Semir's Haus - 18:30 Uhr
Alle waren noch geschockt von der Situation, dem wütenden Mob vor Semirs Haus, nachdem Unbekannte dort eine Flagge des islamischen Terrorstaat IS gehisst hatten. Andrea zitterte am ganzen Leib, als sie mit Ayda das Haus betrat, begleitet von Semir und Ben. Der erfahrene Polizist versuchte seiner Frau ruhig zu zu reden um sie zu beruhigen, doch auch er fühlte sich aufgewühlt, einerseits über die Reaktion seiner Mitmenschen, andererseits über die Kreativität und Skrupellosigkeit der Neo-Nazis, denen er dieses besondere "Attentat" anrechnete. Daran hatte er eigentlich keinen Zweifel, es wäre wohl ein unglaublicher Zufall, nachdem zwei Typen heute morgen noch versuchten seine Nachbarin gerade mit diesem Thema zu verunsichern.
Ayda nahm die Situation eher wenig mit, hatte sie doch gar nicht so recht verstanden, was da passierte. Sie lief in ihr Zimmer und war überglücklich, endlich wieder daheim zu sein, nach so langer Zeit im Krankenhaus. Semir ließ die Tür zum Flur und nach oben zu den Kinderzimmern offen, dass er ein wenig hören konnte, was Ayda oben tat. Er hatte ein wenig Angst, dass sie aufgrund ihres Komas hin und wieder die Orientierung verlieren würde, und dann vielleicht Angst bekäme. Aber bis auf leichte Wortfindungsstörungen und dass sie hin und wieder Dinge vergaß, die man ihr wenige Minuten vorher erst gesagt hatte, waren keinerlei Nachwirkungen aufgetreten, die die Ärzte als "möglich" beschrieben hatten, und darüber waren die Eltern des kleinen Mädchen auch sehr froh.
Semir saß bei Andrea auf der Couch, während Ben, der sich in Semirs Küche mittlerweile fast so gut auskannte, wie in seiner eigenen, für die Frau seines besten Freundes einen Tee zubereitete. "Semir... ich hab solche Angst, dass diese Kerle es auch auf Ayda oder Lilly abgesehen haben.", sagte die Frau mit zitternder Stimme. Mit Grauen dachte sie an die Tage zurück, vor einigen Wochen, als Ayda von drei Männern entführt und ins Koma gespritzt wurde. Noch so einen Schicksalsschlag würde sie wohl nur schwer verdauen. Ein "Keine Angst, das wird nicht passieren...", um sie zu beruhigen, kam Semir nicht über die Lippen... denn genau das hatte er vor Wochen auch gesagt, nachdem der Fall mit den Komakindern aufkam, und beide Elternteile befürchteten, es könne auch ihrem Kind zustoßen. "Wir werden unser Haus überwachen lassen, und die Kinder bleiben hier drin. Wir fahren sie zur Schule, und holen sie ab.", bestimmte Semir, auch wenn er mit diesen Anweisungen Andrea nicht unbedingt beruhigte. Aber immerhin nahm er die Bedrohung ernst, dachte sie, und tat alles, damit nichts passierte.
Ben kam mit einer Tasse Tee zurück ins Wohnzimmer und gab sie Andrea in die Hand, die sich bedankte. Tee beruhigte sie oft, ob sie sich nun über etwas bestimmtes ärgerte, ob sie gerade mit Semir gestritten hatte oder die Kinder mal wieder unausstehlich waren... Tee war für sie ein Wundermittel. Das Zittern wurde langsam weniger, und die freie Hand suchte die Hand ihres Mannes. "Warum tun die das... nur weil ihr einen Freund von ihnen verhaftet habt, der längst wieder draußen ist?", fragte Andrea verständnislos. Ben zuckte mit den Schultern: "Das kann ich mir mittlerweile nicht mehr vorstellen. Ich glaube, da muss mehr dahinter stecken."
Der erfahrene Polizist, der jetzt zwischen Andrea und Ben saß, sah zu seinem Partner herüber. "Aber was soll das sein? Welchen Nutzen haben sie, wenn sie einem Türken das Leben schwer machen?", fragte er. "Ich meine, irgendeine Intention muss ja dahinter stecken. Wollen sie erreichen, dass ich das Land verlasse? Ein Lebzeit-Beamter, der sein ganzes Leben schon in Deutschland wohnt? Warum gehn sie nicht zu einem Flüchtlingsheim?" Ben wog den Kopf hin und her, auf Semirs Fragen wusste er keine Antwort. "Das müssen wir halt eben herausfinden. Aber der Typ, den ihr verhaftet habt, ist frei. Warum immer noch solche Aktionen?" "Aber wenn es nicht um Rache geht, warum haben sie dann Kevin zusammengeschlagen? Wenn es ihnen nur darum geht, dass ich Türke bin, warum der Anschlag auf ihn?" Ben sah auf seine Knie, verzog den Mund zu einer fragenden Miene. "Ich weiß nicht...", meinte Semir und unterbrach damit die Stille. "Ich glaube nicht, dass es ihnen darum geht, ob ich Türke oder Deutscher bin. Denen geht es um Rache für die Verhaftung... vielleicht macht es ihnen mehr Spaß, WEIL ich Türke bin." Der junge Polizist tätschelte seinen Partner freundschaftlich auf den Oberschenkel. "Wir werden es herausfinden, das verspreche ich dir. Ich lasse euch jetzt mal alleine.", sagte er und stand vom Sofa auf, um sich selbst auf den Heimweg zu machen. Semir bedankte sich bei ihm für seinen Hilfsbereitschaft.
Diese würde Ben selbst gerne in Anspruch nehmen, dachte er sich, als er im Wagen auf dem Heimweg war... getrieben von einer leichten Paranoia sah er sich immer wieder im Rückspiegel um, ob sich nicht vielleicht doch irgendein Auto an seine Fersen geheftet hatte. In Rücksicht auf Semirs momentane Lage hatte er immer noch nicht mit ihm über seine Angstgefühle gesprochen. Als er zu Hause ankam, fühlte er sich elend und hundemüde...
Jenny's Wohnung - 07:30 Uhr
Die junge Polizistin saß vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und kämmte sich die Haare. Sie war in Gedanken versunken, blickte in den Spiegel und sah darin den Oberarm ihres Freundes, der über der Bettdecke auf dessen, auf der Seite liegenden Körper, lag. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schlief noch. Es hatte Jenny verwundert, dass er heute nicht schon wieder bettelte, arbeiten gehen zu dürfen, aber sie sprach ihn auch nicht darauf an und war froh, dass er sich noch schonte nach seiner Gehirnerschütterung. Doch der Gedanke an den Karton, der immer noch, scheinbar unberührt auf dem Boden stand, legte sich wie ein Schatten über sie. Sie hatte eine Grenze überschritten, was ihr im Nachhinein leid tat... auch wenn sie nun Dinge über Kevin wusste, mit denen sie den Charakter des jungen Mannes vielleicht besser einschätzen konnte. Aber das schlechte Gewissen plagte sie, und es nahm auch nicht ab dadurch, dass Kevin gestern scheinbar, vielleicht von den Schmerzen oder den Tabletten, einen ganz schlechten Tag hatte.
Sie kochte, er stand nochmal auf und aß allerdings nur ein paar Bissen. Auf Fragen von Jenny reagierte er wortkarg, von selbst redete er überhaupt nicht. Jenny konnte nicht erkennen, dass er in irgendeiner Form böse oder sauer speziell auf sie war, er wirkte einfach wie er immer wirkte, wenn er eine schlechte Phase hatte. Abends hatte die junge Frau in ihr Tagebuch geschrieben: "Traute sich heute überhaupt nicht aus seiner Höhle. Schmerzen oder die Schmerztabletten? Bekam keine wirkliche Antwort, als ich fragte. Oder fühlt er mein schlechtes Gewissen...?" Die Frage, die sie dem Tagebuch stellte, wollte sie selbst nicht zu Ende denken.
Jenny zog sich Kleider an, bevor sie nochmal ins Schlafzimmer ging, Kevin durch die Haare streichelte und ihm einen sanften Kuss auf die Wange gab, bevor sie das Haus verließ. Er lag im Bett, friedlich und scheinbar zufrieden, er atmete ruhig und gleichmäßig, sein Gesicht war nicht, wie sonst verkrampft oder zuckend, wenn er wie so oft seine Alpträume hatte. Er schien gut zu schlafen und plötzlich schöpfte Jenny wieder Hoffnung, dass der heutige Tag besser werden würde, und sie verdrängte die kleine Ahnung, dass er ihr schlechtes Gewissen gespürt hatte. Sie verließ das Haus und fuhr in ihren Wagen Richtung Dienststelle...
Kevin aber war bereits seit Stunden wach. Der Schlaf am Nachmittag, und die Tatsache, dass er gestern früh zu Bett ging, ließen ihn bereits gegen halb fünf wach werden, und immer nur dösen. Als Jenny ihn küsste, war er im Halbschlaf, die Augen zu schwer, und der Drang vielleicht doch nochmal einzuschlafen, zu groß. Gestern wuchs in ihm die Erkenntnis, dass Jenny nicht von sich aus auf ihn zukam, um ihm zu sagen, dass sie in den Karton reingeschaut hatte. Hätte sie das getan, wäre es dem Polizisten schwer gefallen, wirklich böse zu sein... doch sie tat es nicht. Sie sagte nichts dazu, sie tat als wäre alles wie immer und mit der Erkenntnis wuchs in Kevin die Enttäuschung über ihre Unehrlichkeit. Doch war er nicht auch selbst unehrlich? Wäre es nicht ehrlicher von ihm gewesen gestern sofort zu sagen: "Hey, ich hab dich gesehen, wie du die Sachen aus dem Karton gelesen hast?" Wer war nun der Gute, und wer der Böse in diesem Spiel?