Beiträge von Campino

    Innenstadt - 10:45 Uhr

    Der schwarze Audi, mit dem die beiden LKA-Mitarbeiter, scheinbar Laufburschen der beiden hochnäsigen Ermittler, Zange abholen sollten, war so unauffällig, wie auffällig. Mittlerweile hatte Ben das Gefühl, jeder Verbrecher und jeder Elite-Polizist fuhren diese Karren. Er und Kevin standen mit einigem Abstand vor der JVA, hatten gesehen wie Zange in den hinteren Fahrzeugraum geführt wurde und hatten nun die Verfolgung aufgenommen. Der Plan war simpel... die beiden Autobahnpolizisten sollten einen Unfall provozieren, der die LKA-Beamte dann ablenken sollte. Semir hielt sich zwei Fahrzeuge weiter dahinter in seinem silbernen BMW auf.
    "Wo machen wir es?", fragte Kevin, während er immer mal in den Rückspiegel sah um zu schauen, ob Semir den Anschluß hielt, doch um den erfahrenen Autobahnpolizisten brauchte er sich keinerlei Sorgen zu machen. Der überholte, wenn es nötig wurde mal einen Vordermann, und holte schnell wieder auf, wenn er eine Ampelperiode länger warten musste, als seine Kollegen. "Am besten, du lässt ihn auffahren.", meinte Kevins Partner auf dem Beifahrersitz, und hielt sich mit der rechten Hand am Obergriff fest. Er erntete einen etwas unverständlichen Blick von links, und sah sich zu einer Erklärung genötigt. "Wir können dann beide nötigen, nach unserem Schaden hinten zu schauen, und beide drehen sich dann von ihrem Fahrzeug weg. Ausserdem müsste Semir dann an uns vorbeilaufen." Kevin hatte daran nicht gedacht, und es schien als würde Ben nicht zum ersten Mal einen Unfall fingieren. "Alles klar, Chef.", sagte er grinsend zu seinem Freund, der ebenfalls lächeln musste. "Das lernst du auch noch."

    Die Spannung im Auto stieg, als sie sich durch den dichtesten Verkehr kämpften. Beide Männer hielten den Verkehr im Blick und warteten auf eine günstige Gelegenheit. Sie hatten den Funk auf einen unbenutzten Kanal umgestellt, damit nur sie untereinander kommunizieren können. "Jungs, was ist denn? Vorauf wartet ihr noch?", erklang Semirs ungeduldige Stimme, der natürlich in seinem silbernen BMW wie auf glühenden Kohlen saß. Jede Minute, die verging, war Ayda dem Tod näher als dem Leben, und jede Minute die verging kam Semir vor, als würde er selbst in einen Abgrund gedrückt werden und es wären nur noch wenige Schritte, bis zum Absturz. "Ja Semir. Wir suchen einen geeigneten Punkt.", versuchte Ben seinen besten Freund zu beruhigen. "Das ist keine Wissenschaft für sich. Und der geeignete Punkt ist nicht auf dem Parkplatz des LKA! Nun macht!!", kam es ungeduldig aus dem Lautsprecher. Die beiden Männer blickten sich an und konnten die Eile ihres Partners nachvollziehen. "Okay, nächste Ampel.", gab er durch und nickte Kevin zu: "Kriegst du das hin?" Der junge Polizist sah mit einem schnippischen Lächeln herüber zu Ben: "Na komm... ne Vollbremsung werde ich grade noch hinbekommen."
    Kevin setzte den Blinker und zog mit dem Mercedes auf die Linksabbiegerspur. Gemächlich, ohne Aufsehen zog er an dem schwarzen Audi vorbei um dann, als hätte er sich in der Spur vertan, kurz vor dem Audi wieder einzuscheren und sofort mit allem, was Kevin hatte vor der roten Ampel auf die Bremse zu latschen. Beide machten sich auf den Aufprall gefasst, der auch sofort kam, ein kurzes Quietschen, ein Rucken und Dröhnen, und der Audi hatte seine Front im Kofferraum des Mercedes verewigt.

    Beide Havaristen lenkten ihre Autos auf den Gehweg, Semir parkte mit gebührendem Abstand, und hielt sich bereit. Die beiden LKA-Beamte, relativ junge Typen, begangen sofort den Fehler, auf den die drei Freunde spekuliert hatten... und stiegen beide wild gestikulierend aus. "Was soll denn das?", rief der Fahrer und war sich keiner schuld bewusst. Er blickte sofort auf die verbogene Frontstoßstange des Audis, das Nummernschild war abgefallen und ein Glas des Scheinwerfers gesplittert. Auch Ben und Kevin stiegen aus, ohne irgendeine Rolle abzusprechen. Doch das brauchte Kevin nicht, der sofort wie ein Rohrspatz schimpfte. "Mann Mann, wenn du mir nur einmal vorher sagen würdest, wo du hin willst. Jedes Mal die gleiche Scheisse.", fuhr er Ben an, der etwas überrascht war, dass Kevin auch mehr als drei Sätze am Stück sprechen konnte. "Kauf dir endlich mal nen Stadtplan.", warf der ihm aber gekonnt improvisiert entgegen, und kam zu den beiden LKA-Männern. "Ja tut mir leid. Mein Kollege hier kennt sich noch nicht so gut aus." "Ja, das haben wir gemerkt.", bemerkte der Beifahrer des Audi zynisch.
    "Naja... bei euch scheints ja nicht so schlimm zu sein.", meinte Ben mit einem kurzen Blick auf den Audi. Dann drehte er sich zu dem Benz herum und sah mit Zufriedenheit, dass die Stoßstange zur Hälfte abgefallen war, auf dem Boden schleifte und nur an einer Seite befestigt war. "Das können wir über die Dienststellen regeln.", sagte er und sie zeigten ihren Ausweis. "Dann halten wir uns hier nicht lange auf." Die beiden Polizisten stimmten zu, sie teilten Handynummern und Semir trommelte nervös auf sein Lenkrad.

    "Aber so können wir nicht weiterfahren, Ben. Das Ding schleift doch die Autobahn kaputt.", sagte Kevin dann und wies auf die halbe Stoßstange, die auf der Fahrbahn hing. "Du hast recht. Hey Kollegen... könnt ihr uns mal helfen?", rief er die beiden LKA-Beamten zurück. Die murrten etwas unverständliches, einer warf noch einen kurzen Blick zu Zange und drehte sich dann vom Audi weg. Alle vier fassten in der Hocke an die Stoßstange, Kevin und Ben an der Seite, an der sie noch befestigt war. "Und zieh!!", wobei die beiden eher drückten als zogen. Nebenan rollte der Verkehr vorbei, es war laut was den beiden Männern entgegenkam. Alle vier waren so beschäftigt, die beschädigte Stoßstange von dem Mercedes zu reißen, dass niemand mitbekam als Semir mit schnellen Schritten zu dem Audo lief, die hintere Tür öffnete und Zanges Handschellen, mit denen er an den Obergriff gefesselt war, öffnete. Zange schaute verdutzt und wurde von Semir energisch mit einem Zeigefinger auf den Lippen bedeutet, gefälligst die Schnauze zu halten. Zusammen mit dem Geiselnehmer lief er zurück zum BMW, wo er den Mann dann ebenfalls wieder an den Obergriff fesselte. "ZIIIIEEH! Sag mal, was ziehst du denn, kannst du nicht mal ne Stoßstange von nem Auto reissen?", machte Ben in Kevins Richtung noch mehr Lärm, als sowieso schon war, während die LKA-Beamten etwas verdutzt dieses komische Pärchen von der Autobahnpolizei begutachtete. Semir hatte den Weg nochmal zurückgelegt und sein Taschenmesser in dem rechten Vorderreifen des Audis verewigt.
    Erst als die beiden Polizisten den silbernen BMW an sich vorbeifahren sah, zogen sie einmal mit einem Ruck, und die Stoßstange gab nach. "Puuuh... endlich.", keuchte der Fahrer des Audis und stand auf, während Ben die Stoßstange im Kofferraum verstaute.

    "Oh verdammt... unser Reifen.", stöhnte der Mann und sah den platten linken Vorderreifen. Alle vier Männer beugten sich zu dem Reifen herunter, ohne zu merken, dass das Fahrzeug leer war. "Ja, das kann durch den Aufprall leicht passieren...", stellte Kevin gespielt fachmännisch fest und nickte. Er gab dabei Ben einen unbemerkten Stoß, langsam zu verschwinden, und der nickte. "Passt auf, wir schicken euch den ADAC vorbei. Wenn wir die rufen kommen die normalerweise schneller, als auf normalem Wege. Nichts für ungut.", meinte Ben und gab einem der beiden Ermittler einen kleinen Klaps auf die Schulter. Mit leichtem Laufschritt kehrten die beiden Polizisten zurück in den Mercedes, starteten den Motor und fädelten sich wieder in Verkehr ein. Im Rückspiegel konnte er noch sehen, wie die beiden Männer dem Benz hinterher sahen.
    "Puuh... nicht schlecht.", sagte Kevin und fuhr sich einmal durch die leicht abstehenden Haare. Das hatte ihm Spaß gemacht, das war sein Ding. Nicht einen Moment hatte er heute, seit Semirs Anruf an Drogen, das Mädchen in dem brennenden Haus oder sonstige dunkle Gedanken gehabt. Auch wenn die Sorge um Ayda beide natürlich belastete, für Kevin war das beinahe Ablenkung von eigenen Problemen. "Ja... gut dass wir scheinbar nicht gerade an die hellsten LKA-Typen geraten sind.", meinte Ben lachend. "Ruf Semir an, wo die Übergabe stattfinden soll." Natürlich hatten die beiden den BMW mittlerweile aus den Augen verloren, und Ben wählte Semirs Nummer. Doch das Handy war ausgeschaltet...

    die Story jetzt angefangen zu lesen und bin bis zum 5.Kapitel gekommen. Lese keine anderen Feeds, um nicht zu spoilern bzw gespoilert zu werden und werde die Tage mit Spannung weiterlesen.


    Ich bin eigentlich ein mieser Leser und Feeder, und mache das normalerweise auch gar nicht, auch aus Zeitgründen. Aber ich versuche, diese Geschichte weiterzuverfolgen bzw aufzuholen. Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut, er gleicht etwas meinem eigenen, finde ich teilweise. Du verstehst es, die Situationen zu beschreiben, die Gedanken einzufangen. Hin und wieder kommt mir der Szenenwechsel ein wenig abrupt, aber das ist wohl eher eine Geschmackssache.


    Der Fall, der persönblich mit Ben zu tun hat, gefällt mir auch recht gut, ich habe fast auch schon eine Vorahnung, wer es ist, der da zu Konrad in den Wagen gestiegen ist.

    Krankenhaus - 10:00 Uhr

    Alles fühlte sich taub und unwirklich an. Semir spürte weder den kühlen Wind an seinen Kleidern zerren, noch den Nieselregen, der seine kurz geschorenen Haare nässte, als er gedankenverloren durch den Garten des Krankenhauses ging. Nach der furchtbaren Diagnose des Arztes bzw der Schilderung der momentanen Tatsachen um Ayda, hatte der Polizist das Gefühl, er würde in ein tiefes Loch stürzen. Was hatte er nur verbrochen, dass ihn jemand so sehr strafen wollte, ihm das Liebste nehmen sollte was er neben seiner Frau und seiner zweiten Tochter besaß, und er, Semir, der seine Familie immer schon mit seinem Leben beschützte, könnte jetzt gar nichts tun... nur daneben sitzen und zu schauen, wie seine Tochter im Koma lag und daraus vielleicht nie wieder erwachen würde.
    Soviele gefährliche Situationen hatte der Polizist überstanden, so oft dem Tod ins Auge geblickt. Oft auch wo seine Familie mit beteiligt war, und immer hatte er es geschafft, ihr das Leben zu sichern... und jetzt sollte er überhaupt nichts tun können? Diese Hilflosigkeit, die in Semir aufstieg, zerfrass ihn, ließ ihn gegen die Holzbank treten, an der er gerade vorbeikam, bevor er sich verzweifelt darauf niederließ, die Hände an die hohe Stirn gelegt. Er war niemand, der aufgab, niemand der jammerte und sich selbst bemitleidete. Aber was sollte er jetzt tun? Was konnte er tun? Wo war der Strohhalm der Hoffnung, an den er sich jetzt klammern konnte und wo war die rettende Idee, die ihm oder Ben sonst immer einfiel, wenn sie das Gefühl hatten, dass alles verloren war?

    Es war kein Geistesblitz, der ihn aus der Schockstarre rieß, sondern sein Handy, das in seiner Jeanshose klingelte. Fast mechanisch hob Semir ab und nahm das Gespräch an, nannte seinen Namen und war auf einmal wieder hellwach. Die mechanisch, elektronisch klingende Stimme erkannte er sofort, obwohl sich wohl jeder Anrufer mit Stimmverzerrer so anhörte. "Ich habe gesehen, sie haben ihre Tochter gefunden. Zu spät vermute ich...", feixte sie, und klang doch, trotz Verzerrer, nervöser als vor einigen Tagen. Semir erhob sich empört von der Bank, seine Trauer im Gesicht wich dem Zorn. "Was wollen sie noch?", knurrte er, denn aus irgendeinem Grund musste der Kerl ja anrufen. Wollte er sich nur an Semirs Leid ergötzen? Das würde keinesfalls zu professionellen Kidnappern passen. Oder wollte er noch Geld erpressen, aber wofür? Ayda war nicht mehr in seiner Gewalt. "Woher...?", begann Semir die Frage, warum der Gangster wusste, dass Ayda noch lebte, nachdem er womöglich sein abgefackeltes Versteck gefunden hatte. "Ich habe euch beobachtet, Bulle. Und jetzt zum Geschäftlichen. Du wirst mir meinen Partner liefern, kapiert?"
    Darum ging es dem Kerl also, dachte Semir. Sein Partner schien dem Mann doch eine Menge wert zu sein, dass er das Risiko einging, nochmal mit der Polizei konfrontiert zu werden. "Meinen sie Zange?" Semir sah sich um, damit niemand mit hörte, doch außer ihm war bei diesem widrigen Wetter niemand im Krankenhausgarten unterwegs. "Frag nicht so dämlich, natürlich meine ich Zange.", bellte es elektronisch durch den Hörer, und der Geduldigste schien der Kerl nicht so sein. Jedenfalls war er ruhiger und lockerer beim ersten Telefonat gewesen, das spürte der erfahrene Kommissar genau, als er sich an das Telefonat zurück erinnerte.

    "Warum sollte ich das tun? Ayda ist nicht mehr in ihrer Gewalt. Am besten geben sie auf und...", begann Semir und erntete nur ein heiseres Lachen aus seinem Mobiltelefon. "Guter Versuch, Bulle. Und warum du das tun solltest? Ganz einfach...", sagte die Stimme und dem Polizisten wurde mulmig. Irgendein Druckmittel musste der Kerl noch in der Hinterhand haben, sonst würde er nicht mit solch einer Sicherheit anrufen, und versuchen Semir zu erpressen. "Ich könnte mir vorstellen, dass du an einem Gegenmittel, was deine kleine Tochter wieder ins Leben zurückholt, bevor sie stirbt, sehr interessiert bist." Semirs Herz schlug schneller. Da war er, der rettende Strohhalm, den er ergreifen wollte, an den er sich klammern wollte, die rettende Idee. "Wieso sollte ich ihnen trauen?", fragte der Polizist und spürte, wie seine Hand leicht zitterte und sein Atem schneller wurde, obwohl er stocksteif an einem Platz stand. "Weil ich deine einzige Chance bin, Bulle. Ich weiß was R...", die Stimme stockte kurz. "Ich weiß, was wir ihr gespritzt haben. Es war die hohe Dosis, und sie wird sterben... und du kannst nichts dagegen tun, ausser meine Forderung erfüllen. Wenn du es nicht tust, hast du sie auf dem Gewissen."
    Semirs Augen glitten durch den Garten, als suche er eine schnelle Lösung an diesen Zange heran zu kommen, während er noch immer den Entführer am Ohr hatte. "Na gut...", willigte er ein. "Ich bring ihnen ihren Kollegen. Dafür überlassen sie mir das Gegenmittel." "Das ist der Deal. Und natürlich, dass sie uns unsere Wege gehen lassen.", verlangte der Kerl. "Ich werde ihnen kein Zeitlimit setzen, aber die Tatsache dass ihre Tochter vermutlich nur noch einen Tag zu leben hat, dürfte wohl genügen, dass sie sich beeilen.", klang die sarkastische Stimme aus dem Hörer, und Semir ballte die freie Hand zur Faust, als er knurrte: "Wie kann ich sie erreichen?" "Ich rufe jede Stunde an, bis du Zange bei dir hast. Dann gehts weiter." Ohne weitere Worte beendete der Geiselnehmer das Gespräch.

    Semir ließ die Hand mit dem Handy sinken, sein Gehirn war sofort auf Betriebstemperatur. Er wählte die Nummer des Gefängnisses und bekam den Schichtleiter dran, den er kannte. "Peter, hier ist Semir. Ich muss dich um einen Gefallen bitten." Peter, den Semir schon 20 Jahre kannte, begrüßte seinen alten Freund herzlich. "Was kann ich für dich tun, mein Guter.", sagte er offenbar bestens gelaunt, trotz des trüben und schlechten Wetters. "Der Gefangene Dieter Zackowicz sitzt doch bei euch. Ich müsste wissen, ob der heute den ganzen Tag sitzt oder einen Termin zu einem Verhör hat.", sagte der Autobahnpolizist, während er sich langsam in Bewegung setzte, in Richtung Eingang des Krankenhauses. "Warte einen Moment.", sagte Peter Scheuer, und tippte am Computer den Namen in eine Suchmaske. "Der hat heute um 11:30 Uhr eine Vernehmung im LKA Düsseldorf. Wird so gegen halb 11 abgeholt. Warum willst du das wissen?" "Das erkläre ich dir ein ander Mal. Danke, Peter!", sagte der Polizist schnell und hatte schon aufgelegt. Er würde es seinem Freund irgendwann mal erzählen, je nachdem wie die Sache ausgehen würde.
    Mit schnellen Schritten nahm Semir die Treppenstufen nach oben auf die Kinderstation und kam leicht ausser Atem bei Andrea ins Zimmer. Diese blickte von Aydas Bett auf, als sie ihren Mann vernahm. "Der Geiselnehmer hat angerufen. Angeblich hat er ein Gegenmittel... und dafür will er seinen Freund, den wir festgenommen haben.", sagte er ohne Umschweife und Andrea stand wie vom Donner gerührt am Bett. "Ein Gegenmittel... ", fragte sie ein wenig fassungslos. "Aber... wenn das nicht stimmt... was?" "Wir müssen es versuchen. Wenn wir nichts tun, wird Ayda ganz sicher sterben." Die beiden blickten sich kurz in die Augen, und Semir ergriff Andrea's Hände. "Ich werde Ayda retten, mein Schatz." Sie küssten sich kurz, und Andrea wollte gar nicht erst fragen, wie ihr Mann das anstellen wollte, aber sie vertraute ihm so sehr, wie sie keinem Menschen vertraute.

    Den nächsten Anruf, den Semir auf dem Weg nach unten zu seinem Wagen tätigte, ging an seinen besten Freund. "Ben? Was macht ihr grade?", fragte er, als er die Autotür zuschlug. "Wir sind auf Streife, was sollen wir sonst machen? Wie gehts Ayda?", fragte die Stimme von Ben, während dieser ausnahmsweise Beifahrer neben Kevin war. Dabei stellte er die Freisprecheinrichtung auf laut, so dass Kevin mithören konnte. "Schlecht. Ihre Werte haben sich so verschlechtert, wie bei dem Mädchen, das gestorben ist. Die Ärzte geben ihr noch 24 Stunden." Die beiden Polizisten schauten sich betroffen an, doch die gehetzte Stimme von Semir passte überhaupt nicht zu der katastrophalen Nachricht, die er seinen Freunden gerade überbrachte. "Oh... das... das tut...", begann Semirs Partner zu stammeln, wurde aber sofort unterbrochen. "Hört zu! Der Geiselnehmer hat mich angerufen, er will die Herausgabe seines Freundes Zange erpressen. Angeblich hat er ein Gegenmittel, mit dem wir Ayda und die anderen Kinder aus dem Koma holen können." "Und wie sollen wir an Zange rankommen? Der sitzt im Knast, wir können ihn schlecht da zum Ausbruch verhelfen.", sagte Kevin und beide Polizisten wussten nun, warum Semir nicht zu Tode betrübt war. Endlich war eine Lösung, eine Hilfe für Ayda im Blick. "Das ist vielleicht gar nicht nötig, aber ich brauche eure Hilfe... ich würde euch nicht fragen, wenn ich es allein schaffen würde.", sagte Semir, obwohl er wusste, dass weder Ben noch Kevin ihm nicht helfen würden. "Sag an... natürlich helfen wir dir.", sagte Ben und Kevin fuhr rechts ran, falls er schnell irgendwo drehen sollte...

    Jenny's Wohnung - 23:30 Uhr

    Was bedeutete "Glücklich sein" wirklich? Kevin wusste es nicht. Er hatte es mal gewusst, und es gab durchaus Phasen in seinem Leben, die vielleicht nicht gut für ihn waren, aber er dieses Gefühl hatte. Zu Hause zu sein, Vertrautheit und Liebe spüren. War das "Glücklich sein?" War dies wirklich Vertrautheit... Liebe... das war so ein großes Wort, das alle Grenzen sprengte. Nein, glücklich war er jetzt nicht. Zu tief hing noch der Schatten seines Absturzes über ihm, zu präsent das Erlebnis in dem brennenden Haus. Sicherlich würde er heute Nacht wieder von den Schreien des Mädchens träumen, eine schwarze Gestalt ihm begegnen und er schweißgebadet aufwachen. Immer wieder dachte er daran, wenn er Zeit hatte, immer wieder wollte er daraufhin nur die Augen schließen und vergessen. Er hatte einen guten Tag mit Ben zusammen, doch je näher der Feierabend rückte, desto größer wurde das Verlangen nach Vergessen, das Verlangen in die Wohnung zu kommen, und einfach nur die Augen zu schließen. Doch Jenny hatte etwas dagegen, denn sie ahnte was passieren würde. Nein, er sollte nicht alleine sein. Er sollte nicht zu Hause sitzen und sich zuviele Gedanken machen, wieder in ein Loch fallen. Sie wollte irgendwie die Kontrolle über ihn behalten, und den schreckhaften Straßenkater wieder zu einem offenen starken Kater machen, den er nach aussen vorgab zu sein, aber im Innersten einfach nicht war.

    Also schnappte sie sich den jungen Polizisten nach Feierabend, sie verhaftete ihn quasi dazu, mit ihr einkaufen zu gehen. Jenny brauchte keine tiefgreifenden Gespräche, sie brauchte nichts besonderes zu sagen, es war einfach ihre offene und fröhliche Art, die Kevin schnell von seiner Finsternis ablenkte. Sie redete, sie lachte und hin und wieder herzte sie ihn einfach, sie kauften frische Steaks, Kartoffeln und Gemüse um sich zusammen ein Abendessen zu zubereiten. Der junge Polizist gab an, zwar nicht besonders gut kochen zu können... aber wenn er am Herd etwas konnte, dann seien es gute Steaks, genauso auf den Punkt, wie Jenny sie gern möchte. "Ich bin gespannt.", sagte die junge Polizistin lächelnd. Sie hatte sich entschlossen, Kevin mit seinem gestrigen Drogenabsturz nicht mehr zu konfrontieren, und auch gar nicht darüber nachzudenken, ob sie es Semir oder Ben sagen sollte. Sie beschloss, einfach auf den jungen Mann aufzupassen, denn es würde ihm nicht helfen, wenn sie die Hilfe anderswo besorgte. Und so hielt Jenny Zweisamkeit und Zuneigung für die beste Therapie und ergriff, während sie durch den Supermarkt gingen, Kevins Hand, was sofort ein seltenes Glücksgefühl in dem Mann auslöste.
    Natürlich hatte er bereits Beziehungen hinter sich, in seiner Jugendzeit, vor ein paar Jahren während der Polizeiausbildung. Aber meistens zerbrachen diese Beziehungen daran, dass Kevin Angst davor hatte, es selbst kaputt zu machen, weil er voller Selbstzweifel war. Und vor lauter Angst, sich etwas kaputt zu machen, was er liebte, tat er es automatisch. Die Frauen kamen mit seinen melanchonischen Stimmungswechseln nicht klar, und eine Frau, die am verständnisvollsten war, hatte ihn hintergangen. Es war die letzte Beziehung, die der junge Polizist eingegangen war, und die mehr von körperlicher Liebe, als von gegenseitigem Vertrauen geprägt war. Jetzt fühlte es sich fast neu an, was wie die erste Beziehung eines jungen Kerls, als Jenny Kevins Hand ergriff und sich die Finger ineinander legten.

    Sie kochten, sie aßen zusammen (Kevin hatte übrigens nicht zuviel versprochen, und Jenny schwärmte danach, dass kein Steakhouse bisher den Punkt getroffen hatte, den sie bei einem Steak mochte) und redeten. Sie saßen nachher auf dem Sofa und redeten über ihre Ausbildung, was Jenny veranlasste, zur Polizei zu gehen. Kevin erzählte, welch schweren Stand er bei der Ausbildung hatte, weil viele in ihm den Straßenjungen gesehen haben, der er war. Es war unangenehm, wenn er als Streifenpolizist in sozialen Brennpunkten eingreifen musste, und sich dort als Verräter beschimpfen ließ. Unangenehm für ihn vor allem auch, weil er damit Missgunst bei den Kollegen erntete, die keine Gelegenheit ausließen, Verfehlungen ihm in die Schuhe zu schieben... schließlich war er mal "einer von denen."
    Doch sie redeten auch über schöne Dinge, über Kevins Musik und darüber, dass auch Jenny gerade dabei war, Gitarre zu lernen. Sie verloren kein Wort mehr über Kevins Rausch, über Jennys Vergewaltigung oder über den Ausrutscher mit Ben. Jenny war darüber sehr dankbar und sie spürte, dass dieser Abend anders enden könnte in ihrer Beziehung, als die Abende davor. Gestern war sie noch bei ihm eingeschlafen, hatte über ihn gewacht als er nicht mehr in der Lage war, die Nacht alleine zu überleben. Heute ließ sie sich fallen, heute würden sie beide übereinander wachen, das wusste sie als er lächelnd und leise zustimmte, als Jenny fragte, ob er bei ihr die Nacht verbringen möchte. Eine Stunde später umhüllte ihn die Dunkelheit von Jennys Schlafzimmer, als er sich darum Gedanken machte, was "Glücklich sein" bedeutete. Geborgenheit verspürte er, Liebe verspürte er. Doch diese untrügliche Angst darüber, alles zu verlieren konnte er im Kopf nicht ausschalten. Vielleicht... ja vielleicht würde er Jenny davon auch einmal erzählen, dachte er als er ihren nackten schlanken Rücken an seinem freien Oberkörper unter der Decke spürte, seine Arme um den Bauch der schlafenden jungen Frau schlang und ihr einen zärtlichen Kuss auf den Hals gab.


    Krankenhaus - 09:00 Uhr

    Er hatte die Zeitschrift schon zum dritten Mal gelesen... im hohen Bogen flog sie in die andere Ecke des Zimmers. Semir war verzweifelt, und die Verzweiflung wurde noch größer, als er daran dachte, dass gerade erst drei Tage vergangen waren, seit Ayda im Koma lag. Fälle, in denen monatelanges Koma bis zum Aufwachen berichtet wurde ließen in seinem Kopf wahre Horrorszenarien entstehen. Andrea, die etwas weg von ihm am Bett saß, blickte zu ihrem Mann auf. "Was ist?" "Ach... dieses Rumsitzen treibt mich in den Wahnsinn.", sagte er, stand auf und sah aus dem Fenster. Der gleiche Blick über einen Park und einen Teil der Stadt wie gestern, nur noch grauer und durch Sprühregen verschwommen. Andrea fühlte mit ihrem Mann, jemand der immer aktiv war, durch seinen Job immer auf Achse und der jetzt so hilflos nichtstuend seine Tochter beobachtete. "Warum gehst du nicht wieder arbeiten. Du kannst hier doch eh nichts tun... Ich bin doch da.", sagte sie, und ging zu ihrem Mann um ihm die Hand von hinten auf die Schulter zu legen. Doch das kam für den stolzen Polizisten, für den die Familie 100 Stufen über der Polizeiarbeit stand, nicht in Frage. "Nein. Ich will hier sein, wenn etwas ist. Ich will euch nicht alleine lassen."
    Die beiden Eltern konnten die Diskussion nicht fortsetzen, denn es klopfte an der Tür, und der Arzt trat in das Zimmer. Seine Miene war finster, jedenfalls kam es Semir so vor, er trug eine Akte in der Hand und rümpfte kurz die Nase. "Herr und Frau Gerkhan? Ich müsste kurz mit ihnen reden.", sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Dabei setzte er sich an den kleinen Tisch, der ihm Krankenzimmer stand und legte dort die Akte vor sich, Semir und Andrea nahmen ebenfalls Platz, beiden schlug das Herz bis zum Hals. Welche Nachrichten hatte der Arzt? Gute und seine Miene täuschte... oder bestätigte sie sich?

    Er schlug die Akte auf, ein Blatt mit Linien, Zeichen und Ziffern, die den beiden Eltern nichts sagten, tat sich vor ihnen offen. "Wir haben bei ihrer Tochter leider festgestellt...", begann er zögerlich, als müsse er überlegen, wie er eine unbequeme Wahrheit möglichst sorgsam verpackt... "... wir haben festgestellt, dass die Hirnströme sich verschlechtert haben. Vermutlich... vermutlich durch das Koma-Mittel in seiner Abhängigkeit zur verabreichten Menge." "Was heißt verschlechert?", fragte Semir mit nervöser Stimme, während Andrea's Hände leicht zu zittern begannen. "Das bedeutet, dass die Aktivität, die für die Vitalfunktionen ausschlaggebend sind, verringert wird. Wenn dies einen Punkt X unterschreitet... dann müssen wir ihre Tochter künstlich beatmen."
    Andrea stand auf und ging schniefend zum Fenster... die gleiche Reaktion, wie gestern als Lilly bei Ayda war, nur diesmal waren die Tränen nicht aus Stolz, sondern nur aus Kummer und Furcht. Semir blieb krampfhaft ruhig, auch wenn er den Arzt gerne anschreien würde, er solle irgendetwas tun. "Aber, das wird sich doch wieder bessern, oder?", versuchte er sich an einen Strohhalm zu klammern, der erst mal gar nicht da war. Der Blick des Arztes, der sich kurz auf den Tisch richtete, war wenig erbauend. "Herr Gerkhan, wir haben mit diesem Mittel nur die Erfahrung der anderen Komakinder. Bei denen, die aufgewacht sind, haben sich die Hirnströme nach 48 Stunden nach Einlieferung verbessert, wobei wir den Zeitpunkt der Injektion nicht wussten. Bei denen, die noch im Koma liegen tat sich nichts, und bei einem Kind haben sich die Hirnströme nach 48 Stunden verschlechtert." Seine Stimme stockte kurz, und Semirs Blick war die Aufforderung weiter zu reden, denn der Polizist ahnte, dass da noch ein entscheidender Satz fehlte... doch als er ihn hörte, wünschte er sich, der Arzt hätte ihn niemals ausgesprochen. "Dieses Kind ist ungefähr 24 Stunden später verstorben." Die braunen Augen des Polizisten richteten sich nach unten auf den Tisch, und seine gespannte Körperhaltung brach langsam zusammen, und er sank vollständig gegen die Lehne, während Andrea leise weinend wieder zu Ayda ans Krankenbett ging.

    Krankenhaus - 12:30 Uhr

    Andrea und Semir hatten sich am Mittag, nachdem Ben und Kevin das Krankenhaus verlassen hatten und Anna Engelhardt ihrem besten Mitarbeiter zugesichert hat, dass er so lange vom Dienst beurlaubt sei, wie seine Tochter im Koma läge, lange unterhalten. Machte es Sinn, machte es keinen Sinn? Wäre es gut für die kleine Schwester von Ayda? Lilly vermisste seine Schwester, und die Ausreden ihrer Großeltern, der Eltern von Andrea, waren mittlerweile unwirksam geworden. Obwohl Lilly erst 5 war, so erahnte sie doch, dass Ayda nicht einfach ohne sie in Urlaub gefahren war, oder auf einem längeren Schulausflug war, ohne es ihr erzählt zu haben und vorher davon geschwärmt zu haben. Sie löcherte Andreas Mutter immer wieder, bis diese Andrea anrief und es erzählte.
    Nun wollten natürlich auch Aydas Großeltern ihre Enkeltochter besuchen kommen, und die beiden Eltern entschieden sich schließlich dafür, Lilly mitzunehmen. Sie würden vorher mit ihr sprechen, und notfalls mit ihr nach draussen gehen, wenn es zu schlimm für sie sei. Semir wollte seiner jüngsten Tochter nicht vorenthalten wie es der geliebten Schwester ging, die für die kleine Lilly ein großer Halt war, die immer auf sie aufpasste und ihr bei allem möglichen half. Ayda war, trotz Lillys vieler Spielkameraden im Kindergarten, ihre beste Freundin, und alleine zu Hause zu spielen und zu toben machte nur halb so viel Spaß.

    Andrea's Eltern hatten Lilly vom Kindergarten abgeholt und bereits gesagt, dass sie jetzt zu Ayda fahren würden. Das kleine Mädchen strahlte übers ganze Gesicht, als sie im Auto hinten saß und aus dem Fenster sah. Andrea war froh, in dieser Situation ihre Eltern zu haben, die sich um Lilly zu Hause kümmerten. Andrea's Mutter war eine sehr warmherzige, offene Frau, die mit den beiden Mädchen in ihrer Mutterrolle nochmal gänzlich aufging, und die auch bei der damaligen Hochzeit Semir sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Ihr Mann, Andrea's Vater war da schwieriger. Er betrachtete Semir zu Beginn sehr skeptisch, war generell ein etwas kühler, raubeiniger Mann der den Polizisten gerne ausfragte, über dessen polizeiliche Karriere und immer mal bemängelte, warum ein Mann in Semir's Alter immer noch auf der Autobahn Streife fuhr, und noch nicht Leiter irgendeiner "seriösen" Dienststelle war.
    Doch mit dem Alter wurde auch er ruhiger, akzeptierte Semir mittlerweile als Schwiegersohn voll und ganz, und war beinahe durch die beiden Mädchen besänftigt, auch wenn ihm das Wort "Opa" überhaupt nicht gefiel, denn trotz seiner schon beinahe 70 Jahre fühlte er sich jung, trieb hin und wieder Sport und hatte immer noch sein Aquarium als größtes Hobby. Er lenkte den großen Familienwagen nun auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus, nahm sich ein Parkticket während Lilly sich an den Arm ihrer Großmutter hing. Sie wiederum hatte ein etwas mulmiges Gefühl, nun zu ihrer Enkeltochter zu gehen, die im Koma lag. Die Beschäftigung mit Lilly die ganze Zeit hatte sie sehr gut abgelenkt von den Sorgen um Ayda, den Sorgen um ihre Tochter Andrea. Nun holten sie diese Gefühle wieder ein, als sie den Krankenhausflur betraten, und die Stimmung schien sich auch auf Lilly zu übertragen, die etwas stiller wurde als noch vorher im Kindergarten und auf dem Parkplatz.

    Semir und Andrea warteten vor dem Krankenzimmer auf die Eltern und ihre Tochter. Als Lilly sie erblickte, strahlte sie und riss sich vom Arm der Oma los, stürmte lachend auf Andrea und Semir zu, und die beiden wurden von ihrer Tochter geherzt, schließlich hatten sie die Kleine gestern überhaupt nicht gesehen. "Wo ist denn Ayda?", plapperte das kleine Mädchen erwartungsvoll. "Lilly, erst müssen wir dir etwas erklären.", sagte Semir mit ruhiger Stimme und ging vor seiner Tochter etwas in die Hocke. "Ayda ist etwas krank und sehr sehr müde. Wenn wir jetzt reingehen, wird Ayda tief schlafen und du darfst sie auf keinen Fall wecken, okay?" Das Mädchen schaute etwas enttäuscht, hatte sie doch gehofft, dass Ayda mit nach Hause käme und die beiden wieder zusammen spielen könnten. "Ooooch. Warum ist Ayda denn krank?", fragte sie mit ihrer kindlichen Stimme. Etwas hilfesuchend blickte Semir umher, und Andrea's Mutter kam ihm zur Hilfe. "Ayda hat eine Schlafkrankheit, mein Schatz. Das heißt, sie muss sich nur ein paar Tage kräftig ausschlafen, und dann ist sie wieder gesund." "Achsooo." Lilly umklammerte ihre Lieblingspuppe, die sie überall mit hinschleppte und niemals irgendwo alleine lassen würde, und zusammen ging die kleine Familie in das Krankenzimmer.
    Mit der anderen Hand umfasste Lilly die Hand ihrer Mutter, als sie auf das Bett zuging, wo Ayda bis zum Kinn zugedeckt auf dem Rücken lag, friedlich schlafend. Das Piepsgeräusch der Überwachungsgeräte ließ Semir von der Krankenschwester auf die niedrigste Lautstärke stellen, solange Lilly da war. Die Großeltern blickten etwas geschockt, vor allem die Großmutter hielt sich, leicht zitternd die Hand vor den Mund und hauchte ein "Das arme Mädchen...", in ihre Hand. Andrea's Vater war keinesfalls kaltherzig, aber ein Mann der emotionalen Kontrolle, er war ergriffen, doch zeigte er das nicht.

    Lilly sah etwas verwirrt auf Ayda, sie schien keinesfalls geängstigt oder erschrocken ob ihres Anblicks, was die Eltern des Kindes zunächst einmal beruhigte. "Geh mit der Oma zu Ayda.", sagte Andrea leise und das Mädchen ließ eine Hand los, um die nächste zu ergreifen. Andrea's Mutter setzte sich schräg aufs Bett, und ließ vor sich bis zu Ayda etwas Platz, wohin Lilly krabbelte und ebenfalls auf dem Bett saß. Das kleine Mädchen sah seine Schwester zunächst kurze Zeit stumm an, bevor sie ein wenig an ihr herumdrückte, als würde sie sie versuchen sanft zu wecken. "Ayda?", fragte sie leise und erhielt keinerlei Reaktion. "Du musst sie schlafen lassen, Liebling. Sie braucht das jetzt, viel Schlaf. So wie du, wenn du eine Grippe hast.", sagte Lillys Großmutter warmherzig, und versuchte, ihre Emotionen zu unterdrücken. Normalität, das war es was die Erwachsenen um Lilly ausdrücken wollten, um das junge Mädchen nicht zu verunsichern, als wenn jetzt die Frauen weinten und die Männer betreten da standen.
    Doch gerade dies fiel Andrea unendlich schwer, als sie beobachtete, wie die kleine 5jährige Lilly eigentlich überhaupt nicht verstand, warum Ayda jetzt soviel schlafen musste, und doch spürte, dass es ihrer Schwester nicht gut ging und ihre Hilfe brauchte. Sie begann zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als die kleine Hand Lillys durch Aydas Haare fuhr und sie streichelten, wobei Lilly leise ein Schlafgedicht vorsagte, dass sie im Kindergarten gelernt hatte, und ihr Ayda auch manchmal vor dem zu-Bett-gehen aufsagte. Die Mutter drehte sich zum Fenster weg, damit ihre kleine Tochter nicht sah, dass sie weinte und ihr dicke Tränen von den Augen sofort auf den Pullover fielen. Tränen vor Schmerz und Sorge, aber auch vor Rührung über den schwesterlichen Instinkt des kleinen Mädchens. Auch Semir schluckte, er spürte Feuchtigkeit in den Augen, die zu Tränen allerdings nicht ausreichten. Er hatte sich im Griff...

    "Wann kommt Ayda wieder nach Hause?", fragte Lilly und blickte herum zu ihrer Oma, die wieder lächelte und dem kleinen Mädchen über den Kopf strich. "In ein paar Tagen, vielleicht. Wir müssen sie ausschlafen lassen... du magst es doch auch nicht, wenn ich dich morgens wecke, oder?" Dabei kitzelte sie Lilly am Ohr und das kleine Mädchen lachte auf. Sie nahm die Ernsthaftigkeit nicht auf, sie glaubte den Erwachsenen, dass Ayda einfach nur ein bisschen schlafen musste, und alles sei wieder in Ordnung. Der Großvater stand mittlerweile auch am Bett und strich einmal kurz über das Bein unter der Decke seiner Enkeltochter und drückte kurz ihre Hand. "Na komm Lilly... wir fahren nach Hause. Wir müssen Ayda noch schlafen lassen.", sagte auch er und Lilly nickte.
    Das kleine Mädchen blickte wieder zu ihrer Oma, und fragte: "Darf ich ihr einen Kuss geben, oder wird sie davon wach?" Andrea spürte dabei wieder, wie ein Zittern durch ihren Körper fuhr und die Großmutter nickte. "Natürlich darfst du, aber ganz sachte. Dann wird sie... wird sie sicher nicht wach." Die Schwester von Ayda beugte sich nach vorne und gab ihr einen Kuss auf die Wange und auf die Stirn. Dann legte sie ihre geliebte Puppe neben das Mädchen und sagte: "Mia wird auf dich aufpassen, dass du gut schläfst." Es war das erste Mal, dass sie ihre Puppe bei jemandem ließ, aber es fiel ihr nicht schwer, denn sie hatte das Gefühl, ihrer Schwester damit zu helfen. Dann rutschte sie vom Bett, ihre Oma nahm sie wieder bei der Hand. Zum Abschied drückte sie ihre Eltern noch, nachdem Andrea schnell ihre Tränen weggewischt hatte, und die weiteren zurückhielt. Erst als die Eltern und ihre kleine Tochter zusammen das Krankenzimmer verlassen hatte, brachen alle Dämme und sie ließ ihren Gefühlen in Semirs Armen freien Lauf. Aus Sorge um ihre älteste Tochter, und aus Stolz über ihre jüngste Tochter.

    Dienstwagen - 11:15 Uhr

    Ben hatte gerade vor Kevins Wohnung den Wagen angehalten, als es im Funkgerät knarzte. "Zentrale für Cobra 11, Jäger hören sie mich?", erklang die, etwas gestresst wirkende Stimme der Chefin durch den Lautsprecher. Kevin hatte bereits die Tür offen und einen Fuß nach draussen gesetzt, als er verharrte... aus Gewohnheit, nicht aus Neugier. Sein Freund nahm das Funkgerät in die Hand und drückte den Sendenknopf: "Ja, ich höre?" "Ist Herr Peters noch bei ihnen?", fragte sie unsichtbare Stimme aus dem Funkgerät und die beiden Männer blickten sich kurz mit verwirrten Blicken an. "Zur Hälfte... er ist gerade beim Aussteigen.", gab der Polizist mit dem Wuschelkopf durch, während Kevin das Bein wieder zurück in den Dienstwagen zog. Die Muskeln der beiden Männer spannten sich an. Sollte sich was in dem Fall um die Komakinder ergeben haben? Aber warum würden sie, und nicht das LKA damit betraut werden?
    "Ich habe gerade einen unschönen Anruf bekommen, als Dienststellenleiterin seiner vorherigen Dienststelle. Sie wurden soeben aus der SEK-Ausbildung herausgeworfen.", sagte die Chefin und Ben sah seinen Partner von der Seite an, der weder geschockt noch betroffen wirkte, sondern einfach starr durch die Frontscheibe blickte. "Unter anderem, laut ihrem Ausbilder, wegen einer Prügelei mit einem anderen Auszubildenden, und dem gestrigen, wie heutigen unentschuldigten Fernbleiben." Wie in Zeitlupe reichte Ben das Funkgerät mit etwas verkniffener Miene an seinen Partner. Prügelei mit einem anderen Auszubildenden, das passte ja mal wieder zu Kevin, der nach aussen immer so ruhig, nach innen aber höchst emotional reagieren konnte. "Tja, wenn das der Ausbilder sagt, wird es wohl stimmen...", gab der junge Polizist zu, ohne jetzt wirklich zu wissen, was das für Konsequenzen für ihn hatte. Disziplinarverfahren? Wieder eine Suspendierung? Jedenfalls war er in seinem Job mal wieder heimatlos.

    "Sie können sich bei mir bedanken, Peters.", sagte die Chefin mit leichter Schärfe in ihrer Stimme. "Sie hätten diesmal noch mehr Tritte in den Hintern bekommen, wenn sie innerhalb von 9 Monaten zum vierten Mal ohne feste Anstellung im Polizeidienst gewesen wären. Ich habe mit dem Personalchef und dem Polizeipräsidenten, bei dem sie übrigens schon bekannt sind wie ein bunter Hund... Glückwunsch dazu...", bei diesem Nebensatz konnte Ben sich ein kurzes Lachgrunzen nicht verkneifen. "... gesprochen. Sie ersetzen ab sofort die Stelle von Semir, solange dieser dem Dienst freigestellt ist wegen seiner Tochter. Haben wir uns verstanden?" Kevin war so perplex, dass er nicht sofort Antwort geben konnte, weil er genau darüber vor einigen Minuten noch nachgedacht hatte, denn eine Fortsetzung der SEK-Ausbildung kam für ihn sowieso nicht in Frage. War er jetzt endlich dort, wo er hingehörte? Sollte er jetzt endlich an diesem Platz festhalten, auch wenn Semir zurückkam? Er hatte hier doch alles...
    Ben wollte dem eigensinnigen Polizisten gar nicht die Chance geben, diese Möglichkeit abzulehnen und nahm ihm das Funkgerät aus der Hand, als dieser keine Antwort gab. "Alles klar, Chefin. Haben wir verstanden." Dabei blickte er lächelnd zu seinem Nebenmann. "Sehr gut, meine Herren. Dann tun sie jetzt das, wofür sie vom Staat bezahlt werden, und vom lieben Gott ein Auto geschenkt bekommen haben... fahren sie auf Streife." Diesmal musste sogar Kevin ein wenig lächeln, er fühlte sich auf einmal wohl, zu Hause... irgendwie frei. Er könnte es vermutlich selbst nicht beschreiben, wie ihm zu Mute war, als er die Tür schloß, und den Gurt wieder anlegte. Obwohl er sich eben noch unwohl fühlte bei Ben, nachdem dieser von der gemeinsamen Nacht mit Jenny sprach, so wohl fühlte er sich jetzt, als er den Wagen wieder startete, und den Mercedes auf die Autobahn lenkte. "Und Herr Peters...", ertönte noch einmal die Stimme der Chefin aus dem Funkgerät. "Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie diesmal das Nasenbein ihres Kollegen in einem Stück lassen." Der junge Polizist nahm noch einmal das Funkgerät aus Bens Hand und sagte: "Ich werds versuchen." "Das hoffe ich doch sehr." , während beide Männer nochmal grinsen mussten.

    Dienststelle - 11:20 Uhr

    Hotte hatte am Funkgerät gesessen, als Anna Engelhardt die Nachricht an die beiden Autobahnpolizisten durchgegeben hatte. Sein Grinsen wurde immer breiter, und er freute sich, dass Kevin wieder ein festes Mitglied der Autobahnpolizei sein würde, und andererseits, dass er wieder einen festen Halt hatte... und nicht diese ständige Wechselei von Dienststelle zu Dienststelle, immer wieder andere Menschen, die sich auf ihn einstellen mussten, und auf die er sich hatte einstellen müssen. Das tat dem Jungen nicht gut. Er nickte, nach der Konversation der Chefin zu und meinte: "Das war eine sehr gute Idee." Anna Engelhardt legte viel Wert auf die Meinung ihrer Männer, vor allem wenn es die Meinung von Hotte Herzberger war, der mit Abstand am längsten bei der Autobahnpolizei dabei war.
    Nachdem die Chefin wieder in ihrem Büro verschwunden war, stand Hotte auf und ging herüber zum Schreibtisch, wo Jenny saß und Protokolle am Computer tippte. "Hast du schon gehört?", fragte er leise, nachdem Jenny ihn bemerkt hatte und zu ihm aufblickte. Er war für sie eine der wichtigsten Bezugspersonen, ein väterlicher Freund, dessen Rat sie sehr gerne annahm, nicht nur für den Polizeidienst sondern auch fürs Leben. "Was denn?" "Kevin springt hier für Semir ein, zumindest so lange er sich noch um seine Tochter kümmert. Und ich glaube...", er sah sich kurz um, bevor er sich wieder an Jenny wandte: "Ich glaube, die Chefin will ihm hier einen festen Platz geben. Ich hab das Gefühl, dass Kevin ihr auch langsam ans Herz gewachsen ist, und sie es nicht mehr mit ansehen kann, wie er von Dienststelle zu Dienststelle geschoben wird." Jennys Gesicht erhellte sich, Hotte schaffte es, ihr mit dieser Nachricht ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. "Das wäre ja wirklich toll.", sagte sie überschwänglich, und bemerkte Hottes etwas fragenden Ausdruck in seinem Gesicht. "Also ich meinte... toll für Kevin. Wenn er endlich eine Dienststelle findet, wo er sich wohl fühlt."

    Natürlich dachte Jenny erstmal an den Kevin, den sie gestern abend erlebt hatte. Und für den wäre es sicherlich toll, wenn er in seinem Berufsleben endlich einen festen Halt hätte, Kollegen auf die er sich verlassen könnte, und vor allem Freunde, mit denen er arbeiten konnte. Die Arbeit würde ihm sicherlich helfen, wieder von dem Teufelszeug wegzukommen, und das neuerliche Trauma zu verarbeiten. "Er wäre aus der SEK-Ausbildung geflogen.", sagte Hotte noch in Jennys Richtung. "Hast du etwas davon gehört?"
    Jenny blickte erstaunt auf und schüttelte den Kopf. "Nein... davon hat er mir nichts erzählt." Hotte lächelte und ersparte ihr die Einzelheiten. Er hatte schon mitbekommen, dass Jenny ein besonderes Verhältnis zu Kevin hatte, und so wollte er ihr das von der Prügelei nicht erzählen. Vermutlich hörte sie es von Kevin selbst, wenn sie ihn drauf ansprechen würde...

    Dienstwagen - 10:30 Uhr

    Ben und Kevin hatten sich als bald wieder von der Familie verabschiedet, auch wenn sie gerne noch mehr Trost gespendet hätten. Sie hatten gespürt, dass es Semir und Andrea gut tat, Gesellschaft um sich zu haben, Freunde die an sie dachten. Doch genauso wussten sie auch, dass Ayda Ruhe brauchte, und ausserdem müsse Ben eh zum Dienst. Er hatte Kevin angeboten, ihn nach Hause zu fahren, der dieses Angebot gerne annahm. Sie hatten mit dem Fall nichts mehr zu tun, das LKA hatte ihn endgültig an sich gerissen und Semir hatte Ben gesagt, dass er keine unnötigen Risiken mehr eingehen sollte... es würde Ayda sowieso nicht helfen. Ben akzeptierte die Bitte seines besten Freundes, und auch Kevin stimmte dem, wenn auch sehr zähneknirschend, zu. Ihm gefiel es nicht, dass sie die Jagd auf die Mörder des kleinen Mädchens in dem Haus nun dem LKA überlassen sollten.
    Als die Landstraße an den Augen des jungen Polizisten vorbeiflog, machte er sich Gedanken um seine eigene Zukunft... nicht um die, mit Jenny oder hinsichtlich seines wieder aufkommenden Drogenproblems, sondern um seine berufliche Zukunft als Polizist. Dass das Anheuern beim SEK nur eine Flucht vor der Autobahnpolizei war, spürte er spätestens jetzt mehr als deutlich, als er wieder mit Ben und Semir zusammenarbeitete. Sollte es das wirklich sein? Das, was Kevin wollte? Zum SEK wollte er nicht zurückkehren, weil er die Gefahr als zu groß ansah, dort eher den unbequemen Robert ins Krankenhaus zu prügeln, als wirklich beruflich glücklich zu werden.

    Ben's Stimme riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. "Wie läufts eigentlich in deiner SEK-Ausbildung?", fragte er um ein wenig von den düsteren Gedanken um Ayda abzulenken. Die zwei Männer arbeiteten jetzt wieder zusammen, und trotzdem hatte Ben den Eindruck, sie würden sich nur das Nötigste unterhalten... in aller Kürze. Vielleicht bildete er sich diese Distanz zwischen ihm und Kevin auch nur ein, und er wusste auch warum. Immer noch nagte das schlechte Gewissen an ihm, um die gemeinsame Nacht mit Jenny. Vielleicht müsste er das endlich mal aus der Welt schaffen, um sich wieder ungezwungener und normaler mit Kevin unterhalten zu können. Er hatte ja bei Jenny recht locker und verständnisvoll reagiert, warum sollte er das bei ihm nicht auch. "Naja, geht so.", meinte Kevin auf dem Beifahrersitz. "Geht so? Hört sich ja nicht berauschend an." Der junge Polizist, der mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache war und den Kopf ein wenig hin und her wogte, antwortete: "Sind ziemlich viele Vollidioten da. Da ist kein Teamgefühl, nichts." Nach kurzer Pause setzte er hinzu: "Ich hab das Gefühl, das wäre ein Gruppe von Einzelkämpfer, die gegeneinander antraten, wer die meisten Geiselnahmen beenden kann." Verachtend verzog er den Mund ein wenig und schüttelte den Kopf. "Ich glaube, das ist nicht meine Welt."
    Ben war ein wenig überrascht über die negative Wertung seines Freundes. Er hatte damals geglaubt, die Welt des SEKs oder der GSG9 wäre genau das Richtige für Kevin. Aber nach dem gestrigen Vorfall, den Kevin wieder abstürzen ließ, hatte er auch schon vermutet, dass es für den jungen Mann nicht so einfach wäre, Entscheidungen zu fällen, die über Leben und Tod entschieden... und das würde beim SEK oft vorkommen. Vielleicht, so dachte Ben, war seine Wertung auch nur eine Ausrede für eben jenes Denken, dass er sich dem Job beim SEK psychisch nicht gewachsen war. Aber würde sich sowas ein, nach aussen so selbstsicherer Typ wie Kevin, wirklich zugestehen? Eher nicht.

    Für einige Minuten schwiegen sie, und Ben kämpfte mit sich. Wie sollte er es ihm sagen? Sollte er es ihm sagen? Ja, verdammt, es musste endlich raus, diese Sache konnte nicht ewig zwischen ihnen stehen, zwischen ihrer Freundschaft, die es mal gab, und die nun zum zweiten Mal auf eine harte Probe gestellt werden würde. Seine Finger krampfen sich um den Kranz des Lenkrades, fester als zuvor, als er nach den richtigen Worten suchte, die ihm zur Auswahl standen. "Du... ich wollte mich... also...", begann er unsicher und spürte Kevins Blick auf ihm selbst ruhen. "Ja?", fragte der, als würde er wissen, zu welchem Geständniss Ben gerade ansetzen wollte.
    "Also... ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut... mit Jenny... also was zwischen Jenny und mir passiert ist... während du im... Knast warst." Ein Stein des ganzen Gerölls fiel Ben von der Seele, der Rest würde erst folgen, je nachdem wie Kevins Reaktion ausfallen mochte. Der blieb für einen Moment ruhig, und Ben setzte noch hinzu: "Ich weiß, dass ihr euch damals schon etwas... etwas näher gekommen wart. Es war blöd von mir... von uns beiden." Einen Moment verharrte eher: "Nein, eher von mir. Jenny war so verzweifelt... ich hätte das richtig einschätzen müssen." Mann, warum sagte er nichts. Warum ließ er mich hier vor mich hin stottern, dachte der Polizist, bis Kevin endlich den Mund öffnete: "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, das habe ich auch schon zu Jenny gesagt. Wir beide waren nicht zusammen, sie und du könnt tun und lassen, was ihr wollt." Im Prinzip war der Inhalt der Nachricht das, was Ben hören wollte... nur die Art, wie Kevin es sagte, verschaffte ihm eine Gänsehaut. Es klang so kühl, so abweisend... etwas arrogant.

    "Trotzdem... ich will nicht, dass so etwas zwischen uns steht, und deshalb habe ich es dir gesagt.", rechtfertigte Ben sein Geständnis... und sein schlechtes Gewissen. Kevin nickte nur und sah weiter geradeaus durch die Frontscheibe. Es hatte ihn natürlich gekränkt... aber wie er schon zu Jenny sagte, die junge Frau hatte keine Verpflichtung ihm gegenüber, insofern konnte er niemandem böse sein, auch wenn Ben es mit dem Wissen getan hatte, dass Jenny und Kevin sich näher gekommen waren.
    "Hättest du es mir auch erzählt, wenn Jenny mir nichts gesagt hätte?", fragte Kevin nach einigen Minuten Stille, und trieb einen Pfeil mitten in Bens Brust. Mit dieser Frage zweifelte der junge Polizist an Bens Ehrlichkeit, an Bens Courage es dem Freund zu erzählen... bevor Jenny diese unangenehme Angelegenheit getan hatte. Kevin wusste nicht, dass Ben und Jenny über ihr Geständnis gesprochen hatten, es war nur geraten... vor allem, weil Ben davon ausging, dass Kevin Bescheid wusste, was er an Bens erstem Satz sofort erkennen konnte. Ben selbst wollte souverän bleiben, er wollte sich jetzt keine Schwäche erlauben, durch die er sich angreifbar gemacht hätte: "Ja, hätte ich. Aber nur in Absprache mit Jenny. Sie wollte es dir aber zuerst sagen.", antwortete er, obwohl er sich innerlich nicht sicher war, ob er den Mut aufgebracht hätte, Kevin die Sache zu beichten... ohne vorher zu wissen, welche Reaktion es in dem jungen Mann hervorgerufen hätte.

    Ihre Blicke trafen sich kurz, Kevins kühle blauen Augen, und Bens hoffungssuchendes Augenpaar. "Ist schon okay. Für mich ist die Sache vergessen.", sagte Kevin. Ben nickte, und hätte sich so gern eine kleine Geste, wie ein aufmunterndes Schenkelklopfen von seinem Partner gewünscht... doch es blieb aus. Er spürte, dass das Vertrauensverhältnis angekratzt war... durch die Sache im Krankenhaus, die Kevin fast den Job gekostet hätte, aber jetzt auch durch die Sache mit Jenny. Sie müssten sich erst wieder einander finden, einander zusammenraufen und lernen sich wieder zu vertrauen. Wobei Kevin Bens Vertrauen bisher nie gebrochen hatte... nur umgekehrt.

    Krankenhaus - 9:30 Uhr

    Die Zeit in diesen hellen, kargen Räumen verging für Semir und Andrea viel zu langsam. Sie gingen im Zimmer auf und ab, während der jeweils andere von Ihnen am Bett bei Ayda saß, ihre Haare bürstete oder einfach nur ihre Hand hielt. Sie blätterten in Zeitungen, die sie schon dreimal gelesen hatten, Andrea hatte sich ein Buch von zu Hause mitgebracht, doch nach 2 Seiten verließ sie die Konzentration, sich auf die Handlung im Buch einzulassen. Semir sah immer mal wieder aus dem Fenster in den feucht-grauen Herbstmorgen. Er seufzte, und es kam ihm vor, als würde Ayda schon wochenlang im Koma liegen.
    Die einzige Abwechslung, die die junge Familie hatte, war wenn ein Arzt hereinkam, um nach Aydas Werten zu sehen. Sie gab keinerlei Reaktion auf den Blick ins gleißende Licht der Taschenlampe des Arztes, mit der er dem Mädchen in die Augen leuchtete, der Puls war stabil. Anders, als bei Unfallkomapatienten konnte man keinen Zustand an Hirnschwellungen ablesen, da diese bei Ayda nicht vorlagen. Man konnte nur sagen... sie lag noch immer im Koma, und auf Hände halten, streicheln oder den Lichtschein gab sie weder physisch noch von den Werten her eine Reaktion. "Sie müssen Geduld haben.", sagte der Arzt immer mit verständnisvoller Stimme, und der Polizist spürte, wie gleichgültig ihm mittlerweile diese Worte waren. Gestern hatte er den Arzt noch angegangen, als dieser nur ungenaue Antworten gab auf den Zustand von Ayda. Heute spürte er, dass der Arzt einfach nicht mehr als das sagen konnte, was er wusste. So nickte Semir resignierend und bedankte sich bei dem Chefarzt, bevor dieser das Zimmer wieder verließ.

    Semir setzte sich zu Andrea auf die Bettkante und legte einen Arm um seine Frau, sie wiederrum legte ihren Kopf an seine Schulter. In den letzten Stunden hatte die Mutter von Ayda viel geweint, wenig geschlafen und spürte, wie sie Stück für Stück, Stunde für Stunde ihren Mut verlor. Vor allem die Vorhersage des Arztes, dass Ayda mit jeder Stunde, die sie im Koma lag, die Gefahr stieg dass das Mädchen Schäden am Gehirn erleiden könnte, ließ Andrea noch ungeduldiger sein, was Fortschritte anging. Semir spürte, dass seiner Frau der Mut schwand, und er strich mit einem Finger sanft über ihre Schulter, während er sie festhielt. "Wir müssen geduldig sein. Der Arzt hat recht. Und wir dürfen den Mut nicht verlieren.", sagte er leise und spürte seine Frau stumm nicken. "Aber es fällt so schwer, Semir... so unendlich schwer.", sagte sie beinahe tonlos.
    Zwei Tage ist es her, seit Ayda verschwunden war und die beiden Eltern Todesangst um ihre Tochter hatten. Jetzt war Ayda wieder da, doch die Angst ist geblieben. Und die Hilflosigkeit, die Semir beinahe wahnsinniger machte, als die Angst selbst. Er saß hier, und konnte seiner Tochter nicht helfen, er konnte nichts tun ausser abzuwarten. So ruhig wie er äusserlich schien war er nur, weil Andrea diese Ruhe jetzt brauchte. Und der Verbrecher, der dem kleinen Mädchen und der Familie das angetan hatte, läuft scheinbar immer noch frei herum. Semir wollte es nicht zugeben, aber auch dieser Gedanke beschäftigte ihn zusehends, auch wenn er Ben klar gesagt hatte, dass es Ayda doch nichts nützen würde, wenn sie sich über alle Vorschriften hinweg setzen würden, und den Verbrecher jagen würden. Nein, es war in den letzten Monaten genug Glas zerbrochen worden und Karrieren riskiert worden, entschied der Familienvater über seinen besten Freund. Ben sollte dieses Risiko nicht eingehen.

    Es klopfte an der Tür. Beide sahen auf als sich die Tür öffnete und die beiden Polizisten, Kevin und Ben in das Zimmer kamen. Ein Lächeln huschte über Semirs Gesicht, sie begrüßten sich mit Händedruck, Andrea mit Küsschen auf die Wange. "Gibt es etwas Neues?", fragte Ben sofort mit Blick auf die kleine Ayda, aber Semir schüttelte nur den Kopf. "Abwarten, Geduld haben.", wiederholte er die Worte des Arztes. Andrea's Augen waren immer noch leicht gerötet, sie setzte sich wieder zu ihrer Tochter und hielt die Hand des kleinen Mädchens fest. "Und bei euch?", erkundigte sich der Polizist, aber Ben wollte seinen Partner nun nicht auch noch mit Vorgängen auf dem Revier belasten. "Wir sind nicht gefeuert worden.", sagte er etwas beruhigend mit Blick auf das Gespräch mit dem LKA, das Semir geschwänzt hatte. "Um alles andere musst du dich jetzt nicht kümmern." Der erfahrene Kommissar nickte dankbar und legte Ben freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. "Danke, dass ihr uns gestern geholfen habt.", sagte er noch leise, auch in Kevins Richtung, dem er noch nicht persönlich gedankt hatte, weil er gestern abend nicht mehr mit ins Krankenhaus gekommen war. Die Rührung über den selbstlosen Einsatz seiner beiden Freunde trieb Semir ein wenig Feuchtigkeit in die Augen.
    "Hey, das ist doch selbstverständlich. Wir wissen doch, dass wir uns auch auf dich verlassen können, oder Kevin?", sagte Ben und sein Freund, der etwas hinter dem Polizisten stand und schweigsamer wirkte als sonst, nickte. Er war ebenfalls beeindruckt von der bedrückenden Atmosphäre, von Ayda die da lag, als würde sie friedlich schlafen und sonst kerngesund sein. Nur die Blässe im Gesicht des Mädchens passte nicht dazu. Aber auch für ihn war es gar keine Frage gewesen, Semir und seiner Familie zu helfen, egal welche Konsequenzen es für den jungen Polizisten hatte. Dafür hatte er Semir schon viel zu viel zu verdanken gehabt.

    Semir wendete sich wieder zu seiner Tochter, und für einen Moment kehrte Stille ein. Er stützte sich dabei auf das Bettgestell zu Aydas Füßen und wischte sich etwas die Feuchtigkeit aus den Augen. Ben stand direkt hinter ihm, Kevin noch etwas weiter hinter Ben versetzt während Andrea unermüdlich Aydas Hand streichelte. Einmal meinte sie, dass ihr kleiner Finger etwas zuckte, doch das schien sich die Mutter nur einzubilden. Regen prasselte draussen gegen die großen Fensterfronten, die das Zimmer erhellten, der Tag war grau und diesig und es schien gar nicht richtig hell zu werden. Der Herbst zeigte sich von seiner hässlischen Seite, er hatte den Sommer endgültig verjagt. Das regelmäßige Piepen des Überwachungsmonitors, an dem Ayda angeschlossen war, veränderte sich für kurze Zeit, es wurde schneller als würde Aydas Körper in sich irgendetwas versuchen zu verarbeiten, als würde sie in ihrem Rythmus durch irgendetwas gestört werden. Andrea und Semir sahen sofort auf den Monitor und dann einander an. Der Arzt hatte ihnen versichert, dass nur bei einem schrillen Piepton bestimmte Werte überschritten werden, und man einen Arzt sofort rufen sollte, doch dieser schrille Piepton erklang nicht, und auch das schnelle Piepen beruhigte sich nach wenigen Minuten wieder.
    Sie wechselten gar nicht viele Worte miteinander, und bald verabschiedeten sich Kevin und Ben wieder von den leidenden Eltern. Semir sah den beiden Männern hinter her und wünschte sich jede anstrengende Schicht bei Wind und Wetter auf der Autobahn, wenn er sie nur gegen das eintauschen könnte, was er jetzt gerade erlebte. Aber niemand auf der Welt würde ihm diesen Wunsch erfüllen können...

    Dienststelle - 08:30 Uhr

    Sie hatten sich alle im Büro der Chefin versammelt. Anna Engelhardt, Ben und Kevin sowie die beiden LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter saßen um den kleinen Tisch herum. Es stellte sich heraus, dass Schöneberg nicht nur Ermittler, sondern Leiter der Dienststelle für Menschenraub war, und deswegen entsprechend erzürnt über das selbstständige Vorgehen der Autobahnpolizei. "Wo steckt ihr Partner? Ich möchte, dass alle Beiteligten an dieser Besprechung teilnehmen.", knurrte er und und sah auf die Uhr. "Hauptkommissar Gerkhan befindet sich bei seiner Tochter im Krankenhaus. Und dort wird er auch bleiben.", sagte die Chefin in einem scharfen Ton, der eigentlich keinerlei Widerworte duldete. "Frau Engelhardt, ihr Hauptkommissar ist an dieser Ermittlungskatastrophe genauso beteiligt, wie diese beiden Herren...", wobei er auf Kevin und Ben zeigte, die beide jeweils auf einem Stuhl saßen und abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt hatten. "...also gehört er auch in diese Besprechung." Die Chefin verengte die Augen zu Schlitze, für die Kommissare, die sie kannten, ein untrügliches Merkmal, jetzt besser zu schweigen. "Schöneberg, auch wenn sie mit dem Polizeipräsidenten Golf spielen, aber die Personalplanung, und wann ich meinen Mitarbeitern freigebe oder nicht, das überlassen sie gefälligst mir. Gerkhans Familie befindet sich in einer psychischen Ausnahmesituation und wird das Krankenhaus nicht verlassen, solange ihre Tochter im Koma liegt."
    Die Atmosphäre in dem Büro war zum Schneiden, es lag eine Grundaggression in der Luft, die eine sachliche Diskussion sehr schwer machen würde. "Gerade deswegen wäre es besser gewesen, wenn sie ihn gar nicht hätten ermitteln lassen.", meldete sich Reuter, der ebenfalls saß, zu Wort. "Sagt mal, wollt ihr uns verarschen? Semirs Tochter liegt im Koma, der hat jetzt ganz andere Sorgen, als sich hier einen Anschiss abzuholen.", knurrte Ben, dem es sofort an die Nieren ging, wenn diese beiden Typen jetzt auf nichts anderes herumritten, als auf der Tatsache, dass Semir sich jetzt um seine Tochter kümmerte, statt hier zu sein.

    "Na schön, na schön.", beschwichtigte Schöneberg mit hochgehaltenen Händen. Er war der Einzige, der nicht saß, sondern immer zwischen Sitzgruppe und Schreibtisch, hinter dem Anna Engelhardt saß, hin und her ging, während er redete. "Wie kamen sie nun darauf, alleine und ohne Einbeziehung unserer Dienststelle, die Übergabe durch zu führen?" "Weil wir Aydas Leben so wenig gefährdern wollten wie möglich.", antwortete Ben, und sah zu dem Ermittler auf, der ihn misstrauisch ansah. "Und weil wir die Kontrolle über die Geldübergabe behalten wollten. Mit dem festgenommenen Boten wollten wir Druck auf die Entführer ausüben, und erhofften uns Informationen." Schöneberg strich sich über die Stirn. "Und sie denken, damit haben sie das Leben weniger gefährdet, als wenn sie uns informiert hätten?" "Was habt ihr denn bis jetzt gemacht? Jedes Entführungsopfer wurde im Koma liegend gefunden. Hätten wir den Boten nicht festgenommen, wären wir keine Namen, keine Wohnanschrift und hätten auch das Versteck nicht gefunden.", bellte der Polizist, während sein Nebenmann Kevin erstaunlich still blieb.
    Die beiden LKA-Ermittler sahen sich gegenseitig an und atmeten hörbar aus. "Jede betroffene Familie hat bisher die Polizei nicht informiert. Wir ermitteln seit Wochen, seitdem das Krankenhaus uns über die merkwürdigen Komafälle informiert hat, und die Eltern bei Ärzten erstmals ausgepackt haben.", erklärte sich Schöneberg und nannte so die Ursache für den bisher mangelnden Erfolg. "Und was hättet ihr bei dieser Entführung getan, wenn ihr Bescheid gewusst hättet?", fragte Ben provokativ. Als nicht sofort eine Antwort kam, nickte der junge Mann. "Ihr hättet auch nicht mehr getan. Ihr wäret auch dem Boten gefolgt, und hättet ihn festgesetzt."

    Die Chefin verfolgte die Diskussion mit gefalteten Händen, und schritt nun ein. "Meine Herren... Wir haben umfassende Ermittlungserfolge vorzuweisen durch das Vorgehen meiner Beamten. Wir haben Namen zweier Vorbestrafter Entführer, einer davon sitzt bei uns in der Zelle. Wir haben Lieferscheine von Medikamenten, aus denen weitere Ermittlungsansätze gezogen werden können. Wir haben ausserdem drei Kindern das Leben gerettet, davon sind zwei sogar absolut unverletzt.", zählte sie auf während sie eine Mappe mit den entsprechenden Informationen zu Schöneberg herüberschob. Der öffnete diese Mappe und sah sich die Dokumente genauer an. "Einige Chemikalien können zur Erstellung eines Koma-Cocktails benutzt werden. Einige andere passen nicht dazu, ein befreundeter Mediziner hat diese Dinge ermittelt.", sagte Ben, ohne Angst zu haben, dass es Konsequenzen gab. "Ein befreundeter Mediziner?", fragte Reuter ungläubig. "Lass mal, Manuel. Mit diesen Dokumenten können die Forscher etwas anfangen.", wurde er von seinem Kollegen sofort beschwichtigt.
    Er setzte hinzu: "Die Forscher des Instituts sind immer noch beschäftigt heraus zu finden, was die Kinder ins Koma versetzt hat. Erst wenn sie das wissen, können sie etwas dagegen unternehmen, wenn überhaupt." "Die Liste ist nicht vollständig. Laut dem Mediziner reicht das noch nicht, er kann aber auch nicht sagen, was fehlt. Deswegen kann man davon ausgehen, dass die Gangster einen weiteren Komplizen haben und somit noch einen weiteren Lieferschein.", erklärte Ben. Die Atmosphäre wechselte etwas, so etwas wie Kooperation und Zusammenarbeit war zu spüren, doch davon wollte das LKA erstmal nichts wissen.

    "Na schön. Ich denke, die Ergebnisse und die Ermittlungserfolge allgemein der Autobahnpolizei haben es verhindert, dass der Polizeipräsident sie...", dabei zeigte Schöneberg auf die Chefin "... in vorzeitigen Ruhestand geschickt hat. Sie haben diese illegalen Ermittlungen gedeckt und genehmigt." Die Chefin protestierte scharf: "Ohne unsere illegalen Ermittlungen hätten sie nichts, ausser eines weiteren Kindes im Koma, und immer noch drei vermisste Kinder." "So haben wir ein totes Kind. Ein totes Kind, für das sie verantwortlich sind, durch ihr unvorsichtiges Vorgehen.", sagte Schöneberg scharf, gerade als er neben dem Stuhl von Kevin stehenblieb, dabei hielt er einen Zettel hoch, das Ergebnis der KTU, in dem die Informationen standen, die Hartmut eben an Ben weitergegeben hatte.
    Als er die Verantwortlichkeit des Kindes ansprach, ging alles so schnell, dass Ben, die Chefin oder Reuter gar nicht eingreifen konnten. Kevin war innerhalb weniger Sekundenbruchteile aufgestanden, hatte den LKA-Ermittler am Kragen gepackt und ihn gegen die Glasscheibe zum Großraumbüro gedrückt. Ein dumpfer Schlag ließ Hotte und Jenny draussen aufblicken. "Wir sind verantwortlich für den Tod des Mädchens, während ihr hinter euren scheiss Schreibtischen sitzt?", sagte er mit ruhiger, aber bedrohlicher Stimme. "Wenn sie morgen noch Polizist sein wollen, dann lassen sie mich auf der Stelle los.", drohte Schöneberg dem jungen Mann und machte keinerlei Anstalten sich körperlich zu wehren. Ben griff Kevin am Arm und riss ihn von Schöneberg weg, bevor Reuter mit etwas mehr Gewalt einschreiten konnte. "Hast du sie noch alle?", knurrte er seinen Partner Kevin an und schob ihn in die andere Hälfte des Zimmers... obwohl er natürlich wusste, warum der Kommissar so austickte. Kevin richtete sich seinen Kragen und verkniff sich jeden weiteren Kommentar, er atmete tief durch, denn er konnte mit dem direkten Vorwurf nichts anfangen... er wusste die Informationen von Hartmut ja nicht.

    Schöneberg richtete sich ebenfalls die Kleidung und giftete in Kevins Richtung: "Jemand mit ihrer Vorgeschichte hat im Polizeidienst nichts verloren. Und ich sage es ihnen jetzt nochmal in aller Deutlichkeit: Die Ermittlungen an diesem Fall sind für sie tabu, und endgültig erledigt. Ihr Kollege hat seine Tochter wieder, und damit gibt es nichts, was sie veranlassen sollte nochmal in diese Richtung eigenständige Ermittlungen durch zu führen." Danach richtete er sich an die Chefin, die mittlerweile hinter ihrem Schreibtisch stand. "Egal wie gut ihre Arbeit, oder die Arbeit dieser Dienststelle ist... ihr Kredit bei dem Polizeipräsidenten ist nicht unendlich, und sie wären nicht die erste verdiente Beamtin, die in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wird."
    Für einen Moment herrschte unheilvolle Stille in dem Büro. Schöneberg und Reuter auf der einen Seite zur Tür, während Ben, der durch Handauflegen an Kevins Schulter so etwas wie Ruhe auf den Polizisten bewirken wollte, am Fenster. Die Chefin stand hinter ihrem Schreibtisch und ergriff das Wort: "Soweit ich weiß, Herr Schöneberg, haben wir beide den gleichen Dienstrang. Sie sind also weder befähigt, noch in einer Position, mir gegenüber solche Drohungen auszusprechen. Denn im Prinzip, haben sie keinerlei Rechte mehr als ich." Kurz hielt sie inne, verließ ihren Schreibtisch und ging zur Bürotür, wobei sie diese öffnete. "Wobei, wenn ich es recht überlege... ich habe ein Recht mehr als sie: Ich habe nämlich das Recht, sie aus meiner Dienststelle zu werfen, weil sie die Arbeit meiner beiden Ermittler behindern... die sollten nämlich längst auf Streife sein. Und wenn sie nicht augenblicklich verschwinden, drücke ich ihnen eine Beschwerde wegen Dienstbehinderung auch noch rein." Ben platzte in diesem Moment vor Stolz über seine Chefin, und auch Kevin war mehr als nur beeindruckt... genauso wie Schöneberg, der vor Wut kochte. "Herzberger! Begleiten sie die beiden Herren nach draussen.", rief sie in das Großraumbüro.
    Hotte Herzberger stand hinter seinem Schreibtisch auf, und setzte seine, mehr als nur grimmige Miene auf, wobei er sich beinahe drohend über seine Hosenträger und den dicken Bauch strich. Anhand der Tonart der Chefin konnte er sofort erkennen, dass sie den beiden LKA-Ermittlern sicherlich nicht freundlich gestimmt war, und er wollte sie mit dieser Geste sofort unterstützen, schließlich arbeiteten die Chefin und er schon fast 20 Jahre zusammen. "Wir finden alleine raus.", knurrte Schöneberg, und der dicke Polizist musste sich nicht mal von seinem Platz weg bewegen. Während die zwei Polizisten das Weite suchten, und die Chefin die Tür wieder hinter sich schloß, kicherte Jenny auf: "Hotte, du wärst ein perfekter Türsteher..."

    Dienststelle - 08:00 Uhr

    Das geschäftige Treiben in dem Großraumbüro der Autobahnpolizei war das Gleiche wie immer, und doch kam es Ben an diesem Morgen grauer und trister vor. Die Geräusche von Funksprüchen und Telefonläuten vernahm er wie durch einen Schleier, etwas dumpfer als sonst. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf auf die zusammengefalteten Hände gelegt, und stützte ihn mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. Dabei sah er auf den Monitor seines PCs. Würde man ihn durch die große Glasscheibe nach draussen beobachten, hätte man gemeint, er würde sich aufmerksam etwas durchlesen, oder sich irgendeinen Bericht im Internet ansehen. Tatsächlich war der tägliche Lagebericht vor ihm geöffnet, doch Ben interessierte sich nicht für die Buchstaben vor ihm, oder dass am Rheinufer heute Nacht ein junger Drogenjunkie tot aufgefunden wurde. Nein, seine Gedanken waren bei Semir, sie waren bei Ayda die im Koma lag, und sie waren auch bei Kevin, der ziemlich fertig schien gestern.
    Seine Gedanken waren ausserdem bei dem bevorstehenden Gespräch mit den beiden Kotzbrocken vom LKA, die sich für heute morgen für ein Gespräch mit Anna Engelhardt, der Chefin des Reviers angekündigt hatten. Ben hatte seine Vorgesetzte bereits bei seinem Kommen über die neuesten Entwicklungen informiert. Als er jedoch die Explosion und den Tod des gefangenen Mädchens erwähnte, schlug sie die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. DIe Chefin wusste, was das für sie bedeuten würde, sie hatte den ungenehmigten Einsatz bewilligt und gedeckt. Doch sie ließ sich vor ihrem Mitarbeiter erst einmal nichts anmerken, und nickte nur stumm. "Lassen sie die beiden vom LKA nur kommen. Das bekommen wir geregelt.", sagte sie souverän und machte Ben damit etwas Mut.

    Das Klingeln seines Telefons riss Ben aus den düsteren Gedanken um seine beiden Partner und Ayda. "Jäger, Kripo Autobahn?", meldete er sich und rieb sich mit den Fingern durch die Augen. "Morgen Ben, hier ist Hartmut.", meldete sich der KTU-Techniker aus seiner Werkstatt. "Hartmut. Ich hoffe, wenigstens du hast du gute Nachrichten." "Naja, gut wäre übertrieben.", gluckste das Superhirn, während Ben missmutig die Lippen aufeinander presste. "Also hör zu. Ich habe die beiden Lieferscheine einem befreundeten Medizinlaborant geschickt. Absolut vertrauenswürdig natürlich. Er hat mir gesagt, dass man die Apparaturen und einige Zutaten definitiv benutzen KÖNNTE, um ein Mittel herzustellen, das das Opfer in einen komatösen Zustand versetzt." "Aber?", fragte Ben sofort, denn er konnte im Tonfall von Hartmut hören, dass die scheinbar gute Nachricht noch einen gewaltigen Haken haben musste. "Zwei Sachen sind im aufgefallen: 1. fehlen noch einige Zutaten.Es musss also irgendwo noch einen dritten oder vierten Bestellschein geben." Ben's Polizeigehirn arbeitete sofort auf Hochtouren. Wenn jeweils ein Lieferschein bei zwei Entführern war, und es würde noch weitere Lieferscheine geben... dann musste es auch weitere Komplizen geben.
    "Das zweite: Auf beiden Bestellscheinen waren ausserdem Chemikalien, die nichts mit diesem Mittel zu tun hatten. Nichts, was irgendwie auf ein Koma hindeuten könnte, sondern eher auf eine Art "Gewebezerstörer" hindeutet." Ben legte die Stirn in Falten. "Gewebezerstörer?", wiederholte er etwas ungläubig, des es klang wie eine neuartige Waffe aus einem Sci-Fiction-Film. "Richtig. Er meinte, sowas kenne er nur aus der Medizinforschung, wenn es um das Heilen von Krebs ginge. Aber dazu konnte er mir absolut nichts sagen, ohne Aufzeichnungen oder Forschungsunterlagen waren das nur einzelne Chemikalien für ihn, aber nichts was einen Sinn ergäbe. Ausser die vereinzelten, die auf das Herbeiführen eines komatösen Zustands sprechen würden." Ben kritzelten die Informationen auf einen Zettel, der am Ende vollgeschrieben und unleserlich war. "Versuch mal herauszufinden, was es mit diesem Versandhandel auf sich hat. Ist der seriös, gibts Kundendaten zu den Bestellungen, und wo wurden sie hingeliefert.", bat der Polizist den KTU-Techniker.

    "Das ist noch was.", sagte der nun, bevor sie das Gespräch trennten. "Ich hab es dem LKA noch nicht weitergegeben. Ich hab in dem Haus die Sprengfallen, oder was davon übrig geblieben war, analysiert." Ben hörte weiterhin aufmerksam und gespannt zu, und bemerkte dass Hartmut etwas gehemmter sprach: "Also... die Sprengzündungen wurden ferngezündet. Das geht heute schon über einen Funkstandard wie Bluetooth." "Du meinst, es hat uns jemand beobachtet, als wir in das Haus gegangen sind?", vermutete der Polizist sofort, und Hartmut schien am Telefon den Kopf zu schütteln. "Nein, nicht direkt. Das Signal ging von einem Kontaktgeber aus... der an der ... an der Eingangstür befestigt war." Bens Herz setzte für einen Moment aus, als er langsam realisierte, was das bedeutete. "Das heißt...", begann er leise, doch der Techniker schnitt ihm das Wort ab: "Ja genau... an der Eingangstür war ein Kontaktwarner, wie bei Einbruchsicherungen an Fenstern und Türen. Sobald dieser Kontakt getrennt wird, sendet das Gerät ein Signal... in dem Fall zur Zündung des Sprengsatzes. Die weiteren Zündungen wurden zeitversetzt versendet."
    Ben atmete hörbar am Telefon aus, und sein Gesprächspartner konnte sich die Gedanken lebhaft vorstellen. "Ben, das hättet ihr niemals ahnen können. Der Kontakt war so klein am oberen Eck der Tür, den hättet ihr nicht mal gesehen, wenn ihr geschaut hättet. Wir haben ihn nur gefunden, weil er durch die Explosion heruntergefallen war, und zum Glück nicht verbrannt ist. An der oberen Ecke haben wir dann die Befestigung gesehen, aber erst nach 1 Stunde abtasten." "Ja... fühlt sich grad trotzdem scheisse an...", seufzte der Polizist. "Das kann ich mir vorstellen, aber trotzdem. Ihr seid nicht schuld an dem Tod des Mädchens. Ihr habt die anderen Kinder und vor allem Ayda gerettet, der Zünder hatte nämlich auch einen Zeitauslöser, der ihn etwas mehr als 40 Stunden abgelaufen wäre. Die Gangster haben sich vermutlich eine Rücksicherung geschaffen, falls sie alle geschnappt werden würden. Da kannte sich jemand aus. Und das schreibe ich auch so in den Bericht für das LKA und erwähne ausdrücklich, wie nötig euer schnelles Eingreifen war." Ben lächelte etwas gequält ob der Solidarität seines Freundes. "Danke Hartmut.", sagte er ehrlich, bevor sie das Gespräch trennten.

    Ben wollte gerade zur Chefin, um die neuen Informationen zu überbringen, als Kevin und Jenny gemeinsam in das Großraumbüro traten. Sie waren zusammen gekommen scheinbar und lächelten sich kurz an, bevor Jenny ihre Tasche an ihrem Platz abstellte, und danach zu den Umkleidekabinen ging um ihre Dienstkleidung anzuziehen. Kevin strich sich durch die abstehenden Haare und ging zu Ben ins Büro, wo die beiden Männer sich kurz begrüßten. "Na? Alles okay bei dir?", erkundigte sich Ben mit vorsichtiger Stimme, denn er hatte noch im Gedächtnis wie Kevin gestern abend auf seine Nachfrage reagiert hatte. Doch die Nacht schien ihm gut getan zu haben, seine Augen waren wacher und die Apathie in seinem Blick verschwunden. "Ja, alles in Ordnung.", nickte er Ben zu. "Kaffee?" "Könnte ich gebrauchen." Als schienen sie nur das Notwendigste zu reden um sich miteinander zu verständigen, so kam es Ben gerade vor. Er ging zur Kaffeemaschine und gießte den heißen Koffeinsaft in eine Tasse für Kevin, der sich auf Semirs Drehstuhl niederließ.
    "Danke. Wie gehts Ayda?", fragte Kevin und nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse. Ben blickte etwas überrascht, er hätte nicht gedacht dass der junge Polizist sich nach der gestrigen Ausnahmesituation noch daran erinnerte, dass er gestern ins Krankenhaus gefahren war. "Naja... was soll man da sagen. Sie liegt im Koma, die Vitalwerte werden überwacht. Aber je länger sie in diesem Zustand ist, desto eher könnte ihr Gehirn dauerhaft beschädigt werden. Es ist... nicht angenehm." Kevin nickte durch den aufsteigenden Dampf des Heißgetränkes vor ihm etwas betreten und wusste nicht recht, ob er darauf etwas antworten solle. Es war auch für Ben schwer, das wusste er genau, denn er stand in einem engen Verhältnis zur Familie Gerkhan, auch zu den Kindern. Kevin hätte von sich aus wahrscheinlich eh nichts von seinem gestrigen Absturz erzählt, aber dass Ben selbst persönlich von dem Schicksal Aydas betroffen war, hätte er es sowieso unterlassen.

    Jenny hatte ihn versucht, gestern aufzufangen, obwohl sie sich selbst unsicher fühlte... das spürte Kevin. Sie war sich selbst nicht im Klaren, wie tief der Polizist noch in der Suchthölle steckte und sie wusste nicht genau, wie sie damit umgehen sollte. Ob sie es überhaupt könnte? War sie stark genug, war es das, was sie suchte als sie sich in den jungen Mann verliebt hatte, vor allem in der Situation, als er selbst eine Stützte für die junge Polizistin war. Diese Zweifel bewegten sie heute nacht, und diese Zweifel konnte auch er selbst spüren. Gestern war er einfach dankbar... dass sie ihm zuhörte, dass sie ihn nicht verurteilte, ihm die Pillen und die Knarre entgegen warf und wutentbrannt die Wohnung verließ. Nein, sie blieb... sie igelten sich auf der Couch zusammen, sie hielten sich aneinander fest, bis sie es schafften langsam einzuschlafen. Jennys Nähe war in diesem Moment die perfekte Droge für Kevin, um die Nacht zu überleben, und dafür war er ihr dankbar. Sie hatten heute morgen zusammen gefrühstückt, Kevin bot ihr das Bad an, aber da Jenny eh keine weiteren Kleider dabei hatte, weil sie nicht geplant hatte, bei dem Polizisten zu übernachten und abends bereits geduscht hatte, beließ sie es dabei sich nur die Haare zu waschen.
    Kalle hatte sie mit einem Lächeln morgens geweckt, kurz nachdem sie von der Arbeit gekommen war. Wo der Transvestit-Künstler zu ihrem Ziehsohn gerne mal rau und ruppig war, so war sie doch immer überaus liebenswert zu etwagigen Frauenbekanntschaften, die er mit nach Hause brachte.

    "Aber es gibt Neuigkeiten.", sagte Ben dann nach einigen Minuten des Schweigens. Kevin blickte zu seinem Freund auf und hörte aufmerksam zu, als Ben von Hartmuts Anruf erzählte. Von den Lieferscheinen, den scheinbaren Medikamenten und dass es offenbar noch weitere Komplizen gab. Von den Umständen der Explosion im Haus schwieg Ben allerdings, denn er befürchtete, dass er Kevin sofort wieder runterziehen würde, und hoffte, dass Kevin es ihm nicht übel nahm, wenn er es doch rausfinden würde.

    Kevin's Wohnung - 23:00 Uhr

    Jennys Herz schlug bis zur Kehle, sie hatte das Gefühl, in Sekundenschnelle Fieberschübe zu bekommen. Obwohl sie nicht wusste, was passiert war... obwohl sie nur ein Röhrchen mit Pillen, Kevins geladene Dienstwaffe und Kevin selbst in einem scheinbar etwas weggetretenen Zustand "fand", so spielten sich in ihrem Inneren ungeheuerliche Szenen ab. Kevin im Drogenrausch, Kevin, der nicht mehr wusste, wo er genau war. Kevin, der sich die Waffe gegen die Schläfe hielt, gegen den Hals hielt und wahrscheinlich nur von inneren Kräften davon abgehalten wurde, die entsicherte Waffe abzudrücken. Am liebsten hätte Jenny sich bei den Gedanken übergeben, sie stand mit tropfendem Gesicht am Waschbecken und starrte in den Spiegel.
    Was sollte sie tun? Sich Hilfe holen? Und damit Kevins Polizeikarriere endgültig beenden? Wäre das besser für ihn, oder würde es alles noch schlimmer machen? "Bulle sein ist das einzige, was ich kann.", hatte Kevin gerade vor 5 Minuten noch zu Jenny gesagt. Wussten Semir und Ben davon? Sollte sie jetzt nach draussen, und ihn darauf ansprechen? Oder ruhig sein, cool bleiben und ihn ab jetzt beobachten, nicht mehr aus den Augen lassen? In ihrem Kopf drehte sich alles, sie starrte immer noch in den Spiegel und hin und wieder auf die feucht-glänzende Waffe, die der junge Polizist offenbar mit unter die Dusche genommen hatte. Jetzt lag sie auf dem Waschbecken und ließ sich von der, leicht zitternden Jenny, beobachten. Langsam musste sie wieder raus, ansonsten würde sich Kevin draussen wohl fragen, was sie so lange machte. Sie trocknete ihr glänzendes Gesicht und fasste einen Entschluss, als sie das Röhrchen und die Waffe packte.

    Kevin saß immer noch auf der Couch, und schien langsam wieder klarer zu sehen. Doch Jennys ernster Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht, sie hatte etwas in der linken Hand umklammert, die rechte hatte sie hinter dem Rücken. "Was hast du heute abend gemacht, nachdem du heimgekommen bist?", fragte sie mit seltsam tonloser Stimme. Ihr fiel es schwer, Kevin so direkt darauf anzusprechen, sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Würde er ihr die Tür zu seinem Innersten wieder zuschlagen? Würde er sich abkapseln, einigeln? Sie empfand dies als eine echte Prüfung für ihre junge Beziehung, denn sollte er es abstreiten, oder nicht wissen, wo das Zeug herkomme... es wäre ein großer Vertrauensbruch. "Wieso?", fragte Kevin unsicher, denn ihm fehlte ein wenig aus den letzten Stunden, seit er im Auto die Pillen eingeworfen hatte. Dann diese Horrorvision im Badezimmerspiegel, als er sich nicht mehr kontrollieren konnte und auf den Boden gefallen war. Eine Achterbahnfahrt, Horrorbilder, seine Schwester blutüberströmt mit verbrannten Haaren, die vor ihm im Bad stand und laut "Mörder" schrie... irgendwann war er dann wieder bei sich, sitzend unter der Dusche. Etwas lag bei ihm, doch darauf achtete er gar nicht, als es klingelte und er sich schnell anzog.
    Jennys Hand zitterte, als sie ihm das Pillendöschen auf den Schoß warf, und die Waffe langsam auf den Wohnzimmertisch legte. "Das lag in deiner Dusche..." Ihre Stimme klang dabei traurig, ein wenig ängstlich, aber doch stark, trotz dass sie mit den Tränen kämpfte. Der junge Mann sah auf das Pillendöschen, aus dem mehrere fehlten, er umfasste es, umklammerte es mit seiner Hand. Dann nahm er die Waffe zur Hand... er konnte sich erinnern, dass er öfters die Waffe damals, in einer sehr depressiven Phase in die Dusche mitgenommen hatte, und sich vorstellte, einfach abzudrücken. Damals hatte er die Kugeln aus dem Magazin entfernt, weil er zwischen Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Sein Herzschlag setzte aus, als er jetzt sah, dass die Waffe geladen und entsichert war... und er sich nicht mehr erinnern konnte, was er getan hatte.

    "Jenny... ich...", fing er stotternd an, doch die junge Polizistin fiel ihm ins Wort. "Was ist los mit dir? Du nimmst Drogen, ich finde deine geladenen Waffe in der Dusche... was hast du gemacht?", fragte sie und Kevin konnte hören wie ihre Stimme zitterte. Er sah zu der jungen Frau, er nahm zweimal Luft um eine Antwort zu geben, doch seine Stimme kam erst beim dritten Mal, schwach und müde. "Ich weiß es nicht." Seine Partnerin stand schräg von ihm, mit offenem Mund und fragenden Augen. "Du weißt es nicht?", fragte sie diesmal leiser und fassungslos, als der Mann vor ihr, den sie liebte, den Kopf schüttelte. "Ich hab die Pillen im Wagen genommen. Danach bin ich hier rauf." Er erzählte nichts davon, was er im Spiegel gesehen hatte, was er vor sich hat stehen sehen. "Dann weiß ich nichts mehr... ich bin wieder unter der Dusche zu mir gekommen, als du geklingelt hast." Mit offenem Mund atmete Jenny hörbar aus, als könne sie nicht fassen, was Kevin ihr gerade erzählte. Wie zum Spannungsabbau ging sie einige Schritte durch die Wohnung, die Hand vor den Mund und sich überlegend, was sie als nächstes sagen sollte. "Wie lange nimmst du schon Drogen? Seit Janine tot ist?" Es dauerte kurz, bis sie die Stimme des Mannes auf der Couch wieder vernahm. "Seit dem wieder... mal mehr, mal weniger.", sagte er, ohne seine Freundin anzublicken.
    Jenny war wie vor den Kopf gestoßen. Ihr Freund, in den sie sich vor einigen Wochen verliebt hatte, der ein Polizist mit krimineller Vergangenheit war, war abhängig... UND hatte dazu noch einige psychische Probleme. War ihre Liebe wirklich so stark, das zu überleben? Wollte sie nicht einen starken Freund, der die Schulter für sie war, so wie es Kevin damals war, als sie vergewaltigt wurde? Der Kevin, der er war, als seine Schwester noch gelebt hatte und zu ihrem unerschütterlichen großen Bruder aufgeblickt hatte? Wo war er nur hin?

    Langsam kam Jenny zurück zur Couch, und setzte sich zu Kevin. Der sagte leise: "Semir und Ben wissen, dass ich bis vor einem dreiviertel Jahr, bis Peter Becker sich umgebracht hat, noch was genommen habe. Seitdem war ich so gut wie weg. Ich dachte, es wäre vorbei... aber es ist nicht vorbei." Jenny hing an seinen Lippen, ähnliches hatte sie eben auch schon gehört. Dass Janine ihn quäle, dass der Dämon niemals verschwinden würde. Die Pillen halfen ihm normalerweise, doch heute warfen sie ihn völlig aus der Bahn. Seine Beine zitterten, seine Hände ebenfalls, es fühlte sich an wie Entzug, und doch anders. Er spürte Jennys Hand auf seiner Schulter, er spürte ihren Duft in der Nase. "Vielleicht können wir dir helfen. Wenn du dich in professionelle Hilfe...", sagte sie zaghaft, doch wurde von Kevin sofort unterbrochen. "Wenn ich zu einem Psychater gehe, dann kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Der ist das Einzige, was mich bisher überleben hat lassen. Und du jetzt..." "Kevin, du musst von den Drogen wegkommen.", sagte Jenny bestimmter und lauter. "Ich will dir helfen, aber du musst dir helfen lassen. Alleine schaffst du das nicht, du machst dich daran kaputt!" Dabei fasste sie den jungen Mann an den Schultern und drehte ihn zu sich, dass er ihr in die Augen blicken musste, und sie erschrak von dem gräulichen Schimmer in seinen sonst strahlend hellblauen Augen. Und sie erschrak über seine panische Stimme, und wie sich nun seinerseits seine Hände um ihre Schultern legten und zupacken. "Ich bin bereits kaputt!! Es ist nicht's mehr von dem Kevin übrig, den ich vorgebe zu sein. Den Kevin, den du jetzt siehst, das bin ich!!", rief er laut. Jenny war geschockt, sie stand sprunghaft auf und wich zwei Schritte zurück. Die Situation überforderte sie, sie erkannte den Mann nicht mehr wieder, der schreckhaft die Hände zurück zog und offenbar über sich selbst erschrak. Er war kurz davor die Kontrolle zu verlieren, etwas was er nie sein wollte. Er war nicht mehr der starke unerschütterliche Kevin, dem alles gelang, und dem nichts zu schwer war... zumindest nicht, wenn er sein wahres Inneres zeigte, wie bei Jenny.

    Seim Atem polterte, und die beiden jungen Menschen sahen sich an... Jenny stand neben dem Sofa, und war sich unschlüssig, was sie tun sollte... und verwirrt war sie auch. Sie konnte Kevin unmöglich jetzt alleine lassen, als dieser mit zitternden Lippen aufblickte und flüsterte: "Bitte rette mich... Rette mich."

    Kevins Wohnung - 22:30 Uhr

    Jenny fühlte sich ein wenig unbehaglich, als sie ihren Kleinwagen am Straßenrand parkte und auf das Haus blickte, in dem Kevin wohnte. Sie hatte lange nachgedacht, ob sie noch zu ihm fahren sollte, ob sie sich ihm wirklich aufdrängen sollte, nachdem er eben im Büro klipp und klar gesagt hat, dass alles in Ordnung sei... was ihm allerdings niemand der Anwesenden wirklich glaubte. Wären sie einander nur bekannt, so hätte sie es wohl gelassen, einfach um nicht aufdringlich zu wirken, um nicht den Eindruck zu machen, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts anging. Aber sie waren einander nicht nur bekannt... man konnte sie durchaus als Paar bezeichnen, und so sah sie es irgendwo als ihre Pflicht, bei ihm vorbei zu fahren, und ihm ihre Schulter zu borgen, so wie er es damals auch getan hatte, nachdem sie von einem Kommissarsanwärter vergewaltigt wurde.
    Sie ging die drei Treppenstufen des gepflegten Altbaus bis zur Haustüre nach oben und drückte auf die Klingel. Als der Wind auffrischte schlug sie den Kragen ihrer modischen Stoffjacke etwas nach oben, und ein paar Strähnen hielten sich nicht mehr ganz an die eben nach der Dusche gemachte Frisur. Die Polizistin wippte mit dem rechten Fuss etwas vor Ungeduld, nochmals betätigte sie die Klingel. Ihr Bauchgefühl verstärkte sich, ihr Atem beschleunigte sich unbewusst. Nein, nein, hör auf dir jetzt unnötig Sorgen zu machen. Er ist bestimmt schon eingeschlafen, es ist nichts passiert, redete sich Jenny ein.

    Doch unerwartet erklang nun der Summer der Haustür, die Jenny reflexartig aufdrückte und im Flur stand. "Hallo?", rief sie zaghaft nach oben und konnte im Dunkeln des Treppenhauses Kevins Gesicht, vor allem die schimmernden Augen sehen, der sich ein wenig über das Geländer gelegt hatte. "Hey...", sagte er leise und die junge Frau lächelte... und konnte nicht verleugnen irgendwie erleichtert zu sein, Kevin zu sehen. Sie nahm die Treppenstufen nach oben recht schnell und sah dann, dass Kevin nur in Boxer-Shorts und T-Shirt vor ihr stand, die Haare feucht und auch das Shirt hatte leichte feuchte Flecken. Ihn umgab allerdings ein Duft von Duschgel, scheinbar war er gerade noch unter der Dusche und hatte sich nicht richtig abgetrocknet, bevor er sich das weiße Shirt über den Oberkörper zog. Aber wirklich frisch sah der junge Polizist nich aus, er stützte sich etwas an den Türrahmen, als er Jenny den Eintritt gewährte, nachdem sie sich mit einem Kuss begrüßt hatten.
    Die junge Frau erwischte sich in der Wohnung dabei, wie sie nach etwas Ausschau hielt. Nach leeren Schnapsflaschen... nach irgendetwas, womit Kevin seinen Kummer betäubt haben könnte, den er wirkte nicht sicher auf den Beinen. Er war blasser als vorher, er hatte leichte Ränder unter den Augen, er war einfach nicht er selbst. Sie setzten sich beide auf die Couch, wobei der junge Mann seufzte und sich elend fühlte. Elend von dem Horror-Trip vor einigen Minuten, elend dass er spürte, wieder einen Black-Out gehabt zu haben, denn die altmodische Uhr an der Wand zeigte bereits halb elf. Als er im Bad auf die Knie gefallen war, war es erst 8. Alles dazwischen fehlte ihm, und das ängstigte ihn, das war ihm nämlich noch nie passiert. Unklare Bilder, wilde zuckende Gestalten spielten ihm vor seinem inneren Auge Streiche... warum war er eben im Bad, warum seine Kleidung durchnässt? Es hatte geklingelt, er hatte sich schnell etwas angezogen, war aus dem Bad gerannt...

    "Wie geht es dir?", fragte Jenny fürsorglich und strich dem Polizisten durch das feuchte Haar. Vor der jungen Frau konnte Kevin seine Barrikade, seinen Seelenschutz einfach nicht aufrecht erhalten, er konnte sie einfach nicht anlügen. Ohne in ihre Richtung zu blicken sagte er mit seiner monoton und heiser klingenden Stimme nur ein Wort: "Beschissen." Seine Hände kneteten einander, seine Beine zitterten ein wenig. "Du machst dir also doch Vorwürfe? Hatte Ben recht? Hat es was mit deiner Schwester zu tun?" Kevin schluckte, sah kurz auf den Boden vor sich und dann wieder geradeaus. Das Kneten mit seinen Händen wurde schlimmer, er spürte das Brennen seiner Narben auf dem Rücken wie immer, wenn er intensiv an Janine dachte.
    "Es war, als stände sie hinter der Tür.... und ich würde nicht an sie herankommen.", sagte er leise mit fremder Stimme, und Jenny streichelte trotz ihrer eigenen Gänsehaut über den Unterarm des Mannes. "Ich kann einfach nicht aufhören, jedes Versagen von mir bei dem Menschen sterben oder zu Schaden kommen, auf sie zu projezieren. Als wolle sie mich jedes Mal damit bestrafen und mir vor Augen zu führen, dass ich ihr damals nicht geholfen habe." "Aber Kevin... glaubst du wirklich, deine Schwester würde das wollen, dass du dir dein ganzes Leben zur Hölle machst?" Nein, das würde sie natürlich nicht wollen, dachte er... aber warum war sie ständig da, ständig bei ihm. Natürlich war der Tod des jungen Mädchens in dem brennenden Haus heute schlimm, und hätte wohl jedem Polizisten in dieser Situation die ein oder andere schlaflose Nacht beschert. Aber bei Kevin war es eine Ersatzperson für das Trauma um seine tote Schwester, und es würde immer und immer wieder passieren. Janine würde ihn niemals in Ruhe lassen... der Dämon, den Kevin dachte besiegt zu haben, nachdem sich Janines Mörder das Leben genommen hatte, war wieder zurück... und er quälte Kevin schlimmer als jemals zuvor.

    "Wieviele Leben, denkst du, hast du schon gerettet?", fragte Jenny nach einer kurzen Schweigepause, in dem sie den Polizisten mental so hilflos und verzweifelt wie nur zuvor empfunden hatte. Er zog ein wenig die Lippen herab und schüttelte den Kopf. "Man kann ein Leben nicht gegen das andere aufwiegen." "Das stimmt. Aber genauso wie du mit geretteten Leben lebst, musst du auch mit dem Gegenteil fertig werden. Wir sind Polizisten, und sowas wie heute kann uns jeden Tag passieren." Jenny fand es komisch, als junge Polizistin mit weniger Erfahrung Kevin so einfache Ratschläge zu geben. Doch sie unterschätzte das Trauma, das den jungen Polizisten quälte. "Wenn du daran kaputt gehst, musst du aufhören.", schlussfolgerte sie und umklammerte den Unterarm des Mannes etwas fester. "Und ich will nicht, dass du daran kaputt gehst." "Ich kann nicht aufhören...", sagte Kevin mit leichtem Kopfschütteln und sah Jenny dabei endlich einmal an. "Bulle sein ist das Einzige, was ich kann." Und leise fügte er noch an: "Oder Verbrecher..."
    Die Stimmung in dem Wohnzimmer war so bedrückend, so traurig und Jenny in sich etwas verzweifelt, dass sie Kevin nicht aufrichten konnte. Aber war das so einfach? Garantiert nicht. Er steckte gerade in seiner schwarzen kleinen Welt fest, in der er nur ihr Zugang gewährte, sie aber nicht Hand in Hand mit ihr verließ. "Du hast es doch auch geschafft, mir zu vertrauen, oder? Etwas, was du gesagt hast, was dir sehr schwer fällt.", sagte sie um ihn daran zu erinnern, dass er eben doch Dinge schaffen kann, die er sich selbst nicht zutraut. Er nickte nur schwach, was Jenny aufblicken ließ. "Du vertraust mir doch, oder?", fragte sie unsicher. Als Kevin nicht sofort nickte, löste sich ihre Umarmung des Unterarms für einen Moment. "Ich vertraue dir, aber ich vertraue mir und meinem Glück nicht.", sagte der Polizist mit leiser dunkler Stimme. "Denn immer, wenn etwas Schönes passiert... dann tut es mir weh, weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und du bist so etwas Schönes. Aber ich kann es nicht genießen, weil ich Angst habe... Angst, es wieder zu verlieren." Aus Kevins Stimme sprach nicht nur ein Trauma um eine getötete Schwester, sondern ein Mann, der offenbar mehr als nur eine schlimme Enttäuschung oder schlimme Erfahrung wegstecken musste... mehr, als nur ein Vertrauensbruch durch Ben oder einen Freund, der ihn in den Hinterhalt lockte.

    Jenny war von Kevins Worten aufgewühlt, und sie spürte innerlich, wie ihr ein wenig die Feuchtigkeit in die Augen trat. Sie war nicht enttäuscht von ihm, dass er so sprach, sondern er besorgt. Spätestens jetzt spürte sie, dass es mit Kevin als Lebenspartner eine Beziehung war, zwischen einem verirrten verschreckten und verwahrlosten Kater, der keinerlei Menschen mehr gewohnt war, und erst langsam wieder Zutrauen finden musste. Es würde schlimme Rückschläge geben, aber Fortschritte, über die man sich freuen würde. Wollte Jenny das? War sie dafür stark genug, war die Liebe zu Kevin dafür stark genug? "Ich geh mich mal kurz frischmachen.", sagte sie leise und ging, nach Kevins Fingerzeig auf eine Tür, ins Badezimmer.
    Der Spiegel war angelaufen, der Duschkopf tropfte noch. Ein Handtuch lag am Boden und es war eine unangenehme Wärme in dem kleinen Badezimmer. Jenny ließ das Wasser laufen und hielt sich die eiskalten Hände gegen die pochende Stirn und die Wangen. Ihr Atem beruhigte sich, nur um danach sofort wieder in die Höhe zu schnellen, als ihr Blick in die Dusche fiel. Am Duschboden lag ein Plastikröhrchen mit Pillen darin, von denen bereits einige fehlten. Es konnten Smarties oder Kaubonbons sein, doch die bewahrte man nicht in solchen Ampullen auf, und sie erinnerte sich mit einem Schlag an Kevins Vergangenheit... "ich hab gedealt...", hatte er damals gesagt. Hatte er ihr jemals erzählt, damals auch Drogen genommen zu haben? Er hat es, nach dem Scheinkauf, damals doch abgestritten.
    Doch was ihr einen fiel schlimmeren, brutaleren Schlag in die Magengrube versetzte, war Kevins Dienstwaffe, die ebenfalls in der Dusche lag. Obwohl sie nichts wusste, so drangen sich in ihren Kopf die schlimmsten und grausamsten Bilder eines Kevin, der unter Drogen mit seiner Dienstwaffe in der Dusche hantierte, in einer psychischen Ausnahmesituation, in einem mentalen Black-Out. Mit zitternden Fingern ließ Jenny das Magazin herausgleiten und stellte mit Entsetzen fest, dass es bis zur letzten Patrone gefüllt war. Dass die Waffe entsichert war, ließ sie beinahe die Beine wegklappen, so dass sie sich am Waschbecken festklammern musste...

    @susan

    Ich weiss von deinen Geschichten ja, wie detailverliebt du berufsbedingt bei Krankenhausszenen bist ;) Aber da ich mich da nicht so auskenne halte ich diese Details etwas einfacher und kürzer. Ich hoffe, das ist okay.

    Krankenhaus - 20:30 Uhr

    Ben musste am Eingang des Krankenhauses seinen Ausweis vorzeigen, denn die Besuchszeit war längst um. Es war ihm auch irgendwie unangenehm, so spät noch ihm Krankenhaus, bei Semir und Andrea aufzutauchen... aber er hätte wohl wenig bis gar nicht in den Schlaf gefunden, wenn er Ayda nicht nochmal gesehen hätte, nicht nochmal mit Semir gesprochen hätte, nicht nochmal Andrea in die Arme geschlossen hätte. Er wollte der Familie einfach zeigen, dass er da war, wenn sie ihn brauchten, dass er sich ebenfalls Sorgen machte. Der Polizist wollte ja nicht lange bleiben. Soviele Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen, auf dem Weg zur Innenstadt, er ließ den ganzen Tag nochmal Revue passieren. Hatten sie Fehler gemacht? Hätten sie etwas besser machen können? Bei Ayda, oder für das Mädchen, das verbrannt ist?
    Bei Ayda entschied Ben sich für ein stummes Kopfschütteln, was sonst niemand sehen konnte, während er mit dem Mercedes eben noch an der roten Ampel stand. Hätten sie das Lösegeld bezahlt, wäre Ayda ebenfalls ins Koma gespritzt worden. Es hätte nichts geändert, jedes Kind wurde bewusstlos aufgefunden. Sie hätten gebangt und gewartet, und sie hätten es nicht selbst in der Hand gehabt. Aber bei dem Mädchen in dem Haus... hätte er da sofort auf Kevin hören sollen, der die Schreie noch gehört hatte? Hatten sie zu schnell ihr eigenes Leben gerettet? Doch als ihm die Erinnerung wieder kam, wie knapp sie aus dem Haus gesprungen waren, bevor das brennende Dach herabstürzte, entschied sich der Polizist auch hier für ein Nein, gerade als er den Dienstwagen auf dem Besucherparkplatz des Krankenhauses abgestellt hatte. Die Luft war kühl, er hatte seine grünliche Stoffjacke übergezogen und vergrub die Hände tief in den Taschen, als er gegen den aufkommenden Wind ging, der leichtes Spiel hatte, seine Frisur durcheinander zu bringen.

    Semir hatte mit der Krankenhausleitung alles geregelt. Er war Privatpatient und erreicehte, dass Andrea und er im Krankenhaus übernachten dürften. Er hatte in der Zwischenzeit weitere Kleider von zu Hause geholt, als die Tür des Zimmers, in dem Ayda alleine lag, und zwei weitere Betten bereit gestellt wurden, aufging, nachdem vorher zweimal angeklopft wurde. Ben streckte den Kopf herein und versuchte ein zaghaftes Lächeln, als er Semir und Andrea erblickte. "Hey...", ertönte seine Stimme, doch sie ertönte müde und kraftlos. Zu bedrückend war die Atmosphäre in dem Raum, als er Ayda in ihrem Bett liegen sah, die Augen geschlossen als würde sie schlafen. Semir versuchte ebenfalls ein recht misslungenes Lächeln, er freute sich dass Ben noch vorbeikam und vielleicht noch etwas erzählen konnte. Zuerst aber nahm Ben Semirs Frau Andrea fest in die Arme, die ihm leise ein "Danke, dass ihr sie gefunden habt...", zu flüsterte. "Ich wünschte, wir hätten sie gefunden, als sie noch wach war.", sagte er zur Antwort, als sich die beiden Erwachsenen wieder losließen. "Sag sowas nicht... ihr habt alles getan, was ihr konntet.", meinte die Frau und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
    Ihre Augen schimmerten rötlich, und Ben hatte den Eindruck, dass sie älter wirkte, als sonst. Auch Semirs Augen waren müde, sein Bart schien grauer als noch vor einigen Tagen. Ben konnte die psychische Ausnahmesituation förmlich spüren, die Spannung und die Bedrücktheit in dem Raum machte das Atmen schwer. "Was... was hat der Arzt gesagt?", fragte er zögerlich in Semirs Richtung, dessen erzwungenes, schiefes Lächeln wieder verschwand. "Wir können nichts tun, ausser warten. Aber je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr... dass...", er stockte kurz und musste einmal tief durchatmen: "Dass sie nie wieder dieselbe Ayda ist, die sie mal war..." Ben wusste genau, was das bedeutete.

    Mit weichen Knie ging er langsam die wenigen Schritte durch das Krankenzimmer ans Bett, auf das er sich sanft setzte. Er blickte das Mädchen an, dass so lebensfroh war, immer Späße im Kopf hatte oder mit ihrer kleinen Schwester spielte. Wie oft hatte Ben auf die beiden aufgepasst, wenn Semir und Andrea mal wieder abends etwas unternehmen wollten, er war der große "Onkel" für die beiden Mädchen, obwohl er nicht mit Semir oder Andrea verwandt war. Er war aber ein wichtiger Mensch im Leben des Mädchens und umgekehrt, so dass Ben jetzt einen dicken Klos im Hals spürte, als er das schlafende Mädchen betrachtete. Sanft, wie in Zeitlupe strich er eine Strähne zur Seite und streichte mit den Fingern über ihre sanfte Wange. "Du wirst wieder gesund, Ayda.", sagte er leise und Andrea spürte, wie ihr erneut die Tränen kamen. "Du wirst wieder rumtoben wie früher, ja?", sagte der Polizist und es schien, als würde er das junge Mädchen darum bitten. "Und dann gehen wir wieder zusammen Schlittschuh fahren, und Eis essen... versprochen." Wie sehr hätte er sich gewünscht, sie würde lächelnd die Augen aufschlagen und lachend sagen, dass sie alle nur veralbert hatte. Aber das Mädchen blieb stumm... wie ein Spielzeug, das kaputt war.
    Ben wandte sich mit deprimierten Blick von dem Kind ab und blickte zu Semir: "Wenn ihr irgendetwas braucht...", sagte er, aber sein erfahrener Kollege winkte sofort ab. "Wir haben mittlerweile alles. Wir bleiben erstmal beide bei Ayda, wir wollen sie jetzt keineswegs auch nur eine Sekunde alleine lassen." Ben verstand das natürlich und nickte zustimmend. "Ja, das ist sicher richtig.", sagte er und zog seinen Freund leicht am Ärmel, ein wenig von Andrea weg, die sich jetzt wieder ihrer Tochter widmete, in dem sie ihre Hand hielt.

    "Kevin hat Zange nochmal verhört. Scheinbar wusste er nichts von dem Sprengstoff.", sagte Ben leise, denn er wusste nicht, ob Andrea informiert war, dass bei dem Einsatz ein weiteres Kind gestorben war. Semir nickte nur, aber es schien, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg, und vor allem wieder bei seiner Tochter. "Semir.", sagte Ben nun zielgerichteter und verstärkte den Griff um das Handgelenk seines Partners. "Ja?" "Es ist deine Tochter... und du weißt, dass Kevin und ich alles für sie und euch tun würden. Also sag mir..." Semir schaute ein wenig verwirrt, bevor Ben seine Frage präzisierte: "Das LKA wird uns morgen einen Einlauf verpassen und weiter ermitteln. Sollen wir selbst weiter ermitteln? Sollen wir der Spur nach Cablonsky nachgehen?" Der junge Polizist war sich selbst nicht sicher, ob sie die Ermittlungen selbst fortsetzen sollten... also sollte Semir es entscheiden. Brauchte er es für seinen Seelenfrieden, nach den Männern zu suchen, die Ayda dies angetan hatten? Würde er sich dann besser fühlen?
    Aber Semirs Augen waren müde, er blickte kurz zu Boden und dann wieder in Richtung seiner kleinen Tochter. Abwesend schüttelte er den Kopf: "Ben... das bringt doch nichts.", sagte er so resignierend, dass es den jungen Polizisten innerlich erschrak. "Es würde Ayda nicht helfen, wenn wir nun alles aufs Spiel setzen. Ich würde den Kerl zwar gerne so schnell wie möglich hinter Gitter sehen, aber...", wieder schweifte sein Blick auf das Krankenbett. "Ich kann hier nicht weg. Ich kann Ayda nicht alleine lassen. Wenn etwas mit ihr passiert... wenn sie aufwacht, und niemand ist da." Semir blickte zurück zu Ben, der an den Lippen seines Partners hing. "Das ist es nicht wert, Ben." Der nickte und akzeptierte Semirs Entscheidung. "Ich dachte, es sei dir vielleicht wichtig... deswegen habe ich gefragt." Der erfahrene Polizist, der Vater presste die Lippen zusammen und legte eine Hand auf die Schulter seines besten Freundes. "Ich weiß. Und ich danke dir dafür."

    Ben würde für Semir, für Andrea und für Ayda durch die Hölle gehen, und er hätte seinen Job aufs Spiel gesetzt, wenn Semir zu ihm gesagt hätte: "Bring mir den Kerl." Aber er wollte nicht. Es war Semirs Tochter, und er entschied und daran würde Ben sich halten. Die beiden Polizisten umarmten sich innig, und Semir war trotz aller Sorge unheimlich froh, dass er neben seiner Frau eine so wichtige enge Stütze hatte, auf die er sich immer und überall verlassen konnte. "Danke, dass du noch gekommen bist.", sagte Semir leise.