Krankenhaus
Als er die Augen öffnete, war alles um ihn ganz ruhig. Er spürte eine Decke auf sich, obwohl Kevin seine normalen Straßenkleider an hatte, und unsicher sah er sich im Zimmer um. Geräte standen neben ihm, Schläuche und Kabel waren mit seinem Körper verbunden, allerdings war alles abgeschaltet. Er war alleine und fühlte plötzlich keine Schmerzen mehr, als hätte er ewig lange geschlafen. Er bewegte einen Arm, ein Bein... es funktionierte alles. Aber so lange konnte er nicht geschlafen haben, warum hatte er noch seine normalen Klamotten an. Und warum... zum Geier... sein Shirt war vollkommen sauber. Das hatte Kevin, als er auf dem Asphalt lag, anders in Erinnerung. Langsam, wie in Zeitlupe, stöpselte er die Kabel ab, zog sich den Schlauch aus der Kanüle und die Ernährungssonde aus der Nase. Dann setzte er sich auf den Rand des Bettes und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
Seine Erinnerung war ganz klar. Anis, der den Arm aus dem Fenster des fahrenden Autos streckte und abdrückte. Kevin, der Jenny geistesgegenwärtig zu Boden stieß, sich selbst aber nicht fallen ließ... als würde ihn jemand davon abhalten. Als hätte er, nachdem Geständnis dass Jerry der Verräter an Janines Mord war, nicht die Kraft dazu. Als hätte er Anis noch zugerufen: "Ja, drück ab!" Der junge Polizist schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht so. Es ging einfach zu schnell... er wollte Jenny schützen, und dann war es schon zu spät.
Aber was war hier los? Waren hier keine Ärzte? War es vielleicht Nacht, und Jenny war zu Hause. Er hatte doch ihre Stimme gehört, ihre Hand dicht bei sich gespürt. Aber jetzt war niemand da... und warum war sein Shirt sauber? Warum hatte er überhaupt normale Klamotten an? Kevin stieg langsam vom Bett auf und ging zur Tür. Auch auf dem Flur herrschte gähnende Leere, die Beleuchtung auf dem Flur brannte und kam dem jungen Mann greller vor als sonst. Er schloß die Tür hinter sich und ging den Flur entlang, dabei spürte er keine Schmerzen, kein Pochen in der Stirn, nichts. Als er im die Ecke bog, sah er die erste Person dort auf einem Stuhl im Flur sitzen... es war sein Vater. War er der Einzige, der hier an seinem Bett wachte? Das konnte doch nicht sein...
"Papa?", fragte Kevin zaghaft und erschrak vor sich selbst... wann hatte er seinen Vater zuletzt mit "Papa" angeredet? Das machte er sonst nie. Und Erik Peters reagierte auf das Fragen, er drehte den Kopf zu Kevin und stand ruckartig auf. "Wo warst du so lange? Du elender Rumtreiber weißt genau, dass du mir heute abend im Laden hättest helfen sollen. Stattdessen ziehst du mit deinen Assozialen um die Häuser!" Kevin stand völlig perplex vor seinem Vater, der mit der Hand kurz ausholte und dem jungen Mann mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Er spürte die Fingerabdrücke seines Vaters auf der Wange, als er einen Schritt zurückging. "Was zum ...", stöhnte er und sah noch, wie sein Vater laut schimpfend sich umdrehte und in einer Doppeltür ins Treppenhaus verschwand.
Für einen Moment blieb Kevin in diesem merkwürdigen Flur stehen und fragte sich, was er da gerade erlebt hatte, bis er eine Stimme seinen Namen rufen hörte. "Kevin! Kevin, komm!" Er kannte diese Stimme und sie löste ein Glücksgefühl in ihm aus. Er ging weiter, um hinter der nächsten Biegung wieder stehen zu bleiben. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus... Verwirrtheit. Mitten im Krankenhausflur spielten drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen spielte Himmel und Hölle, sie hatte mit Kreide die Kästchen mit den Zahlen einfach auf den Flurboden gemalt. Die zwei Jungs kickten einen Fussball hin und her, sie schienen ein wenig älter als das Mädchen. Als der Ball einmal dem kleinen Mädchen in die Beine rollte, meckerte sie: "Mensch Andreas, pass doch mal auf." In Kevin weckte das eine Erinnerung, die irgendwo nicht mehr in der richtigen Schublade lag, seit seinem Sturz von der Brücke. Aber er lächelte... er lächelte und wusste nicht warum.
Daneben stand Juan, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Fuß an der Wand angestellt und die Arme vor der Brust verschränkt. "Hey Chico.", begrüßte er Kevin mit Handschlag und seinem Sunnyboy-Lächeln. "Juan... was geht hier vor?", fragte Kevin weiter verwirrt und hoffte, von dem Kolumbianer Antworten zu bekommen. "Was hier vorgeht? Ich hab deinen Jungs nur ein bisschen unter die Arme gegriffen." "Unter die Arme gegriffen? Was meinst du?" Juan lachte und zeigte mit dem Finger weiter den Flur entlang. Dort, genau vor einer Tür standen Semir und Ben, sie winkten Kevin zu. Juan klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern und meinte noch, bevor er ging: "Du bist echt einer der verrücktesten Typen, die ich kennengelernt habe.", dabei machte er mit den Fingern das "Ruf mich an" - Zeichen.
Bevor Kevin Semir und Ben erreichte, hörte er wieder diese Stimme, die seinen Namen rief. Sie zog Kevin magisch an, und eigentlich wollte er zuerst dieser Stimme nachgehen, bevor er sich mit seinen Freunden unterhielt. Auch sie begrüßten den jungen Mann, Ben umarmte ihn kurz. "Was macht ihr hier?", fragte Kevin, obwohl er es sich denken konnte... sie wollten ihn vermutlich besuchen. "Ihr seid vor der falschen Tür, mein Zimmer ist da hinten." "Wir sind hier genau richtig. Wir haben sie alle erwischt.", sagte Semir stolz und klopfte mit der Faust gegen die Tür, vor der sie standen. "Wie bitte?" "Jeden einzelnen. Schau mal rein.", präzisierte Ben und ging einen Schritt zur Seite. Die Tür hatte ein Glasfenster und Kevin sah hinein. In dem Raum saßen, wie in einer Therapiestunde, verschiedene Leute... Kevin erkannte sie alle. Anis, Patrick und Carsten, Peter Becker, der seine Schwester umgebracht hatte, Thorben und Bastian zusammen mit Claus Frege, einige Faschos von der Sturmfront und Mike Kühne, der im Knast versucht hatte, Kevin umzubringen. Jeder einzelne saß da, stumm, in Handschellen und schien auf seine Verhandlung zu warten. Jeder einzelne hatte mit Kevin zu tun, und seine beiden Freunde hatten sie unschädlich gemacht, um Kevin zu schützen. Sie grinsten stolz. "Wir lassen dich nicht allein, Kevin.", sagte Semir nickend während Ben dem jungen Mann auf die Schulter klopfte. "Komm, lass uns zur Dienststelle fahren." Die beiden Polizisten setzten sich in Bewegung. "Wartet mal... da ruft mich doch ständig jemand. Hört ihr das nicht?" Semir drehte sich um. "Lass sie rufen! Was hast du damit zu tun? Du musst mit uns zur Dienststelle kommen. Die Chefin wird sonst sauer." Doch Kevin blieb wie angewurzelt im Flur stehen und sah den beiden Polizisten nach. An der Tür zum Treppenhaus blieben sie erneut stehen und sahen sich zu ihrem Kollegen um. "Was ist denn nun?", rief Ben ungeduldig. "Ich hab Kohldampf, wir holen uns unterwegs noch ein paar Schokocrossaints. Und heute abend machen wir ein bisschen Mucke zusammen." "Kevin!! Jetzt komm!" Der junge Polizist fühlte sich hin und her gerissen. Diese Stimme war so vertraut und löste in Kevin viel mehr Glücksgefühle aus, als die Aussicht zur Dienststelle zurück zu kehren. "Ich... ich komme nach.", sagte der junge Polizist und drehte sich von seinen beiden besten Freunden weg. "Kevin! Du musst mit uns zurückkommen! Hörst du!!", hörte er noch Semirs Stimme hinter sich... irgendwann war er aus Kevins Sichtfeld verschwunden.
Der Flur schien sich, bis zur nächsten Biegung, ewig zu strecken. Mittlerweile war Kevin klar, dass hier irgendwas nicht stimmen konnte... warum sperrten Semir und Ben die Verbrecher im Krankenhaus in ein Zimmer? Warum schlug sein Vater ihn einfach, weil er nicht im Laden half? Und wer waren diese drei Kinder? Plötzlich sah er zwei vertraute Personen auf Stühlen im Flur sitzen, und sein Gesicht hellte auf. Er erkannte sofort die rote Frisur von Annie, und hörte ganz deutlich Jennys Lachen. Die beiden Frauen saßen nebeneinander und redeten angeregt, lachend. Als sie Kevin erblickten, leuchteten ihre Augen. "Hey... habt ihr mich gerufen?", fragte Kevin, denn immer noch konnte er diese Stimme nicht identifizieren, die nach ihm gerufen hatte. Jenny schüttelte den Kopf. "Nein, aber wir warten hier auf dich. Wir wollten dich abholen kommen." Sie stand auf und umarmte Kevin innig, der junge Mann spürte ihre Hände auf seinem Rücken, während er dahinter Annie sah, die ihn liebevoll anlächelte... liebevoll, im Sinne dessen dass sie sich mit dem Paar freute... Paar? Sie waren doch gar kein Paar mehr... also, nicht so richtig. Das Gefühl und Annies Blick verwirrte ihn. "Komm, wir gehen nach Hause.", sagte Jenny und blickte den jungen Polizisten an, wobei sie beide Hände von ihm festhielt. "Aber da ruft mich doch ständig jemand." "Rufen? Ich hör nichts." "Kevin!!" Die Stimme klang lauter und liebevoller als zuvor. Der junge Polizist spürte, wie sein Herz schlug, denn er meinte, die Stimme jetzt erkannt zu haben. Der Griff um seine Hände wurde fester und er ging einen Schritt von Jenny weg in Richtung der Stimme... er meinte, im Flur jemanden zu sehen.
"Kevin! Komm doch jetzt mal!", rief die Stimme ungeduldig und klar. Jetzt erkannte er die Stimme... und er erkannte das Mädchen, das im Flur stand, und in die Stimme mischte sich das leise Lachen eines Babys. "Oh Gott...", murmelte Kevin leise. Im Flur stand seine Schwester Janine, sie lächelte und winkte mit einer Hand. Ihre Stimme klang ungeduldig wie früher, wenn sie nach ihrem Bruder rief und der sich erst nach dem dritten Mal bequemte. "Jetzt komm doch endlich mal! Wir müssen heim, sonst kriegen wir wieder Riesenärger." Seine Schwester war nicht allein. Im Arm trug sie ein Bündel, von dem die leisen Babylaute kamen. Und neben dem jungen Mädchen stand eine etwas größere Frau, die Kevin nicht kannte, die aber doch eine riesengroße Vertrautheit auf ihn auswirkte. Sie hatte den Arm um Janine gelegt und lächelte ebenfalls. Ohne sie jemals selbst bewusst gesehen zu haben, wusste Kevin sofort, wer sie war.
Sein Körper zitterte und seine Schwester, die ihn so lange verfolgt hatte, übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf sie aus. Er wollte zu ihr, wollte sie umarmen, wollte das Baby selbst in die Arme nehmen... er wusste, es war ihr Kind, das Kind von Jenny und ihm, das die junge Frau verloren hatte. Tränen stiegen in ihm auf, als er zwei Schritte in Richtung Janine ging, als er Jennys Hand spürte. "Kevin! Was machst du da? Bleib hier!", sagte sie flehentlich. "Siehst du das nicht? Da ist unser Kind.", entgegnete Kevin ihr und zeigte in Richtung seiner Schwester. Jenny blickte Kevin intensiv an und drückte seine Hand noch fester. "Kevin... unser Kind ist tot. Und deine Schwester ist auch tot! Wach auf!! Du musst aufwachen und hier bleiben. Hier bei uns!! Hier bei mir!! Du hast es mir versprochen!" Er presste die Zähne zusammen und blickte zwischen Jenny und Janine hin und her. "Wir müssen heim, Kevin. Papa wird toben!" Ihre Stimme und das vergnügte Quieken des Babys brachen ihm das Herz genauso, wie Jennys flehentlicher Blick und ihre Berührung an Kevins Hand. Er fühlte sich zerrissen wie nie zuvor in seinem Leben und er spürte, wie ihm die Tränen an den Wangen herunterliefen. "Ich liebe dich, Kevin! Du musst hier bleiben!! Du MUSST!" Seine Schwester blickte enttäuscht und es schien, als wolle sie sich zum Gehen abwenden.
"Nein... nein...", flüsterte der junge Polizist, als er es beobachtete und hörte Jennys Stimme hinter sich: "Du... du hast mir doch gesagt... dass Helden unsterblich sind." Der Griff um seine Hand festigte sich, und Kevin blickte herum zu seiner Freundin, sah im Hintergrund immer noch Annie sitzen, weiter hinten standen Ben und Semir immer noch an der Tür zum Treppenhaus, kaum erkennbar. Er atmete heftig und sah Jenny mit traurigen Augen an. Er schluckte, und dann lächelte er bitter: "Ich weiß... das hab ich gesagt." Dann zuckte er, immer noch lächelnd, mit den Schultern. "Aber leider bin ich kein Held..." Dann löste er die Hand von Jenny, ging rückwärts einen Schritt von ihr weg in Richtung Janine und sah noch, wie seine Freundin bitterlich zu weinen begann... Er hatte das Gefühl, dass ihm die Kraft und der Willen fehlte, nochmal zurück zu gehen.