus auch einen Weg abseits der Regeln. Semir trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Verkleidung der Beifahrertür herum. Hansen war bereits einige Minuten überfällig. Was taten sie, wenn er vielleicht nicht kommen würde? Was, wenn er Ben bereits umgebracht hatte?


    „Da ist er“, ertönte die Stimme von Konrad Jäger und er war sofort wieder im Hier und Jetzt. Ein silberner Jeep kam einig Meter von ihnen zum stehen. Hansen stieg aus, öffnete die Beifahrerseite und zog seinen Sohn heraus. Semir sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Der Junge war blass, nass geschwitzt und seine Augen wirkten müde und matt. Auch Konrad Jäger stieg nun aus seinem Wagen, den Griff der Reisetasche mit dem Geld mit der rechten Hand fest umklammert. Semir tat es ihm nach, blieb aber, anders als Bens Vater, direkt am Wagen stehen.


    Konrad Jäger und Andreas Hansen standen sich gegenüber, sprachen lange kein Wort sondern musterten sich nur. „Du bist alt geworden mein Freund“, kam es nach einer Weile von Hansen, der seinen Sohn schützend vor sich platziert hatte und ihm die Waffe an den Kopf hielt.
    „Und du bist zu einem emotionalen Stein geworden. Deine Familie war dir mal wichtig und nun sieh dich an, du nimmst deinen eigenen Sohn als Geisel!“
    Andreas Hansen lachte schallernd. „Wie das Leben so spielt, Konrad. Vielleicht ist es ja deine Schuld? Du hast meine Familie aus diesem Land vertrieben und ihr den Halt genommen. Hast du das Geld?“
    „Wie kann ich sicher gehen, dass du nicht mit der Millionen abhaust?“, folgte sofort der Konter des Bauunternehmers.
    „Das kannst du natürlich nicht, aber hast du eine Wahl? Willst du wirklich riskieren, dass ich Ben vielleicht doch umbringe?“ Hansen zog die Lippen zu einem zynischen Lächeln hoch. Er wusste, dass er die besseren Karten in diesem Spiel hatte. Sein Blick traf den von Semir, doch er schien sich durch den Polizisten nicht weiter aus der Ruhe bringen zu lassen. „Aber vielleicht habe ich es auch schon? Es liegt an dir, ob du das Risiko eingehst oder nicht? Damals als wir jung waren, da warst du ein Spieler, wie ist es heute?“
    „Ben sieht seiner Mutter sehr ähnlich, oder findest du nicht?“, ließ Hansen nach einiger Zeit folgen. „Stell die Tasche einige Meter von mir auf die Erde, Konrad. Dann werde ich dir Mikael übergeben.“
    Konrad ging mit langsamen Schritten in Richtung Hansen und stellt die Tasche hin. „Nun geh zurück.“ Konrad tat wie ihm befohlen und machte kehrt zu seinem Wagen.
    „Was ist mit Michael? Lass den Jungen frei Andreas“, forderte Konrad Jäger, als er sich wieder in seine Ausgangsposition gebracht hatte.
    Hansen schubste Mikael ein Stück von sich weg. Semir konnte sehen, wie er sich versuchte auf den Beinen zu halten, doch kein Glück hatte. Er fiel auf den kalten Boden und versuchte mit aller Kraft sich wieder aufzurichten. Semir wollte gerade auf den Jungen zulaufen, als Hansen plötzlich eine Waffe zog. „Ich habe euch nicht gesagt, dass ich ihn euch lebend übergebe!“, hörte der Kommissar der Autobahnpolizei noch, ehe ein Schuss die Luft zerschnitt. Mikaels hellblauen Augen rissen vor Überraschung und Schmerz weit auf und dann fiel der junge Polizist wie ein Stein zur Erde.


    Die nächsten Geschehnisse dauerten nur Sekunden, kamen Semir jedoch wie elend lange Minuten vor. Andreas Hansen hatte den Überraschungsmoment genutzt, war sofort in seinen Wagen gestiegen und davon gefahren, während sich Konrad Jäger nicht aus seiner Schockstarre löste und auf den verletzten Mann vor sich blickte. Semir war hin und hergerissen, welche Entscheidung er nun treffen sollte. Er könnte Andreas Hansen hinterherfahren, aber der Kollege brauchte Hilfe und das sofort und es sah nicht danach aus, als wäre Konrad Jäger im Stande sich darum zu kümmern. Schweren Herzens traf Semir die Entscheidung gegen Ben und rannte auf Hansens Sohn zu. Er drehte ihn langsam auf den Rücken und suchte seinen Puls. Gott sei Dank, dachte er bei sich und zückte sein Handy, um einen Rettungswagen mit Notarzt anzufordern. Immerhin hatte er soweit vorausgedacht einen in der Nähe des Übergabeorts zu platzieren.
    Dann beugte sich wieder zu dem jungen Mann runter. Sanft klopfte er gegen seine Wangen, stellte dabei gleichzeitig fest, dass er hohes Fieber zu haben schien. „Komm schon, nicht aufgeben. Du schaffst das! Gleich ist jemand da.“ Die blauen Augen starrten ihn an und Semir sah, wie sich die fahlen Lippen bewegten. Er wollte ihm etwas sagen! Er beugte sich nach vorne. „Was ist, was willst du mir sagen?“ Eine zittrige Hand ergriff seine. „Ben … Bergwerk“, hauchte es leise. Dann wurde der Druck von Mikaels Hand schwächer, ehe er sich ganz löste und sich die Augen schlossen.
    „Hey, nein Junge jetzt nicht schlapp machen. Hey komm schon. Bald hast du es geschafft! Nur noch etwas durchhalten Häkkinen.“ Semir suchte abermals nach dem Puls. Er war schwächer als zuvor, aber noch lebte der Kollege. „Gut machst du das. Einfach durchhalten. Hilfe kommt, du wirst nicht sterben, hörst du? Du hast alles noch vor dir. Halte noch etwas durch“, sprach er immer wieder.


    Semir sah, wie sich das Blaulicht des Rettungswagens in den Bäumen abzeichnete und übergab dem Notarzt und zwei Sanitätern kurze Zeit später das Feld. Erst jetzt, wo die Anspannung der Situation von ihm abfiel, wurde ihm bewusst, dass dieser Mann ihm gerade gesagt hatte, wo er Ben finden würde. „Danke Allah, danke!“, schickte er in den Himmel. Schnell griff er nach seinem Handy und forderte einige Einheiten zum naheliegenden Bergwerk an. Dann drehte er sich zu Konrad Jäger. Bens Vater sah immer noch wie versteinert auf den verletzten jungen Mann, der um sein Leben kämpfte. „Er hat auf seinen eigenen Sohn geschossen“, nuschelte er leise und schüttelte dann den Kopf.


    „Herr Jäger“, begann er behutsam. „Sie sollten jetzt nach Hause fahren. Ich werde Sie informieren, sobald wir etwas Neues haben.“ Jäger löste seinen Blick von dem finnischen Kommissar. „Er wird Ben töten! Er wird ihn umbringen! Er hat auf seinen eigenen Sohn … er kennt keine Skrupel!“ „Herr Jäger. Bitte fahren Sie jetzt nach Hause. Wir werden alles tun, um Ben schnell zu finden. Mikael konnte uns noch einen Hinweis geben, bevor er bewusstlos geworden ist.“ Er bekam ein unsicheres mechanisches Kopfnicken als Antwort, doch das reichte ihm für den Moment. Er hatte keine Zeit sich lange mit dem Seelenleben von Konrad Jäger auseinanderzusetzen, sondern seine Sorge galt nun vor allem Ben.

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  • Es hatte nicht lange gedauert und Semir war auf einem verlassenen Bergwerk angekommen, welches ganz in der Nähe des Übergabeortes lag. Er stieg aus dem Wagen aus und verschaffte sich einen Überblick. Das Gelände war riesig, von kleineren Bauwagen, Hütten und Schuppen gesäumt. „Ben! Kannst du mich hören? Gib mir ein Zeichen, wenn du hier irgendwo bist!“, schrie er laut. Doch er erhielt keine Antwort. Alles war still. Semir drehte sich zu seinen uniformierten Kollegen um, die er auf dem Weg hierher ebenfalls über Funk angefordert hatte und wies sie in Gruppen ein, die das Gelände systematisch durchkämmen sollten. Dann setzte er sich selbst in Bewegung. Wo würde er zwei junge Männer verstecken? Man müsste die Stelle schnell verlassen können, falls sie Polizei anrücken würde. Es müsste aber gleichzeitig etwas abseits liegen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. „Ben! Ben. Antworte mir doch!“, rief er erneut. Aber auch diesmal bekam er keine Antwort von seinem Kollegen.
    Semir versuchte sich zu beruhigen und langsam und sortiert zu agieren, doch es gelang ihm nicht. Die Angst um seinen Partner hatte seinen Körper fest im Griff und er hatte alle systematischen Pläne im Kopf der Suche betreffend verworfen. „Ben! Bitte, wo bist du!“, schrie er. Er wurde immer verzweifelter und hätte in seiner Hektik fast das seichte Klopfen in seiner Nähe überhört. „Sem .. ir“, ertönte es leise und dann drang es zu dem Hauptkommissar der Autobahnpolizei durch. „Ben!“ Er stürmte auf den Geräteschuppen zu. „Ben, bist du da drin?!“ „Ich … bekomme kaum Luft“, bekam er leise als Antwort.
    Semir drückte die Türklinke, doch sie war verschlossen. „Ben, geh von der Tür weg, schaffst du das?“ Er bekam ein kaum hörbares ‚Ja‘ als Antwort. Unmittelbar danach warf er sich gegen die Tür. Das Türschloss hielt der Krafteinwirkung nicht Stand, flog durch die Luft, und Holzsplitter spritzten und Semir stand im Raum. Dem erfahrenen Polizisten entglitten alle Gesichtszüge, als er seinen Partner sah. Ben war blass. Sein Brustkorb wog schwer und unregelmäßig auf und ab. Sein Atem ging flach, er schnappte verzweifelt nach Luft. „Oh Gott!“, entwich es Semir, als er sich zu seinem Freund herunter kniete. „Semir … du … du bist spät“, entkam es Ben leise, ehe er das Gesicht vor Schmerzen verzog. „Was hat er gemacht!?“, fragte der Ältere verzweifelt, während er nach Bens Hand griff und seinen Partner auf seine Knie bettete. „Wir brauchen den Notarzt. Schnell!“, schrie er wenig später in Richtung der offenen Tür, mit der Hoffnung, dass ihn einen der Kollegen hören würde. Er wollte Ben jetzt unmöglich alleine lassen. „Holt sofort den Notarzt her!!“


    „Er hat … irgendeine Spritze … keine Luft … mein Arm ist taub“, röchelte der Braunhaarige hervor und tat sich dabei immer schwerer genügend Sauerstoff in seinen Körper zu bringen. „Der Arzt kommt gleich, Ben. Halte noch etwas durch“, sprach Semir ihm gut zu. „Sie haben … Mikael … erschossen …“, murmelte sein Partner angestrengt hervor. Semirs Händedruck wurde sofort stärker. „Hörzu, Ben. Es geht ihm gut. Dein Vater hat das Geld bezahlt. Es geht ihm gut“, versicherte er. Natürlich wusste er, dass es nicht stimmte. Die Schussverletzung, das ganze Blut. Der Kreislauf war instabil gewesen, als Semir den Kollegen das letzte Mal gesehen hatte, aber das spielte nun keine Rolle. Jetzt ging es darum Ben zu beruhigen. „Du … hast ihn gesehen?“ „Ja. Er ist okay“, wiederholte Semir ein weiteres Mal. „Und jetzt musst du durchhalten, versuch ruhig zu atmen. Keine Panik, der Arzt kommt bald. Er ist sicher schon hierher unterwegs.“


    Die wenigen Minuten bis der Notarzt eintraf kamen Semir wie eine Ewigkeit vor. Bens Zustand schien sich sekündlich zu verschlechtern und damit auch seine Sorge um seinen Kollegen. Inzwischen war er kaum noch ansprechbar. Was zur Hölle hatte Hansen mit ihm gemacht? Als der Notarzt eintraf setzte er sich gegen die Wand und sah, wie der Arzt und die Sanitäter sich präzise und schnell an die Arbeit machten. In Windeseile wurden Infusionen gelegt und Spritzen in Bens Blutbahn entleert. Dann auf die Trage. Sie schafften Ben aus der Hütte und verluden ihn in den Rettungswagen. „Wo bringen Sie ihn hin?“, fragte Semir, der mechanisch hinter dem Rettungsteam hergelaufen war. „Uniklinik“, sagte der Arzt und schon verschlossen sich die Türen vor Semir.


    Semir starrte dem Wagen hinterher. Er dachte an nichts. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er fühlte sich wie eine ausgebrannte Hülle. Leere hatte ihn eingenommen. Nein, das stimmte nicht ganz. Da war etwas. Angst. Angst um seinen Partner, der um sein Leben kämpfte. Es war ernst. Semir hatte es in den Gesichtern der Rettungskräfte gesehen. Jemand sprach ihn an. Er schloss für einen Augenblick die Augen, atmete tief durch, um sie dann wieder zu öffnen. Einer der uniformierten Kollegen stand vor ihm. Semir kannte seinen Namen nicht. Er trug gequältes Lächeln im Gesicht. „Soll ich Sie hinterherfahren?“, fragte er dann und blickte dabei in die Richtung, in die der Krankenwagen verschwunden war. Semir nickte, brachte aber keinen Ton heraus. „Mein Wagen steht dort drüben“, ließ ihn der Kollege wissen und er folgte ihm. Dankbar, dass sich ein Fremder ihm angenommen hatte und bereit war sein Schicksal zu teilen.

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