Köln - 23:45 Uhr
Jeder Schritt knarrte auf den alten Holzdielen des Hauses, die dort typisch für die damalige Zeit waren. Und obwohl das Haus noch gut eingerichtet war und definitiv auch bewohnt war, konnte man in jedem Winkel die Zeit nagen sehen. Ben hielt sich an seiner Waffe fest... so sehr hatte ihn die Atmosphäre und die Erinnerung im Griff. In jedem Winkel, in jeder Ecke vermutete er etwas Böses... eine Leiche, ein totes Tier oder ein grinsenden Engel, der ihm die Seele aus dem Leib schneiden wollte. Doch ganz bewusst, so wie er es in den Therapiesitzungen zu seiner Platzangst beigebracht bekommen hatte, wählte er die Konfrontation, auch wenn er dem Keller noch fernblieb. Nur so konnte er diese innere Angst überwinden... und das musste er, sonst hätte er seinen Job an den Nagel hängen können.
Vom Flur schaute er in jedes Zimmer und leuchtete es vorsichtig aus. Ein Schlafzimmer mit zerwühlten Decken, auf der einen und frisch gemachter Decke auf der anderen Seite des Bettes. Ein weiteres Schlafzimmer, das ähnlich aussah... wohnten hier zwei Personen? Hatte dieser Patrick eine Lebensgefährtin? Das Bad war altmodisch, aber sauber und auch in Benutzung, Zahnputzbecher standen bereit und Handtücher hingen an den Haken und rochen nicht muffig, sondern frisch. Dieses Haus war definitiv bewohnt, soviel war sicher.
Doch nichts deutete im Obergeschoss auf eine Gefangenschaft hin. Kein Raum war abgesperrt, nirgends konnte er Spuren des Versuchs eines Aufbrechen einer der Türen erkennen. Es lagen nirgendwo Kabelbinder oder Stricke herum, Blutspuren fand Ben auch nicht. Erleichterung und Enttäuschung breitete sich in ihm aus, als er langsam wieder den Weg zum Erdgeschoss wählte, als auch Semir gerade aus der Tür trat, die zum Keller führte. "Und?", flüsterte der junge Polizist. "Nichts. Ganz normaler Keller, keinerlei Anzeichen darauf, dass dort unten jemand gefangen gehalten wird oder wurde." Auch in Semirs Stimme schwang die Erleichterung mit, weil man Angst hatte, Jenny in einem schlechten oder sogar toten Zustand zu finden. Andererseits hatten sie sich Spuren erhofft... jeder Tipp, jeder Hinweis schien in einer Sackgasse zu enden.
"Oben siehts genauso aus. Das Haus ist aber definitiv bewohnt. Vielleicht hat dieser Patrick noch ein weiteres Gebäude zur Verfügung." "Ja, und vielleicht ist das auch noch in Hamburg. Zum Verrücktwerden.", murmelte der erfahrene Kommissar. "Komm lass uns raus... auch wenn hier niemand ist, wohl fühle ich mich genauso wenig wie du. Vielleicht können Hotte und Dieter das Haus morgen ein wenig observieren, wenn sie Luft haben." "Was heißt hier Luft haben?", fragte Ben mit leicht sarkastischem Unterton. "Du bist Chef. Kommandier sie ab." "Stimmt eigentlich..."
Die beiden Freunde traten wieder an die kühle Mitternachtsluft, trotz dass der Frühling eingeläutet war, waren die Nächte noch ziemlich unangenehm. Semir schlug den Pelzkragen seiner Lederjacke nach oben, bis sie in ihr Auto eingestiegen waren und schaltete im Wagen die Heizung an. "Also, fassen wir nochmal zusammen... Jenny ist in Hamburg verschwunden. Timo beobachtet einen Ex-Knacki, der scheinbar mit Kevin durch Hamburg läuft, und uns alle drei in eine Kühlkammer einsperrt, als sie merken, dass wir sie verfolgen. Dieser Ex-Knacki saß wegen Drogen, Einbruch und war Mitglied einer Straßengang... die gleichen Bereiche mit denen Kevin als Jugendlicher ebenfalls in Berührung kam. Das sind doch soweit die Fakten, oder?", zählte Semir auf und Ben nickte stumm. Er wusste schon, worauf sein Partner hinaus wollte, und spürte sofort wieder den Unterschied zwischen seinem Bauchgefühl, das sofort protestieren wollte, und seinem Kopf, der das gleiche dachte wie der nüchterne Polizist neben ihm.
Natürlich konnte auch Semir seinem Bauch nicht die Meinung verbieten, und auch dieser widerstrebte sich zu glauben, was die Fakten momentan darlegten... Kevin wieder auf der anderen Seite zu sehen. Eine ähnliche Situation ergab sich, als man Kevin überrascht bei einem Drogendeal festnahm, und er später sogar wegen mutmaßlichem Mord angeklagt war. Der nüchterne Polizist in Semir hätte seinen Freund verurteilt aufgrund der Faktenlage und geriet damals ebenfalls mit Ben zusammen, der von Kevins Unschuld überzeugt war. Damals lag Semir falsch, aber er war Polizist.
"Ich weiß, was du denkst... es ist genau wie damals.", sprach Ben die Worte aus, die Semir als Gedanken im Kopf formuliert hatte. "Ich glaube nicht daran, dass er die Seiten gewechselt hat. Und selbst wenn... warum will er Jenny schaden? Warum uns? Wir haben ihm nichts getan. Warum sollte er überhaupt die Seiten wechseln, nachdem er gerade mit dem Leben davon gekommen ist aus Kolumbien.", stellte Ben die entscheidenen Fragen nach dem "Warum, Wieso, Weshalb?" "Das ist es, worüber wir nachdenken müssen.", wurden Bens Fragen von Semir quasi bestätigt, ohne sie zu beantworten. Die beiden Freunde saßen zusammen um Mitternacht in ihrem Dienstauto und unterhielten sich. So skurril die Situation auch war, sie war für beide beinahe Normalität. Wo andere Kollegen diese Gedanken auf die morgige Frühbesprechung verschieben würden, saßen Semir und Ben in ihrem "mobilen Büro", wie Semir es manchmal nannte, und diskutierten.
"Lass uns einfach mal die Schritte nachvollziehen... Kevin wird, wie auch immer gerettet. Er kommt zurück nach Deutschland... was würdest du zuerst tun?", stellte Semir die Frage an seinen Partner, der sofort antwortete: "Ich würde meine besten Freunde informieren, dass es mir gut geht. Ich würde zu meiner Freundin zurückkehren, die um mich trauert." "Und welche Gründe gibt es, diese völlig nachvollziehbaren Dinge nicht zu tun?" Nun war Stille im Auto, und beide Kommissare dachten über diese hypothetische Frage nach.
Semir war der erste, der eine mögliche Antwort formulierte... auch, weil er ihm der Grund bekannt vorkam: "Also entweder werde ich gezwungen, niemandem Bescheid zu sagen, dass ich noch lebe... so wie bei André damals.", war seine erste Theorie und Ben nickte. "Möglich. Dieser Patrick, was auch immer er mit Kevin jemals zu tun hatte, rettet ihn. Setzt ihn mit irgendwas unter Druck, soweit, so gut. Aber was hat das mit Jenny zu tun? Warum zwingt dieser Patrick Kevin dazu, Jenny zu entführen?", stellte Ben sofort die nachfolgenden Fragen. "Wenn es jetzt um nen Bruch gegangen wäre, bei dem Kevin mitmachen sollte... dann ja. Aber warum Jenny? Dagegen würde Kevin sich doch mit allem was er hat, wehren. Oder glaubst du, André hätte wissentlich bei dem Mordplan gegen dich mitgemacht, wenn man ihn gezwungen hätte?" Semir schüttelte sofort, aus tiefster Überzeugung mit dem Kopf. André wurde damals reingelegt... und lockte Semir ungewollt in eine Falle.
Wieder blieb es für einen Moment stumm im Wagen... wirlich schlüssig war das ganze nicht. "Andere Möglichkeit... will sich Kevin an uns rächen? Weil wir ihm nicht geholfen haben? Weil wir ihn hängen gelassen haben?", versuchte Semir es vorsichtig, doch daran glaubte er selbst nicht. Es war eher der Versuch, eine weitere Erklärung zu finden, und sei sie noch so unrealistisch. "Oder er hat sein Gedächtnis verloren..." Bens Satz klang beinahe beiläufig, doch sein Partner sah sich sofort zu seinem besten Freund um. "Gedächtnis verloren?" "Er weiß nicht, wer er ist... Patrick verlangt eine Gegenleistung für die Rettung..." "Aber warum gegen Jenny? Das kann kein Zufall sein, dass ein Verbrecher, der sich an Jenny rächen will ausgerechnet Kevin in Kolumbien rettet und ihn entweder unter Druck setzt, oder einen Gedächtnisverlust ausnutzt...", gab der erfahrene Kommissar zu bedenken.
Egal wie sie es drehten und wendeten, beide waren mit den Erklärungen nicht zufrieden. Es klang alles surreal und unrealistisch. Alleine die Vorstellung, dass Kevin noch lebte, war für beide nicht greifbar solange sie ihren Partner nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. "Eins steht für mich fest!", ließ sich der ältere der beiden Männer dann doch zu einer feststehenden Aussage hinreißen... der Ben, so schwer es ihm fiel, zustimmen musste: "Entweder gibt es eine Verbindung zwischen Jenny und diesem Patrick, aus der sich Patricks Motiv formt... oder... und daran möchte ich nicht im Traum denken...", sagte er und sah seinen Partner nochmal eindringlich an... "...die Sache geht von Kevin aus..."