Die Nacht verlief ruhig. Sarah schlief trotz aller Sorgen zumindest einige Stunden-zu groß war einfach die Erschöpfung nach den Ereignissen der letzten Tage. Sie willigte sogar ein, dass man ihre kleine Tochter im Kinderzimmer betreute und nur frisch gewickelt zum Stillen brachte-sie wäre einfach noch nicht fähig gewesen, das selber zu machen und genoss so die Vorteile im Krankenhaus-daheim hatte sie dann noch lange genug beide Kinder und hatte sich mental schon auf unruhige Nächte eingestellt, wie das eben mit Neugeborenen oft war-und Ben würde sie zumindest in der ersten Zeit nicht unterstützen können, soviel war klar.
Auch Semir schlief in seinem Zimmer auf der Station-er vertraute einfach dem Pflegepersonal der Intensivstation, dass die ihn verständigen würden, wenn bei Ben etwas Unerwartetes geschah und auch wenn er häufig hüsteln musste, er zwang sich, sich auszuruhen-man wusste schließlich nicht, was der nächste Tag bringen würde und wie viel Kraft sie da alle miteinander noch für Ben brauchten, wenn der wieder wach war.
Ben wurde auf der Intensivstation weiter versorgt. Er war tief sediert, man lagerte ihn alle zwei Stunden, damit er sich nicht wund lag, saugte den Schleim aus seinen Bronchien und dem Mund, was ihn aber nicht einmal zum Husten brachte-so hoch liefen die Narkosemittel- und achtete darauf, dass er mit der Temperatur im Zielbereich lag.
Am Morgen lief die Morgenroutine an, er wurde gewaschen, die Visite kam, auch Semir stand schon früh auf der Matte, ohne dass Ben davon irgendetwas mit bekam und der Chefarzt hatte in die Akte gesehen. „Wir haben um 16.00 Uhr mit der Kühlung begonnen, also wird die heute ebenfalls um sechzehn Uhr beendet und die Sedierung reduziert-dann werden wir mal sehen, was passiert!“ und die anderen Ärzte und Schwestern nickten-soweit war das Routine.
Bei Semir standen, nachdem er zum Frühstück wieder zurück im Zimmer war, kurz darauf die Internisten auf der Matte. Man nahm ihm nochmals Blut ab und der Stationsarzt hörte ihn ab. „Herr Gerkhan, das klingt noch nicht gut in ihrem Brustkorb. Ich würde sie nachher gerne zum Lungenfunktionstest und Thoraxröntgen schicken, mir persönlich wäre es aber ganz Recht, wenn sie noch ein paar Tage bei uns blieben!“ sagte er und zu seinem Erstaunen willigte Semir sofort ein. Es hatte wegen Ben für ihn Vorteile ein Bett und das Essen im Krankenhaus zu haben und so ganz fit war er wirklich noch nicht-gerade wenn er versuchte Treppen zu steigen, blieb ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg.
So verging der Tag und als Semir am Vormittag nach Sarah sah, hatte die eine große Bitte an ihn: „Semir-ich weiss, dir geht es selber noch nicht so gut, aber bevor nachher Hildegard mit Tim kommt und meine Familie anrollt, um Mia-Sophie anzuschauen, würde ich gerne nach Ben sehen, aber ich schaffe es einfach noch nicht, so weit zu laufen!“ erzählte sie ihm. Was sie verschwieg war, dass sie das durchaus schon alleine probiert hatte, aber nicht sonderlich weit gekommen war, weil ihr auf dem Flur die Beine eingeknickt waren. Ihre Kolleginnen hatten sie wieder ins Bett geschleift und sie ein wenig geschimpft, aber von denen konnte gerade keiner weg, um sie mit dem Rollstuhl irgendwo hin zu bringen, auch wenn sie natürlich verstanden, dass sie gerne nach ihrem Mann sehen würde, aber die Stationsabläufe ließen diesen Freiraum heute einfach nicht zu. So waren wenig später Sarah im Rollstuhl und Semir, der den langsam schob, unterwegs zu Ben. Sarah hatte von der Hebamme ein Polaroidbild von Mia-Sophie bekommen, das sie nun fest an sich drückte und gleich nach der Ankunft bei ihrem schlafenden Mann auf sein Nachtkästchen stellte. Sie hatte sich über ihn gebeugt und ihn auf die Stirn geküsst. Auch wenn sie den Anblick von Intensivpatienten, die gerade gekühlt wurden, zur Genüge kannte, war das doch etwas ganz anderes, wenn da der Mann lag, den man liebte. Auch sie erschauerte von der Kälte die er verströmte und wie am Vortag Semir, hatte auch sie böse Visionen als sie seine kalte Hand ergriff. „Bitte Schatz-kämpfe! Tu es für mich und unsere Kinder!“ sagte sie tief bewegt, aber dann wurde ihr ein wenig übel und schwindlig und so war Semir wenig später eilig wieder mit ihr auf dem Rückweg ins Zimmer. „Verdammt-ich würde so gerne länger bei Ben bleiben, aber mein Kreislauf macht einfach noch nicht mit!“ sagte sie, als sie wenig später schweißgebadet wieder in ihrem Bett lag. Semir sagte ernst und freundlich: „Sarah-dafür bin ja ich da. Mir geht’s eigentlich gar nicht so schlecht, ich inhaliere brav und lasse mich auch behandeln, aber der Hauptgrund dafür, dass ich noch nicht auf meine Entlassung gedrängt habe ist, dass ich für Ben da sein will, wenn er mich braucht!“ und Sarah griff nach seiner Hand und sagte einfach: „Danke!“
Semir brachte die Untersuchungen hinter sich, es wurde festgestellt, dass er durch das giftige Gas, das er eingeatmet hatte, ein wenig Flüssigkeit in der Lunge hatte, die mit ausschwemmenden Medikamenten und weiteren Inhalationen behandelt wurde. Auch die Leberwerte waren angestiegen-nicht richtig besorgniserregend, aber eine weitere Krankenhausbehandlung war auf jeden Fall gerechtfertigt.
Andrea hatte inzwischen die benötigten Sachen für Sarah geholt, verbrachte dann noch Zeit mit ihrem Mann und bei Sarah kamen erst Tim und Hildegard und später auch noch ihre Eltern, Konrad und Julia zu Besuch. Tim sah das neue Baby neugierig, aber eher gelassen an und war viel mehr an dem Geschenk interessiert, das die Mama ihm versprochen hatte. Es war eine kleine Babypuppe, die man ebenfalls wickeln und füttern konnte, mit Zubehör wie Windeln und Fläschchen und die drückte er eng an sich. Sarah und Ben hatten sich amüsiert, als Sarah die gekauft hatte. „Lass das ja nicht meinen Vater sehen, dass du seinem Enkel eine Puppe schenkst!“ hatte Ben geflachst und auf Sarah´s Frage warum, hatte er grinsend geantwortet: „Weil er dann vermutlich schwul wird, wenn ich die Gedankengänge meines Vaters richtig nachvollziehe. Er wäre vermutlich vom Glauben abgefallen, wenn ich mit Julia´s Puppen gespielt hätte, während es völlig normal war, dass Julia sich an meinen Matchboxautos bedient hat. Sein Rollenverständnis lässt nicht zu, dass Jungs mit „Mädchensachen“ spielen, aber ich finde das gut, dass Tim da alle Angebote hat!“ immerhin war das auch nicht Tim´s erste Puppe, wobei er sich eindeutig mehr für Dinge interessierte, die Räder hatten. Sarah versuchte ihm dann noch den Namen seiner kleinen Schwester beizubringen, aber er beharrte darauf, den zweiten Teil wegzulassen, sondern sagte nur „Mia!“ und damit waren dann auch alle einverstanden. Das Baby wurde gebührend bewundert und herum gereicht, aber Sarah war nach einer Weile froh, als die Besucher sich verabschiedeten, sie war doch noch sehr müde und erschöpft und nach dem Mittagessen schlief sie noch ein wenig, um zu Kräften zu kommen, vielleicht schaffte sie es dann heute am Abend länger bei ihrem Mann zu bleiben, wenn der dann vielleicht schon wach war.
Um sechzehn Uhr beendete man die Kühlung und reduzierte zunächst einmal die Sedierung. Ganz ausschalten würde man sie erst, wenn Ben wieder Normaltemperatur, also mindestens 36.5°C erreicht hatte. Semir hatte wieder am Bett seines Freundes Platz genommen, dessen freie Hand man nun fest gebunden hatte. Zwei Stunden später war es so weit, die Normaltemperatur war erreicht und die betreuende Schwester-wieder Sarah´s Freundin, die ihn am Vortag schon aufgenommen hatte, schaltete die Perfusoren aus. „Jetzt warten wir mal ab, was passiert!“ sagte sie aufmunternd zu Semir, der gespannt daneben saß und die Regungen seines Freundes beobachtete und immer wieder beruhigende Worte sagte. Er hatte Sarah versprochen, sie später nochmals mit dem Rollstuhl abzuholen, aber jetzt wollte er, dass Ben nicht alleine war, wenn er zurück in die Realität kam. Ben hatte schon planmäßig begonnen dazu zu atmen, als man die Sedierung herunter gefahren hatte, was ein gutes Zeichen war, aber jetzt war es an der Zeit, dass er die Augen aufschlug und seine Umgebung wahr nahm und darauf wartete Semir und auch das Intensivpersonal.