Das Haus war still geworden, auch Hartmut, der neben Semir auf dem großen Bett des Gästezimmers lag, war eingeschlummert und ein leises Schnarchen durchzog den Raum. Nur Semir kam nicht zur Ruhe. Es war einzig sein Verantwortungsbewusstsein den anderen gegenüber, dass er sozusagen noch eine kurze Nachtruhe angeordnet hatte. Er selber würde lieber Tag und Nacht weiter suchen, bis er seinen Freund und Partner gefunden hatte. Er horchte in sich hinein und ein Gefühl der Verzweiflung ergriff von ihm Besitz-irgendwie war das nicht nur seine eigene Verzweiflung, sondern er meinte Ben´s Gefühle wahrnehmen zu können, auch wenn das mit Vernunft betrachtet völliger Quatsch war. Hartmut würde ihm da sicher erklären, dass das ein Zusammenspiel von Hormonen, elektrischen Nervenimpulsen, Rezeptoren und Hirnleistungen war, was ihm dieses sogenannte Bauchgefühl bescherte und dass es wissenschaftlich nicht haltbar war, dass er jetzt mit absoluter Sicherheit wusste: Ben war noch am Leben, aber er war am Ende und brauchte dringend seine Hilfe. Ach ja und was er noch wusste-er war hier irgendwo ganz in der Nähe- und Semir war sich sicher, dass das stimmte, auch wenn das wissenschaftlich nicht belegbar war. „Halt durch Ben, ich werde dich finden, ich werde nicht eher aufhören dich zu suchen, bevor ich dich nicht gerettet habe!“ flüsterte er leise, schloss dann wieder die Augen und versuchte wenigstens ein wenig auszuruhen.
Knappe vier Stunden später-Semir war doch ein klein wenig eingenickt-hörte er Geräusche aus dem Bad und stand leise auf, um Hartmut nicht zu wecken, der aber ebenfalls sofort die Augen aufschlug. So duschten sie kurz, zogen sich an und trafen dann in der Küche auf Klaus, der gerade ein paar Teller und Tassen auf den Tresen der offenen Küche gestellt hatte. „Corinna und ich frühstücken immer hier!“ sagte er ein wenig hilflos, während er den beiden einen Kaffee aus dem Automaten zog. „Ich muss dann gleich los, auch wenn ich Gleitzeit habe, ist der späteste Arbeitsbeginn für mich neun Uhr, aber ich fange meistens früher an, weil ich ja auch einen Feierabend will. Ich habe mir überlegt, dass ich euch meinen Vater zur Seite stelle, der ist bereits in der Freistellungsphase der Altersteilzeit und hat Zeit-ich habe ihn vorhin angerufen und ihm ein bisschen was erzählt, allerdings nicht von der Drohung gegen Corinna, sondern nur, dass Ben verschwunden ist und Corinna nen üblen Ausschlag hat, von dem man nicht weiss, ob der ansteckend ist und nicht raus kann. Außerdem hat er vielleicht auch noch Ideen, wo ihr suchen könntet, während ich arbeiten bin!“ erklärte er und Semir und Hartmut stimmten zu. Um ihre Füße strich das kleine Katerchen, das Klaus herauf gelassen hatte und bettelte um Streicheleinheiten, die sie ihm auch gedankenverloren zukommen ließen.
Während Semir seinen Kaffee trank und lustlos in einen Marmeladentoast biss, fragte Hartmut: „ Was meint ihr-vielleicht sollte ich doch nach Augsburg zu dem Kongress fahren. Der findet in einer großen wissenschaftlichen Fortbildungseinrichtung statt-da haben sie eine bessere Ausstattung wie ich in der KTU und wenn ich frage, darf ich da vielleicht auch private Analysen machen oder kann mich zumindest mit anderen Wissenschaftlern austauschen. Ich glaube, da bin ich euch eine größere Hilfe, als wenn ich hinter euch durch den Wald marschiere-wenn ihr mich dort aussetzt bin ich sowieso verloren, ich kann mit so viel Natur einfach nichts anfangen, das ist nicht meine Welt!“ stellte er in den Raum und nach kurzer Überlegung stimmte ihm Semir zu. Hartmut´s Stärke war sein Intellekt, im Nahkampf war er eher weniger zu gebrauchen und mit Schaudern erinnerte sich Semir an ihren ersten gemeinsamen Einsatz, als Hartmut ihm als neuer Partner zur Seite gestellt worden war-nein die klassische Polizeiarbeit war beileibe nicht die Stärke seines Freundes und Kollegen. Das war mit Ben im Team völlig anders! Sie verstanden sich blind und daher kam auch ihre gute Aufklärungsquote.
„Gut Hartmut-mach das-wann beginnt der Kongress?“ wollte er wissen. „Um zehn, ich muss allerdings irgendwie dorthin kommen, kann mich jemand zum Bahnhof fahren?“ fragte er, aber nach kurzer Überlegung schüttelte Semir den Kopf. „Es ist besser, du fährst mit dem BMW und rechne dir das als große Ehre an, dass ich dir den anvertraue. Corinna´s Wagen wäre zwar auch frei, aber das fällt auf, wenn der weg ist, falls das Haus doch beobachtet wird, dann werden die Erpresser vielleicht misstrauisch. Ich werde mich in deinem Wagen verstecken, Klaus, dann lässt du mich bei deinem Vater aussteigen und Hartmut soll zügig mit dem Polizeifahrzeug, das ja erst beim zweiten Hinsehen als solches zu erkennen ist, aus der Garage fahren und verschwinden-der war halt noch ein Hochzeitsgast, der bei euch über Nacht geblieben ist. Wir suchen dann Ben, du besorgst die Pläne und Hartmut macht seine Analysen und bleibt mit mir telefonisch in Verbindung!“ beschloss der erfahrene Polizist und wenig später führten sie ihren Plan genau so durch.
Semir schlüpfte Minuten später vor dem Elternhaus ihres Gastgebers aus Klaus´ Geländewagen, wo er sich auf dem Beifahrersitz geduckt hatte und wurde freundlich von Klaus´ Vater empfangen, der ein ein wenig älteres Ebenbild seines attraktiven Sohnes war. „Josef!“ stellte sich der vor und Semir begrüßte ihn mit festem Handschlag, sagte seinen Namen und kletterte in den Wagen des etwa sechzigjährigen Mannes, der auch gleich aufs Gas ging. „Mein Sohn hat mir erzählt, dass Ben, der Mann von Sarah´s Cousine verschwunden ist und sie extra aus Köln angereist sind, um ihn zu suchen!“ sagte Josef und Semir bat zunächst einmal darum, dass sie sich duzten, irgendwie war das gerade sinnvoller und er hatte ein großes Vertrauen zu dem Mann, der einen ruhigen und überlegten Eindruck machte, sich Zeit für ihn nahm und zudem noch ortskundig war. Wenn ihm einer helfen konnte Ben zu finden, dann der! „Ich habe zwar keine Ahnung warum Ben hier irgendwo eingesperrt sein sollte, aber das ist nicht mein Bier-wenn ihr mich nicht einweihen wollt, um was es hier geht, ist mir das auch egal!“ teilte Josef ihm mit und Semir bewunderte den sichtlich messerscharfen Verstand des Mannes. Klar konnte man ihm nicht weismachen, Ben habe sich in alkoholisiertem Zustand verlaufen, denn dann bräuchte man eher eine Hundestaffel, um einen Vermissten aus den Wäldern zu bergen. „Josef-du hast Recht, Ben hat sich fast mit Sicherheit nicht verirrt, sondern wurde aus Gründen, die ich dir leider noch nicht mitteilen kann, entführt, aber ich verspreche dir-wenn das alles vorbei ist, sagen wir dir, um was es geht, aber jetzt müssen wir dringend meinen besten Freund suchen, ich spüre nämlich, dass der hier irgendwo ganz in der Nähe ist und es ihm nicht gut geht!“ erklärte Semir und während Josef gerade schon einen steilen Waldweg hinab holperte, nickte er mit dem Kopf. „Schön dass du mich nicht für dumm verkaufen willst, Semir-auf eine gute bayerisch-türkische Zusammenarbeit!“ sagte er schmunzelnd und schon waren sie an ihrem ersten Ziel angelangt, einem Tunnel unter der Eisenbahnlinie der zwei stabile Gitter auf beiden Seiten hatte, so dass zwar das Wild, aber kein Mensch durchkam, aber es war niemand darin, wie sie bereits beim Hineinsehen erkennen konnten und so setzten sie ihre Suche fort.
Inzwischen zog das Wetter zu, die Sonne verschwand hinter den Wolken und Josef sagte nach einem Blick nach oben: „Es wird Regen geben, spätestens heute Abend!“ und Semir nickte, aber das würde ihn nicht von der Suche abhalten. Sie waren inzwischen an einer weiteren Karsthöhle angekommen und bahnten sich einen Weg durchs Gestrüpp vor dem Eingang. Etwa zwei Meter konnten sie nach innen vordringen, aber dann wurden die Wände zu schmal für einen Mann und es roch nur noch intensiv nach Fuchs, so dass sie enttäuscht wieder umdrehten. „Solche Höhlen haben wir hier in den Wäldern rings herum eine ganze Menge, viele davon einsturzgefährdet!“ erzählte Josef und Semir sagte, während er wieder ins Auto kletterte: „Dann klappern wir sie einfach systematisch nacheinander ab!“ und der drahtige Nordschwabe mit dem wettergegerbten Gesicht nickte. „So war mein Plan!“ sagte er einfach und startete auch schon den Motor, um das nächste Ziel anzufahren.
Ben war wieder bei sich und fror und schwitzte gleichzeitig. Es schien draußen Tag zu sein, denn jetzt durchzog wieder ein helleres Dämmerlicht als vorher die Höhle. Wenn er genau lauschte, konnte er sogar Vogelgezwitscher vernehmen, aber leider nichts, was an Geräusche der Zivilisation erinnerte. Wie gerne hätte er jetzt Motorenlärm, quietschende Reifen, sogar qualmende LKW-Auspuffgase gerochen und gehört, aber nichts als Stille und pure Natur war um ihn. Wieder tastete er nach unten, kniff sich in die Oberschenkel, aber er spürte nichts, seine Beine hingen wie zwei nutzlose Anhängsel an ihm und weil er nun schon wieder schrecklichen Durst hatte, zog er sich unter Schmerzen erneut ein paar Zentimeter näher zum Eiswasser und trank ein paar Schlucke aus der hohlen Hand. Wieder wurde ihm vor Schmerzen übel, aber diesmal hatte er sich dem Wasser nicht ganz so gefährlich genähert, dass er ersaufen würde, wenn er ohnmächtig wurde. Obwohl-vielleicht war das doch eine gute Alternative? Wenn er es richtig anstellte, würde er ertrinken, ohne es in der Bewusstlosigkeit mit zu bekommen-hoffte er zumindest, aber er musste jetzt erst noch ein wenig Mut sammeln, bevor er diesen letzten, endgültigen Schritt ging. Er würde es dennoch wahrscheinlich tun müssen und zwar für seine Familie und seine Freunde-lieber war er tot als ein Krüppel und so stiegen ihm die Tränen in die Augen, während er die schönen Momente in seinem Leben Revue passieren ließ. Seine wundervolle Zeit mit Semir auf der Autobahn, dann sein Kennenlernen von Sarah, ihre tiefe Liebe, mit Sarah hatte er alt werden wollen! Seine prachtvollen Kinder-Tim, der ihm so ähnlich war und ihn mit seinen fröhlichen dunklen Augen anstrahlte und Mia-Sophie, sein meist lachender Sonnenschein, die er in einer dramatischen Aktion höchstpersönlich auf die Welt geholt hatte-eigentlich wollte er sie nicht verlassen, aber er musste es tun, um ihnen die Zukunft nicht zu versauen. Der Schmerz wäre momentan schlimm, wenn seine Leiche irgendwann gefunden wurde, aber er würde verblassen, Sarah würde vielleicht wieder einen neuen Partner finden und das Leben würde weiter gehen. Bliebe er aber am Leben, würde er ihnen allen die Zukunft versauen und das wollte er auf keinen Fall und deshalb sammelte er jetzt seinen ganzen Mut für den letzten entscheidenden Schritt, während die Tränen der Verzweiflung über seine Wangen liefen.