Beiträge von Campino

    Bahngleise - 14:20 Uhr


    Blaulicht zuckte über das weite Feld, um den stehenden Zug hatte sich eine Menschentraube aus weißen Gestalten gebildet, die Spuren am Zug entnahmen, sowohl an der abgerundeten Front als auch an den Rädern. Hotte und Dieter, die ebenfalls kamen, mussten mit Engelszungen die geschockten Passagiere beruhigen, während der Zugführer von einem Notfallseelsorger im Krankenwagen versorgt wurde. Einige Meter hinter dem Zug waren ebenfalls die Tatortermittler beschäftigt, Spuren zu sichern. Afriel, der eigentlich Tobias hieß, hatte den Zusammenprall mit dem Zug natürlich nicht überlebt. Schlimmer noch... sein Körper wurde durch die Wucht furchtbar zugerichtet, so dass man ihn nur anhand seines Ausweises, den er bei sich hatte, identifizieren konnte.
    Meisner, Leiter der Rechtsmedizin, kam mit etwas betretenem Gesichtsausdruck zu Ben und übergab ihm den blutigen Ausweis in einem Papiertütchen. "Ja, was soll ich sagen. Tod durch Allerlei, der Zug hatte ne enorme Geschwindigkeit. Ob das nun Absicht oder Unachtsamkeit des Jungen war kannst du vermutlich eher sagen." Der Polizist nahm das Tütchen und nickte ein wenig geistesabwesend. "Alles klar bei dir? Brauchst du den Seelsorger?" "Nein danke, Meisner. Du weißt doch, was wir auf der Autobahn jeden Tag sehen.", wurde der grauhaarige Mann beruhigt. "Ja... da läufst du den Unfallopfern aber nicht vorher hinterher." Der Rechtsmediziner klopfte Ben auf die Schulter und ein Spezialunternehmen begann den Zug schnell zu säubern, damit niemand am Bahnhof umkippte. Ebenfalls wurde ein Ersatz-Zugführer zum Ort des Geschehens gebracht, der Zug war noch fahrtüchtig, und man konnte die Fahrt nach einer Stunde Wartezeit fortsetzen.


    Semir saß, eingehüllt in eine Decke zitternd im Auto, die Heizung auf Hochtouren. Er war im Dickicht des Gartens vom Weg abgekommen und ins Leere getreten, das Gleichgewicht verloren und im eiskalten Gartenteich gelandet. Danach hatte er seinen Partner und den Flüchtenden aus den Augen verloren, kurz auf der Straße in den Wald abbiegen sehen und dann triefend in den BMW gestiegen, mit dem Ergebnis dass er im feuchten Waldweg stecken blieb. Ein Traktorfahrer, der zufällig während der Tatortaufnahme durch den kleinen Wald zu den Feldern fuhr, zog den BMW freundlicherweise aus dem Morast. Jetzt sah der erfahrene Kommissar, dass Ben endlich zurückkam, und man in die warme Dienststelle fahren konnte.
    Das erste, was Ben spürte, als er sich in den Sitz gleiten ließ, war ein unangenehme Feuchte an Po und Rücken. Natürlich war der komplette Sitz nass, dort wo Semir eben gesessen hatte. Mittlerweile hatte er die Klamotten bis auf die Unterhose ausgezogen und sich in die Decke des Krankenwagens gewickelt, weswegen er den (feuchten) Fahrersitz seinem Partner überließ. "Du bist undicht.", meinte er kurz angebunden und warf Semir den durchsichtigen Plastikbeutel in den Schoß.


    "Hmm, war also wirklich der Junge.", sagte Semir ein wenig betroffen, und Ben nickte stumm. Es ging ihm natürlich an die Nieren, was gerade passiert war. Der Junge war gerade mal 18, ja er hatte aus Sicht der beiden Polizisten zwei Menschen scheinbar umgebracht und hatte versucht, den eigenen Bruder zu töten. Und es war nicht der erste Verbrecher, der bei seiner Flucht ums Leben kam, aber trotzdem war es immer eine schwere Situation für einen Polizisten. "Alles klar?", fragte nun auch Semir und sah zu seinem Partner, der langsam nickte. "Ich versteh das nicht. Der hätte es niemals schaffen können, das war glasklar. Was hat er sich dabei nur gedacht?" "Vielleicht wollte er es nicht schaffen.", vermutete Bens Partner, doch der schüttelte den Kopf. "Nein... dann wäre er auf den Gleisen stehen geblieben, und hätte nicht versucht, noch weiter zu laufen. Der wollte drüber..."
    "Na komm, fahr los. Ich hab kalt und will was Warmes anziehen, ausserdem haben wir noch zwei ganz schwere Aufgaben vor uns.", sagte Semir und meinte damit einerseits sicherlich der Besuch bei Dennis im Krankenhaus, während Streifenbeamte und Seelsorger zu den Eltern fuhren. Und natürlich am Feierabend Jenny zu unterrichten, was Hartmut am Handy von Kevin rausgefunden hatte. Dieser Gang würde den Polizisten sicherlich um einiges schwerer fallen, als Ersterer.


    Gabriels Haus - 15:00 Uhr


    Das flackernde Licht der Kerzen, die Gabriel aufgestellt hatte, war das einzige was den abgedunkelten Raum erleuchtete. Eine Kerze links, eine Kerze rechts auf dem Schreibtisch und davor der Mann mit den langen blonden Haaren, kniend und die Hände gefaltet. Er betete mit geschlossenen Augen, flüsternd in einer fremdem Sprache. Für ihn war Afriel nicht tot... Engel konnten nicht sterben. Er wurde nur zu Gott zurückgenommen zu den anderen Brüdern und Schwestern, die noch nicht bereit waren für den Krieg gegen die Menschen. "Herr, ich danke dir für deine Gnade Afriel gegenüber. Dass du ihn zurücknimmst in dein Reich, auf dass er gestärkt und mit Gottes Willen zurückkehrt um den Kampf fortzusetzen."
    Afriel hatte seine erste Aufgabe nicht geschafft, er hatte es nicht geschafft den Sünder, der Vater und Mutter nicht ehrte, zu bestrafen. Die Engel sahen es als ihre Aufgabe das zu tun, was Gott seit Erschaffung der Welt und der Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies, versäumte. Die Menschen zu bestrafen, dass sie Gottes Geboten nicht folgten, Mutter Natur ausbeuteten und misshandelten und die göttlichen Geschöpfe, die Tiere schädigten. Dass es Ungläubige gab, die die Existenz Gottes generell anzweifelten oder andere, falsche Heiländer anbeteten.


    Von ihnen musste die Erde befreit werden, der Mensch hat die Erde ausgebeutet und der Vernichtung preisgegeben. Dies war die Überzeugung der Engel, die sich in der Hierarchie übergangen und unterdrückt sahen. Sie waren göttliche Geschöpfe und standen in ihrem Selbstverständnis über dem Menschen, direkt unter Gott. Doch sie fühlten sich von Gott vernachlässigt, der den Menschen mehr liebte und ihm deswegen großzügig alles verzieh. Nur einen seiner Engel bestrafte Gott nun wegen seines Versagens, und beorderte ihn aus dem Krieg zurück. Während alle anderen Engel sich Gott zumindest im Bezug auf die Menschen widersetzten, waren sie dennoch demütig wie ihre Natur und Afriel hatte scheinbar nicht die Kraft, sich dem göttlichen Befehl zu widersetzen.
    Gabriel bekreuzigte sich und stand auf. Er pustete beide Kerzen und betete noch dreimal das Ave Maria im Stehen, während er die Augen fest zupresste. Vor ihm formte sich das Bild eines Menschen, der es wagte einen Engel zu jagen, jenes von Gott erschaffende Geschöpf, das ohne Sünde und Schuld war. Der Mensch, den Gabriel als Sünder sah, und der sich vor seinem inneren Auge manifestierte, hatte dunkles längeres Haar. Je konkreter das Bild wurde, desto lauter und zorniger betete der Engel das Ave Maria und desto fester verkrampften sich seine Finger ineinander...

    Villengegend - 13:45 Uhr


    Afriel, ausserhalb seiner Fantasie Tobias genannt, kauerte hinter dem Pult. Das Knacken, das im Flur leise begann und sich langsam immer näher in Richtung Wohnzimmer bewegte, leiß ihn in Deckung gehen. Gabriel war gerade eben noch bei ihm, hatte ihm Mut zugesprochen. Jetzt wünschte sich der Junge, sein Vorbild wäre nicht so schnell wieder gegangen und könnte sich mit ihm den Wächtern der irdischen Gesetze entgegen stellen. Alleine fehlte Afriel der Mut, gerade nach dem prägenden Erlebnis mit Dennis. Er spürte seinen ganzen Körper zittern, und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte diesen körperlichen Reflex nicht abstellen. Ausserdem hatte er den Eindruck, sein Herzklopfen sei so laut, dass derjenige, der gerade in die Villa kam, es schon an der Haustür hören konnte.
    Noch schlimmer wurde Afriels Angst, als er das leise Flüstern hören konnte, aber nicht verstand. Es klang so weit weg und doch so nah, dass er sich einbildete heißen Atem am Ohr zu verspüren und sich zuckend umdrehte, was ein weiteres Knarzen des Bodens verursachte. Er wusste dass die Terassentür nur angelehnt war, und er wusste dass er vom Garten aus ums Haus zurück auf die Straße laufen konnte. Allerdings hatte der Junge Angst, zu sehr zu zittern und sofort, wenn er versuchte wegzulaufen, hinzufallen.


    Als er dann jedoch bemerkte wie zwei Männer das Wohnzimmer leise betraten, wurde übernahm nicht der Mut, sondern die Panik die Macht in seinem Körper, was letztendlich in beidem gipfelte... der Flucht. Es wurde laut, er spürte dass er über zwei Stühle stolperte als er hinterm Schreibtisch hervorschnellte und durch die dünnen Vorhänge hinaus ins freie brach, es schaffte aber nicht hin zu fallen. "Stehenbleiben, Polizei!", rief einer der Männer, doch Afriel traute sich nicht, sich umzudrehen. Laufen, rennen, das war das Einzige was ihm sein Körper befahl. Der Garten war dicht, der Rasen hoch und feucht und seine Hose bis zu den Knien schnell durchnässt. Man konnte leicht hier die Orientierung verlieren, doch Afriel kannte den Garten noch, als er weniger überwuchert war, wusste wann er dem Teich ausweichen musste und wann er abbiegen musste, um wieder Richtung Straße zu rennen.
    Die beiden Polizisten wussten das nicht, und das lautsche Platschen verriet ihm, dass einer der Männer dem Teich offenbar nicht ausgewichen war. "Scheisse, verdammte! Hol dir den Jungen!", rief er prustend, als Afriel nun die Straße ansteuerte. Als er diese erreichte und mehr auf den Bordstein fiel als lief, traute er sich zum ersten Mal umzublicken. Nun war nur noch ein Mann hinter ihm, ein großer junger Kerl mit langen Haaren, der nochmal schreiend befalr, stehen zu bleiben.


    Afriel entdeckte in sich unbekannte Kräfte, die Angst ließ ihn nicht müde werden und seine Beine begannen wieder zu rennen. Auf dem Gehweg lief es sich leichter und gefühlt schneller, er hatte einen ordentlichen Vorsprung und rannte als ginge es um sein Leben. Seine Lungen begannen zu brennen, sein Atem wurde schneller, aber die Furcht trug ihn von dem Verfolger davon. Hasen schlugen Haken in Panik, um Verfolger zu verwirren, Afriel dachte daran in diesem Moment weniger, als er zwischen zwei Villen in einen kleinen Wald abbog. Er wusste, dass er von hier aus aufs freie Feld kam, bis zu den aufgeschütteten Gleisen der deutschen Bahn. Er hatte keine Angst zu sterben, er konnte nicht sterben, er war ein Engel. Aber er hatte Angst, eingesperrt zu werden, Angst, dass der Mann hinter ihm ihm wehtat.
    "Verdammt nochmal, bleib stehen!!", keuchte der Mann hinter ihm auch bereits sichtlich angeschlagen von der Lauferei, aber er hörte sich laut und dicht an. Ein kurzes Krachen ließ Afriel wieder umsehen, und er konnte gerade noch sehen wie sein Verfolger sich aufrappelte, nachdem er ihm Wald gestolpert war. "Fuck...", entfuhr es dem Typ, bevor er wieder die Verfolgung aufnahm. Der Junge sah bereits den Hügel, wie eine Art Damm auf dem die Schienen verliefen. Er sah auch den Zug sich nähern und wusste, dass es seine Chance war. Ihm konnte nichts passieren, während sein sterblicher Verfolger warten musste...


    Gabriel, der zu Fuß auf dem Weg zurück zu seinem Haus war, hatte seinen Schützling nur kurz ums Eck in den Wald laufen sehen, dann den Verfolger den er als Polizist aus dem Krankenhaus identifizierte. Er spürte, wie auch sein Herz begann zu schlagen, er machte auf dem Absatz kehrt und lief im Respektabstand hinter den beiden durch den Wald. Kurz musste er anhalten und im Gebäusch kauern, weil er Angst hatte, der Polizist könnte sich umdrehen, nachdem er der Länge nach auf den Waldboden geschlagen ist. Durch die Sorge war unbegründet, Ben hatte ausschließlich den Blick auf den flüchtenden blonden Jungen vor ihm gerichtet, der jetzt Kurs auf die Bahngleise nahm. Erst kam Ben, dann kam Gabriel aus dem Wald, der Engel darauf achtend, vom Polizisten nicht entdeckt zu werden.
    "Bleib stehen! BLEIB STEHEN!!", rief der Mann noch laut, als Afriel den Hang hinauf kletterte, um über die Gleise zu laufen. Das dröhnende Hupen des Zuges übertönte das Tosen, das er verursachte. Afriel war erst als kleiner Punkt an den Schienen für den Zugführer sichtbar, die Geschwindigkeit des Zuges ließ ihn aber in kürzester Zeit zu einem ausgewachsenen Jungen heranwachsen, der tatsächlich aufs Gleisbett lief. Gabriel schluckte und blieb stehen, er sah die blonden Haare noch für einen Moment auf dem höchsten Punkt des Dammes, gerade mitten im Gleisbett als der Zug mit einem dumpfen Schlag vorbeifuhr.


    Ben hatte gerade den Hang erreicht, als der Zug vorbeikrachte, und auch er konnte das dumpfe, ekelhafte Aufschlagen von Afriels Körper auf den zwar abgebremsten aber immer noch unglaublich schnellen Schnellzug hören. Er hielt inne, schloß die Augen und drehte den Kopf weg, denn er wusste, dass die Verfolgung hier zu Ende war. Der Zug fuhr und fuhr, das Geräusch des Fahrtwindes und das Quietschen stehender Eisenrollen auf Schienen dröhnte in seinem Ohr und der Wind riss an seinen Haaren. Er wünschte sich, der Zug würde nie enden, und er müsse nie aufblicken und nach oben klettern um zu sehen, was der Zug von dem gerade flüchtenden Jungen hinterlassen hatte, der den Überstieg der Schienen vor dem Zug nicht geschafft hatte...

    Köln - 13:00 Uhr


    Der Apparat brauchte nicht lange, bis er in Bewegung gesetzt wurde. Die schwerste Hürde war es eher, im Krankenhaus durchzusetzen dass Dennis seine Aussage auch unterschreibt um es als Beweismittel geltend zu machen, weil man Fluchtgefahr befürchtete. Schließlich wusste der Killer, dass Dennis möglicherweise überlebt hatte, und ihn als Bruder identifizieren konnte. Alles danach rollte, auch aufgrund des öffentlichen Druckes der Berichterstattung in Zeitungen, sehr schnell. Haftbefehl, Fahndung und ein Durchsuchungsbeschluß für die elterliche Wohnung wurde schnell erlassen. Während Beamte vor allem das Zimmer des 18jährigen auf den Kopf stellten, versuchten Ben und Semir die aufgelöste Mutter und den geschockten Vater zu beruhigen.
    Im Zimmer des Jungens fand sich, ausser einer Bibel, nichts auffälliges, auch die Eltern konnten sich sein Verhalten, sowie die Dinge die er während des Mordversuches gesagt hatte, nicht erklären. Semir, als Vater zweier Kinder, hatte den Eindruck dass die Eltern überhaupt nicht über ihre Kinder Bescheid wussten. Auch mit den Namen Trauge und Greuser, die beiden Mordopfer, konnten sie nichts anfangen. Was hatte ihr Sohn schon mit einem gerade erst freigelassenen Kinderschänder und einem Bank-Manager zu tun? Sie hatten keine Erklärung dafür, keine Erklärung warum ihr kleiner Junge plötzlich den älteren Bruder töten sollte...


    Auch Hartmut wurde mit ins Boot genommen, er sollte die letzten Handydaten von Tobias lokalisieren. Gerade als die Beamten einpackten, klingelte Semirs Telefon. "Semir? Das letzte Signal kam aus einer Villengegend am Stadtrand." Gerade ging der Kommissar mit seinem besten Freund die Treppen des Mehrfamilienhauses herunter und stöhnte: "Da gibts doch mehr Park und Wald, als Villen... da brauchen wir ne Hundestaffel." "Möglich, aber ich hab da ein Tipp für euch. Da steht eine alte Villa, die seit Jahren unbewohnt ist und wo man sich gut verstecken kann. Ein herrlicher Ort für Geisterjäger oder Lost-Places-Fotografen." "Lost-Places?", fragte er nochmal nach, und Ben grinste: "Der alte Mann kann mit solch neumodischen Begriffen nichts anfangen.", rief er, für Hartmut gut verständlich, in den Hörer.
    "Lost Places nennt man Orte, die verlassen sind. Verlassene Vergnügungsparks, Fabrikanlagen, Wohngebiete. Endzeitstimmung und so.", erklärte Hartmut, für seine Art, schon sehr verständlich. "Weiß ich doch... und du machst sowas?" Jetzt schien Hartmut sich etwas zu genieren und druckste herum. "Naja... es gibt da technische Dinge, die bei einer Geisterjagd ganz interessant sind... EVPs zum Beispiel." "Na, das kannst du mir ja nächstes Mal erzählen, Ghostbuster.", grinste Semir und erhielt dann die Adresse von Hartmut.


    Die Fahrt ging von der Innenstadt durch ein Gewerbegebiet heraus an den Stadtrand. Semir und Ben waren erst einmal alleine, das SEK in Bereitschaft. Erst wenn sie sicher waren, ob der Junge sich wirklich in der Villa aufhielt, wollten sie den Großeinsatz anleiern und der Chefin versprachen sie über Funk hoch und heilig, bei unklarer Lage die Experten hinzu zu ziehen. Darüber sprachen sie jetzt, als sie vor dem großen Eisentor anhielten. "Was stellt die Chefin sich vor? Sollen wir mit dem Megaphon mal freundlich fragen, ob jemand zu Hause ist?", fragte Ben und sah sich etwas um. "Lass uns doch einfach mal ganz unverbindlich nachschauen." Semir ging voran bis zum großen Eisentor, dahinter lag die Auffahrt zur Garage und zum Eingang, wo rechts und links das Unkraut und Büsche wucherten.
    Ben besah das Schloß des Eisentors, während Semir ihn auffordernd ansah: "Räuberleiter?" "Lass mal, ich geh durch die Tür.", sagte der großgewachsene Polizist und drückte die Klinke nach unten, was das große Tor aufschwingen ließ. Semir hatte angenommen, das Tor wäre sicherlich abgesperrt und streckte seinem feixenden Freund die Zunge raus. Dann folgte er ihm die Einfahrt hinauf. "Hier müsste auch mal wieder ein Gärtner ran." "Kann mir gut vorstellen, dass das Haus hier anziehend ist für Geister-Fans.", sagte Semir und betrachtete die abgewetzte Front des Hauses, das große düstere und bedrückende Erscheinungsbild. Hängende alte Fensterläden aus Holz, von denen die Farbe abblätterte und tlw zerissene Vorhänge waren zu sehen.


    An der Tür machten die zwei halt, die schwere Eichentür war nur angelehnt. Semir testete lautlos, ob es Absicht war oder technischbedingt, und stellte sofort fest dass die Tür gar nicht richtig schloß. "Na, wie klar ist die Lage jetzt?", fragte Ben und sah seinen Partner an, der oftmals solche Entscheidungen selbst treffen wollte. "Noch nicht klar genug...", meinte der und zog seine Waffe aus dem Holster, was Ben ihm sofort gleichtat. Der kleinere Polizist ging vor, die Waffe im Anschlag und die Augen gewöhnten sich schnell an die schummrige Dunkelheit, denn vom trüben grauen Wetter drang kaum Licht durch die Vorhänge. Der Holzboden knackte und knarzte unter den Füßen der beiden Polizisten, sie standen in einem Flur, an dessen Ende eine verzierte Glastür lag.
    Die Wände waren mit Graffiti beschmiert, die Fototapete aus den 20er Jahren teilweise verwittert und herausgerissen. Etwas Geröll, das mutwillig aus der Wand geschlagen wurde, lag am Boden so dass ständig Stolpergefahr für die beiden Polizisten herrschte, ein paar alte Lampen hingen der Wand statt an der Decke, wie es im vorherigen Jahrhundert modern war. Das Betätigen des Kippschalters brachte allerdings keinen Effekt. Die Luft war stickig und staubig, in den zwei Räumen, die rechts und links vom Flur abzweigten war niemand drin.


    Sie hätten es nicht zugegeben, aber die Atmosphäre in dem Haus waren bedrückend und beiden Polizisten klopfte das Herz bis zum Hals. Ben gab später zu, dass er froh war, dass wenigstens Tag draussen war und keine Mitternacht. "Wenn wir hier noch in den Keller müssen, steige ich aus.", flüsterte er leise, als sie nun gemeinsam auf die Glastür zugingen. Diese war nun verschlossen, so dass Semir die Metallklinke in Zeitlupentempo nach unten drückte um keine Geräusche zu verursachen. Genauso langsam drückte er die Tür in den Raum, in den sie eintreten wollten. Auch hier drang nur schummrig Licht durch eine Terassentür herein, hier standen alte zerissene Sofas, und allerlei Möbiliar aus dem vorherigen Jahrhundert, teilweise umgestoßen und zerstört. An einer Wand stand gesprayt: "Das Fleisch gefallener Engel", was Semir und Ben eine Gänsehaut bereitete...
    Ein Knacken, das diesmal nicht vom Boden herkam, ließ sie herumwirbeln, ihr Blick ging auf eine Ansammlung von Stühlen, die alle in Richtung eines Tisches, einer Art Pult gerichtet waren... wie ein Schulsaal, in dem vorne jemand einen Beitrag zum Besten gibt, und vor einem Publikum spricht. Die Situation in diesem Haus war so surreal, dass die beiden Polizisten für einen Moment das Atmen vergaßen...

    Krankenhaus - 10:30 Uhr


    Semir hatte aus eigenen Stücken entschieden, nicht zurück zur Dienststelle zu fahren und Jenny sofort von den neuen Erkenntnissen zu erzählen. Er schob es nicht auf, weil er sich sträubte ihr etwas davon zu erzählen, sondern weil er Jennys Arbeitstag nicht schon wieder gefährden wollte. Sie sollte ihre Schicht machen, und am Feierabend informiert werden, dann hatte man Zeit, sie zu unterstützen, sie konnte verarbeiten. Ein Zusammenbruch auf der Dienststelle wäre fatal, und das brachte er auch schonend Ben bei. "Ich finde das nicht gut...", sagte er nur immer wieder, denn er hätte Jenny am liebsten sofort Bescheid gesagt, weil er der Meinung war, dass sie ein Anrecht darauf hätte. Ausserdem befürchtete der junge Kommissar, dass sie es den beiden Freunden übel nehmen würde...
    Aber der ältere Polizist hatte entschieden, und als Ben merkte dass es Richtung Innenstadt ging statt auf die Autobahn, blieb er stumm und protestierte nicht. Er dachte an Kevin, an ihren Streit bevor er nach Kolumbien geflogen war, an die letzten Textnachrichten, und an das Bild, das sie gerade gesehen hatten. Es tat so unglaublich weh, einen Freund zu verlieren, aber noch mehr tat es weh die Frau zu sehen, die diesen Freund liebte, die ein Kind von ihm im Leib trug, und die er, Ben, einfach nicht trösten konnte.


    In den weißen Kleidern fiel Gabriel auf den Krankenhausfluren überhaupt nicht auf. Flexibel zu sein, wenn sich Gelegenheiten ergeben, gehört zu seinen Stärken. Er war gerade bei Afriel in der Villa angekommen, als er einen Anruf erhielt, dass sich der Sünder, an dem sein junger Engel versagt hatte, just in dem Krankenhaus behandelt wurde, in dem eine andere Frau seiner Gemeinschaft arbeitete. Nun musste er handeln, musste er schnell sein und konnte so vielleicht noch drohendes Unheil an seinem Schützling abwenden. Das Messer mit der geschärften Klinge trug er in der Innentasche seiner Jacke, sein blonder Pferdeschwanz bewegte sich bei jedem Schritt ein wenig hin und her, und er wich den Blicken der Krankenschwestern aus. Einige hielten den Mann tatsächlich für einen Arzt, den sie allerdings nicht kannten, während Gabriel selbst gar nicht beabsichtigt hatte, als Arzt durchzugehen... er war lediglich ein Besucher des schwer verletzten Dennis.
    Die Frau am Empfang nannte ihm das Stockwerk und das Zimmer, auf dem der Schwerverletzte lag, und der Fahrstuhl brachte den Engel auf die jeweilige Etage. Mit aufmerksamen Blick nahm er alles wahr, was um ihn herum passierte, er sah die Nummern an den Wänden, um das richtige Zimmer zu finden.


    Gerade als er auf den richtigen Flur einbog, blieb er stehen. Er konnte sich anhand der Nummern schnell ausrechnen, welche Tür das Zimmer des Sünders war... es war genau die Tür, in die gerade zwei Männer mit einer Krankenschwester hinein gingen. Gabriel blieb stehen und sein Gesicht erstarrte. Ein kleiner Mann mit kurz geschorenen Haaren und ein größerer in Lederjacke und längeren abstehenden Haaren... sie waren sicherlich keine Freunde des Mannes, so wie sie von der Frau in Weiß in das Zimmer geführt wurden. Gabriel war zu spät... die Polizei war bereits da. Ein normaler Mensch hätte in diesem Moment vermutlich geflucht, aber er unterließ dies tunlichst. Auf dem Absatz kehrte er um und verließ das Krankenhaus auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war.
    Für Afriel war es nun umso wichtiger, in dem Versteck der Villa zu bleiben. Unter Menschen, da war Gabriel von überzeugt, galt das Wort "Bruder" nicht viel. Ausserdem bildete sich der Sünder sowieso nur ein, dass Afriel sein Bruder war, denn in Wahrheit war Afriel natürlich ein Engel und konnte überhaupt nicht der Bruder eines Menschen sein. Nun musste er für den Schutz seines Schützling sorgen, solange es möglich war... und dafür hatte er sich auch das Gesicht der beiden Männer gut eingeprägt, die seiner Seite nach die falschen Gesetze schützten.


    Weil Gabriel unter den weißgekleideten Krankenschwestern und Ärzten nicht auffiel, blieb seine kurze Anwesenheit auf dem gleichen Flur auch Semir und Ben unbemerkt. Sie zeigten an der Pforte ihre Ausweisn und fragten, ob Dennis bereits vernehmungsfähig war. Die Frau hinter der Glasscheibe bejahte und eine junge Schwester brachte die beiden Polizisten auf ihr Zimmer. Zu Bens Erleichterung wählte sie das Treppenhaus, da im Fahrstuhl gerade eine Patientin von zwei Pflegern nach oben gebracht wurde. "Der junge Mann hat Glück gehabt. Es wurden keine lebenswichtigen Organe verletzt und er hat auch die nächtliche OP gut überstanden.", sagte die Frau, als sie die Tür aufdrückte und die beiden Polizisten den Vortritt ließ.
    Die beiden Männer zeigten ihre Ausweise, Ben ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder während Semir am Fußende des Bettes stehen blieb. Das letzte Mal, dass er so auf ein Krankenbett geblickt hatte, war als seine kleine Tochter Ayla im Koma lag. "Dennis, wie gehts dir?", fragte der junge Polizist zuerst, um ins Gespräch zu kommen. "Geht so...", war die knappe Antwort. Man spürte sofort, dass der junge Mann, der da im Bett lag, noch ein wenig geschockt war... offenbar nicht über die Tat selbst, sondern über den Täter.


    "Erzähl uns mal, was passiert ist." "Ich bin nach dem Training aus dem Clubheim gegangen, und da kam er auf mich zu. Er hat... er hat irgendwas von Gott und Sünde gesagt...", erzählte Dennis, während er die Polizisten nacheinander ansah. In seinem Kopf arbeitete es, er hatte die Szene verschwommen vor Augen und musste sich konzentrieren, um alles korrekt wiederzugeben. "Er sagte, dass Gott versagt hat... und er Engel auserkoren hat, um die Welt zu retten." Semir und Ben blickten sich gegenseitig an und wussten nicht, ob nun der Attentäter verwirrt war, oder der junge hier im Krankenbett immer noch unter Schock stand. "Sie glauben mir nicht?" "Erzähl einfach mal weiter. Was ist dann passiert?", beruhigte Semir ihn.
    "Er hat... er hat von der Bibel gesprochen. Dass man Vater und Mutter ehren soll... wissen sie, ich habe öfters Streit mit meinen Eltern." Semir machte sich Notizen, offenbar wusste der Attentäter von den Familienverhältnissen. "Er sagte, dass er mir die Seele aus dem Körper schneiden will... und dann hat er zugestochen." Seine Narbe schmerzte in dem Moment, als er an das schmatzende Geräusch beim Zustechen des Messers dachte. Plötzlich kam Semir ein Gedanke, und es war ihm klar, dass der Junge hier noch aus einem Schockzustand Unsinn redete... die Kreuzlage der bisherigen Leichen, die Art Ritualmord... Seele aus dem Körper schneiden... es ergab einen Sinn.


    "Dennis, du bist scheinbar nicht der Erste, der auf diese Art und Weise umgebracht werden sollte. Ich weiß nicht, ob du von den beiden Morden gestern Nacht und vorgestern Nacht gelesen hast... Deswegen ist es ganz wichtig... hast du die Person erkannt?" Dennis schluckte, er sah abwechselnd zu Ben und Semir, der die Frage gestellt hatte. Zögerlich, wie in Zeitlupe kam ein Nicken. "Würdest du ihn wiedererkennen? Oder könntest du, wenn es dir besser geht, ein Phantombild zeichnen?" Dennis' Herz schlug wild gegen seine Rippen. Er wusste, dass er seinen Bruder Tobias ans Messer liefern würde, aber er wollte wissen, was mit ihm los war, und das konnte er nur, wenn der sich helfen lassen würde... notfalls unter Zwang. Beide Polizisten merkten, dass nach der sicheren Beschreibung der Vorkommnisse nun eine große Unsicherheit in dem jungen Mann herrschte, bevor er leise sagte: "Es war mein Bruder..."

    KTU - 9:15 Uhr


    Noch nie hatten sie die KTU-Werkstatt ihres Kollegen Hartmut Freund mit solch gemischten Gefühlen betreten, wie heute. Beklemmung im Bauch, ein Ring um die Brust gespannt, so fühlte es sich an, als Semir und Ben in die große Werkstatt und gleichzeitig Labor und IT-Bereich der polizeilichen Untersuchung kamen. Hier war Hartmuts Reich, hier untersuchte er Autos nach DNA, machte Bodenproben, durchforstete Computer und knackte Festplatten. In der heutigen Zeit wurde das rothaarige Genie immer öfter eine entscheidende Hilfe für die beiden Autobahnpolizisten. Jetzt saß er gebannt hinter einem großen Monitor und entdeckte seine Kollegen erst, als sie schon fast hinter ihm standen. "Hallo ihr Zwei. Setzt euch.", sagte er.
    Seine Stimme klang, wie schon am Telefon, ein wenig bedrückt. Die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, machten einfach viel der eh geringen Hoffnung auf ein Überleben von Kevin zunichte und auch wenn man der Gewissheit langsam näher kam... schön war diese Gewissheit dennoch nicht. Es war wie ein notwendiges Übel, wie ein Abgrund den man schon lange sieht, über dem man schon lange hängt und man erleichtert ist, endlich loslassen zu dürfen und der Sturz eine Befreiung ist.


    "Hey Hartmut. Was hast du rausgefunden?", fragte Ben schnell und setzte sich auf einen Drehstuhl neben den rothaarigen Kollegen an den Monitor, wo Zahlen liefen und ein wirres Konstrukt aus Buchstaben hintereinander stand. "Also... von dem Handy waren einige Stücke der Aussenhülle noch vorhanden, ein Teil der Festplatte, Displayteile, ein kleines Stück der Empfangseinheit und ein Stück der SIM-Karte. Ich schätze, es fehlt ungefähr 60% des Handys." Die Teile lagen auf dem Schreibtisch beinahe nach Größe fein säuberlich sortiert, nur die Festplattenteile lagen extra. "Es war extrem schwierig aus der Festplatte noch Daten herauszubekommen... ich weiß nicht, ob ihr wisst wie eine Festplatte aufgebaut ist, aber normalerweise funktionieren die Dinger nicht mehr, wenn auch nur Kratzer auf der Platte sind."
    "Einstein, wir wollen nicht wissen, wie es funktioniert, sondern ob du noch was gefunden hast...", meinte Semir, der sich hinter Ben und Hartmut positioniert hatte. "Jedenfalls werden die Daten normalerweise mit einem Lesekopf abgefragt. Ich habe einen mobilen Lesekopf, den ich über bestimmte Punkte der Platte kriegen kann. Sind die Daten einer Bilddatei zum Beispiel über die ganze Platte verteilt, was vorkommen kann, hast du verloren wenn du nur ein Viertel der Platte hast. Liegen sie dichter, kriegst du noch was raus...", während er sprach, tippte er in Rekordgeschwindigkeit auf seiner Tastatur, und das Bild auf dem Monitor verändert sich. "Mit einem speziellen Programm kann man die verblienen Fragmente zusammensetzten... So zum Beispiel..."


    Langsam baute sich ein Bild auf... es war verpixelt, aber dennoch erkennbar. Es war, als hätte man das Bild in viele Rechtecke zerschnitten und einige durcheinander gewürfelt, wenige Rechtecke im Bild fehlten und blieben weiß. Doch eins konnte Semir und Ben deutlich erkennen, und es zog die Klammer um die Brust noch enger. Kevins Gesicht, durchsetzt von Pixelfehler, seine abstehenden Haare und sein rechtes blaues Auge, weil der linke Teil des Bildes fehlte. Dicht neben ihm der obere Teil von Jennys Gesicht, ihre Augen klar zu erkennen und zuzuordnen. "Das war eins der Bilder, die ich wieder herstellen konnte.", sagte Hartmut, während Ben und Semir schweigend auf den Monitor blickten, als würde der Apparat sie zwingen, den Kopf in seine Richtung zu halten.
    Beide spürten, wie der Boden unter ihnen zu wanken begann. Semir wird später sagen, dass es nicht die Erkenntnis war, dass es sich um Kevins Handy handelte... sondern das Bild an sich. Kevin wieder zu sehen, lachend und glücklich in der Jetztzeit, nicht das Jugendfoto mit seiner Schwester oder mit Annie... und auch Jennys strahlende Augen zu sehen voller Glückseligkeit, ein Ausdruck in ihren Augen, den die beiden Autobahnpolizisten schon so lange nicht mehr gesehen haben und schmerzlich vermissten. Jenny hatte sich vom damaligen aufgeweckten Mädchen, als sie zur Dienststelle kam, nach den ersten Problemen in der Beziehung zwischen ihr und Kevin und seinem Verschwinden gewandelt... schweigsam, nachdenklich und oft traurig wirkend. Dieses Bild löste vor allem auch in Ben, der Jenny nahe stand, eine Sehnsucht danach aus, dass doch bitte alles wieder so werden sollte, wie vor dem unglückseeligen Kolumbien-Trip.


    Hartmut bemerkte die Betroffenheit seiner Freunde und klickte das Bild wieder weg. "Also es ist klar, dass das Handy von Kevin ist.", schloß er erst mal und zog einzelne Stücke des Handys zu sich heran. Semir versuchte als Erstes, sich auf die weiteren Infos von Hartmut zu konzentrieren, denn er hatte ja angekündigt, noch mehr rausgefunden zu haben. "Mir ist hier noch was interessantes aufgefallen. Das Handy ist in viele Teile zerbrochen. Hier...", er zeigte mit den Fingern über gerade und eckige Schnitt- und Bruchkankten. "Aber hier... das ist untypisch für ein Zerbrechen." Mit dem Finger strich er über eine abgerundete Kante. "Diese Art habe ich am Gehäuse und einem Teil des Empfangsmoduls gefunden, die in ihrer Anordnung in einem Handy exakt übereinander liegen. Es ist ein Teil einer Rundung, und in diese Rundung, passt genau das..." Hartmut nahm aus seinem Schrank eine, wohl schon bereitgelegte 9mm-Kugel und hielt sie in die rundliche Kante, die vielleicht ein Drittel eines richtigen Loches lang war. "Passt genau...", meinte er.
    "Das bedeutet, dass Handy wurde von einer Kugel getroffen?", fragte Ben mit Erschütterung in der Stimme, und das KTU-Genie nickte. "Wie ihr seht sind hier auch leichte Brennspuren. Eventuell ist die Kugel ein, oder durchgedrungen, bevor das Handy dann zerbrochen ist, und ein Teil des Loches ist eben hier." "Wenn Kevin das Handy bei sich hatte...", dachte Semir laut nach, wobei Ben ihn sofort anblickte... er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Hatte er das Handy bei sich, war fast sicher, dass die Kugel nicht nur das Handy getroffen hat.


    "Ich kann deine Gedanken nachvollziehen...", sagte Hartmut und zeigte ein Bild. "Ich habe die einzelnen Teile untersucht. Blut kriegt man nur schwer mit Wasser ab, sobald es nur minimal angetrocknet ist. Ich konnte minimale Rückstände auf der Aussenseite des Gehäuses feststellen." Auf dem Bild waren Teile des Gehäuses schwach violett, dort wo Hartmut die Rückstände gefunden hatte. "Kann man daraus DNA entnehmen?" "Nein, dafür ist es zu wenig. Die Blutgruppe kann auch nicht festgestellt werden. Aber wenn man das Handy bei Kevin gefunden hat, und er es die ganze Zeit bei sich hatte...", sagte er, wurde aber von Ben unterbrochen: "Aber du kannst nicht gesichert sagen, dass es Kevins Blut ist?" Der Polizist klammerte sich nun endgültig an einen Strohhalm, der längst am Untergehen war. Das spürte auch Semir und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
    "Ben... wessen Blut sollte es denn sonst sein?" Semir hatte die Hoffnung verloren. Es sprach einfach alles gegen Kevin, jede Erkenntnis machte einen Tod logischer. Doch Ben dachte nicht rational... das Bild hatte unglaubliche Emotionen in ihm ausgelöst, hatte ihn aufgerüttelt, und führte dazu, dass er nun bei Semirs Worten ruckartig vom Stuhl aufsprang: "Was weiß denn ich? Wer weiß, wer sein Handy vielleicht vorher hatte, oder ob es zu einem Kampf kam, oder..." "Jetzt beruhige dich doch mal!", mahnte Semir ihn, doch sein bester Freund wollte sich gerade nicht beruhigen lassen und winkte ab: "Ach. Ihr beerdigt Kevin doch schon, obwohl es nicht einen glasklaren Beweis dafür gibt, dass er tot ist.", rief er erregt und atmete hörbar aus, während er sich von den beiden Männern wegdrehte.


    Er schwieg, während Semir und Hartmut stumm blieben und dem jungen Mann nachblickten. Er hatte eine enge Bindung zu Kevin, ihm tat Jenny unendlich leid und in den letzten zwei Tagen hatte er seine Emotionen in dieser Sache weitestgehend unterdrückt. Doch ewig ging das nicht, Ben war ein impulsiver Typ, und manchmal wurde das Ventil einfach geöffnet. Semir wusste das, und deswegen nahm er ihm die Worte nicht übel. "Niemand tut das. Aber wir müssen in der Sache auch rational denken, und nicht unsere Wünsche als Realität sehen.", versuchte der erfahrene Polizist so ruhig und sachlich wie möglich zu sein. Bens Brustkorb hob und senkte sich schnell, als er einen Moment stehen blieb und in irgendeine, nicht definierte Richtung sah. Er drehte sich im Kreis und jede Ausfahrt, die er nehmen wollte, schien in einer Sackgasse zu enden.
    Hartmut kopierte das Bild auf einen Stick und gab ihn Semir. Sie mussten es Jenny erzählen, was schwierig werden würde. "Danke Hartmut...", sagte der Ältere dann schließlich und traurig verließen beide die KTU. Für einige Minuten saßen die zwei Polizisten schweigend im Auto. "Ben, ich weiß dass das unglaublich schwer ist. Und ich weiß auch, dass es alles keine Sicherheit ist, als wenn wir selbst vor Kevins Leiche stehen würden. Aber es gibt nichts... absolut nichts, was noch dafür spricht, dass Kevin noch lebt. Wir können es nicht immer verdrängen und uns an Hoffnungen klammern. Das macht uns kaputt... wir müssen anfangen, es zu verarbeiten." Es klang wie eine Bitte, und das zaghafte Kopfschütteln von Ben, während er aus dem Seitenfenster sah, entgegen Semirs Richtung, erschien so, als würde er seinem Partner einfach nicht glauben wollen...

    Gabriels Haus - 8:30 Uhr


    Er hasste Handys... ohja, sie waren eine Erfindung des Teufels, die machten einen zum Sklaven dieses kleinen Gerätes, zum Sklaven aller, die fähig waren, darauf anzurufen. Egal, wie oft Gabriel versuchte, das Klingeln zu ignorieren, sich das Kissen über den Kopf hielt... es war ein innerer Zwang, abzuheben. Schließlich bot er seiner Gemeinschaft an, jederzeit für jeden verfügbar zu sein und als er beim dritten Anruf innerhalb einer Viertelstunde Afriels Name auf dem Display sah, hob er ab. "Afriel... was ist los?", fragte er müde, denn er wollte gerade einschlafen, nachdem er die ganze Nacht meditiert und in der Bibel gelesen hatte. "G... Gabriel... ich... ich habe versagt.", stotterte die junge und angsterfüllte Stimme am anderen Ende der Leitung.
    Auf einmal war der Mann mit den blonden langen Haaren putzmunter und setzte sich im Bett auf. "Was heißt das? Was ist passiert?" "Ich... ich habe alles so gemacht bis... bis jemand kam. Er war scheinbar nicht der Letzte in der Kabine, und ich... ich bin weggelaufen." Gabriel spürte Unbehagen in sich, Enttäuschung dass Afriel die erste Prüfung nicht geschafft hatte und natürlich die Befürchtung, dass die Menschen nun ihren irdischen Gesetzesapparat in Gang brachten. Das war Gabriel natürlich bewusst, hielt ihn und seine Gemeinschaft aber nicht von ihrer Aufgabe ab.


    "Okay, ganz ruhig mein Junge. Ruhig atmen, konzentrieren. Hast du diesen Menschen bestraft... so wie es Mose im Buch Levitikus aufgetragen bekommen hat, die göttlichen Gesetze zu befolgen?", fragte er und setzte sich aus dem Bett auf, wobei er sich mit einer Hand zwei Strähnen aus dem Gesicht wischte. Wieder konnte er die Unsicherheit, das Zittern in Afriels Stimme hören. "Ich... ich weiß es nicht. Ich habe zugestochen... ich habe ihm gesagt, dass in der Hierarchie der Engel kein Platz für ihn ist. Er ... er hat gestöhnt und ist vor mir zusammen gesackt, aber dann...", schluchzte der Junge am Telefon und brachte fast keinen Ton mehr heraus. "Ich weiß nicht, ob ich die Strafe komplett durchgeführt habe. Ich konnte die Seele auch nicht nach Scheol verbannen, dazu blieb mir keine Zeit."
    In Gabriels Kopf arbeitete es. Wenn dieser Sünder noch lebte, war er eine Gefahr... ausserdem musste die Strafe Gottes unter allen Umständen durchgesetzt werden. Er würde wohl seine Quellen bemühen um herauszufinden, wie weit Afriel mit der Durchführung seiner Aufgabe gekommen ist. Um den Jungen tat es ihm beinahe etwas leid, und er würde Gott befragen müssen, ob er einen seiner Engel für das Versagen bestrafen müsse. "Hat er dich erkannt?", fragte er noch und der Junge brachte nur ein klägliches: "Ja..." heraus, bevor erneut ein Schluchzen zu hören war.


    "Wo bist du jetzt?" "Ich... ich habe mich in der Villa versteckt, wo wir uns getroffen haben. Ich habe Angst vor den Menschen, dass sie mich fangen...", konnte Gabriel hören und leckte sich kurz über die Lippen. Das wäre, in der Tat, fatal... einer seiner Engel in den Händen dieser unseeligen Brut, allein und abgeschnitten von seiner Gemeinschaft. Ein Engel alleine war schwach und klein, nur in der Gemeinschaft waren sie stark und unbesiegbar, davon war Gabriel überzeugt. "Fürchte dich nicht, Afriel. Bleib wo du bist, ich komme zu dir.", sagte Gabriel und versuchte damit, den Jungen zu beruhigen. "Ja... ich bleibe hier, ich bewege mich nicht vom Fleck. Es tut mir so leid, Gabriel. So leid, dass ich versagt habe." "Du wirst Trost finden in Gott. Bete zu Gott und bitte ihn für dein Versagen um Vergebung, und Gott wird dir vergeben."
    Nachdem der Engelsführer das Gespräch beendet hatte, wählte er eine weitere Nummer. Es wurde wortlos abgehoben, und ohne eine Begrüßung abzuwarten sagte Gabriel: "Wir haben ein Problem." "Welches Problem?", war eine krächzende, kratzende Stimme zu hören. "Einer meiner Engel hat bei seiner Aufgabe, eine Sünderseele nach Scheol zu verbannen, versagt. Er wurde gesehen und erkannt.", kam er ohne Umschweife sofort zum Thema. Ein Schweigen war die Antwort, bevor die krächzende Stimme sagte: "Das ist schlecht."


    Es war nicht die hilfreiche Antwort, die Gabriel erwartet und erhofft hatte. Doch die geheimnisvolle Stimme hatte noch mehr zu sagen: "Gott wird ihm vergeben... so, wie er auch ständig den Menschen vergibt und gütig ist... und das ist das Ergebnis.", meinte sie grimmig und der Magen des blonden Mannes zog sich zusammen. "Es war seine erste Prüfung. Ich gebe dir Recht, dass wir nicht die Fehler Gottes wiederholen dürfen, aber ich werde ihm eine zweite Chance geben.", sagte er und seine Stimme klang fest und überzeugt. Vor der Stimme am Telefon Schwäche zu zeigen, wäre ein Fehler gewesen. "Dein erster Angriff auf die Menschen ist nicht unerkannt geblieben. Ich habe die Zeitungen gelesen, und es wird groß über "bestialische Morde" berichtet.", sagte die Stimme in einer Mischung aus Anerkennung und Spott. "Aber Bestrafen kann jeder gläubige Engel. Wie ihr klarkommt, wenn die Menschen versuchen zurück zu schlagen, und versuchen Engel einzusperren, ist die nächste Prüfung für dich und deine Gemeinschaft." Gabriel nickte am Telefon und stimmte zu: "Ich weiß. Aber auch das wird kein Problem für uns sein. Wir werden unsere Aufgabe erfüllen.", sagte der blonde Mann mit tiefster Überzeugung. "Afriel wird erst einmal untertauchen, und wir werden den Menschen zeigen, dass mit Gottes Armee nicht zu spaßen ist. Der Sünder, an dem Afriel gescheitert ist, wird ebenfalls zur Rechenschaft gezogen." Die krächzende Stimme schien zufrieden, als sie auf die Ursprungsaussage zurückkam: "Dann sehe ich nicht, wo das Problem liegt, Gabriel."


    Als der Engelsführer auch dieses Gespräch beendet hatte, stand er vom Bett auf und zog sich an. Der Schlaf müsse mal wieder warten, und er würde zur Villa fahren, um Afriel erst einmal zu beruhigen. Ausserdem müsse er sich in absehbarer Zeit um den Sünder kümmern... doch das würde nicht leicht. Mit einer Kurznachricht schrieb er an zwei seiner Engel eine Nachricht, die sich darum kümmern sollten, den Krankenhausaufenthalt zu lokalisieren... aber er konnte es nicht riskieren, diese Aufgabe zu delegieren. Darum musste sich Gabriel selbst kümmern. Er bekreuzigte sich, kniete sich vor ein Kruzifix und betete zu Gott. Er bat um Vergebung für den unerfahrenen Afriel...

    Dienststelle - 8:00 Uhr


    Hotte, Bonrath sowie Ben und Semir hatten Wort gehalten... kein Wort von Jennys mentalem Ausfall gestern nachmittag war bis zur Bürotür der Chefin gelangt. Sie begrüßte die junge Polizistin an diesem milden feuchten Morgen so, wie immer. Die Unterstützung, die Jenny am gestrigen Nachmittag erfahren hatte, tat ihr mental unglaublich gut. Sie hatte eine ruhige Nacht verbracht, ohne Alpträume oder sonstigen Schlafstörungen und sah an diesem Morgen einfach fitter aus, als gestern. Die Haare hatte sie, wie immer, zu einem Zopf zusammengebunden und mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Tisch und in Uniform durchforstete sie den heutigen Lagebericht aus den Mail-Nachrichten. Kevin hatte ihr mal erzählt, wie sehr er sich von seinem Kummer, egal welcher Natur, mit Arbeit ablenken konnte... und das versuchte sie jetzt auch.
    Nacheinander kamen erst Semir (pünktlich) und Ben (unpünktlich) durch das Großraumbüro und wünschten Jenny einen guten Morgen. Andrea kam etwas später, weil sie die Kinder noch in die Schule fuhr... ihr hatte Semir gestern abend von Jenny erzählt, weil die beiden Frauen sehr eng befreundet waren. "Alles in Ordnung?", fragte Andrea nur und drückte Jennys Hand, die lächelte und kurz nickte. "Ja, es geht mir heute besser." Es war ein so gutes Gefühl, den ganzen Tag auf der Arbeit Freunde um sich zu wissen, zu denen man gehen konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Manchmal war aber der Schleier aus Kummer so groß, dass man die Freunde nicht sah, obwohl sie da waren.


    "Hat es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du in den letzten Tagen ständig auf die Arbeit kommst, als wärst du gerade erst aufgestanden?", fragte Semir interessiert, als er zusah wie Ben versuchte seine etwas wild abstehenden Haare im Spiegel zu bändigen. "Ich BIN gerade erst aufgestanden...", gab Ben sarkastisch zur Antwort und gab es nach mehreren Versuchen auf. Er trug die Haare mittlerweile wieder so lang, wie zu der Zeit als er bei der Autobahnpolizei angefangen hatte und müsse wohl unbedingt mal wieder zum Friseur, wobei Carina die langen Haare gut gefielen und sie es "unter Strafe stellte", wenn er sie sich abschneiden lassen würde. Sie war auch der Grund, warum Ben erneut zu spät kam, sie hatte erneut bei ihm übernachtet, sie lagen morgens zusammen im Bett und wollten beide nicht aufstehen. Doch Ben musste zum Dienst, und Carina hatte ein Vorstellungsgespräch... sie wollte endlich wieder arbeiten gehen, was sie so lange, als sie ihre Mutter pflegen musste, nicht getan hatte.
    "Hat sich Hartmut eigentlich schon gemeldet, heute Morgen?", fragte Ben dann nach kurzer Zeit und hatte das Gefühl, mit der Frage würde er das Klima im Büro um einige Grad senken. Semir schüttelte nur den Kopf und nahm einen Schluck heißen Kaffee, wobei er kurz aus dem Fenster sah in das trübe Nebelwetter.


    Jenny kam ins Büro mit einem Blatt Papier in der Hand und legte es Semir auf den Tisch. "Schaut mal. Hotte hat das gelesen und dachte, es könnte uns interessieren." Der erfahrene Polizist nahm den ausgedruckten Lagebericht und las laut vor: "Messerangriff auf 20jährigen, schwere Bauchverletzung...hmmm." Dann stockte seine Stimme, er las den Teil zweimal "Versuch des Aufschlitzens..." "Das war der Teil, den Hotte interessant fand... scheinbar hat da unser Schlitzer wieder zugeschlagen.", meinte die junge Beamtin. Auch Bens Neugier war geweckt. "Wie kann man das feststellen?" "Hier steht, das Opfer hätte es selbst gesagt. Er stand unter Schock und sagte nur: "Er wollte mich aufschlitzen." Hat aber keine Angaben zum Täter gemacht, aber wie da schon steht... stand scheinbar unter Schock."
    Er legte das Blatt auf den Schreibtisch und wählte die Rufnummer der Dienststelle, die den Angriff aufgenommen hatte. "Gerkhan, Kripo Autobahn, guten Morgen. Es geht um die Messerattacke gestern auf dem Sportplatz...", begann er und bat dann um alle Unterlagen, weil sie prüfen wollten, ob dieser Angriff vielleicht mit der Mordserie in Verbindung stand. "Wenn wir jetzt jede Messerstecherei untersuchen müssen, weil sie vielleicht zur Mordserie gehört, können wir uns gratulieren.", meinte Ben, nachdem Semir sich bedankte und auflegte. "Es ist ja hier gerade wegen dem Zusatz, dass der Täter offenbar versucht hat, den Jungen aufzuschlitzen... wir werden es ja sehen."


    Die junge Kollegin der beiden Polizisten wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als Semirs Telefon erneut klingelte, und Hartmuts Name erschien. Jenny wusste noch gar nichts davon, dass die deutsche Botschaft Kevins zerstörtes Handy geschickt hatte, und verließ das Büro wieder, weil sie sich bei Hartmuts Anruf nichts dabei dachten. "Ja, Hartmut?" "Morgen Semir. Habt ihr Zeit?" "Hast du was rausgefunden?", fragte Semir sofort und in ihm stieg eine Mischung aus Befürchtung und Hoffnung auf, die beiderlei Ausgang der Frage bediente. Hoffnung, endlich Gewissheit zu haben... und gleichzeitig Angst vor der Gewissheit. Hoffnung, dass es nicht Kevins Handy war, aber gleichzeitig Angst, dann immer noch keine Gewissheit zu haben. Ein Teufelskreis der Emotionen, in den Ben sofort mit einstieg, als er hörte, dass Hartmut am Telefon war.
    "Also... ja, ich hab was rausgefunden. Aber das würde ich euch gerne zeigen.", sagte der rothaarige KTU-Leiter und klang ein wenig zerknirscht, was ein gutes und kein gutes Zeichen war. "Hartmut bitte... wir kommen sofort, aber sag uns... ist es Kevins Handy, oder nicht?" Die kurzzeitige Stille, die aus dem Hörer drang, machte Semir wahnsinnig. Es kam ihm vor, als würde Hartmut stundenlang schweigen, und er würde stundelang mit dem Hörer am Ohr an seinem Schreibtisch sitzen, bis endlich eine Antwort kam. "Ja... es ist Kevins Handy."


    Die Antwort sackte... sie sackte vom Ohr bis in Semirs Bauch und verursachte dort ein Stechen. Das Ausatmen konnte Hartmut am Telefon deutlich hören, das Nicken in Richtung Ben beinahe spüren. "Kommt einfach mal vorbei, und ich erklär euch alles." Das klang danach, als hätte Hartmut mehr gefunden, als einen einfachen Beweis, dass die Überreste Kevins Handy sind. Semir bedankte sich und legte den Hörer auf. "Lass uns in die KTU fahren." und sein Partner erhob sich ebenfalls sofort. Doch bevor der kleine Kommissar voran das Büro verlassen konnte, wurde er von seinem besten Freund am Ärmel festgehalten. "Wir müssen es Jenny sagen."
    Die beiden Männer blickten sich für einen Moment an. "Jetzt noch nicht." "Semir, das kannst du nicht machen. Sie macht sich noch mehr Sorgen als wir, sie muss erfahren, was wir wissen.", beharrte Ben, doch sein Freund schüttelte den Kopf. "Nicht jetzt... sie ist heute morgen zum ersten Mal wieder gefestigt, fokussiert auf die Arbeit. Das können wir nicht sofort wieder kaputtmachen. Lass uns erst hören, was Hartmut weiß." Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, verließ Semir das Büro. Nun war Bens mulmiges Gefühl im Magen vor allem im Bezug auf Jenny vorhanden, er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, etwas zu verheimlichen. Trotzdem ging er, stumm wie ein Fisch, an dem Schreibtisch der jungen Polizistin vorbei und folgte Semir ins Dienstauto. Dass Hotte vor gerade einmal 16 Stunden an Jennys Ehrlichkeit appelliert hatte, wusste er natürlich nicht...

    Sportplatz - 21:00 Uhr


    Dennis Weber musste sich heute beeilen, als er unter der Dusche stand. Er redete mit seinen Freunden nach dem Fussballtraining, die ihn überreden wollten, doch noch wenigstens ein Bierchen zu trinken. "Nein, heute wirklich nicht. Meine Freundin hat Geburtstag, und wir wollen noch ein bisschen feiern, die war sowieso schon sauer, dass ich ausgerechnet heute noch ins Training gegangen bin.", blieb er standhaft und trockente sich ab. "Ach hör auf, feiern. Du willst nur noch einen Stich landen heute abend.", lachte einer seiner Mitspieler und boxte Dennis gegen den Arm, der nur grinste. Er war mit Kim jetzt erst 3 Monate zusammen, und sie war jetzt schon ein wichtiger Halt in seinem turbulenten Leben.
    Dennis war 21, spielte seit zwei Jahren in diesem Verein und war bei allen Mitspielern beliebt, auch wenn er kein einfacher Typ war. Aber jeder von den Freunden in der Mannschaft wusste um seinen sozialen Hintergrund. Die Familie war zerrüttet, der Vater Alkoholiker und der Bruder "nicht ganz normal", wie Dennis selbst immer mal zugab. Er stritt sich oft mit den Eltern, wurde ausfällig und übertrug seine Hitzigkeit auch oft auf den Platz. Meckerein, Pöbeleien waren an der Tagesordnung, und der Trainer hatte alle Mühe und Not, seinen Spieler in Zaum zu halten.


    Doch ansonsten war Dennis ein netter Typ. Man konnte sich auf ihn verlassen, wenn es nötig war und er hatte, nach abgebrochener Schule mit 15, vor anderthalb Jahren seine mittlere Reife nachgeholt und war mittlerweile in einer Ausbildung. Der junge Mann hatte sich fest vorgenommen, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken... anders als sein Vater und seine Mutter, von denen er sich immer weiter distanzierte. Nur zu seinem 17jährigen Bruder, der eine erstaunliche Wandlung durchgemacht hatte, hatte er noch engeren Kontakt. Doch dieser zerlief in den letzten Wochen, ausgehend von dem jungen Tobias, immer mehr. Dennis dagegen konzentrierte sich auf sein Hobby, seine Arbeit und seine neue Freundin.
    Er richtet die moderne Seitenscheitel-Frisur im Spiegel, knöpfte das Hemd zu und band sich die neuen Sportschuhe, die er sich von dem ersten Ausbildungsgehalt gekauft hatte. Der Trainer sah nochmal kurz in die Kabine seiner Spieler. "Dennis... heute kein Bier mehr? Sonst sperrst du doch hier immer zu." "Heute nicht, Coach. Ich hab noch was vor." Der Trainer nickte und zählte dann die Getränke seiner übrigen Spieler auf, um einen Kasten zu mischen und in die Kabine zu bringen. Dennis war ein typischer Partysäufer... zu den richtigen Gelegenheiten war er großen Mengen an Alkohol nicht abgeneigt. Er vermied es aber tunlichst, ausserhalb solcher Gelegenheiten Alkohol anzurühren, weil es ihn immer sehr unangenehm an seinen Vater erinnerte, der manchmal die Kornflasche schon am Frühstückstisch öffnete.


    Mit Handschlag verabschiedete er sich von seinen Freunden, schulterte die Tasche auf der Winterjacke und trat nach draussen ins Freie. Sein Bruder Tobias, der sich nur noch nach dem Engel Afriel nannte, hatte die ganze Zeit nervös im im Schutze der Dunkelheit gewartet. Eigentlich dachte er, dass er noch etwas Zeit hatte aber Dennis kam früher aus dem Clubheim heraus getreten ins schwache Licht einer Gebäudelampe. Der Junge setzte sich in Bewegung, das große Messer fest in einer Hand hinter dem Rücken haltend und mit Zittern im ganzen Leib. Dennis erkannte die dunkle Gestalt, die da auf ihn zukam erst, als sie nur noch wenige Meter voneinander getrennt waren. "Tobias? Was machst du denn hier?", fragte er erstaunt. Sein Bruder hatte eine dunkle Schirmkappe an, die seine kurzen wasserstoffblonde Haare nicht erkennen ließ.
    Zuerst antwortete Tobias nicht, er sah seinen Bruder nur ausdruckslos an. "Was machst du hier, sag schon!", wiederholte der Ältere der beiden seine Frage und war von dem starren, fast wahnsinnigen Blick von Tobias irritiert. "Gott ist zu schwach deine Sünden zu bestrafen.", sagte Tobias den Text, den er von Gabriel diktiert bekam. "Deswegen hat er uns Engel auserkoren, die Erde vor den Menschen zu retten." Seine Stimme zitterte, als er vor seinem Bruder stand und die, für Dennis, sehr verwirrenden Worte sprach.


    Der junge Mann wurde wütend und rief laut: "Was ist mit dir los? Hast du was geraucht, oder was?", wobei er Tobias mit beiden Händen ein Stück zurückschubste. "Du sollst Vater und Mutter ehren! So steht es in der Bibel.", giftete Tobias zurück, ohne musste sich dazu zwingen, den Griff fest um das Messer zu halten, damit es nicht klackernd auf den Boden fiel. "Ich werde dir deine Seele aus dem Körper schneiden." "Du hast sie doch nicht mehr alle!" Wieder schubste Dennis seinen eigentlich schwächeren und körperlich etwas kleineren Bruder zur Seite, er konnte sich dessen Verhalten nur erklären, dass er irgendwelche Drogen genommen hatte, deren Wirkung er nicht kannte. Doch Tobias war nüchtern und klar in seinem Kopf... nur Gabriel hatte die richtigen Knöpfe gedrückt.
    Er hatte Tobias erklärt, dass er fest zustechen müsste, um die Hautschichten zu durchtrennen und an die Seele heranzukommen. Der Widerstand, auf den das scharfe Messer stieß, war spürbar, genauso wie das warme Blut, das Tobias auf die dunklen Handschuhe lief. Er sah noch den geschockten Ausdruck in Dennis Gesicht, sein Stöhnen und Luftschnappen, als sein Bruder zittrig sagte: "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie. Der freie Wille knüpft..."


    Weiter kam Tobias nicht, als er versuchte das Messer ein Stück nach oben zu ziehen... ihm fehlte die Kraft, ausserdem waren die Schmerzlaute seines Bruders, der sich an Tobias' Jacke klammerte, so unnatürlich, dass ihm schlecht wurde. "Hör auf!", sagte er noch zu seinem stöhnenden Gegenüber und versuchte noch einmal, das Messer hochzuziehen, als er plötzlich ein lautes "HEY!" von dem Eingang des Clubheims vernahm. Tobias riess geschockt die Augen auf, ließ instinktiv das Messer los und stieß seinen Bruder von sich weg, der sofort zu Boden sackte. Der Trainer von Dennis stand in der Tür, wollte eigentlich gerade eine rauchen und kam nun mit schnellen Schritten auf die beiden Brüder zugelaufen, wobei der Jüngere sich auf dem Absatz umkehrte und zu rennen begann.
    Im ersten Instinkt wollte der Trainer hinterherlaufen, doch mit einem Blick auf Dennis bemerkte er den Messergriff, der aus dessen Bauch herausragte, das Blut an seinen Händen und den zitternden, geschockten Ausdruck in den Augen seines Spielers. "Scheisse...", rief er aus, zog seine Trainingsjacke aus und drückte um den Messergriff herum, welches er sich nicht traute, herauszuziehen. Dann zog er sein Handy, rief die Notrufnummer und verlangte so schnell wie möglich einen Notarzt.

    Rastplatz - 14:00 Uhr


    Sie hatten Jenny Zeit gelassen, sie hatten ihr die Gelegenheit gegeben, die Gefühle die in ihrem Kopf waren, heraus zu lassen. Die junge Polizistin hatte dieses Angebot angenommen, weinte, schluchzte und beruhigte sich nur langsam. Zu groß diese Enttäuschung, nachdem die Hoffnung in ihr gestiegen war... zu groß der Schock, wie sehr sie sich in diese Sache reinsteigerte und zu groß die Traurigkeit, die sie danach über Kevins Tod wieder befiel. Ben und Semir fanden nur schwerlich Worte des Trostes. Der junge Polizist wusste überhaupt nicht, wie er reagieren sollte, schwindete seine Hoffnung darauf dass Kevin noch lebte mit jedem Tiefschlag. Semir dagegen fand immer mal kurze Sätze, er wusste wie es sich anfühlte enge Freunde an den Sensemann zu verlieren.
    Als die junge Frau sich langsam beruhigte, standen aber noch andere schwere Worte an. "Jenny, du musst dich jetzt entscheiden. Du musst dich entweder zusammenreißen und auf die Zähne beißen, oder dich wieder krank melden, wenn du es nicht schaffst. Aber wenn wir dich jetzt nach Hause fahren, wird die Chefin dich wieder beurlauben, okay?" Semir wollte Jenny damit keinesfalls überreden, im Dienst zu bleiben, das machte er auch deutlich. Sie solle nur arbeiten, wenn sie sich dazu in der Lage fühlte. Er machte ihr nur klar, welche Konsequenzen es hätte, nachdem Ben Jenny angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren.


    "Ich wollte mich durch die Arbeit einfach ablenken.", sagte Jenny, nachdem sie sich zusammen an den Porsche gesetzt hatten. "Zuhause drehe ich durch." Die beiden Männer konnten Jenny verstehen, sie war alleine und auch wenn Andrea, Ben und Semir sie hin und wieder besuchen gingen... es war kein Ersatz für die Gemeinschaft im Team während der Arbeit. "Ob du arbeiten kannst oder nicht, kannst nur du beantworten.", sagte Semir und sah die junge Frau fest an. Ihm war mulmig bei dem Gedanken, ihr die Entscheidung zu überlassen, aber er wusste aus Erfahrung dass Bevormundung in dieser Situation überhaupt nichts bringen würde. Jenny nickte. "Ja, ich schaffe das. Ich verspreche es. Das war ein... ein Ausrutscher, okay?"
    Semir und Ben wollten es ihr glauben... sie machten das Wunschdenken einfach zu Realität und hatten Bauchweh bei dieser Entscheidung. Als sie alle drei in die Autos zurückkehrten, rief Semir bei Hotte an um zu hören, ob Jenny zum Unfall zurückkehren sollte, doch der dicke Polizist meldete, dass die Unfallstelle geräumt, und die Kollegen ihn und Bonrath mitgenommen hatten. "Was ist eigentlich los gewesen?", fragte er dann noch, aber sein langjähriger Kollege wollte das nicht am Telefon erzählen. "Warte, bis wir zurück sind."


    Im Konvoi trudelten das Zivilfahrzeug und der Polizei-Porsche wieder auf der Dienststelle ein. Die Chefin war zum Glück bei einem Pressetermin bezüglich der beiden bestialischen Morde und bekam von der ganzen Sache nichts mit. Während die zwei Kommissare sich grüßend wieder im Büro verkrümelten, ging Jenny in die Kaffeeküche. Eine Tasse Tee hatte sie jetzt bitter nötig. Hotte erschien im Türrahmen und schloß selbige hinter sich, als die junge Frau sich zu ihm umdrehte. "Na... was war denn los gewesen?", fragte er mit einem warmen Lächeln. Jenny reagierte instinktiv... und falsch. "Mir... mir wurde auf einmal übel und... und ich wollte mich nicht bei den Leuten übergeben. Deshalb bin ich schnell zum Rastplatz gefahren. Tut mir leid..."
    Sie log, und sie tat es schlecht. Hotte Herzbergers Lächeln im grau-weißen Bart erlosch. Wenn er wollte, konnte der gutmütige Polizist auch äusserst unangenehm werden. Natürlich wusste er nicht, was wirklich geschehen war, aber nur ein bisschen Übelkeit, und deswegen hatte es nun über anderthalb Stunden gedauert, sie zurückzuholen... Jenny konnte nicht wirklich annehmen, dass er ihr das glauben würde.


    "Jenny... du lügst. Und das dazu noch ziemlich schlecht, du machst nämlich ein Gesicht wie alle 3129 Geschwindigkeitssünder, die mir in meiner Polizeilaufbahn ins Gesicht gelogen haben, dass sie zum ersten Mal zu schnell gefahren sind.", sagte Hotte mit kühlem Blick. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt, was seinen Bauch noch mächtiger erscheinen ließ. "Wir sind eine Familie, ein Team. Nur weil die Chefin Entscheidungen fällen muss und den Kopf dafür hinhält, ist es für sie okay, wenn wir ihr nicht alles sagen. Aber wir untereinander, müssen uns doch die Wahrheit sagen." Seine Worte hämmerten Jenny ins Gehirn und mit schlechtem Gewissen blickte sie auf den Boden. Sie verhielt sich genauso, was sie an Kevin damals bemängelt hatte... dass er nicht die Wahrheit sagte, dass er vieles vor den Kollegen verheimlichte.
    "Ich... ich hab in einem Auto gedacht, dass ich Kevin gesehen hatte. Da habe ich... da habe ich die Kontrolle über mich verloren.", sagte die junge Frau dann etwas kleinlaut. Ihre Worte, ihre Tonlage klangen in Hottes Ohren schon weitaus mehr nach Wahrheit, als die Ausrede mit der Übelkeit. Doch davon, dass Hotte wegen der Lüge nun sauer war, war nichts zu spüren. Sie hatte die Kurve gekriegt und die Wahrheit gesagt, böse wäre er gewesen, wenn sie auf ihrer Lüge beharrt hätte. "Na komm mal her.", sagte er väterlich und nahm die junge Frau in den Arm, was diese dankend annahm. Sie war für jeden Trost dankbar.


    "Hotte, was soll ich nur tun... ich bin so traurig und verzweifelt. Diese... diese Ungewissheit halte ich nicht aus.", sagte sie leise zu ihrem Kollegen, der sie nickend verstand. "Wenn doch nur jemand sagen würde... "Ja, er lebt" oder "ja, er ist tot."... so schlimm es auch wäre, aber dann hätte ich Gewissheit. Ich könnte endlich trauern. So schwanke ich jeden Tag zwischen Hoffnung und Trauer." "Ich weiß, das ist schwer. Aber irgendwann wirst du los lassen müssen, auch wenn es ungewiss ist. Du musst dein Leben weiterleben, so normal wie möglich. Aber das braucht Zeit.", sagte der dicke Mann und hatte immer ein offenes Ohr für seine Kollegin. "Ich weiß. Aber... aber noch geht das nicht. Ich brauche irgendeine Gewissheit... und nicht nur Hinweise."
    Hotte machte sich noch eine Tasse Kaffee und gab Jenny zu verstehen, dass sie jederzeit zu ihm kommen könne, wenn Semir und Ben einmal nicht greifbar waren. Sie dankte ihm für seine Fürsorge, doch mit ernster Stimme sagte er, als er bereits im Türrahmen zum Flur stand: "Aber Jenny... tu mir einen Gefallen. Bitte lüg mich nie wieder an."

    Treffpunkt - 13:30 Uhr


    Diese verdammte Sonne, dachte Gabriel, als er den wild verwucherten Weg der einsamen Villa zur Haustür beschritt. Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt, und die Schritte vom Auto zur Haustür beschleunigt um nicht zu lange dem heißen Licht des warmen Planeten ausgesetzt zu sein. Die war nur angelehnt, innen war es nochmal ein gutes Stück kühler als draussen und sein Atem hinterließ Kondensrauch. Die Atmosphäre hier war wie immer, bedrückend und menschenfeindlich... das mochte er. Vandalen hatten in den Jahren, in denen das ehemals luxuriöse Haus leerstand, ganze Arbeit geliefert. Möbel zerschlagen, Tapeten zerissen, Türen zertrümmert und überall lag der Staub des Vergessens, der den Glanz alter Tage bedeckte.
    Es war totenstill und Gabriel ging in das große Wohnzimmer, wo er oft seine Versammlungen abhielt. Hier traf er sich mit seinen Engeln, wenn es etwas zu besprechen gab, von Auge zu Auge. Er hasste die moderne Technik, Handys, Internet und Telefone waren ihm ein Graus. Nicht ganz uneigennützig. Das System der Menschen und ihre selbst ernannten Aufpasser, die Polizei, waren natürliche Feinde ihrer Mission. Sie passten auf die Menschen auf, während Gabriel und seine Menschen als Grundübel der Erde ansahen. Deshalb fühlte er sich verfolgt, und Gespräche über technische Hilfsmittel sah er als potentielles Risiko.


    Seine Engel hatten solche Prinzipien nicht. Sie kamen aus allerlei Berufsgruppen, was allerdings natürlich Vorteile mitbrachte. Sie hörten, sie wussten, sie brachten in Erfahrung. Ein Wärter der JVA Ossendorf wusste über die vorzeitige Entlassung von dieses Kinderschänders und Frau Zimmer, die junge gemobbte Bankangestellte erzählte von Trauge. Nicht dass Gabriel sowieso alle Menschen hasste... aber es dürfte auch im Sinne des allmächtigen Versagers sein, wenn zuerst die Kreaturen seiner Schöpfung bestraft wurden, die nicht nur die Erde nach und nach zerstörten und Gott längst als alten Mann mit Bart vergessen hatten, sondern auch noch gegen die 10 heiligen Gebote verstoßen. "Du sollst nicht stehlen...", hatte er Trauge noch ins Ohr geflüstert, bevor er den seelenlosen Leichnam verlassen hatte.
    Afriel verspätete sich... auch das mochte Gabriel nicht. Er hatte die Sonnenbrille aus dem blassen Gesicht genommen, als er endlich Geräusche hörte, Schritte auf dem alten Holzboden und das Knarren der Eingangstür. Afriel, ein schmaler blasser Junge kam ins Zimmer hinein und die beiden umarmten sich kurz. "Wie gehts dir?", fragte der ältere Gabriel beinahe fürsorglich und sein Schützling nickte. "Es geht. Ein bisschen aufgeregt." "Das ist normal, wenn man vor einer großen Prüfung steht."


    Afriel hatte sich vor einigen Tagen Gabriel anvertraut. Er wohnte zu Hause bei seinen Eltern im Problemviertel und es gab ständig Streit. Ausschlaggebend dabei war sein älterer Bruder Dennis, der sich permanent mit dem alkoholkranken Vater und seiner Mutter anlegte. Die Auseinandersetzungen uferten manchmal in Gewalt aus und Afriel litt darunter. Seit er in Gabriels Gruppe war, lebte er streng nach der Bibel, er hatte sein Äusseres geändert. Wo er früher die kurzen Haare unter einer Basecap versteckt hatte, ausgebeulte Jeans und zu lange Shirts trug, hatte er die Haare jetzt etwas länger, immer ordentlich und wasserstoffblond gefärbt wie Gabriel, an dem er sich orientierte, wie der Rest der Gruppe. Er konnte Teile des alten Testamentes auswendig und handelte sich dadurch auch viel Spott von seinem Bruder ein, worüber er aber stand, denn sein Glauben war stark, und seine Abhängigkeit von dem Anführer der Engel gefährlich.
    Dieser hatte ihn dann auch mahnend an das vierte Gebot erinnert. "Du sollst Vater und Mutter lieben" und das tat sein Bruder Dennis äusserlich nicht. Afriel, der früher Tobias hieß, glaubte das auch nicht, jedoch glaubte er das innerhalb seiner, durch Gabriel beschränkten Sichtweise.


    "Na dann erzähl mal... was hast du dir ausgedacht?", fragte Gabriel und sein Schützling sah etwas scheu auf. "Heute abend hat Dennis Fussballtraining. Er ist immer der Letzte, der aus den Kabinen kommt. Auf dem Parkplatz ist es recht dunkel, und bis morgen früh wird dort keiner vorbeikommen." Seine Stimme klang alles andere als sicher, als er von dem Mordplan gegen seinen Bruder erzählte, wobei Dennis in Alfriels Augen natürlich nicht sein Bruder war. Er war ein Engel, Gottes Untertan und Dennis war nur ein Mensch, einer der die Erde mitzerstörte und für den Verfall von Moral mitverantwortlich war. Der die Gebote nicht achtete, fluchte und nicht an die heilige Schrift glaubte. Nein, er konnte kein Bruder von Afriel sein.
    "Gut. Ich verlasse mich auf dich. Es wird deine erste Prüfung sein, und es werden noch viele weitere folgen. Und du weißt auch, worauf du achten musst..." Der Junge nickte zögernd, wobei er sagte: "Ich muss seine Seele entnehmen und nach Scheol verbannen. Damit sie dort verschlossen bleibt, wartet auf weitere Seelen, bis in alle Ewigkeit." "Amen", schloß Gabriel und zeichnete seinem Gegenüber mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Es bestärkte Afriel in seinem Tun, in seinem Glauben und in seinem Vertrauen an seinen geistigen Hirten.

    Rastplatz - 12:45 Uhr


    Ben und Semir hatten gerade das letzte Stück Pizza in der Hand, als das Handy des erfahrenen Polizisten klingelte und Hottes Nummer zu sehen war. "Hotte, alles klar?" "Semir! Jenny ist mit unserem Dienstwagen abgehauen?" Er liess das letzte Stück Pizza in den Karton fallen und stand erschrocken von seinem Tisch auf. "Wie, Jenny ist mit dem Dienstwagen abgehauen? Was soll das heißen?" "Mensch, ich weiß es doch auch nicht. Sie ist plötzlich hier an der Unfallstelle ins Auto gestiegen und ist weggefahren. Ohne etwas zu sagen, einfach den Zeugen stehen gelassen." Hottes Stimme klang gehetzt, ein wenig beschämt dass er nicht gut auf die junge Frau aufgepasst hatte, aber auch besorgt um den Zustand seiner Kollegin. "Wir können hier nicht weg." "Wir sind schon unterwegs.", meinte Semir und steckte das Handy weg.
    Ben und Hartmut sahen ihn verständnislos an. "Was ist mit Jenny?", fragte Ben, obwohl er Semirs Wiederholung als Frage gegenüber Hotte klar verstanden hatte. "Keine Ahnung. Aus irgendwelchem Grund ist sie plötzlich von der Unfallstelle abgehauen. Komm, wir müssen sie suchen." Die beiden Polizisten gingen gemäßigt aus dem Büro, um nicht die Aufmerksamkeit der Chefin auf sich zu ziehen... was immer bei Jenny passiert war, wollten sie erst einmal für sich behalten. Hartmut folgte ihnen nach draussen. "Soll ich mitkommen?" "Nix da, Einstein. Du kümmerst dich um das Handy, wir kümmern uns um Jenny.", sagte Ben und stieg in den silbernen BMW ein.


    Den Stau mussten sie nun ebenfalls durch die Rettungsgasse passieren, an der Unfallstelle hielten sie kurz neben Hotte. "Sie ist in diese Richtung, ich weiß aber nicht wie weit. Die Abfahrt dahinten ist sie nicht raus.", sagte er durch die Kälte, am Horizont vor einer Kurve war noch die nächste Abfahrt zu sehen. "Alles klar, wir fahren die Autobahn mal ab. Wenn wir sie nicht finden, soll Hartmut den Wagen orten. Wir melden uns.", sagte Ben am Beifahrerfenster und Semir trat wieder aufs Gas. Hinter dem Unfall ging der Verkehr zügig weiter und der erfahrene Polizist trat aufs Gaspedal. Wenn Jenny noch unterwegs war, hatten sie nur eine Chance, wenn sie schneller waren. Auf der Dienststelle hatte sich niemand über einen rasenden Dienstwagen beschwert, deshalb gingen sie davon aus, dass die junge Polizistin im gemäßigten Tempo unterwegs war, wenn überhaupt.
    Zwei Abfahren später folgte ein Rastplatz, der von der Fahrbahn mit Bäumen abgegrenzt war. "Mach mal langsam.", mahnte Ben seinen Partner an, das Tempo etwas zu drosseln. Von der Einfahrt konnte er nichts sehen, doch zwischen den Bäumen schimmerte etwas Blau-Silbernes durch. "Ich glaube, da steht ein Streifenwagen..." Für Semir das Signal. An der Einfahrt war er bereits vorbei, also wendete er vorsichtig bei der Ausfahrt des Rastplatzes, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, und fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf den großen Parkplatz.


    Scheinbar einsam und verlassen stand der große Porsche Cayenne auf einem der Parkplätze. Ben bekam plötzlich ein ganz mulmiges, ein ganz ungutes Gefühl. Er konnte es nicht näher definieren, es war einfach zu ungeheuerlich diesen Gedanken in klaren Bildern zu fassen, aber sein Magen zog sich unweigerlich zusammen, als er aus dem BMW ausstieg und sah, dass der Porsche leer war. Er dachte an Kevin, er dachte daran, als er die Waffe in der Dusche fand, er dachte an seine Pillen... die er vielleicht noch zu Hause hatte, die Jenny vielleicht mitgenommen hatte... jetzt hatte er doch Bilder von den Gedanken im Kopf. Und ein Blick auf seinen Partner, seinen besten Freund, verriet dass dessen Gedanken ebenfalls voll Sorge waren. Und die Tatsache, dass Jenny ihre Dienstwaffe dabei hatte, machte die Sache nicht beruhigender.
    "Jenny?", riefen sie zweimal in alle vier Himmelsrichtungen über den riesigen Parkplatz. Der Porsche stand zur Fahrbahnleitplanke, in die andere Richtung folgten weitere Reihen bis der kahle Wald begann. Das gleichmäßige Autorauschen von der Autobahn war das einzige Geräusch, das die beiden vernahmen... neben ihrem pochenden Herzschlag, und ihrem rasselnden Atem. Immer wieder drehten sich die Polizisten herum, suchten mit den Augen jeden Winkel ab.


    "Da!", sagte Semir plötzlich und zeigte mit dem Finger auf eine der Bänke. Sie saß nicht auf der Bank, sondern davor, weshalb sie sich nicht sofort davon abhob und leicht übersehen werden konnte. Die Beine dicht an den Leib gezogen und die Arme um die Knie geschlungen, so saß sie zusammengekauert auf dem kalten feuchten Boden. Sofort kamen die beiden Polizisten näher und erkannten, dass Jenny sie gar nicht regestrierte. Sie starrte einfach tränenüberströmt geradeaus, ihr ganzer Körper zitterte und in Bens Gesicht wich die aufkommende Erleichterung sofort wieder dem Kummer. "Jenny... was machst du denn hier?", fragte er fassungslos und ging vor ihr in die Hocke. Er wollte ihre eiskalte Hand greifen, doch sie zog sie zuckend zurück.
    Semir setzte sich schräg hinter Jenny und beugte sich etwas nach vorne, wobei er die Finger seiner Hände ineinander kreuzte. Er sah Bens hilflosen Blick... "Ich hab ihn gesehen...", sagte die junge Frau mit vor Kälte und Weinen zitternder Stimme, ohne einen der beiden Männer anzusehen. Im Bauch des jungen Polizisten regten sich plötzlich Hoffnung, aber auch sofort wieder Skepsis. "Was hast du gesehen, Jenny?", fragte Semir mit rationaler und beruhigender Stimme, während sein Partner der jungen Frau direkt in die wässrigen Augen sah, in denen sich ein Bild zu formen schien. "Kevin... ich hab Kevin gesehen."


    Das Rauschen der Autos war plötzlich ganz weit weg und die beiden Polizisten schauten sich kurz an. Jennys Reaktion passte so gar nicht zu ihrer Entdeckung, und sie lieferte auch sofort die Aufklärung. "Aber er war es nicht... er war es plötzlich nicht mehr.", sagte sie und ihr Gesicht verzerrte sich, ein weiterer Weinkrampf ergriff sie und die beiden Männer merkten, dass sie lange noch nicht wieder so stabil war, wie sie vorgab um wieder arbeiten zu können. "Es war jemand anderes... aber ich hab ihn genau erkannt." Erst jetzt ließ sie sich helfen, mentalen Beistand geben, in dem sie sich von Ben in den Arm nehmen ließ und die Arme fest um den Oberkörper des Polizisten schlang. Ihr war kalt, die Schmerzen im Bauch wurden vom Kummer nicht nur verursacht, sondern auch verdrängt und sie fühlte sich elend... doch die beiden Männer fühlten sich in diesem Moment nicht besser.
    Was sollten sie sagen... sollten sie ihre Hoffnung aufrechterhalten... eine Hoffnung, die sie beide kaum noch besaßen, schon gar nicht nachdem sie das Handy gesehen hatten? Sollten sie bereits Beileid aussprechen über einen Tod, der noch nicht feststand? Sie kamen sich schrecklich hilflos vor, sie konnten Jenny wieder trösten noch helfen, noch ihren innigsten Wunsch erfüllen. "Ich will, dass er einfach wieder da ist... ich will, dass Kevin noch lebt...", schluchzte sie herzzereißend.

    Autobahn - 12:15 Uhr


    Jenny war genervt, müde und noch dazu nicht bei der Sache. Ob nun das eine aus dem anderen entstand, oder alles aus dem Ursprung ihrer Gedanken um Kevin stammte, konnte sie nicht sagen. Die Chefin hatte sie eher widerwillig in den Dienstplan schreiben lassen, sie musste raus aus ihrer Wohnung, sie wollte arbeiten. Und vor allem wollte sie normal behandelt werden, doch das viel gerade sehr schwer. Denn Anna Engelhardt hatte Bonrath und Hotte erklärt, dass sie besonders gut auf Jenny acht geben sollten, dass sie ihr nicht zuviel zumuten sollten. Und diese Ansage nahmen die beiden gutmütigen Streifenpolizisten mehr als ernst.
    Es begann damit, als kurz vor Mittag die Nachricht eines Verkehrsunfalls, nur wenige Minuten vom Revier aufgenommen werden musste. Jenny atmete auf... endlich etwas zu tun, endlich Ablenkung. Sie griff ihre Jacke und Mütze, und schaute herausfordernd Dieter an, mit dem sie öfters zusammen fuhr. Der bequemte sich auch langsam in die Senkrechte, doch zu ihrer Überraschung nahm auch Herzberger seine warmen Sachen in die Hand. "Ähm... was...?", fragte Jenny unsicher, doch der dicke Polizist winkte sofort ab. "Das ist schon okay, Jenny. Ich fahre mit Dieter." "Aber Hotte, ich will was tun. Rumsitzen kann ich auch zu Hause." Es war ein so ruhiger Tag, sie hatte die Berichte, die abgearbeitet werden musste innerhalb einer Stunde bereits erledigt gehabt.


    Doch Hotte blieb hart. Sie sei schwanger, sie solle sich etwas schonen, sie könne dann auch den Bericht des Unfalls schreiben, wenn die beiden wieder zurück sind. "Hotte, ich bin im dritten Monat schwanger. Da ist man nicht bettlägerig... ausserdem kannst du nicht auf mich aufpassen, wenn ihr beide weg seid." Schnippisch verschränkte sie die Arme vor der Brust, und Herzberger schnappte einen Blick der Chefin auf, die scheinbar durch die Glaswand die Diskussion beobachtete... und ihr Blick verriet höchste Alarmstufe kurz vor einem Super-GAU. "Na gut.", sagte Herzberger entschlossen und setzte sich die Mütze auf den Kopf. "Dann fahren wir eben zu dritt." Mit diesen Worten nahm er entschlossenen Schrittes Kurs zur Tür, während Jenny nicht wusste, was sie sagen sollte. "Na komm schon, Jenny. Du weißt doch, er meint es nur gut.", sagte Bonrath in seiner manchmal drögen, oft aber auch beruhigenden Art und Weise.
    Zu dritt setzten sie sich in den großen Porsche, der hinten für Jenny Platz genug bot, und fuhren auf die Autobahn. Es hatte sich bereits ein Stau gebildet, die Rettungsgasse wurde mehr oder weniger gut gebildet und die Streifenbeamten waren als erstes am Unfall ort. Ein weißer BMW stand auf dem Seitenstreifen, die Motorhaube und Front eingedrückt. Ein kleiner Opel sah schlimmer aus, stand verkehrt herum halb auf dem Seitenstreifen und der rechten Spur, war vorne ebenfalls demoliert, sowie der Kofferraumdeckel eingedrückt. Ausserdem war die rechte Leitplanke nach aussen verbogen und mehrere Wagen hatten an der Unfallstelle angehalten und leisteten bei einer Frau erste Hilfe.


    "Am besten bleibst du im Wagen, Jenny... ok?", sagte Hotte, nachdem er bereits auf den ersten Blick einen RTW und die Feuerwehr verständigte, da Kühlmittel aus dem Opel lief. "Nein Hotte, ich bleibe nicht im Auto. Nochmal, ich bin weder krank noch beeinträchtigt... Mann!", empörte sich Jenny vom Rücksitz und stieg, trotz eines kurzen schmerzhaften Stechens im Bauch, aus dem Auto aus. "Bonrath, sicher du mal die Unfallstelle ab, wir reden mit den Beteiligten." Bonrath war in Hottes Augen heute der, der am besten zu Fuß war, weswegen er das Warndreieck aufstellte.
    "Können wir helfen?", fragte Hotte zunächst bei der verletzten Frau nach, die an der Leitplanke saß und von einem Mann einen Kopfverband gefertigt bekam. "Mir ist ein wenig schwindelig...", sagte die Frau. "Der RTW kommt gleich. Sind sie die Fahrerin von dem Opel?" Ein kurzes erschöpftes Nicken, und dem Unfallwagen nach zu urteilen konnte Hotte der Frau Kopfschmerzen nicht verdenken. Ein weiterer Mann lief aufgeregt hin und her, hatte das Handy am Ohr, wobei er oft die Worte "Blinde Kuh" und "Frauen am Steuer" rief. Jenny kam zu ihm und bat ihm durch Handzeichen das Handygespräch für einen Moment zu unterbrechen. "Können sie mir sagen, was passiert ist?" "Na... na ganz einfach. Ich fahre auf der Überholspur... linke Spur. Alles frei und rechts, auf einmal zieht die raus. Sie gar nicht dass..." Der Typ redete wie ein Wasserfall, Jenny nickte hin und wieder, und seine Worte verhallten irgendwo. Vermutlich war er schnell unterwegs und die Autofahrerin hatte sein Tempo unterschätzt, und zog auf die Überholspur... ein Unfall, wie er jeden Tag vorkam.


    Ihr Bauch schmerzte etwas, ihre Gedanken entrückten... und plötzlich sah sie es. Sie blickte gerade an dem Unfallbeteiligten vorbei auf die Überholspur, auf die Bonrath zu Beginn des Unfalls die Autofahrer noch notdürftig umleitete, bis ein zweiter Wagen kommen würde, und diese Umleitung übernehmen sollte. Seine abstehenden Haare, sein Blick... war unverkennbar. Er rollte in einem dunkelblauen Jeep über die Überholspur und für einen Moment hatte Jenny das Gefühl, er hätte sie angesehen. Der Mann hörte einen Moment aufzureden, als er das entsetzte, gar starrte Gesicht der Polizistin bemerkte, die dem Wagen hinterher sah und jegliche Gesichtsfarbe verlor. "Hallo... hören sie mir zu?", fragte er irgendwann, und Jenny erwachte aus ihrer Starre. "Was? Ja... einen Moment..."
    Sie lief zum Dienstwagen, startete ihn und ordnete sich mit Blaulicht gewaltsam in den laufenden Verkehr ein. Höchstens vier oder fünf Wagen waren zwischen ihr und dem Jeep, hinter der Unfallstelle verteilte sich der Verkehr sofort wieder. "JENNNYYYYY!" rief Hotte laut, als er bemerkte, was passiert. Bonrath war zu weit weg, er hörte nur den Motor und sah nur noch die Rücklicher ihres Dienstwagens. "Das gibts doch nicht...", schnaufte der dicke Polizist und zog sein Diensthandy aus der Tasche, um Ben und Semir anzurufen.


    Jenny war wie in Trance, als sie begann, Auto für Auto zu überholen. Sie wusste überhaupt nicht, warum sie das tat, was sie tat... sie wollte Gewissheit, sie wollte genau sehen, was sie glaubte, gesehen zu haben. Nicht warten bis heute abend, nicht weiter im Unklaren sein. Der Polizei-Porsche hatte Überschuss, als sie an dem Jeep auf der Überholspur vorbeifuhr, so schnell, dass sie nicht rechtzeitig herübersehen konnte. Mit einem Tastendruck schaltete sie das "Bitte folgen" - Schild in der Heckscheibe an und steuerte den nächstgelegenen Rastplatz an. Sie spürte ein Zittern in den Händen, ein Ziehen im Bauch, und ihre Atmung funktionierte nicht gleichmäßig. Das Herz schlug so fest gegen den Rippenbogen, als wolle es ausbrechen, und der Bild im Rückspiegel, als beide Autos zum Stehen kamen, verschwamm.
    Hatte er doch überlebt? Warum hatte er nicht angerufen? Wie lange war er überhaupt schon hier? Mit diesen Fragen würde Jenny den jungen Mann überschwemmen... vermutlich nachdem sie sich überglücklich in die Arme geschlossen hatten, sich festgehalten hatten und schwören würden, nie wieder loszulassen. Das spielte sich vor Jennys innerem Auge ab, als sie mit feuchten Händen die Wagentür öffnete, und mit langsamen, unsicheren Schritten die kurze Distanz zu dem Geländwagen überwinden wollte.


    Als die junge Polizistin durch die Windschutzscheibe in das Gesicht des Mannes sah, wollte sie zusammenbrechen... ob aus Scham, ob Enttäuschung... sie wusste es nicht. Der Mann am Steuer des Jeeps war gute 10 Jahre älter, hatte zwar die Haare zugegebenermaßen ungekämmt und abstehend, aber sonst keinerlei Ähnlichkeit mit Kevin. Nicht mal die Augenfarbe oder der melanchonische Gesichtsausdruck hätte gepasst. Aber sie hatte ihn doch gesehen... er hatte sie angesehen mit seinem durchdringenden Blick. Jennys Reaktion muss dem Kerl am Steuer sehr suspekt sein, denn sie kam langsam mit versteinertem Blick, bis sie an der Seitenscheibe stand. "Hab ich was falsch gemacht?", fragte er die Fraeg, die wohl jeder Autofahrer stellte, wenn er angehalten wurde. Aus dauerte einen Moment, bis Jenny sich gefangen hatte, etwas von "Allgemeiner Verkehrskontrolle" stotterte und nach kurzem Blick auf den Führerschein und die Papiere eine gute Weiterfahrt wünschte. Später hätte sie nicht mal mehr die Wagenfarbe des Autos nennen können, so wurde ihr Kopf von Gefühlen überflutet...

    Ich hatte das Gefühl, man hat hier verzweifelt versucht "Tödliche Wahl" (der ihn seiner Art, bis auf den missratenen Schluss, brilliant war) zu kopieren. Semir auf der falschen Seite, Semir, der sich gegen seinen Partner stellt.

    Das hat bis zur Hälfte, bis zur Szene in Aydas Schule noch funktioniert, und die Szene war tatsächlich ein kleiner Höhepunkt (auf die Staffel bezogen sowieso) aber danach war die Luft völlig raus. Semir erinnert sich zu früh zurück an seinen wahres Ich, und vor allem zu schnell, der Rest war wieder vorhersehbar.

    Ich bin sehr enttäuscht von der neuen Art der Folgen. Man hat zwar die negativen Eigenschaften aus der mittigen Ben-Zeit nicht zurückgeholt, aber die man hat die, nachdem man alle Eigenschaften der Alex-Ära abgeschüttelt hat, nicht mal die positiven Eigenschaften der Ben-Zeit zurückgeholt, die da zumindest eine moderne Machart, eine dynamische Erzählung und sinnvoll platzierte Stunts waren. Man hat irgendwie... gar keine Eigenschaften mehr...

    Dienststelle - 12:15 Uhr


    Ben orderte die Pizza für sich, Semir und ihren KTU-Kollegen Hartmut schon von unterwegs, denn durch den Mittagsverkehr wurden sie auf der Autobahn ein wenig aufgehalten. Als sie wegen eines Verkehrsunfalls, den die Kollegen bereits aufnahmen, im Stau standen hatten sie Zeit sich zu unterhalten. "Du denkst also, die beiden Morde hängen zusammen.", fragte Ben nochmal auf Umwegen Semirs Gedanken ab, und der erfahrene Polizist nickte. "Zumindest ist es der gleiche Mörder. Die Art der Aufbahrung, die Brutalität der Verletzung, das kann innerhalb von zwei Tagen kein Zufall sein. Aber Trauge hängt nicht mit Greuler zusammen. Also, wie passt das?" Er hatte den Arm auf den Rand am Seitenfenster abgestützt, und den Kopf auf den Arm, während er zu Ben herübersah, der nachzudenken schien.
    "Das Einzige, was die beiden verbindet, ist dass sie etwas auf dem Kerbholz haben. Aber Kindesmissbrauch ist doch ne andere Hausnummer, als ein paar Bilanzen fälschen... dass man dafür eher jemanden umbringt, okay... aber fürs Bilanzen fälschen." "Wir wissen ja nicht, um wieviel Geld Trauge die Anlegen gebracht hat, oder die Bank. Das müssen jetzt unsere Experten rausfinden." Semir hatte den Fund und den Sachverhalt sofort an die Kollegen der Finanzermittler weitergegeben.


    Der Stau lichtete sich langsam, die beiden Polizisten grüßten per Handzeichen die Kollegen am Unfallwagen. Es waren Hotte, Dieter und Jenny, wobei Letztere die beiden Polizisten übersah, weil sie sich gerade mit einem der Beteiligten unterhielt und nicht sehr aufmerksam wirkte. "Jenny wieder im Dienst?", fragte Ben überrascht und sein Partner zuckte mit den Schultern. "Vermutlich hat sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Kann ich verstehen." Er war selbst vor einigen Wochen in dieser Situation, zwangbeurlaubt zu sein. Die Langeweile und Isolation daheim machte die Probleme, weswegen er zu Hause blieb, noch stärker. Erst die Arbeit und die Unterstützung seiner Freunde halfen ihm, sich aus dem Sumpf heraus zu ziehen. Die dunkle Zeit hatte er komplett hinter sich gelassen.
    "Zwei Leichen, beide grausam zugerichtet, beide mit krimineller Energie, einer mehr, einer weniger.", zählte Semir nochmal auf und sah wieder zu Ben. "Auftragskiller?" Der junge Polizist verzog ein wenig den Mund und schüttelte den Kopf: "Glaub ich nicht. Der würde doch niemals so auffällig vorgehen, sich so eine Mühe machen." Damit hatte Ben recht, ein Profikiller würde seinem Opfer eine Kugel in den Kopf jagen oder die Schlinge um den Hals ziehen, und damit hat sich die Sache. Dass der Auftraggeber einen Kinderschänder leiden sehen möchte, hätten die beiden Kommissare auch noch als plausibel betrachtet, aber das Delikt von Trauge passte einfach nicht hinein.


    Als sie um viertel nach zwölf auf den Parkplatz einbogen, war von Hartmuts orangener Lucy noch nichts zu sehen. Auch die Pizza dampfte noch nicht auf dem Schreibtisch, wie Ben enttäuscht feststellte, als sie das Büro betraten. Stattdessen stand dort ein graues Paket, das bei beiden Polizisten sofort ein mulmiges Gefühl im Magen auslöste, und den Hunger komplett unterdrückte. Semir nahm sein Taschenmesser und durchtrennte das Klebeband, mit dem das Paket sehr gut zugekleistert war. Sein Herz pochte laut, als er langsam die beiden Deckel öffnete und erstmal nur Styropor und Sicherungsmaterial zum Vorschein kam. Ben stand schräg hinter ihm und kaute an den Fingernägel. Sofort war alles wieder präsent, die Unsicherheit, die Angst und die Ungewissheit über das Schicksal ihres Kollegen, ihres Freundes. Alle Gefühle, die die Arbeit schaffte zu unterdrücken und davon abzulenken, kamen mit voller Wucht in ihr Gedächtnis, als Semir das Verpackungsmaterial langsam entfernte.
    Es warem mehrere Plastikbeutel, in denen das Handy... oder was davon übrig war... verpackt war. Auf den ersten Blick sah es aus wie billiger Plastikschrott mit ein paar Platinen, Splitter des Displays, ein Stück von der Sim-Karte. Semirs Hände zitterten leicht, als sie die Päkchen aus dem Paket nahmen und nebeneinander auf den Tisch legten.


    Beide Männer waren bestürzt, sie blickten die Teile an und stellten sich vor, welche Kraft auf sie eingewirkt haben muss. Sie hatten bereits Mobiltelefone aus Unfallwagen geholt, die ähnlich zerstört waren, allerdings nur bei wirklich schlimmen Unfällen. Wenn das Handy von besagter Brücke fiel mit Kevin, und durch den Fluss und die Felsen so beschädigt wurde, war es doch ein sehr eindeutiges Indiz dafür, wie schlecht die Chancen um den jeweiligen Menschen waren, der ebenfalls herunterfiel. "Scheisse...", war das einzige, was Ben rausbrachte bevor er sich kopfschüttelnd abwandte. Auch Semirs Gesichtsausdruck drückte Betroffenheit, gar Resignation aus. Jeden Hinweis den sie von Kevin bekamen, sprach gegen sein Überleben...
    Gerade passend kam nun Hartmut ins Büro und rieb sich über den Bauch. "Naaa... gibt schon Es...?" Das letzte Wort blieb ihm im Halse stecken, als er die Gesichter der beiden Polizisten sah. "Was ist los? Ist der Pizzabäcker etwa verunglückt?" "Einstein, setz dich mal nen Moment.", sagte Semir in ruhigem Ton, und das KTU-Genie nahm Platz und betrachtete jetzt auch die eingetüteten Handyreste an. "Was ist das?", fragte er und nahm eine Tüte in die Hand. "Das ist Kevins Handy... oder zumindest vermuten wir das. Es wurde in dem Fluss gefunden, und auf der SIM-Karte ist ein deutscher Netzbetreiber erkennbar." Hartmut blickte durch die Tüte genau auf den Teil der Simkarte, wo er noch das rote Logo zur Hälfte erkennen konnte.


    Der rothaarige Techniker wusste über die Vorkommnisse in Kolumbien natürlich Bescheid. Er blickte die Stücke lange und ausgiebig an. "Teile der SIM-Karte... hier ein Stück von der Hauptplatine, da ein Teil von der Festplatte... puh. Ziemlich heftig.", meinte er nachdenklich und konnte sich schon ausmalen, was seine Rolle bei der Sache war. "Du musst versuchen, irgendeinen Beweis auf den Teilen zu finden. Wir müssen wissen ob das Kevins Handy ist... wenn nicht, dann gibt es immer noch Hoffnung." "Und wenn doch...?" Hartmut blickte unsicher und Semir runzelte die Stirn. "Dann... ja, dann verschwindet die Hoffnung so langsam."
    Hartmut ließ den Blick nochmal über die Teile streifen. "Das wird nicht leicht..." "Na, deswegen haben wir ja auch dich gefragt, und nicht irgendeine Pfeife.", sagte Ben und legte seine Hände von hinten auf Hartmuts Schultern. "Hartmut, es ist wirklich wichtig." "Okay, ich geb mein Bestes.", sagte er und packte die Tütchen wieder in den Karton. Die Pizza, die nur wenige Minuten später ankam, schmeckte allen drei fad. Ob sie wirklich weniger gewürzt war als sonst, oder ob es einfach der allgemein düsteren Laune geschuldet war, wussten sie nicht.

    Bürogebäude - 11:00 Uhr


    Das enge Kleid, dass die schlanke junge Angestellte der deutsche Bank anhatte, das ausserdem nicht unbedingt als "lang" zu bezeichnen war und im dunkelblau perfekt zum Firmenlogo passte, zog nicht nur die Blicke von Ben und Semir auf sich, sondern garantiert im Berufsalltag auch die Blicke aller Männer. Noch dazu, wenn die Angestellte Selina Ratke demnächst die Managerstelle von Trauge übernehmen würde und damit auch finanziell einen Sprung machte. Der Schock war trotzdem noch präsent von dem, was in der Tiefgarage vorgefallen war und die beiden Autobahnpolizisten sparten bei ihren Ausführungen reichlich an Details. "Wir müssten uns die Büroräume des Herrn Trauge genauer ansehen." Die junge Frau nickte, ihre Augen waren leicht gerötet, denn sie hatte mit Trauge jeden Tag zu tun und mochte ihn eigentlich. Weil sie fast gleichgestellt mit ihm war, hatte sie keine Tyrannei zu befürchten, anders als die ein oder andere Auszubildene.
    Selina Ratke wurde der Eilbeschluss zur Durchsuchung gezeigt, den die beiden Kommissare erstaunlich schnell bekommen hatten. Aber die Presse hatte über den ersten Mord bereits berichtet, und die Staatsanwaltschaft geriet bereits unter Druck. So führte sie die beiden Polizisten in ein geräumiges und gut ausgestattetes Büro, in das Semir ein wenig ausser Atem eintrat. "16. Stock... Du und deine blöde Treppenlauferei.", sagte er in Richtung seines Partners, der sich erneut erfolgreich durchgesetzt hatte, und den Aufzug vermied. "Das ist gut für die Oberschenkel. Irgendwann wirst du mir dankbar sein.", meinte Ben altklug.


    Ben und Semir ließen sich von Frau Ratke die wichtigsten Unterlagen, die laufenden Geschäftsakten und Bilanzen zeigen. Der erfahrene Kommissar fühlte sich unwohl, den er spürte, dass sie hier ohne Plan und Konzept vorgingen und etwas suchten, was sie selbst nicht kannten. Einige Dinge ließen sie sich erklären und vorrechnen, auch wenn sie keine Ahnung von den ganzen Zahlen hatten, die auf den Blättern und in Tabellen aufgelistet waren. "Wie gut kannten sie den Toten eigentlich?", fragte Ben dann während einer kleinen Verschnaufpause. "Naja... wir waren gute Arbeitskollegen, und haben sehr gut zusammengearbeitet." "Könnten sie sich vorstellen, dass er mal in irgendeiner Form in ein Verbrechen verwickelt war?" Die Augen der jungen Frau wichen von dem jungen Kollegen, als würde sie nachdenken. "Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen..."
    Nach einer Stunde hatten die beiden Polizisten genug. "Wir würden uns gern noch etwas umsehen.", sagte Semir dann nickend und die junge Frau setzte sich auf den Stuhl hinter den Schreibtisch. Sie hatte zwar den Durchsuchungsbefehl, doch alleine lassen wollte sie die beiden Männer nicht.


    Semirs Handy meldete sich. "Ja?" "Hier ist Andrea. Hier ist ein Päkchen für euch gekommen.", sagte die Stimme seiner Frau. "Deshalb rufst du mich an? Legs mir bitte auf den Schreibtisch." "Ich rufe extra an weil es... weil es aus Kolumbien ist." Kevins Handy, fuhr es Semir sofort durch den Kopf. Hoffentlich hatte Jenny das Päkchen nicht mehr gesehen, als sie eben da war. Doch die junge Frau war bereits auf Streife, bevor das Paket abgegeben wurde. "Ok. Wir sind hier gleich fertig und kommen dann rein, dann schauen wir es uns mal an. Danke mein Schatz.", sagte Semir und legte auf.
    Danach wählte er sofort die Nummer von Hartmut Freund, dem KTU-Genie. "Hallo Semir, was gibts?" "Hey Hartmut. Du, willst du vielleicht die Mittagspause bei uns im Büro verbringen? Ben gibt einen aus." "WAS MACH ICH?", rief der Betreffende, der den Kopf gerade in einem der Schränke hatte, und diesen nach geheimen Verstecken abtastete. Einer der Holzschränke war ihm nämlich komisch vorgekommen, war dessen Rückseite doch weitaus tiefer, als es im Schrank den Eindruck machte. Semir winkte nur ab und bekam positives Feedback von Hartmut: "Na klar. Gute Idee. So gegen 12, halb eins bin ich bei euch." "Bis dann, Einstein.", sagte Semir lachend und beendete das Gespräch. "Jetzt hab dich nicht so, ne Pizza wirst du ja mal springen lassen können.", meinte er noch in Richtung seines Partners.


    Der wurde auf einmal hibbelig, als seine Hand tief im Schrank verschwunden war. "Ich hab hier was!" Semir kam näher und auch Selina Ratke stand vom Stuhl auf und baute sich hinter den beiden Kommissaren auf. "Hier sind in der Rückwand ein paar Kerben, die von den Ordnern verdeckt wurden. Warte mal... vielleicht...", Ben murmelte und versuchte einen Fingernagel in die Kerbe zu bekommen, um zu versuchen, irgendetwas aufzuhebeln oder aufzubrechen. Vorher nahm er aber noch alle Ordner aus dem Schrank, um mehr Platz zu haben. Immer wieder rutschte er mit den Fingernägeln ab, einer riss ein was der Gitarrist laut befluchte. "Komm, lass mich mal.", meinte Semir, doch der hatte Mühe an die Kerbe heranzukommen, weil er doch ein gutes Stück kleiner war. Er ächzte und Ben ließ sich zu einem: "Soll ich dem kleinen Semir vielleicht ein Stühlchen holen." hinreißen.
    Doch Semir schaffte es, eine Holzklappe fiel ab und ein Zwischenraum des Schrankes tat sich auf. Ben griff hinein und bekam einige dünne Aktenordner zu fassen, die dahinter verstaut waren. Sie wurden ans Tageslicht befördert, auf den Deckeln der Akten stand "Bilanzen" und verschiedene Jahreszahlen. "Werden die bei ihnen immer so gut versteckt?", fragte Semir beinahe sarkastisch, denn es war ihnen klar, dass diese Akten nicht für Jedermann waren, wenn sie so gut verborgen lagen. Die junge Frau wusste zunächst keine Antwort.


    Zusammen gingen sie zurück zum Schreibtisch, wo Selina Ratke die Akten aufschlug und stumm die Zahlen studierte. Irgendwann wendete sie sich an den PC auf dem Schreibtisch, wo sie weitere Tabellen und Zahlenreihen aufrief, und ihre Miene verfinsterte sich zunehmend. "Na... was können sie sagen?", fragte der jüngere Polizist neugierig, der hinter dem sitzenden Semir stand. "Offenbar sind die Bilanzen, die wir in den letzten Jahren eingereicht haben, gefälscht worden." "Gefälscht?" "Ja... wo festgehalten wird wieviel Umsatz gemacht wurde, Zinsen, Kredite, Tresorfüllung. Diese stimmen nicht überein mit denen, die an die Zentralstelle übergeben wurde." Die beiden Polizisten blickten sich vielsagend an.
    "Das heißt, Trauge hat die Bilanzen gefälscht, und sich den Überschuss in die Tasche gesteckt.", bilanzierte Ben und sah in ein geschocktes Gesicht. "Das... das kann ich mir nicht vorstellen.", stotterte Selina und war über die kriminelle Kraft geschockt. "Macht Trauge die Bilanzen alle selbst?" "Nein, einiges wird von den Auszubildenen gemacht. Aber er kontrolliert und muss die Sachen abzeichnen. Er hätte es bemerken müssen." Wieder blickte die Frau die beiden Polizisten an. "Glauben sie, dass er deswegen... umgebracht wurde? Aber, das würde ja bedeuten... hier... also, von den gefälschten Bilanzen kann ja nur jemand hier im Haus gewusst haben." Semir dachte kurz nach: "Wir glauben zwar, dass es was damit zu tun hat... aber wir glauben nicht daran, dass der Mörder von hier ist." Es gab einen Bezug zu dem Mord auf der Brücke... und es wäre ein Riesenzufall, wenn ein anderer Bankangestellter erst einen Kinderschäner und dann einen Bilanzenfälscher "bestrafen" würde... an soviel Zufall wollte Semir nicht glauben.

    Danke für dein ausführliches Feedback.

    Ich habe jeweils Zusammenfassungen meiner Storys geschrieben, allerdings inklusive aller Spoiler, was die Spannung der Storys trüben würde, wenn du sie noch vorhast, zu lesen.

    Aber wie du weisst, kommen die auch alle nach und nach bei ff.de . Wenn du Interesse an der Zusammenfassung hast meld dich einfach :)

    Viel Spass noch.

    Dienstelle - 9:30 Uhr


    Ben hatte sich wieder konzentriert, nachdem Semir seine Neckerei mit seinem Auftreten hatte. Das Shirt richtig herum am Oberkörper, den ganz leicht zu sehenden Lippenstift von Carina, als sie ihm den Kuss auf den Hals eben gegeben hatte, hatte er abgewischt. Sie hatte sich gestern abend nicht mehr abgeschminkt und war, wie sie war, heute morgen wach geworden. Jetzt saß der Polizist, mit einer Tasse Kaffee bewaffnet, am Schreibtisch und betrachtete die Fotos des Tatorts, die Meisner über sein Handy bereits geschickt hatte. Semir stand mit verschränkten Armen hinter ihm, und sah sie sich ebenfalls nochmal an. "Das ist doch eindeutig eine Handschrift. Der aufgeschlitzte Oberkörper, die Lage der Leiche...", murmelte Ben in seine Kaffeetasse. "Neu ist nur der Bauchstich und der Kehlenschnitt.", gab sein Partner zur Antwort.
    Irgendwann lehnte Ben sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme ebenfalls. "Auf der Brücke konnte er sein Opfer fixieren. Hier nicht... vielleicht musste er es deshalb erst "ausschalten."", meinte der junge Kommissar nachdenklich und klickte das Bild dann irgendwann weg, den sonderlich schön war die ganze Sache trotzdem nicht anzusehen, auch wenn beide Polizisten einiges Schlimmeres gewohnt waren. Bei Unfällen auf der Autobahn von LKWs gegen Motorräder gab es weitaus hässlichere Bilder zu sehen.


    "Glaubst du, wir haben es mit dem gleichen Täter zu tun?", fragte Ben und schaute nach hinten zu Semir, der dann langsam und nachdenklich wieder zurück in Richtung seines Platzes ging. "Das glaube ich ganz sicher. Das wäre sonst ein Riesenzufall. Fraglich ist jetzt nur, wie die beiden Opfer zusammenhängen. Der eine ein gerade erst freigekommener Kinderschänder, der andere ein hochrangiger Bankmanager... was haben solche Menschen gemeinsam?" Er ließ sich wieder auf seinen Drehstuhl fallen, knüllte ein Blatt Papier zusammen und warf es gekonnt in den kleinen Basketballkorb, den sie sich mal vor langer Zeit an die Wand gehängt hatten, und genau darunter den Papierkorb aufgestellt hatten. Raschelnd fiel das Blatt Papier zu dem restlichen Müll.
    "Was ist, wenn Trauge Dreck am Stecken hatte? Vielleicht ähnliches wie Greuler... was nur noch nicht aufgeflogen ist?", überlegte Ben laut und fuhr sich durch die Haare, um die Frisur wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen. "Das würde aber bedeuten, dass der Mörder Trauge persönlich kannte... wenn er davon wusste. Aber zwischen Trauge und Greuler gibt es absolut keinerlei Kontakt." Für einen Moment schwiegen sie und schaukelten beide auf ihren Stühlen nach links und rechts. "Vielleicht sollten wir das Büro von Trauge mal unter die Lupe nehmen...", meinte Semir nachdenklich und Ben nickte ihm zu. Er war immer froh, dass Semir selbst in der dunkelsten Sackgasse ihres Denkens immer noch eine Idee hatte, wie man vielleicht doch irgendwo eine Tür finden konnte.


    Als die beiden Kommissare aufblickten, konnten sie durch die Glasscheibe sehen, dass Jenny ins Büro kam. Sie sah müde aus, irgendwie abgekämpft und ausgelaugt, aber sie lächelte Bonrath und Herzberger zu, die beide aufstanden um sie kurz zu herzen und zu umarmen. "Was macht Jenny denn hier?", fragte Semir ein wenig verwirrt, als er sich die dick gefütterte Lederjacke anzog. "Keine Ahnung, ich bin nicht Jesus. Fragen wir sie.", antwortete Ben sarkastisch und die beiden Polizisten betraten das Großraumbüro. Auch sie umarmten Jenny kurz, wünschten ihr einen guten Morgen. Die junge Frau lächelte, so gut es ging, auch die beiden Kollegen an, wobei ihr Blick dann auf Bens Hals haften blieb. "Ben, du hast da was... wie Lippenstift?", fragte sie zögerlich und tippte sich selbst auf die Stelle am Hals. "Mensch, du hast doch gesagt, es sei alles weg!", knurrte der große Polizist nach unten zu seinem Partner und begann mit dem Daumen wieder zu reiben, damit die Farbe verblasste.
    "Was machst du denn hier? Wir dachten, du hättest noch ein paar Tage Urlaub?", fragte Semir dann. "Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Ich muss wieder irgendetwas tun, die Zeit im Mutterschutz wird in ein paar Wochen vermutlich langweilig genug. Ich halte es zu Hause einfach nicht mehr aus...", sagte sie mit leicht niedergeschlagener Miene. "Hmm... ja, das können wir verstehen. Du wir, müssen dann mal los. Bis später.", sagte der erfahrene Polizist, und die beiden verließen die Dienststelle.


    Jenny klopfte an der Glastür der Chefin, die ihr auch sofort Einlass gewährte. "Frau Dorn... sie haben Urlaub.", sagte sie sofort, und es klang nicht nach Verwunderung, sondern nach einer Anweisung. "Ich weiß, Chefin. Aber ich muss irgendetwas tun. Ich habe zu Hause nichts mehr, womit ich mich ablenken könnte." Die Wohnung war schon 4mal gewischst, und seit Juan gestern mittag ihr jede Hilfe verweigert hatte, mit ihr nach Kolumbien zu fliegen und Kevin zu suchen, wurde das Engegefühl in der Wohnung noch schlimmer. Gestern abend bekam sie dann einen Weinkrampf ohne Grund, bis sie unter Tränen auf der Couch eingeschlafen war. Es musste etwas passieren, entweder unternahm sie selbst was, oder sie arbeitete wieder, um sich abzulenken. Sie glaubte, dass ihr das gelingen würde.
    Doch kam war sie nur in das Großraumbüro getreten, schaute sie sich nach Kevin um. War er im Büro? Bis sie traurig feststellte, dass Semir und Ben alleine aus der Tür kamen und die bittere Realität holte sie wieder ein. Aber auf Streife, wenn sie arbeitete, wenn sie Geschwindigkeitssünder anhielt oder LKW-Fahrern Knöllchen schrieb, weil die Ladung mal wieder nicht gesichert war oder die Reifen beinahe profillos waren, dann würde sie nicht an Kevin denken... oder daran, auf eigene Faust nach Kolumbien fliegen.


    "Bitte, Frau Engelhardt. Ich brauch die Arbeit, ich kann nicht daheim rumsitzen und nichts tun." Jenny setzte einen flehentlichen Gesichtsausdruck auf und die Chefin ihren typisch nachdenklichen... strengen Blick. Sie wusste, dass sie den Kopf hinhalten musste, wenn etwas bei einem Einsatz passierte und rauskäme, Jenny war wegen ihrer emotionalen Ausnahmesituation nicht bei der Sache gewesen. Andererseits hatte sie dieses Risiko vor einigen Wochen auf bei Semir eingegangen. Jedoch war der langjährige Polizist Semir ein anderes Kaliber als die junge Jenny.
    "Sie fühlen sich wirklich fit genug, um zu arbeiten?", fragte Anna Engelhardt mit strengem Blick und die junge Polizistin nickte sofort. "Sie müssen mir versprechen, sich zusammen zu reißen... und keinen falschen Ehrgeiz zu zeigen. Wenn sie sich schlecht fühlen, sagen sie Bescheid, ja? Nicht nur wegen Kevin, sondern auch wegen ihrem Kind." So streng die Chefin zu ihren Männern auch war, Fürsorge stand für sie an erster Stelle und die junge Frau, die vor ihr stand hatte momentan Fürsorge bitter nötig. "Ich verspreche es ihnen. Hoch und heilig." "Nagut. Ich streiche ihren Urlaub. Aber ich werde Bonrath und Herzberger sagen, dass sie ihnen nicht zuviel zumuten sollen." Jenny wollte eigentlich nicht als heilige Kuh gelten, und von allem geschont werden, aber sie schwieg. Wenn die Chefin jemandem entgegen kam, waren Widerworte der schlechteste Dank.