Bahngleise - 14:20 Uhr
Blaulicht zuckte über das weite Feld, um den stehenden Zug hatte sich eine Menschentraube aus weißen Gestalten gebildet, die Spuren am Zug entnahmen, sowohl an der abgerundeten Front als auch an den Rädern. Hotte und Dieter, die ebenfalls kamen, mussten mit Engelszungen die geschockten Passagiere beruhigen, während der Zugführer von einem Notfallseelsorger im Krankenwagen versorgt wurde. Einige Meter hinter dem Zug waren ebenfalls die Tatortermittler beschäftigt, Spuren zu sichern. Afriel, der eigentlich Tobias hieß, hatte den Zusammenprall mit dem Zug natürlich nicht überlebt. Schlimmer noch... sein Körper wurde durch die Wucht furchtbar zugerichtet, so dass man ihn nur anhand seines Ausweises, den er bei sich hatte, identifizieren konnte.
Meisner, Leiter der Rechtsmedizin, kam mit etwas betretenem Gesichtsausdruck zu Ben und übergab ihm den blutigen Ausweis in einem Papiertütchen. "Ja, was soll ich sagen. Tod durch Allerlei, der Zug hatte ne enorme Geschwindigkeit. Ob das nun Absicht oder Unachtsamkeit des Jungen war kannst du vermutlich eher sagen." Der Polizist nahm das Tütchen und nickte ein wenig geistesabwesend. "Alles klar bei dir? Brauchst du den Seelsorger?" "Nein danke, Meisner. Du weißt doch, was wir auf der Autobahn jeden Tag sehen.", wurde der grauhaarige Mann beruhigt. "Ja... da läufst du den Unfallopfern aber nicht vorher hinterher." Der Rechtsmediziner klopfte Ben auf die Schulter und ein Spezialunternehmen begann den Zug schnell zu säubern, damit niemand am Bahnhof umkippte. Ebenfalls wurde ein Ersatz-Zugführer zum Ort des Geschehens gebracht, der Zug war noch fahrtüchtig, und man konnte die Fahrt nach einer Stunde Wartezeit fortsetzen.
Semir saß, eingehüllt in eine Decke zitternd im Auto, die Heizung auf Hochtouren. Er war im Dickicht des Gartens vom Weg abgekommen und ins Leere getreten, das Gleichgewicht verloren und im eiskalten Gartenteich gelandet. Danach hatte er seinen Partner und den Flüchtenden aus den Augen verloren, kurz auf der Straße in den Wald abbiegen sehen und dann triefend in den BMW gestiegen, mit dem Ergebnis dass er im feuchten Waldweg stecken blieb. Ein Traktorfahrer, der zufällig während der Tatortaufnahme durch den kleinen Wald zu den Feldern fuhr, zog den BMW freundlicherweise aus dem Morast. Jetzt sah der erfahrene Kommissar, dass Ben endlich zurückkam, und man in die warme Dienststelle fahren konnte.
Das erste, was Ben spürte, als er sich in den Sitz gleiten ließ, war ein unangenehme Feuchte an Po und Rücken. Natürlich war der komplette Sitz nass, dort wo Semir eben gesessen hatte. Mittlerweile hatte er die Klamotten bis auf die Unterhose ausgezogen und sich in die Decke des Krankenwagens gewickelt, weswegen er den (feuchten) Fahrersitz seinem Partner überließ. "Du bist undicht.", meinte er kurz angebunden und warf Semir den durchsichtigen Plastikbeutel in den Schoß.
"Hmm, war also wirklich der Junge.", sagte Semir ein wenig betroffen, und Ben nickte stumm. Es ging ihm natürlich an die Nieren, was gerade passiert war. Der Junge war gerade mal 18, ja er hatte aus Sicht der beiden Polizisten zwei Menschen scheinbar umgebracht und hatte versucht, den eigenen Bruder zu töten. Und es war nicht der erste Verbrecher, der bei seiner Flucht ums Leben kam, aber trotzdem war es immer eine schwere Situation für einen Polizisten. "Alles klar?", fragte nun auch Semir und sah zu seinem Partner, der langsam nickte. "Ich versteh das nicht. Der hätte es niemals schaffen können, das war glasklar. Was hat er sich dabei nur gedacht?" "Vielleicht wollte er es nicht schaffen.", vermutete Bens Partner, doch der schüttelte den Kopf. "Nein... dann wäre er auf den Gleisen stehen geblieben, und hätte nicht versucht, noch weiter zu laufen. Der wollte drüber..."
"Na komm, fahr los. Ich hab kalt und will was Warmes anziehen, ausserdem haben wir noch zwei ganz schwere Aufgaben vor uns.", sagte Semir und meinte damit einerseits sicherlich der Besuch bei Dennis im Krankenhaus, während Streifenbeamte und Seelsorger zu den Eltern fuhren. Und natürlich am Feierabend Jenny zu unterrichten, was Hartmut am Handy von Kevin rausgefunden hatte. Dieser Gang würde den Polizisten sicherlich um einiges schwerer fallen, als Ersterer.
Gabriels Haus - 15:00 Uhr
Das flackernde Licht der Kerzen, die Gabriel aufgestellt hatte, war das einzige was den abgedunkelten Raum erleuchtete. Eine Kerze links, eine Kerze rechts auf dem Schreibtisch und davor der Mann mit den langen blonden Haaren, kniend und die Hände gefaltet. Er betete mit geschlossenen Augen, flüsternd in einer fremdem Sprache. Für ihn war Afriel nicht tot... Engel konnten nicht sterben. Er wurde nur zu Gott zurückgenommen zu den anderen Brüdern und Schwestern, die noch nicht bereit waren für den Krieg gegen die Menschen. "Herr, ich danke dir für deine Gnade Afriel gegenüber. Dass du ihn zurücknimmst in dein Reich, auf dass er gestärkt und mit Gottes Willen zurückkehrt um den Kampf fortzusetzen."
Afriel hatte seine erste Aufgabe nicht geschafft, er hatte es nicht geschafft den Sünder, der Vater und Mutter nicht ehrte, zu bestrafen. Die Engel sahen es als ihre Aufgabe das zu tun, was Gott seit Erschaffung der Welt und der Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies, versäumte. Die Menschen zu bestrafen, dass sie Gottes Geboten nicht folgten, Mutter Natur ausbeuteten und misshandelten und die göttlichen Geschöpfe, die Tiere schädigten. Dass es Ungläubige gab, die die Existenz Gottes generell anzweifelten oder andere, falsche Heiländer anbeteten.
Von ihnen musste die Erde befreit werden, der Mensch hat die Erde ausgebeutet und der Vernichtung preisgegeben. Dies war die Überzeugung der Engel, die sich in der Hierarchie übergangen und unterdrückt sahen. Sie waren göttliche Geschöpfe und standen in ihrem Selbstverständnis über dem Menschen, direkt unter Gott. Doch sie fühlten sich von Gott vernachlässigt, der den Menschen mehr liebte und ihm deswegen großzügig alles verzieh. Nur einen seiner Engel bestrafte Gott nun wegen seines Versagens, und beorderte ihn aus dem Krieg zurück. Während alle anderen Engel sich Gott zumindest im Bezug auf die Menschen widersetzten, waren sie dennoch demütig wie ihre Natur und Afriel hatte scheinbar nicht die Kraft, sich dem göttlichen Befehl zu widersetzen.
Gabriel bekreuzigte sich und stand auf. Er pustete beide Kerzen und betete noch dreimal das Ave Maria im Stehen, während er die Augen fest zupresste. Vor ihm formte sich das Bild eines Menschen, der es wagte einen Engel zu jagen, jenes von Gott erschaffende Geschöpf, das ohne Sünde und Schuld war. Der Mensch, den Gabriel als Sünder sah, und der sich vor seinem inneren Auge manifestierte, hatte dunkles längeres Haar. Je konkreter das Bild wurde, desto lauter und zorniger betete der Engel das Ave Maria und desto fester verkrampften sich seine Finger ineinander...