Die Chefin hatte sich das unbedingt notwendige Schlafpensum, das sie brauchte, um einigermaßen funktionieren zu können, gegönnt. Als sie frisch gestylt um die späte Mittagszeit in der PASt ankam, stellte sie gerührt fest, dass auch ohne ihre Organisation der Dienstbetrieb aufrechterhalten worden war. Alle direkt an der Geiselnahme Beteiligten waren noch zuhause und dafür mehrere Kollegen freiwillig aus dem Frei gekommen. Das „Wir-Gefühl“ war anscheinend in ihrer Dienststelle erhalten und als sie in ihr Büro ging, überfiel sie auch niemand mit irgendwelchen Fragen, sondern ein Kollege stellte ihr mit einem freundlichen „Guten Tag!“ eine Tasse Kaffee hin. Als sie tief durchgeatmet hatte, ließ sie den leitenden Beamten vortragen, was es für wichtige Neuigkeiten gab. Allerdings war eigentlich nur der Routinebetrieb abgelaufen und die einzige Frage, die dem Polizisten auf den Nägeln brannte, war die, was mit dem Kulturreferenten in der Zelle passieren sollte. Der Chefin fiel erst jetzt siedendheiß ein, dass sie diesen Weidenhiller völlig vergessen hatte, weil sie den ja unbedingt persönlich hatte befragen wollen und dann war die Meldung vom Flughafen gekommen. Ach du liebe Güte-hoffentlich gab es da keinen Ärger deswegen. Jeder Anwalt hätte ihn sofort herausgeholt, denn er war ja irgendwie nicht tatverdächtig, sondern hatte sich nur auffällig benommen und sollte deswegen befragt werden. Sofort stand sie auf, um ihn zu vernehmen und dann mit einer Entschuldigung nach Hause zu schicken, als gerade Hartmut anrief. Sie teilte ihm mit, was sie ihm zu sagen hatte und ging dann selbst zur Zelle, um den Politiker in den Verhörraum zu bringen.
Der Mann musterte sie kurz von oben bis unten, als sie die Tür öffnete. Irgendwie war Frau Krüger der kalte Blick ein wenig unheimlich, aber wenig später setzte der Anzugträger wieder ein verbindliches Lächeln auf und folgte ihr in den Verhörraum. Sie bot ihm eine Tasse Kaffee an, die er dankend entgegennahm und die Krüger versuchte, möglichst verbindlich zu wirken, um keinen Ärger zu provozieren. „Herr Weidenhiller, es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich Zeit für sie gefunden habe, aber bei uns war einiges los!“ erklärte sie ihm und schilderte ihm auf seinen fragenden Blick hin, grob die Einzelheiten der Geiselnahme. Er würde das, sobald er nach Hause kam, sowieso erfahren und wenn sie ihm ein wenig in Augenhöhe begegnete, dann würde er vielleicht auf eine Beschwerde verzichten. Weidenhiller nickte und nun fragte er seinerseits:“Wie geht es denn Herrn Jäger?“ und die Chefin zuckte mit den Schultern. „Nicht so gut, er liegt beatmet im Universitätsklinikum und auch die Familie Gerkan hat die Geiselnahme nicht sonderlich gut überstanden und ist ebenfalls dort. Wenn sie mir jetzt noch kurz erklären, warum sie versucht haben am Neumarkt zu fliehen, dann sind wir auch schon fertig!“ erklärte sie und der Kulturreferent sagte harmlos. „Ich habe mich geschämt, weil ich so voyeuristisch war und die Rettungsarbeiten behindert habe. Ich hatte gedacht, ich könnte unbemerkt verschwinden, aber leider wurde mein Tun dann falsch interpretiert. Ich kam zufällig des Wegs, denn ich fahre immer von der Innenstadt nach Lindenthal, wo ich wohne mit der U-und Straßenbahn und muss am Neumarkt umsteigen. Witzigerweise bin ich da schon mehrfach Herrn Jäger begegnet, der das ihnen gegenüber vielleicht erwähnt hat!“ und die Chefin akzeptierte seine Erklärung. „Damit hätten wir das geklärt, ich darf mich noch kurz für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und wünsche ihnen einen schönen Nachmittag!“ sagte Frau Krüger und ließ den Mann von einem uniformierten Polizisten nach Aushändigung seiner privaten Sachen, wie Handy etc., hinausbringen. Vielleicht hatte sie ja Glück und da kam nichts nach-er hatte auf jeden Fall nicht besonders rachsüchtig gewirkt. Während die Chefin ihrer weiteren Arbeit nachging, stieg der Kulturreferent in das nächste öffentliche Verkehrsmittel, um über den Neumarkt nach Hause zu fahren.
Hartmut war inzwischen zu Andrea gegangen. Die hatte nach dem Mittagessen, bei dem ihr eine junge Schwesternschülerin geholfen hatte, noch ein paar Schmerztabletten bekommen und hatte ein ausgiebiges Mittagsschläfchen angehängt. Was sollte sie sonst auch tun? Es wurde sicher nicht gerne gesehen, wenn sie ständig auf der Intensivstation herumlungerte und die Schwester hatte sie noch darauf aufmerksam gemacht, dass sie zumindest die ersten Tage die Hände möglichst hochhalten-oder legen sollte, damit das Blut sich nicht staute und die völlig normale Wundschwellung noch verstärkte. Also lag sie im Bett, jeden Arm auf einem Kissen gelagert und wartete nach dem Aufwachen, dass die Zeit verging. Als nun Hartmut, nach seinem Klopfen, den Kopf zur Tür hereinsteckte, war sie hocherfreut und nachdem sie sich kurz unterhalten hatten, machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Intensivstation.
Hartmut hatte gesehen, wie behindert Andrea mit den beiden Verbänden war und sofort hatte es in seinem Kopf zu rattern begonnen, mit welchen technischen Hilfsmitteln er sie ausstatten könnte, damit sie die kommenden sechs Wochen gut überstehen konnte und die Hände trotz Verband ein wenig nutzen konnte-er hatte da schon ein paar Ideen!
Als die beiden an der Intensiv ankamen, läutete Hartmut, aber Andrea meldete sich an-vermutlich hätte man Hartmut sonst gar nicht reingelassen, aber so standen die beiden wenig später vor den beiden Schwerkranken. Sarah begrüßte sie herzlich und stellte Andrea auch gleich einen Stuhl an Semir´s Bett, der inzwischen das Paracetamol zur Fiebersenkung erhalten hatte und nun dabei war, vor lauter Schwitzen aus dem Bett zu fließen. „Ich wollte ihn gerade ein wenig abwaschen!“ sagte Sarah entschuldigend, aber so wurde das noch kurz vertagt. Semir erkannte zwar seine Frau und lächelte unter seiner Maske, aber als sie versuchten, die nur für ein paar Minuten abzunehmen, fiel sofort die Sauerstoffsättigung in den kritischen Bereich, so dass Sarah nur schnell sein Gesicht abwusch und dann die Maske wieder festschnallte. Andrea legte die beiden verbundenen Arme auf seine Brust und blieb einfach ganz nah bei ihm sitzen, um ihm so ihr Mitgefühl und ihre Liebe und Sorge mitzuteilen. Semir schloss die Augen wieder und dämmerte vor sich hin.
Hartmut, der auch zunächst kurz Semir begrüßt hatte, stand nun vor Ben und beobachtete interessiert die ganzen Maschinen, Kabel und Drainagen. Er ließ sich von Sarah die Technik der Thoraxdrainage erklären und nickte mit dem Kopf-ja das war klar und verständlich für ihn, während Andrea nach ein paar Worten nicht mehr zuhörte, weil sie nur Bahnhof verstand. Etwas unsicher nahm er dann aber kurz Ben´s Hand und sagte: „Hey Ben, schau bloß, dass du bald wieder fit wirst, aber ich habe da keine Sorge-Sarah hat das schon im Griff-und tatsächlich beschleunigte sich Ben´s Herzschlag daraufhin kurz, obwohl er völlig ruhig liegen blieb. Sarah und ihre Kollegin hatten Ben vorher abgesaugt und tatsächlich kamen nur noch ein paar alte Blutreste aus der Lunge und sonst waren die Werte durchaus stabil.
Wenig später kam der Stationsarzt ins Zimmer und sah überrascht die Besucher an. Allerdings waren seine Mitteilungen ja keine geheime Verschlusssache und so informierte er die Anwesenden. „Ich habe gerade die Röntgenbilder angesehen. Bei Herrn Jäger hat sich die Lunge gut entfaltet und die Thoraxdrainage liegt auch gut, das bedeutet, dass kein Grund besteht, ihn noch länger zu beatmen. Wir werden jetzt beginnen, die Sedierung zu reduzieren und planen für morgen die Extubation.
Anders bei ihnen Herr Gerkan! Ihre Röntgenbilder schauen katastrophal aus und sie haben eine schwere Aspirationspneumonie entwickelt. Wenn sie die Maske tolerieren können, können wir versuchen, das ohne Intubation hinzukriegen, aber wenn sie das Gefühl haben, es nicht mehr aushalten zu können, müssen wir sie schlafen legen!“ Semir nickte leicht, zum Zeichen, dass er verstanden hatte und Andrea kamen fast die Tränen, auf diese Mitteilung hin. Der Arzt ging wieder aus dem Zimmer und Andrea blieb noch eine Weile bei ihrem Mann sitzen, bis Sarah zu ihr sagte: „Andrea, es ist besser, du legst dich noch ein wenig hin-ich werde Semir jetzt dann frisch machen, denn das Fieber ist gesunken. Ich verspreche dir, ich passe gut auf ihn auf und wenn sich irgendwas ändert, gebe ich dir sofort Bescheid!“ und Andrea nickte und erhob sich. Mit einem Winken verabschiedete sie sich und ging mit schleppenden Schritten, wie eine alte Frau, gefolgt von einem betrübten Hartmut, zum Fahrstuhl.