Beiträge von Campino

    Genau, und wielleicht hat er bei seinem Comeback auch noch überlebt - man weiß es eben nicht. Mark Keller verriet mir in einer Nachricht das er sich nochmals ein erneutes Combeack vorstellen könnte. :);)
    An dem Artikel über Rene Steinke ist angeblich absolut nichts dran gewesen. Ich hatte beim Fantreffen 2017 mit Thorsten darüber gesprochen und ihm war da nichts bekannt.

    Comeback von Andre... gerne. Der Absturz ist sicher zu erklären, weniger zu erklären wäre, warum er sich SCHON WIEDER dann mehrere Jahre nicht bei Semir meldet.
    Wobei ich bei der momentanen Machart der Cobra noch mehr Bedenken als damals hätte, es zu versauen obwohl ich Stoltes Comeback durchweg für gelungen hielt.

    Zum zweiten: Aus welchem Grund sollte Rene Steinke sowas erfinden? Das war ja keine Spekulation, sondern scheinbar ein Interview. Nur weil Thorsten darüber nichts weiß, ist das für mich kein Grund, wenn ein RTL-Mitarbeiter da erstmal hätte vorfühlen sollen und sich sofort eine klare Absage eingehandelt hat, wird wohl kaum RTL den Leiter des AfC11-Fanclubs anrufen, und ihm das erzählen, völliger Quatsch. Da halte ich Rene Steinke absolut für glaubwürdiger.

    Krankenhaus


    Als er die Augen öffnete, war alles um ihn ganz ruhig. Er spürte eine Decke auf sich, obwohl Kevin seine normalen Straßenkleider an hatte, und unsicher sah er sich im Zimmer um. Geräte standen neben ihm, Schläuche und Kabel waren mit seinem Körper verbunden, allerdings war alles abgeschaltet. Er war alleine und fühlte plötzlich keine Schmerzen mehr, als hätte er ewig lange geschlafen. Er bewegte einen Arm, ein Bein... es funktionierte alles. Aber so lange konnte er nicht geschlafen haben, warum hatte er noch seine normalen Klamotten an. Und warum... zum Geier... sein Shirt war vollkommen sauber. Das hatte Kevin, als er auf dem Asphalt lag, anders in Erinnerung. Langsam, wie in Zeitlupe, stöpselte er die Kabel ab, zog sich den Schlauch aus der Kanüle und die Ernährungssonde aus der Nase. Dann setzte er sich auf den Rand des Bettes und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
    Seine Erinnerung war ganz klar. Anis, der den Arm aus dem Fenster des fahrenden Autos streckte und abdrückte. Kevin, der Jenny geistesgegenwärtig zu Boden stieß, sich selbst aber nicht fallen ließ... als würde ihn jemand davon abhalten. Als hätte er, nachdem Geständnis dass Jerry der Verräter an Janines Mord war, nicht die Kraft dazu. Als hätte er Anis noch zugerufen: "Ja, drück ab!" Der junge Polizist schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht so. Es ging einfach zu schnell... er wollte Jenny schützen, und dann war es schon zu spät.


    Aber was war hier los? Waren hier keine Ärzte? War es vielleicht Nacht, und Jenny war zu Hause. Er hatte doch ihre Stimme gehört, ihre Hand dicht bei sich gespürt. Aber jetzt war niemand da... und warum war sein Shirt sauber? Warum hatte er überhaupt normale Klamotten an? Kevin stieg langsam vom Bett auf und ging zur Tür. Auch auf dem Flur herrschte gähnende Leere, die Beleuchtung auf dem Flur brannte und kam dem jungen Mann greller vor als sonst. Er schloß die Tür hinter sich und ging den Flur entlang, dabei spürte er keine Schmerzen, kein Pochen in der Stirn, nichts. Als er im die Ecke bog, sah er die erste Person dort auf einem Stuhl im Flur sitzen... es war sein Vater. War er der Einzige, der hier an seinem Bett wachte? Das konnte doch nicht sein...
    "Papa?", fragte Kevin zaghaft und erschrak vor sich selbst... wann hatte er seinen Vater zuletzt mit "Papa" angeredet? Das machte er sonst nie. Und Erik Peters reagierte auf das Fragen, er drehte den Kopf zu Kevin und stand ruckartig auf. "Wo warst du so lange? Du elender Rumtreiber weißt genau, dass du mir heute abend im Laden hättest helfen sollen. Stattdessen ziehst du mit deinen Assozialen um die Häuser!" Kevin stand völlig perplex vor seinem Vater, der mit der Hand kurz ausholte und dem jungen Mann mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Er spürte die Fingerabdrücke seines Vaters auf der Wange, als er einen Schritt zurückging. "Was zum ...", stöhnte er und sah noch, wie sein Vater laut schimpfend sich umdrehte und in einer Doppeltür ins Treppenhaus verschwand.


    Für einen Moment blieb Kevin in diesem merkwürdigen Flur stehen und fragte sich, was er da gerade erlebt hatte, bis er eine Stimme seinen Namen rufen hörte. "Kevin! Kevin, komm!" Er kannte diese Stimme und sie löste ein Glücksgefühl in ihm aus. Er ging weiter, um hinter der nächsten Biegung wieder stehen zu bleiben. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus... Verwirrtheit. Mitten im Krankenhausflur spielten drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen spielte Himmel und Hölle, sie hatte mit Kreide die Kästchen mit den Zahlen einfach auf den Flurboden gemalt. Die zwei Jungs kickten einen Fussball hin und her, sie schienen ein wenig älter als das Mädchen. Als der Ball einmal dem kleinen Mädchen in die Beine rollte, meckerte sie: "Mensch Andreas, pass doch mal auf." In Kevin weckte das eine Erinnerung, die irgendwo nicht mehr in der richtigen Schublade lag, seit seinem Sturz von der Brücke. Aber er lächelte... er lächelte und wusste nicht warum.
    Daneben stand Juan, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Fuß an der Wand angestellt und die Arme vor der Brust verschränkt. "Hey Chico.", begrüßte er Kevin mit Handschlag und seinem Sunnyboy-Lächeln. "Juan... was geht hier vor?", fragte Kevin weiter verwirrt und hoffte, von dem Kolumbianer Antworten zu bekommen. "Was hier vorgeht? Ich hab deinen Jungs nur ein bisschen unter die Arme gegriffen." "Unter die Arme gegriffen? Was meinst du?" Juan lachte und zeigte mit dem Finger weiter den Flur entlang. Dort, genau vor einer Tür standen Semir und Ben, sie winkten Kevin zu. Juan klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern und meinte noch, bevor er ging: "Du bist echt einer der verrücktesten Typen, die ich kennengelernt habe.", dabei machte er mit den Fingern das "Ruf mich an" - Zeichen.


    Bevor Kevin Semir und Ben erreichte, hörte er wieder diese Stimme, die seinen Namen rief. Sie zog Kevin magisch an, und eigentlich wollte er zuerst dieser Stimme nachgehen, bevor er sich mit seinen Freunden unterhielt. Auch sie begrüßten den jungen Mann, Ben umarmte ihn kurz. "Was macht ihr hier?", fragte Kevin, obwohl er es sich denken konnte... sie wollten ihn vermutlich besuchen. "Ihr seid vor der falschen Tür, mein Zimmer ist da hinten." "Wir sind hier genau richtig. Wir haben sie alle erwischt.", sagte Semir stolz und klopfte mit der Faust gegen die Tür, vor der sie standen. "Wie bitte?" "Jeden einzelnen. Schau mal rein.", präzisierte Ben und ging einen Schritt zur Seite. Die Tür hatte ein Glasfenster und Kevin sah hinein. In dem Raum saßen, wie in einer Therapiestunde, verschiedene Leute... Kevin erkannte sie alle. Anis, Patrick und Carsten, Peter Becker, der seine Schwester umgebracht hatte, Thorben und Bastian zusammen mit Claus Frege, einige Faschos von der Sturmfront und Mike Kühne, der im Knast versucht hatte, Kevin umzubringen. Jeder einzelne saß da, stumm, in Handschellen und schien auf seine Verhandlung zu warten. Jeder einzelne hatte mit Kevin zu tun, und seine beiden Freunde hatten sie unschädlich gemacht, um Kevin zu schützen. Sie grinsten stolz. "Wir lassen dich nicht allein, Kevin.", sagte Semir nickend während Ben dem jungen Mann auf die Schulter klopfte. "Komm, lass uns zur Dienststelle fahren." Die beiden Polizisten setzten sich in Bewegung. "Wartet mal... da ruft mich doch ständig jemand. Hört ihr das nicht?" Semir drehte sich um. "Lass sie rufen! Was hast du damit zu tun? Du musst mit uns zur Dienststelle kommen. Die Chefin wird sonst sauer." Doch Kevin blieb wie angewurzelt im Flur stehen und sah den beiden Polizisten nach. An der Tür zum Treppenhaus blieben sie erneut stehen und sahen sich zu ihrem Kollegen um. "Was ist denn nun?", rief Ben ungeduldig. "Ich hab Kohldampf, wir holen uns unterwegs noch ein paar Schokocrossaints. Und heute abend machen wir ein bisschen Mucke zusammen." "Kevin!! Jetzt komm!" Der junge Polizist fühlte sich hin und her gerissen. Diese Stimme war so vertraut und löste in Kevin viel mehr Glücksgefühle aus, als die Aussicht zur Dienststelle zurück zu kehren. "Ich... ich komme nach.", sagte der junge Polizist und drehte sich von seinen beiden besten Freunden weg. "Kevin! Du musst mit uns zurückkommen! Hörst du!!", hörte er noch Semirs Stimme hinter sich... irgendwann war er aus Kevins Sichtfeld verschwunden.


    Der Flur schien sich, bis zur nächsten Biegung, ewig zu strecken. Mittlerweile war Kevin klar, dass hier irgendwas nicht stimmen konnte... warum sperrten Semir und Ben die Verbrecher im Krankenhaus in ein Zimmer? Warum schlug sein Vater ihn einfach, weil er nicht im Laden half? Und wer waren diese drei Kinder? Plötzlich sah er zwei vertraute Personen auf Stühlen im Flur sitzen, und sein Gesicht hellte auf. Er erkannte sofort die rote Frisur von Annie, und hörte ganz deutlich Jennys Lachen. Die beiden Frauen saßen nebeneinander und redeten angeregt, lachend. Als sie Kevin erblickten, leuchteten ihre Augen. "Hey... habt ihr mich gerufen?", fragte Kevin, denn immer noch konnte er diese Stimme nicht identifizieren, die nach ihm gerufen hatte. Jenny schüttelte den Kopf. "Nein, aber wir warten hier auf dich. Wir wollten dich abholen kommen." Sie stand auf und umarmte Kevin innig, der junge Mann spürte ihre Hände auf seinem Rücken, während er dahinter Annie sah, die ihn liebevoll anlächelte... liebevoll, im Sinne dessen dass sie sich mit dem Paar freute... Paar? Sie waren doch gar kein Paar mehr... also, nicht so richtig. Das Gefühl und Annies Blick verwirrte ihn. "Komm, wir gehen nach Hause.", sagte Jenny und blickte den jungen Polizisten an, wobei sie beide Hände von ihm festhielt. "Aber da ruft mich doch ständig jemand." "Rufen? Ich hör nichts." "Kevin!!" Die Stimme klang lauter und liebevoller als zuvor. Der junge Polizist spürte, wie sein Herz schlug, denn er meinte, die Stimme jetzt erkannt zu haben. Der Griff um seine Hände wurde fester und er ging einen Schritt von Jenny weg in Richtung der Stimme... er meinte, im Flur jemanden zu sehen.


    "Kevin! Komm doch jetzt mal!", rief die Stimme ungeduldig und klar. Jetzt erkannte er die Stimme... und er erkannte das Mädchen, das im Flur stand, und in die Stimme mischte sich das leise Lachen eines Babys. "Oh Gott...", murmelte Kevin leise. Im Flur stand seine Schwester Janine, sie lächelte und winkte mit einer Hand. Ihre Stimme klang ungeduldig wie früher, wenn sie nach ihrem Bruder rief und der sich erst nach dem dritten Mal bequemte. "Jetzt komm doch endlich mal! Wir müssen heim, sonst kriegen wir wieder Riesenärger." Seine Schwester war nicht allein. Im Arm trug sie ein Bündel, von dem die leisen Babylaute kamen. Und neben dem jungen Mädchen stand eine etwas größere Frau, die Kevin nicht kannte, die aber doch eine riesengroße Vertrautheit auf ihn auswirkte. Sie hatte den Arm um Janine gelegt und lächelte ebenfalls. Ohne sie jemals selbst bewusst gesehen zu haben, wusste Kevin sofort, wer sie war.
    Sein Körper zitterte und seine Schwester, die ihn so lange verfolgt hatte, übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf sie aus. Er wollte zu ihr, wollte sie umarmen, wollte das Baby selbst in die Arme nehmen... er wusste, es war ihr Kind, das Kind von Jenny und ihm, das die junge Frau verloren hatte. Tränen stiegen in ihm auf, als er zwei Schritte in Richtung Janine ging, als er Jennys Hand spürte. "Kevin! Was machst du da? Bleib hier!", sagte sie flehentlich. "Siehst du das nicht? Da ist unser Kind.", entgegnete Kevin ihr und zeigte in Richtung seiner Schwester. Jenny blickte Kevin intensiv an und drückte seine Hand noch fester. "Kevin... unser Kind ist tot. Und deine Schwester ist auch tot! Wach auf!! Du musst aufwachen und hier bleiben. Hier bei uns!! Hier bei mir!! Du hast es mir versprochen!" Er presste die Zähne zusammen und blickte zwischen Jenny und Janine hin und her. "Wir müssen heim, Kevin. Papa wird toben!" Ihre Stimme und das vergnügte Quieken des Babys brachen ihm das Herz genauso, wie Jennys flehentlicher Blick und ihre Berührung an Kevins Hand. Er fühlte sich zerrissen wie nie zuvor in seinem Leben und er spürte, wie ihm die Tränen an den Wangen herunterliefen. "Ich liebe dich, Kevin! Du musst hier bleiben!! Du MUSST!" Seine Schwester blickte enttäuscht und es schien, als wolle sie sich zum Gehen abwenden.


    "Nein... nein...", flüsterte der junge Polizist, als er es beobachtete und hörte Jennys Stimme hinter sich: "Du... du hast mir doch gesagt... dass Helden unsterblich sind." Der Griff um seine Hand festigte sich, und Kevin blickte herum zu seiner Freundin, sah im Hintergrund immer noch Annie sitzen, weiter hinten standen Ben und Semir immer noch an der Tür zum Treppenhaus, kaum erkennbar. Er atmete heftig und sah Jenny mit traurigen Augen an. Er schluckte, und dann lächelte er bitter: "Ich weiß... das hab ich gesagt." Dann zuckte er, immer noch lächelnd, mit den Schultern. "Aber leider bin ich kein Held..." Dann löste er die Hand von Jenny, ging rückwärts einen Schritt von ihr weg in Richtung Janine und sah noch, wie seine Freundin bitterlich zu weinen begann... Er hatte das Gefühl, dass ihm die Kraft und der Willen fehlte, nochmal zurück zu gehen.

    https://www.berliner-zeitung.de/berlin/alarm-f…rogramm-3270894

    Interview war von 2014.

    Zitat:


    Zitat von BZ

    Bei „Alarm für Cobra 11“ hatte Steinke zweimal einen ersten Drehtag. Nach seinem ersten Abschied von der Serie wurde er nämlich zurückgeholt. Diese Gefahr schien durch die Art seines zweiten Abschieds – er wurde im Dienst bei der Autobahnpolizei erschossen – gebannt. Sollte man meinen, würde damit die Fantasie von Leuten in Produktionsfirmen allerdings stark unterschätzen: „Zwei Jahre nach meinem Serientod haben die wieder angerufen und gefragt, ob ich zurück komme.“ Sein fundierter Einwand („Aber ihr habt mich doch erschossen!“) wurde lässig abgetan: „Das konnte ja auch vorgetäuscht sein, um Dich ins Zeugenschutzprogramm zu nehmen.“ Steinke hat das nicht mitgemacht. – Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/3270894 ©2018


    Zwei Jahre danach dürfte also in den Abschied von Gedeon fallen, mit dem man (va Semir) ja nicht glücklich wurde.

    Dienststelle - 8:30 Uhr


    Es klang alles so normal... aber nichts fühlte sich normal an. Das Rauschen am Funk, das Gemurmel auf der Dienststelle, das Klingeln der Telefone. Semir drehte sich von seinem Platz um und sah durch die Glasscheibe ins Großraumbüro. Es klang so normal, aber es sah nicht normal aus. Hottes Platz war leer, und Hotte selbst würde nicht mehr an ihn zurückkehren. So gut die OP gelaufen war... die Rente war für den dicken Polizisten unvermeidbar. In der Auswahl, die für ihn bei der Diagnose bereitlag, schien es eins der besseren Lose zu sein, die er gezogen hatte... auch wenn er sich sein Dienstende anders vorgestellt hatte. Das Büro am anderen Ende des großen Raumes dagegen war komplett leer... sowohl Jennys Platz, als auch der von Kevin.
    Andrea bemerkte den nachdenklichen Blick ihres Mannes durch die Glasscheibe, zog ein ausgedrucktes Blatt Papier aus dem Drucker und ging zu ihrem Mann. Unnötigerweise klopfte sie an und lächelte. "Ich hab grad von der Staatsanwaltschaft gehört: Die Anklage gegen Frege steht, die Beweislast ist erdrückend... sieht gut aus für lebenslänglich. Ihr wurdet lobend erwähnt." Semirs typisches Verlegensheitslächeln, obwohl ihm dazu gerade nicht zumute war, zauberte sich auf sein Gesicht. "Immerhin, kommt ja nicht so oft vor." "Und dann hab ich gerade noch das gelesen... ich dachte, das interessiert dich.", setzte sie hinzu und gab Semir den Ausdruck. Dieser verzog das Gesicht.


    "Morgen...", war eine mürrische wie müde Stimme zu hören, die in diesem Moment das Büro betrat. "Morgen... schon was gegessenn?", fragte Semir mit kurzem Blick auf seinen Partner. "Ne, dann wäre ich besser gelaunt." Semir reichte mit ernster Miene das Blatt an Ben weiter, der ebenfalls einen Blick darauf warf. "Aua...", murmelte er, las einige Zeilen, blickte auf die Tatortfotos und verzog ebenfalls das Gesicht. "Da war aber jemand verdammt sauer auf unseren Freund Anis." "Ja, die Rübe abmontieren ist normalerweise kein Freundschaftsbeweis." Andrea ließ die beiden Männer wieder alleine, während Ben die Kaffeemaschine anwarf. "Da halten wir uns mal schön raus. Soll sich die Mordkommission drum kümmern... falls sie noch genug Leute hat."
    Sein bester Freund blickte gedankenverloren auf den Ausdruck. "Und wenn er es doch war? Und nicht Torben?" Ben drehte sich ein Stück von der Kaffeemaschine weg: "Das ist mir scheissegal. Torben hat Jenny fast umgebracht. Der sitzt im Knast schon richtig. Schade nur, dass sein Kollege Hasenfuss den Kopf noch aus der Schlinge gezogen hat." So kannte Semir seinen Partner nicht. Sie waren Polizisten, sie konnten nicht wegsehen, wenn Unschuldige hinter Gitter kamen. Aber konnte er es ihm verübeln? Wie würde sich Jenny fühlen, wenn sie sich nun für einen Kollegen einsetzen, der einen Anschlag auf sie verübt hatten. Und vielleicht war Torben es ja doch...


    Ben sah gedankenverloren aus dem Fenster, die dampfende Tasse Kaffee in der Hand. "Was ist los mit dir? Das ist doch nicht nur die Sorge um Kevin, oder?", sagte Semir beim Blick auf seinen besten Freund. "Nein... das ist die Sorge darum, dass wir uns jeden Tag einer Gefahr aussetzen. Für Menschen, die wir überhaupt nicht kennen.", sagte er nachdenklich. "Ich hatte diese Gedanken schon, nachdem ich angeschossen wurde. Okay, damals haben wir deine Tochter gerettet, aber trotzdem. Wie lange haben wir noch Glück, bei dem was wir tun?" Mit einem Ruck drehte er sich vom Fenster weg. "Du hast zwei Kinder. Eine fantastische Frau. Ich habe endlich meine Frau fürs Leben gefunden, mit der ich mir... eine Familie vorstellen kann." Der junge Polizist hielt kurz inne, während Semir ihn weiter anblickte. "Semir, lass uns einfach aufhören. Lass uns ... keine Ahnung... Streifendienst machen, eine Kneipe aufmachen, Versicherungen verkaufen... irgendwas." Es war beinahe ein Bitten, ein Flehen, dass Semir einverstanden wäre, sie ihre Entlassungen schrieben und dann hier raus spazierten. Aber Semir schüttelte den Kopf. "Ben, das ist doch jetzt nur eine Kurzschlussreaktion." "Nein... ich..." "Pass auf, ich weiß wie du dich fühlst. Niemand versteht das besser als ich, denn ich habe schon zwei Kollegen verloren, und von einem Dritten dachte ich es. Ich hätte schon fünf Mal kündigen können und zehn Mal in den Innendienst wechseln." Semir ging zwei Schritte auf Ben zu und packte ihn am Arm. "Aber ich hab es nicht getan, weil ich Polizist bin. Und weil die Opfer nicht umsonst gewesen sein sollen. Tom und Chris hätten nie gewollt, dass ich wegen ihnen meinen Job, für den ich lebe, an den Nagel hänge. Und egal, was mit Kevin passiert... er würde es bei dir auch nicht wollen." Sein bester Freund sah ihn nicht an, er sah fortwährend aus dem Fenster. "Egal wie schwer es jetzt fällt... wir müssen weitermachen."


    Ben schluckte und nickte langsam, dann schüttelte er wieder den Kopf. Es schien, als sei er diesmal nicht so leicht zu besänftigen, wie sonst. "Ich muss darüber nachdenken. Ich denke... ich denke, dass ich den Urlaub nachhole. Natürlich hier zu Hause... aber weg von der Arbeit. Um den Kopf etwas frei zu kriegen, von allem." Semir nickte nachdenklich, und zu aller Sorge um Kevin kam bei ihm die Angst auf, dass Ben es diemal ernst meinte. "Ich rede mit der Chefin... sollen uns die anderen Dienststellen auch mal unterstützen, so wie wir es für sie immer machen.", sagte der erfahrene Polizist und legte seinem besten Freund die Hand auf die Schulter. "Aber jetzt lass uns erst mal ins Krankenhaus fahren, ok?"


    Krankenhaus - 9:00 Uhr


    Jenny war heute mit ihrem eigenen Auto gefahren, an diesem überaus kühlen, wolkenverhangenen Sommertag. Es war, als hätte der liebe Gott die Heizung abgestellt, das Thermometer fiel nach einem Gewitter in der Nacht um 15 Grad, von heißen 32 Grad auf 17. Die fühlten sich am Morgen zwar noch unangenehm an, doch sollte heute nachmittag der Wind auffrischen. Es war, als wäre es ein harter Schlussstrich unter den Sommer. Als Jenny den Raum betrat, in dem Kevin lag, kam ihr sofort etwas anders vor. Bildete sie sich das etwa nur ein, oder war er blasser als sonst? War das Piepen schneller? Sie setzte sich zu ihrem Freund ans Bett, sagte ihm wie jeden Morgen "Hallo", als könnte er es hören und drückte kurz seine Hand. Sie war kälter als sonst, und seine Stirn war feucht. Es beunruhigte Jenny... aber die Geräusche der Maschine waren okay, sonst würden sie Alarm schlagen.
    Sie wusste nicht, wie lange sie im Zimmer war, sie wusste nicht mal mehr, welcher Tag heute war, als Jennys Alptraum begann. Sie hatte sich dieses Horrorszenario in den letzten Tagen so oft vorgestellt und immer wieder verscheucht... und jetzt war es so unreal, als es passierte. Das Piepen wurde schneller, und sie erschrak. Ein panischer Blick zu Kevin, um sie herum verschwomm alles und ihr wurde schwindelig. "Oh Gott...", flüsterte sie, als die rote Alarmleuchte aufblinkte und ein schriller Ton im Raum zu hören war. Sofort sprang Jenny auf und versuchte, jeden letzten klaren Gedanken zu behalten. Sie lief zur Tür, riss sie auf und schrie sofort über den Flur. "Einen Arzt! Schnell!!! Einen Arzt!!"


    Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die erste Krankenschwester im Laufschritt ins Zimmer kam, da war Jenny noch nicht wieder ans Bett zurück gekehrt. Ihr folgten ein Mann, den sie bereits als Arzt kennengelernt hatte, und zwei weitere Schwestern. Sie begannen an Kevin zu arbeiten und Jenny konnte nicht mal einen Handgriff genau verfolgen, denn plötzlich sah sie die Welt nur noch durch einen Schleier... ein Schleier aus Schwindel, Tränen und unendlicher Angst um ihren Freund. Panisch klammerte sie beide Hände um seine Hand, die Anweisungen der Helfer nahm sie überhaupt nicht wahr. "Frau Dorn, kommen sie... wir kümmern uns, aber sie müssen draussen warten." Als ein paar Hände die Frau anfassten, schrie sie und wollte sich losreißen. "Kammerflimmern! Verdammt, bringen sie die Frau hier raus!!", rief der Arzt.
    Plötzlich hörte Jenny vertraute Stimmen. "Was ist denn hier los?" Semir und Ben hatten das Chaos bereits auf dem Flur bemerkt, weil die Tür offen stand und ein weiterer Pfleger mit schnellen Schritten in Kevins Zimmer lief. "Ein Herz-Kreislauf-Stillstand, vermutlich von der Infektion!", sagte die Krankenschwester, die gerade versuchen wollte, Jenny aus dem Raum zu bringen, die immer noch fest Kevins Hand umklammerte. "Bitte bleib bei mir... bitte bitte, lass mich nicht allein... Kevin, bitte lass mich nicht allein!!"


    Nun war es Ben, der die junge Frau an den Schultern griff und sie versuchte, von Kevin zu lösen. "Komm, Jenny... komm jetzt, die Ärzte kümmern sich um ihn." Er benötigte sanfte Gewalt, und es tat ihm unendlich weh, Jenny in diesem Moment, wo Kevin sie brauchte, von ihm zu trennen. Er blickte auf, sah in Semirs geschocktes Gesicht, als dieser voll Sorge an der offenen Tür die Bemühungen um ihren Partner verfolgte. Als Ben hinter sich, während er Jenny herausschob, das Wort "Reanimieren" vernahm, zwang er sich, sich nicht umzudrehen. Er kniff sogar die Augen zu, als wolle er in diesem Moment die Welt anhalten, und sich woanders hinwünschen. Irgendwohin... mit Semir, Andrea, Jenny, Carina und Kevin... alle zusammen, alle gesund. Doch als er die Augen wieder aufmachte, war er auf dem Krankenhausflur... Jenny, die sich an ihn klammerte in einer Mischung aus hysterischen Schreien und hemmungslosen Weinen. Semir, dessen braune Augen auf einmal nichts mehr von der Zuversicht und Stärke hatten, die er vorhin auf der Dienststelle noch ausstrahlte. Und einer Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel, als eine der Krankenschwestern rief: "Wir verlieren ihn!"

    Köln - 19:00 Uhr


    Ben hatte immer ein wenig Angst, wenn er den Krankenhausflur betrat. Was würde ihn heute erwarten? Der gleiche Zustand wie gestern? Ein lächelnde Jenny, die sagte, dass es aufwärts gehe? Oder die absolute Horrorvorstellung, dass er plötzlich vor dem leeren Bett seines Freundes stand. Letztendlich hatte er, als er mit Semir an dem Fenster im Flur stand und auf die Szenerie im Krankenzimmer sah, das Gefühl ein Deja-Vue zu haben. Es zeichnete sich für die beiden Polizisten exakt das gleiche Bild wie am Tag zuvor. Kevin im Bett, die Beatmungsmaschine im ewigen Zyklus genauso wie das Piepen des Überwachungsmonitors. Jenny saß auf dem Stuhl neben dem Bett, sie las eine Zeitschrift, doch im Minutentakt ging ihr Blick immer wieder weg von den Buchstaben hin zu ihrem Freund... aus Angst, sie könnte es verpassen, wenn er erneut die Augen aufschlug, auf wenn sie sich immer noch nicht sicher war, ob sie das geträumt hatte, oder nicht.
    Heute nachmittag hatte sie zumindest eine freudige Überraschung erlebt, als es an der Tür draussen klopfte und ein lächelnder Hotte, im Rollstuhl, mit Kopfverband und nur langsam sprechend vor ihr saß. Bonrath, der heute frei hatte, hatte ihn besucht, er war wach und hatte die Operation tatsächlich sehr gut überstanden. Er müsse sich zwar noch schonen, das Sprechen fiel ihm noch etwas schwer was nach so einem Eingriff aber nicht unüblich war. Einige Sitzungen bei einem Logopäden würden das aber beheben, in einigen Wochen wäre Hotte wieder ganz der Alte. In den Dienst, das wussten er wie auch sein langjähriger Partner, würde er aber wohl nicht mehr zurückkehren. Die Krankheit hatte seine Frage auf die Arbeitszeitverlängerung vorweg genommen. Der dicke Polizist wusste mittlerweile auch von Kevin und reagierte bestürzt.


    Für Jenny stand wieder der schwerste Gang an... Kevin verlassen für eine Nacht, ihn hier zurücklassen. 10, 11 Stunden in denen alles passieren konnte, und sie wusste genau wie übel ihr morgen früh wieder war, wenn sie hier nach oben gehen würde, ungewiss ob er die Nacht überlebt hatte. Sein Zustand war immer noch kritisch und die Sepsis hatte, nach Auskunft des Arztes, noch nicht abgenommen, die Entzündungswerte wären unverändert hoch. Das wäre nach so kurzer Zeit aber nicht unnormal und die Polizistin nahm es mit stoischer Ruhe hin. Mittlerweile war sie nicht mehr interessiert an Wasserstandsmeldungen, Auskünften, Prognosen. Sie wollte einfach nur wissen, ob und wann Kevin wieder aufwachte.
    Mit Ben und Semir fiel es ihr etwas leichter, das Zimmer zu verlassen. Die beiden Männer fuhren sie gerade nach Hause, als unterwegs ihr Handy klingelte. "Jenny? Hier ist Juan." Es klang, als sei er unterwegs, seine Stimme war ruhig aber Hintergrundrauschen war zu hören. "Ich wollte dir nur sagen... also, dass ich heute abend nach Kolumbien zurückfliege. Ich muss mich schließlich wieder um mein Reiseunternehmen kümmern." Dass Juan kein gewöhnlicher Reiseguide war, konnten sich mittlerweile alle drei denken... die Wahrheit hatte ihnen Juan nie gesagt. Sie wollten es auch nicht wissen. Jenny nickte am Telefon. "Also... nimm es mir nicht übel, wenn ich nicht ins Krankenhaus gekommen bin und mit dir zusammen Kevin Hand halte. Das... das ist nicht so mein Ding." Die Polizistin glaubte, den ihr sympathischen Kolumbianer dabei verschämt grinsen zu sehen, und sie wusste, wie er das meinte. "Das ist schon okay.", sagte sie verständnisvoll. Und dann sagte er etwas, was Jenny Mut machte... es war ein ganz normaler Satz, und trotzdem traf er Jennys Seele. "Er soll mich mal anrufen, wenn er aufgewacht ist, okay?" Juan schloß die Möglichkeit, dass Kevin nicht mehr aufwachte oder nicht mehr in der Lage sei, zu telefonieren, gar nicht in seine Überlegungen ein. Diese Möglichkeit existierte für ihn nicht, genau diesen Eindruck vermittelte er Jenny mit diesem banalen Satz, den er aber mit vollster Überzeugung sagte. "Ich werds ihm sagen, versprochen.", antwortete sie ihm leise, bevor er sich mit "Adios, mi Amiga" verabschiedete.


    Sie erklärte kurz Semir und Ben, dass Juan wieder abreisen würde, dann stieg sie vor ihrer Wohnung aus. Mit einem Küsschen bedankte sie sich und wünschte ihren beiden Kollegen eine gute Nacht. Sie fühlte sich müde, obwohl sie viel herumgesessen hatte, ihr Körper sehnte sich nach einem Bad, obwohl es draussen noch sehr warm war. Danach, als sie sich in kurzen Hosen und Shirt auf die Couch saß, fühlte sie sich etwas wohler. Sie hatte von Kalle Kevins Karton bekommen, der momentan nutzlos bei ihr in der Wohnung stand... "damit jemand darauf aufpasst.", hatte sie Jenny vertrauensvoll gesagt. Er kam ihr schwerer vor als vorher. Mittlerweile hatte sie kein schlechtes Gewissen mehr, hinein zu schauen. Nach dem Streit, den sie deswegen mit Kevin hatte, hatte er ihr alles gezeigt... und ihr gesagt, dass sie jederzeit darin stöbern soll, wenn ihr danach ist.
    Neben den Fotos, Zetteln alter Texte und anderen Schriftstücken, die sie schon kannte, fand sie ein kleines Buch. Es sah aus, wie ein Tagebuch, aber es war unverschlossen. Hatte Kevin sowas geführt? Dafür war er doch eigentlich gar nicht der Typ... Sie schlug die erste Seite auf und sofort war ihr klar, dass es sich nicht um Kevins Schrift handelte, denn sie war wunderschön geschwungen und exakt geschrieben. Ganz eindeutig die Schrift einer Frau, oder eines jungen Mädchens, aus dem die Worte einfach raussprudelten, und das diese Worte festhalten wollte. Die Texte waren von Janine.


    "Bier ist so ein grässliches Zeug. Ich kann gar nicht verstehen, warum Kevin das so gerne trinkt. Aber die Mädels, mit denen er abhängt, sind alle super nett. Sie haben mich direkt mit in die Stadt genommen, wir sind in Kleiderläden gegangen und haben unsere private Modeschau gemacht. Das war cool. Ich hätte nie gedacht, dass die sich mit mir abgeben wollen, weil sie alle viel älter sind als ich." Ein Blick auf das Datum des Eintrages verriet Jenny, dass Janine da erst 12 oder 13 gewesen sein muss... scheinbar hatte Kevin sie damals das erste Mal mit zu seiner Clique genommen. Und die Mädels aus der Clique hatten scheinbar Spaß daran, dass junge Mädchen mitzuziehen, das scheinbar keine Lust hatte mit Gleichaltrigen abzuhängen.
    "Puh... heute ist etwas gruseliges passiert. So ein ekliger Typ hat mich vor der Halle, in der wir mit Kevins Freunden manchmal sind, angemacht. Der wollte mir Geld für irgendwas geben." Daneben hatte sie ein Comic-Mädchen gezeichnet, das sich übergab. "Widerwärtig. Aber zum Glück kam mein großer Bruder (Superheld ^^) und hat den Typ vertrieben. Naja... vertrieben ist vielleicht nicht das richtige Wort. Verdroschen triffts eher. Ich mag sowas ja nicht, aber der hatte es echt verdient." Am Ende der Seite hatte sie eine Superhelden-Comicfigur gezeichnet, die durch die Luft flog... ganz klassisch, mit Maske und Umhang. Doch die schwarz-rot abstehenden Haare verrieten sofort, wenn Janine damit meinte. Jenny musste mit Tränen in den Augen grinsen, ja sogar lachen.


    "Kevin ist so ein Vollidiot. Warum kann er sich nicht mal aus meinen Dingen raushalten! Warum redet er nicht einfach mal mit mir. Er hat heute in der Schule Sebastian zusammengeschlagen. Genau, der Sebastian von dem ich dir vor einigen Wochen noch vorgeschwärmt habe, dass er so toll küssen kann. Und heute hat er mit einer anderen geknutscht... ja und? Wir waren nicht mehr zusammen, weil es halt nicht passte. Ich glaube, das ist bei 14 und 15jährigen voll normal. Nur mein großer Superbruder (Helikopterbruder)" Daneben hatte sie eine Comiczeichnung gemalt, die scheinbar wiederum Kevin als Jungen abbildete, der waagerecht in der Luft lag, ein Fernglas in der Hand und Rotorblätter auf dem Rücken "musste natürlich erst zuschlagen und dann fragen, was denn überhaupt los sei. Und dass Sebi eben nicht fremdgeknutscht hat. Mann, das war so peinlich." Dann schien es, als ließe sie einige Zeilen frei, als würde sie nachdenken. "Überhaupt ist er in letzter Zeit so aggressiv. Nicht gegen mich, aber gegen jeden anderen. Er ist nachts auch oft weg. Vielleicht ist es wegen Annie, scheinbar läuft es nicht mehr so gut, ich sollte sie mal darauf ansprechen. Er hat so krasse Stimmungsschwankungen. Manchmal ist er wie aufgedreht und super gut gelaunt und eine halbe Stunde später schreit er rum. Das nervt mich, aber ich mach mir auch Sorgen. Hoffentlich kriegt er das in den Griff, mit mir redet er ja nicht darüber." Am unteren Rand der Seite fand Jenny dann noch eine Abbildung eines gezeichneten schwarzen Raben und ein kleines, schräg geschriebenes Gedicht, was Janine wohl gerade eingefallen war.


    Schwarz ist die Farbe meines Rabenkleids
    Er fliegt so hoch, er fliegt so weit
    Hätt' ich drei Wünsche frei, ich gäb' sie her
    Für Hoffnung und für Wiederkehr


    Janine hatte das Tagebuch nicht jeden Tag geführt... scheinbar immer dann, wenn etwas besonderes passiert war. Über ihren Vater schrieb sie fast nichts... und irgendwie beruhigte Jenny das. Erik Peters hätte er so manches zugetraut, aber wenn er sie angefasst hätte, hätte sie das sicher aufgeschrieben. Und vor allem Kevin erzählt. Aber die vorherige Passage kam Jenny so bekannt vor... "Warum redet er nicht einfach mal mit mir." Auch in der Lebensphase, in der Kevin noch lange nicht so verschlossen war, schien er diese Angewohnheit zu haben. Und auch sein Hang zur Gewalt, was Annie bereits erzählt hatte, war seiner Schwester nicht verborgen geblieben. In den weiteren Zeilen wurde es wieder positiv, als Janine ihrem Tagebuch erzählte, wie leicht ihr die Schule fiel, und welche Zukunftsvisionen sie hatte... Abitur, Studium, vielleicht ins Ausland gehen... Janine schien lange nicht so sehr von ihrem Bruder abhängig zu sein, wie dieser es sich vielleicht wünschte. Sie kam Jenny in den Einträgen erwachsener vor als 15. Erwachsener, als Kevin mit 17 vielleicht war. Und sie empfand die Zeit in der Clique als Spaß, ohne in der Ideologie der Punks ihren Lebensmittelpunkt zu sehen.
    Dann zog sich wieder eine Schlinge um die Brust der Polizistin. Denn schon als sie das Datum sah, wusste sie dass dies vermutlich der letzte Eintrag war. Es war vom 15.07. "Heute Nacht, Punkt 12 Uhr wird mein Bruder endlich 18." Daneben hatte sie ein Feuerwerk gezeichnet. "Ich freue mich schon auf die Party mit den anderen allen. Jerry hat uns eine Überraschung versprochen^^. Aaaaaaaaber ganz egal, wie alt mein Bruder auch sein mag: Er bleibt für IIIIIIIIMMER mein Bruder, der mich immer und überall beschützt und dem ich alles anvertrauen kann. Vielleicht zeig ich ihm morgen früh, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, mal diese Seite hier, damit er weiß wie wichtig er mir ist und dass ich ihn über alles liebe. Egal was passiert."

    Charmin - 18:00 Uhr


    Als Anis an diesem frühen Abend die Türen seines Clubs aufsperrte, hatte er keinen blassen Schimmer, wie dieser Abend sich entwickeln würde. Es schien auch alles wie immer... niemand war in dem Gebäude, in dem es in zwei Stunden losging mit dem Abendbetrieb. Er war stets der Erste - und wer auch nur wenige Tage für ihn arbeitete, wusste das. Anis durchschritt den dunklen großen Raum, machte sich hinter der Bar Licht um dann aber zuerst in sein Büro zu gehen. In seinem Terminkalender hatte er aufgeschrieben, ob er irgendwelche "besonderen" Gäste heute haben würde. Seine Laune war gut... schließlich war ihm das Attentat auf Kevin gelungen. Ob schwer verletzt oder tot... eine Schlacht war geschlagen, wenn auch der Krieg noch nicht gewonnen. Alles eine Frage der Zeit.
    Als er seine Bürotür öffnete und das Licht anschaltete, wich er zurück. "Was zum Teufel machst du hier?", zischte er mit zorniger Stimme, als er den jungen, braungebrannten Mann mit dem Pferdeschwanz entdeckte, der es sich hinter seinem Schreibtisch auf Anis Stuhl gemütlich gemacht hat. Frech hatte er die Schuhe auf den Tisch gelegt, in seiner Hand hielt er ein Glas Whisky. "Hola, mi amigo. Ich hab nur auf dich gewartet.", sagte Juan in all seiner Seelenruhe und er lächelte in Richtung des Tunesiers.


    "Du hast in meinem Büro nichts verloren, Alter. Wie bist du überhaupt hier reingekommen.", sagte Anis und er konnte nicht abstreiten, dass er den Kolumbianer für einen äusserst fähigen Mitarbeiter hielt... wenn er ihn auch für ziemlich dumm hielt, und glaubte, er könne ihn mit der Bezahlung öfters übers Ohr hauen. Um Infos zu bekommen hatte der das Spiel mit guter Miene mitgespielt... sei schlau, stell dich dumm. "Du hast mich als Einbrecher engagiert, da ist es doch wohl ein Leichtes hier in deinen Laden zu kommen.", sagte er grinsend. Anis' Laune sank langsam und mit zwei schnellen Schritten war er bei Juan, um ihn am Kragen hochzuziehen. Dabei verschüttete der Kolumbianer etwas von seinem Whisky und Anis konnte nur für ihn hoffen, dass es nicht sein Teuerster war.
    "Los, verpiss dich. Ich hab zu arbeiten.", sagte er und schubste Juan vom Schreibtisch weg. Dessen selbstsicheres Lächeln verschwand nicht... und das verwirrte Anis. "Ja, das würde ich auch gerne. Von Luft und Liebe lebt es sich hier schlecht. Hast du was für mich?" "Nein, habe ich im Moment nicht. Was ist mit Zack." "Der sagt mir schon seit Tagen das Gleiche." Anis seufzte und sah zu dem Mann mit dem Pferdeschwanz hoch. "Dann hast du Pech, Alter." "Schade..." Die Stimme von Juan klang beinahe übertrieben geknickt und er schien sich zunächst zur Tür zu wenden.


    Dann blieb er an der Klinke stehen und trete sich nochmal zu Anis um. "Ich kann auch mehr als einbrechen. Zum Beispiel Polizisten aus fahrenden Autos über den Haufen schiessen.", sagte er und wie bei einem Schuljungen hellte seine Miene wieder auf, in der Hoffnung doch einen Auftrag, und damit wieder Bares zu bekommen. Der Clubchef sah vom Schreibtisch aus wieder zu Juan. "Wie meinst du das?" "Naja... ich hab da sowas... gehört." Anis verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. "Gehört?" "Der Autobahnbulle." Ein kurzes Lachen ging von dem Tunesier aus, was Juan innerlich noch weiter zum Kochen brachte. "Jobs die mir wichtig sind, führe ich selbst aus. Da brauche ich keine Laufburschen, mein Freund."
    "Also warst du es?" "Ist das wichtig für dich?" Juan schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. "Mich hätte vielleicht das Warum interessiert." Sein Gegenüber seufzte auf... warum hielt er sich so lange mit einem seiner Mitarbeiter auf? Und dann auch noch einem, der gerade mal ein paar Wochen für ihn arbeitete. "Pass auf... ich würde ja sagen, dass es dich einen Scheissdreck angeht, aber das wäre unhöflich. Aber du musst nicht alles wissen. Nimm es einfach wie es ist."


    Juan kam, betont langsam, zurück zu Anis' Schreibtisch, wo er aus dem offenen Etui eine Zigarre nahm und daran roch. "Okay... ich nehme es. Wie es ist.", sagte er nun ohne Lächeln und roch an der Zigarre. "Oh chico... in Kolumbien sind die Dinger besser." Juan strahlte auf Anis plötzlich etwas aus, was defintiv keine Dummheit war... sondern eine Autorität, eine Dominanz... eine Gefahr sogar. Deswegen unterließ er auch eine weitere Zurechtweisung des Kolumbianers, der sich jetzt endgültig zum Gehen wandte und noch, bevor er die Tür schloß, leise "Ir al infierno!"
    Anis schüttelte den Kopf. "Was für ein Opfer...", murmelte er und begann seine Schreibtischunterlage nach seinem kleinen schwarzen Büchlein abzusuchen. Trotz Smartphone schrieb er sich alles auf, doch er stutzte, als ihm Bilder in die Hände fielen, die er nicht kannte. Und auch wenn Anis ein hartgesottener Typ war, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Die Bilder waren recht dunkel, ein wenig verrauscht und verwackelt, aber trotzdem war alles darauf zu erkennen. 7 oder 8 Mann lagen dort, gefesselt, auf dem Bauch im Gras. Tote Gesichter starrten Anis an... und die Tatsache, dass sie aus dieser Lage Anis angucken konnte, machte die Sache noch grausamer. Denn ihre Köpfe waren vom Rumpf abgetrennt und lagen vor den Körpern in ihrem eigenen Blut. Das zweite Bild war etwas weiter weg aufgenommen, und zeigte einen Mann, der über diesen Leichen stand. Er hatte ein Muskelshirt an und einen Pferdeschwanz. Dem Tunesier wurde es heiß.


    Mitten in diesen Eindruck hörte er plötzlich vor der Tür ein Geräusch. Schnell sah er auf die Uhr... eigentlich war es noch zu früh für seine Mitarbeiter, die meist erst um halb sieben kamen. "Kamal?", rief er auf Verdacht, doch er bekam keine Antwort. "Ari?" Ebenfalls keine Antwort, nur erneut ein klackendes Geräusch, als wäre an der Bar irgendetwas umgefallen. Randalierte dieser Mistkerl jetzt in seinem Laden? Anis stand auf und ging zum Tresor, um seine Waffe rauszuholen, einen Revolver. Er lud ihn durch und entsicherte ihn, bevor er zur Tür ging. "Mir machst du keine Angst, du kleiner Bastard.", sagte er und drückte die Tür langsam zum Flur auf. Es war dunkel, das Licht im großen Saal ebenfalls erloschen.
    Anis tastete nach dem Lichtschalter, das Licht im Flur flackerte auf. Aber es war zu spät... er konnte gar nicht so schnell reagieren, um noch etwas zu verhindern. Das Letzte, was Anis spürte, war ein Schlag und ein scharfer Schmerz am Hals. Dann wurde alles schwarz und sein Körper schlug dumpf auf den Boden.

    Landstraße - 12:50 Uhr


    Nun wurde es für Unbeteiligte doch brandgefährlich, und es war genau das was die beiden Autobahnpolizisten vermeiden wollten... und sollten. Frege Schlangenlinien gingen weit über den durchgezogenen Strich der Mittelmarkierung hinaus und mehrmals mussten entgegenkommende Fahrzeuge dem schlingernden LKW ausweichen. Ben und Semir klammerten sich hinter dem Führerhaus an das Stahlgestänge der Auflieger fest, Semir musste aufgrund den Schmerzen in seinem Arm auf die Zähne beißen. "Wäre langsam Zeit für nen Plan, hä?", rief Ben ihm gegen den Fahrtwind und das Quietschen der Reifen laut zu. "Der fährt hier Amok!" Semir nickte heftig und strengte den Kopf an. Er sah sich um... konnte er hier irgendwas gebrauchen, um den LKW möglichst gefahrlos für sich und seinen Partner zu stoppen?
    "Ein paar Kilometer ist doch der Steinbruch, oder?", rief Ben dann irgendwann. "Ja und?" "Die haben dort doch große Baumaschinen! Damit könnten wir eine Straßensperre errichten!" "Dann wird er einen Umweg nehmen! Das Land dort ist völlig flach, eine Straßensperre würde er sehen. Kurz davor sind zwei Kreuzungen, da müsstest du acht Straßen sperren!", rief Semir ihm zurück. Sie blickten beide zum Führerhaus, natürlich waren die Fenster offen. "Fuck...", murmelte der junge Polizist und kletterte näher zu Semir. "Ich hab ne Idee. Vertrau mir! Du musst hier bleiben, und mir Bescheid sagen, falls er die Route ändert!" Die Antwort war ein mahnender Blick von Semir... aber natürlich vertraute er seinem besten Freund.


    Ben kletterte sogleich zu dem Dienstwagen zurück, startete ihn und ließ ihn langsam wieder die Ladefläche herunterrollen. Er legte den Leerlauf ein, damit die Hinterräder sofort mitliefen, damit das Getriebe nicht kaputtging, als die Räder den Asphalt berührten. Dank seiner Fahrkunst konnte er den Wagen stabilisieren, bis er komplett auf dem Asphalt war, dann gab Ben Gas und überholte den Auto-LKW, als dieser gerade wieder auf die eigene Spur zurückschwenkte. Semir kletterte unterdessen unbemerkt ans hintere untere Ende des LKWs um sich hinter dem letzten PKW auf der unteren Etage zu verstecken. Es klappte. Die Schlingerbewegungen ließen nach und Frege glaubte, beide hätten wieder den Abflug gemacht. Jetzt würde er vermutlich bald mit den ersten Straßensperren rechnen... ob SEK oder Baumaschinen.
    Semir schaffte es, sich so gut es ging festzuhalten und das Handy zwischen Schulter und Ohr zu klemmen. So konnte er mit Ben kommunizieren. "Wir fahren immer noch auf der Landstraße ostwärts, sind noch nicht abgebogen. Wo bist du?" "Ich brauch noch ne Minute bis zum Steinbruch! Schau mal, ob du eins der Autos kurzschließen kannst, denn du musst auch irgendwann runter von der Karre!" "Alles klar.", gab Semir zurück und steckte das Handy ein, ohne aufzulegen. Dann begann er an einem der Autos rumzuhantieren, um sich dann wie sein Partner vorher ebenfalls im richtigen Augenblick von der Rampe rollen zu lassen.


    Der wiederrum hatte sich in Windeseile aus dem Sichtfeld des LKWs entfernt. Zu seinem Glück führte die Landstraße zuerst noch durch ein Waldgebiet, wo sich auch die beiden Kreuzungen befanden, bevor es direkt nach den letzten Bäumen rechts in einen Feldweg zum Steinbruch ging. Ben musste sich beeilen, denn er hatte nicht viel Zeit. "Seit ihr schon im Wald?", rief er in den Apparat und hörte nur ein, von Windgeräuschen verzerrtes "Nein! Aber bald!" Ben bremste und veriss das Lenkrad, der Wagen rumpelte in den Feldweg und seinen Herz machte einen Hüpfer. Direkt zu Beginn stand der erste, große Kipplaster, bei dessen Anblick kleine Jungen feuchte Augen bekamen. Er lenkte den Dienstwagen, der bereits nach den ersten Metern durch den wieder getrockneten Boden völlig verstaubt war, an die Seite und sprang in höchster Eile heraus.
    Einer der Arbeiter blickte ihn etwas arggewöhnisch an, als er mit gezogenem Dienstausweis angerannt kam. "Autobahnpolizei, Jäger! Ich müsste mir mal ganz kurz ihr Gefährt ausleihen! Es ist dringend!!" Bevor der Arbeiter sich irgendwelche Widerworte ausdenken konnte, gab Ben seinem Anliegen mit einem "Na los!! Den Schlüssel!!" Nachdruck. Dann kam auch in den Mann Bewegung, der sogleich in seine Hose griff und Ben den Schlüssel zu warf. "Können sie mit so einem Ding überhaupt umgehen???", rief er ihm noch zu als er beobachtete, wie der drahtige junge Mann ins Führerhaus kletterte. "Auto ist Auto!"


    In der Tat... Schlüssel herumdrehen, Anlasser drücken... Ben hatte schon mehrere LKWs gefahren, insofern hatte er kein Problem das schwere Arbeitsgerät in Gang zu bringen. Zum Glück musste er nicht wenden und rollte im Schutz der Bäume langsam bis zur Landstraße heran. "Semir?", rief er in den Apparat. "Ja?" "Wo seid ihr?" "Sind jetzt an der ersten Kreuzung vorbei!" "Kommt euch jemand entgegen?" Er hörte den Stress, den Semir gerade hatte. "Woher soll ich das wissen?" "Dann schau halt nach, Mensch!!" Der kleine Polizist stieg nochmal halb aus dem bereits kurzgeschlossenen laufenden Wagen um über das Führerhaus hinweg auf die Straße zu blicken. Er sah die zweite Kreuzung und dahinter die gerade Strecke aus dem Wald heraus. "Nein! Es kommt niemand!" "Dann schau dass du vom Karren kommst, und sag mir wenn der LKW die Kreuzung passiert hat!"
    Er konnte übers Handy das Aufheulen von Semirs Auto hören, das Geklapper als er die Schienen herunter rollte und das Quietschen der Reifen, als er auf den Asphalt traf. Semir ging nicht so zögerlich um wie Ben. "Kreuzung passiert!!", schallte es aus Bens Hörer, und er verließ sich rein auf sein Zeitgefühl und Intuition. Es war gefährlich, denn de facto riskierte er einen Zusammenstoß, doch er musste Frege von der Straße kriegen. Und so ließ er die Kupplung einrasten und der große Kipplaster machte einen Satz nach vorne.


    Es war pure Reaktion... natürlich kannte Frege diese Strecke und wusste, dass hinter dem Wald die gefährliche Einmündung zum Steinbruch lag. Dass es dort wegen der Uneinsehbarkeit ständig zu Unfällen kam, wussten aber vor allem Ben und Semir. Jetzt sah Frege nur, wie ein großer Kipplaster mit Schwung aus der Einmündung gerollt kam und seinen Weg kreuzte. Ben hatte alle Muskeln gespannt, den Türgriff schon in der Hand um eventuell noch abzuspringen, doch Frege reagierte wie jeder Autofahrer reagierte, wenn er noch Zeit dazu hatte... und die hatte Frege. Er veriss das Lenkrad des schweren LKWs, diesmal anders als vorher, diesmal unkontrolliert. Die schweren Reifen frassen sich in den Asphalt, es dröhnte, quietschte und der leistungsstarke Motor heulte auf.
    Semir konnte die Szene von hinten beobachten und wusste aus Erfahrung, dass das schief ging. Einen solchen LKW zu halten nach einem Ausweichmanöver bedurfte Erfahrung und Fahrkunst... und Frege hatte im LKW weder das eine, noch das andere. Die linken Räder kippten über den Straßenrand in den Graben, der Rest des LKWs folgte mit lautem Krachen und Getöse. Auf der Fahrertür gelegen, eingehüllt in Staub und Dreck des Ackers kam der Autoauflieger zum Liegen, Ben stand mit dem Kipplaster halb auf der Landstraße und Semir brachte den, vorher aufgeladenen Kleinwagen mit quietschenden Reifen neben dem LKW zum Stehen. "Game Over...", murmelte Ben erleichtert, dass seine Aktion geklappt hatte.


    Gerade als der kleine Polizist mit gezückter Waffe um den LKW herumlief, wurde von innen die Rettungsklappe am Dach des Führerhauses aufgedrückt und hinterlässt im Acker eine kleine Staubwolke. "Ganz langsam! Ich will die Hände sehen!!", machte Semir sofort klar, nicht lange zu fackeln. Aber Frege war nicht mehr zumute für eine Auseinandersetzung, ausserdem hatte er bei dem Unfall im Führerhaus seine Waffe verloren. Als Rauch vom Motor aufstieg bekam er Panik und verspürte nicht das Interesse, die Waffe nochmal zu suchen. Es erschienen Hände, ein blutendes Gesicht und Stück für Stück krabbelte der Leiter der Mordkommission aus dem umgekippten Laster stöhnend in den Acker. Ben kam im Laufschritt um den LKW herum und sah dass Semir alles unter Kontrolle hatte. "Ich ruf nen Krankenwagen.", sagte er noch und zog sein Handy während sein erfahrener Kollege kein Risiko einging. Trotz Freges leichter Verletzung legte er ihm Handschellen an...

    Krankenhaus - 12:45 Uhr


    Die Nächte schienen Jenny ewig. Sie lag im Bett, wälzte sich verschwitzt herum und hatte das Gefühl, eine Flut von Bildern würde sie krampfhaft wach halten, immer wenn sie gerade im Begriff war, einzuschlafen. Gerade dann, wenn sie das Gefühl hatte, endlich wegzudösen, sprang ein neues erschreckendes Bild vor ihre Augen... Kevin blutverschmiert, Kevin in Atemnot auf dem Asphalt liegend, oder Kevin, der eine Waffe auf sie richtete. Die junge Polizistin glaubte, ständig würde ihr Gehirn ihr Dinge aus der Vergangenheit vorgaukeln. Ins Gedächtnis rufen. Aber immer waren es negative Dinge, nie einen schönen Moment den sie mit Kevin verbracht hatte, nie eine zärtliche Berührung, ein Kuss, ein Lachen des jungen Polizisten.
    Jetzt, nach dem Anruf von Juan, fühlte sie sich unendlich müde. Kaum Schlaf letzte Nacht, der aufregende Tag davor... wenn sie nächtliche Einsätze hatte, hatte sie damit nie Probleme. Sie war dann auf Achse, aktiv und unterwegs, konnte dabei die Müdigkeit unterdrücken. Doch jetzt im Krankenzimmer, immer sitzend dicht bei Kevin hatte sie keine Möglichkeit, die Müdigkeit irgendwie weg zu schieben. Am liebsten würde sie sich zu ihrem Partner ins Bett legen, sich dicht an ihn kuscheln und von ihm beschützt werden... so wie früher.


    Ihre Hand streichelte unablässig zärtlich über den Handrücken von Kevin. Die Beatmungsmaschine gab ohne Unterbrechung Töne von sich, gnadenlos. Auch die Pieptöne des Überwachungsmonitors blieben konstant, Jenny hatte den subjektiven Eindruck, dass sie langsamer waren seit Kevins Blutwerte sich verschlechtert hatten. Doch die Krankenschwestern und -Pfleger hatten ihr immer wieder versichert, dass soweit alles in Ordnung war... soweit man den jetzigen, kritischen Zustand auf der Intensivstation "in Ordnung" nennen konnten. Keiner wollte sich aus dem Fenster lehnen, ob Kevin überlebt. "Komplikationen können immer auftreten. Eine Infektion ist so eine Komplikation.", sprachen die Götter in Weiß in Ärztesprache. Aber was sollten sie auch sonst sagen?
    Jenny hatte den Kopf auf die Matratze dicht neben Kevins Oberkörper gelegt und die Hand unter die des schwer verletzten Polizisten geschoben. Das Piepen erschien für einen Moment weit weg, als sie die Augen schloß und leise atmete. Sie konnte am Kopf spüren, wie Kevins Brustkorb sich hob und senkte, friedlich als würde er schlafen. So wie früher, da hatte sie den Kopf auch auf seine Brust gelegt, statt daneben und konnte am Ohr deutlich sein Herz schlagen hören. Dann fühlte sie sich sicher und hatte das Gefühl, dieses Herz schlug für sie und würde niemals aufhören solange sie zusammen waren.


    Plötzlich erschrak sie, denn die Hand auf ihrer kleineren Hand hatte sich bewegt. Jenny riss die Augen auf, hob den Kopf und blickte zu Kevin. Die Hand zog sie nicht weg, denn es fühlte sich plötzlich so vertraut an, so unglaublich gut. Heiß und kalt lief es ihr den Rücken herunter, als sie in das Gesicht ihres Freundes blickte, das ein wenig verdeckt war vom Beatmungsschlauch und der Sonde in der Nase. Aber sie konnte ganz klar erkennen, was passiert war... Kevin hatte die Augen geöffnet und blickte unsicher hin und her. "Kevin...", flüsterte Jenny und ihre Hand begann unter der von Kevin zu beben, als dieser wie im Reflex, als seine Augen die junge Polizistin erblickten, seine Hand mehr um die von Jenny schloß.
    Das Piepen am Monitor nahm ein wenig zu, Jenny kannte den Warnton, wenn es für ihren Freund gefährlich wurde. Doch noch schien alles in Ordnung... er wurde wach. "Kevin... kannst du... kannst du mich hören?", sagte sie leise und bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu wirken. Der junge Mann nickte nicht, er schloß nur die Hand noch fester um die von Jenny, und die junge Frau blickte tief in das Hellblau seiner, oftmals kalt wirkenden Augen, die aber eine große Faszination auf sie auswirkten.


    Jenny war oft in diesen Augen versunken, und sie kannte viele Eindrücke seines Blickes. Wut, Trauer, Zorn, Freude, Melanchonie... auch Panik. Aber nie hatte Kevin diesen Ausdruck in seinen Augen. Er hatte ihr vor langer Zeit, als sie noch zusammen waren, erzählt, dass er nichts benennen könnte, vor was er sich fürchtete. Ausser einer Sache: Alleinsein. Er hatte Angst davor, alleine zu sein, was mit seiner Vergangenheit, seiner Kindheit, zu tun hatte. Nicht das Alleinsein in einem Haus, in seiner Wohnung oder im Auto... sondern das "Verlassensein", niemanden zu haben, an dem er sich festhalten kann, oder - und das war noch wichter - für den er selbst da sein könnte. Diesen Zustand durchlebte er einige Jahre nach Janines Tod, und diese Zeit löste diese Angst aus.
    Jetzt hatte er diese Angst in seinen Augen, das bildete Jenny sich ein. Sie glaubte es zu erkennen, als würde der Blick sprechen. "Ich bin bei dir, Kevin. Ich lasse dich nicht alleine, egal was passiert. Das habe ich dir versprochen.", flüsterte sie und streichelte durch seine stacheligen abstehenden Haare. Sein Blick haftete an Jennys Gesicht, doch die Angst in den Augen verschwand nicht. Er konnte nichts sagen, er konnte sich nicht bewegen, nur seine Hand hielt Jennys Hand und seine Augen sagten mehr als tausend Worte.


    "Pass auf... ich bin bei dir. Ich rufe nur einen Arzt, ja? Ich bin sofort wieder da.", sagte die junge Frau und schien ein wenig Erleichterung in seinem Gesicht ausmachen zu können. Sie selbst musste sich zurückhalten, nicht aus dem Zimmer zu rennen und ging langsam und gemäßigt, immer wieder zu Kevin blickend bis zur Tür. "Hallo! Hallo!!", rief sie und sofort erschien das Gesicht einer Krankenschwester aus einer Tür. "Mein Freund... er ist aufgewacht! Er hat die Augen geöffnet.", sagte Jenny aufgeregt und die erfahrene Krankenschwester kam mit schnellen Schritten in das Krankenzimmer. Jenny ließ ihr den Vortritt, drehte sich um prallte zurück. Ihre Gesichtszüge vereisten, das leichte, erleichterte Lachen um ihre Lippen erstarb.
    Der Piepton klang genauso wie vorher... nicht schneller und nicht langsamer. Kevin lag ruhig, mit geschlossenen Augen im Bett... genauso, wie zu dem Zeitpunkt, als Jenny ihren Kopf neben ihn gelegt hatte. Seine Hand war offen und entspannt. "Frau Dorn... Frau Dorn?", hörte sie die Stimme der Krankenschwester ganz weit weg. Sie konnte an Kevins Zustand keine Veränderung feststellen, und ein Erwachen aus dem Koma wäre von den Geräten aufgezeichnet worden. Jenny konnte zwischen Traum und Realität nicht unterscheiden. "Frau Dorn, sind sie vielleicht neben dem Bett eingeschlafen?" Die junge Polizistin stand stocksteif im Raum, blickte auf das Gesicht von Kevin und spürte, wie sich die Klammer um ihre Brust wieder enger zog...

    Köln - gleiche Zeit


    Claus Frege hatte sich, für die beiden Polizisten, denkbar schlechteste Fluchtauto ausgewählt. Ein schwerer Sattelschlepper, dazu noch mit einigen Autos beladen, bedeutete Lebensgefahr für alle Verkehrsbeteiligten. Und auf solche nahm Claus in der Minute des psychischen Ausnahmezustandes auch keinerlei Rücksicht. Deswegen hatte Semir sofort das Gefühl, dass er auf dem LKW mehr ausrichten konnte, als mit Ben im Dienstwagen dahinter. Die Anstrengung des Sprints merkte er in solchen Momenten nicht, genauso wenig stellte er mathematische Berechnungen an, wann er jetzt vom Asphalt abspringen musste, um definitiv die Kante des LKWs zu erreichen, an der er sich jetzt festklammerte. In solchen Situationen verließ er sich voll und ganz auf sein Gefühl, und dieses ließ ihn auch diesmal nicht im Stich.
    Hinter sich hörte der kleine Polizist sofort Reifengequietsche und Sirenengeheul. Er blickte sich kurz um, konnte über die Schulter aber wenig erkennen ob sich jetzt Streifenbeamte oder Ben an seine Fersen hefteten. Er ergriff den weiteren Verlauf der Metallteile, die zum Auffahren auf den LKW da waren, bis er endlich auch an den Füßen einen sicheren Stand hatte. Dann atmete er für einen Moment durch, er stand jetzt direkt hinter einem kleinen Toyota, der als letztes auf der unteren Ladefläche stand. Dann sah er sich um und blickte fast direkt in Bens fragendes Gesicht, der direkt hinter ihm fuhr.


    Lange konnte der kleine Polizist aber nicht verschnaufen, denn plötzlich machte der LKW einen Ruck, der Semir straucheln ließ. Reflexartig griff er nach irgendwas haltbaren, genügend Gestänge links und rechts von ihm waren vorhanden. Der Grund für das Rucken kam sofort für ihn ins Bild, als der LKW und danach die Polizeikolonne einen Kleinwagen überholten, der entgegen der Fahrtrichtung stand, mit eingedrücktem Kofferraum. Scheinbar hatte Frege den Wagen gerammt, ein Streifenwagen bremste sofort um sich um eventuell Verletzte zu kümmern. Die Bewegungen des LKWs hatten sich noch nicht beruhigt, da spürte der erfahrene Kommissar erneut, wie die physikalischen Kräfte an ihm rissen, als Frege an einer Kreuzung rechts abbog. Gemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hatte, schien er noch nicht zu haben.
    Semir dachte nach. Solange sie in der Stadt seien, konnte er nicht angreifen, das Risiko eines Unfalls war viel zu hoch. Er hoffte, Frege würde auf die Landstraße flüchten, besser als die Autobahn. Weil dieser den Verkehr doch eher hinderlich fand, entschied sich der Flüchtige ebenfalls für diesen Plan und steuerte den Autoaufflieger auf eine Straße, die aus Köln herausführte, und auf der nur wenig Verkehr war. Semir atmete auf, er hielt sich immer noch an den Gestänge des "zweiten Stocks" fest, des Oberrangs wo weitere Autos standen. Dann griff er zu seinem Handy.


    Natürlich klingelte es sofort bei Ben im Auto, der abhob. "Was ist denn jetzt?", rief er gehetzt, während er versuchte an dem flüchtenden LKW dran zu bleiben. "Komm auch rauf! Wir müssen ihn von zwei Seiten überraschen, ich hab keine Lust mit ihm im Graben zu landen!", rief Semir und sah Ben dabei an, der die Lippenbewegung seines Partners sah und verzerrt am Hörer seine Stimme hörte. "Wie soll ich das machen? Hier ist keine Leitplanke, um den Wagen einzuklemmen." Er beobachtete, wie der kleine Polizist sich gehetzt umsah. Sie mussten Frege stoppen, bevor es zu weiteren Unfällen kam. "Na dann fahr halt auf?" "Wie bitte?" Er sah wie Semir sich bis zu dem Bedienbord des LKW-Aufliegers hangelte und begann, die beiden Schienen zum Auffahren herunter zu lassen. Der LKW war zum Glück älter, so dass man dies noch nicht vom Führerhaus steuerte, und es dort auch keine Meldung gab, was da hinten passierte. Frege sah und hörte im Rückspiegel nur die Sirenen der Verfolger, aber nicht was auf seinem Aufflieger vor sich ging.
    Die Autos waren zum Glück nicht abgesperrt. Semir öffnete von dem hinteren unteren Wagen die Tür, löste die Handbremse und nahm den Gang heraus. Gehalten wurde der Wagen nun nur noch von zwei Spanngurten, die um die Vorderreifen gebunden waren. Während der gesamten Aktion musste er sich immer wieder festhalten, wenn der LKW durch Kurven fuhr und der Fahrtwind riss an seinen Klamotten.


    Er machte Ben ein Zeichen, dass dieser Abstand halten sollte und wartete bis zu einer Linkskurve. Den ersten Spanngurt schnitt er vorher durch, den zweiten als sie in der Linkskurve waren, so dass der Kleinwagen gefahrlos geradeaus ins Feld rollte. Ben fuhr daran vorbei und schüttelte den Kopf. "Ein Typ..." Ein Parkplatz auf dem LKW war jetzt frei für Ben, Frege sah währenddessen immer öfters in die Seitenspiegel, denn das er ein Auto verloren hatte, bekam er natürlich mit. Der Polizist mit dem Wuschelkopf nahm etwas Abstand, bevor er das Gaspedal ganz durchdrückte und mit Schwung auf den LKW-Auflieger fuhr. Das Auto tat einen Schlag, er setzte vorne einen Moment auf denn normalerweise fuhr man mit geringerer Geschwindigkeit auf einen solchen Anhänger. Am Dienstwagen hinterließ die Aktion böse Schrammen unterhalb der Frontlippe.
    Ben zog die Feststellbremse, die Beamten, die dem LKW immer noch folgten, wunderten sich nicht schlecht. Semir zog seine Dienstwaffe, Ben tat es ihm gleich, nachdem er ausgestiegen war. "Und jetzt?" "Du lenkst ihn an der Beifahrertür ab, ich schlag ihn an der Fahrertür KO." "Klingt nach nem simplen Plan.", bemerkte Semirs bester Freund, und die beiden hangelten sich langsam während der Fahrt an beiden Aussenseiten des Transporters entlang, bis sie knapp hinterm Führerhaus waren. Frege allerdings hatte im linken Rückspiegel Semir bereits gesehen, die Waffe in der Hand und entsichert.


    Doch zunächst wurde er durch Klopfen am Fenster der Beifahrertür aufmerksam. Ben zielte durch die geschlossene Scheibe auf Frege und rief, gedämpft durch das Glas, laut "Anhalten! Sofort anhalten!" Frege wäre der erste Flüchtende, der sich an die Anweisung von Ben gehalten hätte, und so zielte er seinerseits auf die offene Scheibe. Ben hatte natürlich damit gerechnet und schwang sich wieder ein Stück zurück vom Fenster, als die Waffe knallte und die Fensterscheibe splitterte. Genau in diesem Reflex riss Semir die Fahrertür auf, holte mit der Waffe aus und schlug zu, doch als hätte Frege damit gerechnet duckte er sich zur Seite weg, so dass der Hieb des Polizisten ins Leere ging. Noch bevor Semir realisierte, dass sein Plan gerade dabei war, zu scheitern, zielte der Polizist auf der Flucht und drückte ab. Ein stechender Schmerz in Semirs Oberarm, der die Waffe hielt, die klappernd zu Boden fiel war die Folge.
    Schnell schwang er sich ebenfalls wieder ins Freie, zum Glück hatte Frege nicht in den Arm geschossen, mit dem er sich festhielt... Semir wäre unweigerlich aus dem LKW auf den Asphalt gestürzt. "Fuck...", zischte er, als ihm ein wohlbekanntes Brennen im Arm deutlich wurde und er spürte das warme Blut bis zur Hand laufen. Er war jetzt unbewaffnet, beide waren wieder knapp hinter dem Führerhaus, und jetzt begann Frege wilde Schlangenlinien zu fahren, um die lästigen Verfolger im wahrsten Sinne des Wortes "abzuschütteln."

    Eisdiele - 12:30 Uhr


    Endlich, dachte Juan. Endlich mal Temperaturen, bei denen man sich wohl fühlt. Während der Großteil der Bewohner Kölns unter der unsagbaren Hitze litten, waren das für den Kolumbianer, der jenes Klima im Regenwald gewohnt war, ordentliche Bedingungen. Am liebsten sollte der Sommer nie vergehen, oder er konnte spätestens in einigen Wochen, wenn der September über Deutschland hereinbrach, wieder zurück in seine Heimat. Er saß, wie fast jeden Tag um diese Zeit, in einer Eisdiele in der Innenstadt, beobachtete Leute oder traf sich mit Geschäftspartnern von Zack, für den er immer noch arbeitete. Hin und wieder war er auch noch bei Anis, obwohl der ihn für einen Job ausgebootet hatte und sehr schlecht zahlte. Nachdem der, fast immer gut gelaunte Kolumbianer aber mitbekam, dass Anis sich scheinbar immer noch nicht beruhigt hatte bezüglich seines Freundes Kevin, hielt er den Kontakt aufrecht, und versuchte verdächtige Gespräche mit zu bekommen.
    Vor drei Tagen hatte er schon gedacht, es ginge um Kevin. Rein zufällig bekam er ein Telefonat von Anis in dessen Nachtclub mit, als er von einem "Polizisten" sprach. "Du weißt genau, was ich schon für dich getan habe, wie oft ich mich umgehört habe und irgendwelche Opfer verpfiffen habe. Ja? Ja, ich weiß, dass es mir auch genützt hat, das interessiert mich aber nicht. Ja! Ist mir egal, wie du das anstellst, dann musst du eben einen deiner Polizisten über die Klinge springen lassen. Um wen es geht? Das kann dir egal sein. Ja... ja, ich weiß. Na schön, es ist einer von den...", mehr konnte er im Krach der Musik nicht verstehen, während er einen der gutgemachten Cocktails trank.


    Später bot er in dem Fall seine Hilfe an, und wurde rüde, wie immer, von Anis abgebügelt. "Das geht dich nichts an.", sagte er und gab Juan einen weiteren Laufburschen-Job. "Das wird Kevin mir gut bezahlen müssen, dass ich mich für ihn zum Affen mache.", knurrte er für sich als sein Handy klingelte. "Hola Chico, que tal?", meldete er sich, als er eine kolumbianische Rufnummer sah, die zu seinem Freund Alvaro aus Kolumbien gehörte. Der meldete sich auf Spanisch. "Hallo Juan. Alles klar bei uns, ich habe gute Nachrichten. Ich hab gehört, dass Santos ein Gespräch mit dir will. Er hätte auch das Kopfgeld wieder zurückgenommen." "Wow... nach, warte... einem halben Jahr hat der sich endlich wieder eingekriegt?", lachte Juan und schüttelte kurz den Kopf.
    "Du weißt doch, wie nachtragend er ist. Jedenfalls habe ich das mal durch unsere Informanten bei ihm in der Gruppe checken lassen. Scheint soweit zu stimmen.", sagte die spanische Stimme am Telefon, während der Kolumbianer in der Eisdiele einer Frau im knappen Rock kurz hinterher sah. "Und wenn es doch eine Falle ist?" "Deswegen sage ich es dir ja so, und nicht "Setz dich ins Flugzeug und komm zurück.", verstehst du?" "Sí, schon klar. Hmm." Juan dachte nach. Konnte er dem Frieden wirklich trauen, nachdem was vorgefallen war.


    Eine gewisse Ehre besaß auch Santos, egal wieviel kriminelle Energie er besaß. Wenn er öffentlich sagte, Juan könne zurückkommen und er werde ihn weiterhin als ebenbürtigen Konkurrenten der beiden Kartelle betrachten, und nicht mehr als Freiwild weil Juan Kevin unterstützte um Annie aus dessen Fängen zu befreien, dann würde er dem Drogenboss das wohl glauben. Aber er würde wohl zuerst noch ein paar Leute aus Bogota kontaktieren und sich erstmal selbst umhören... sicher ist sicher. "Und zur Not beschützen wir dich, ist doch klar." "Was ich nicht will, ist ein verdammter Krieg. Deswegen bin ich ja auch untergetaucht." Alvaro nickte, natürlich unsichtbar für Juan. "Ich melde mich wieder bei dir. Sag Santos, falls er auf euch zukommt, dass ich an einem Gespräch interessiert bin, aber zunächst nur telefonisch." "Alles klar, Boss. Machs gut." Die Verbindung wurde getrennt und Juan ass den Rest seines Eisbechers.
    Dann versuchte er, mittlerweile zum wiederholten Male in den letzten zwei Tagen, Kevin zu erreichen. Wieder ging nur die Mailbox dran. "Da stimmt doch irgendwas nicht.", murmelte der Kolumbianer mit dem Pferdeschwanz am Hinterkopf und wählte Jennys Nummer. Es dauerte einige Freizeichentöne, bis er die Stimme der jungen Frau am Telefon hörte, die ihn vor einigen Monaten noch angefleht hatte, mit ihr nach Kolumbien zu fliegen, um den verschollenen Polizisten zu suchen, während sie selbst schwanger war. Juan hatte das damals abgelehnt.


    "Hallo Jenny, hier ist Juan. Ist Kevins Handy kaputt? Ich kann ihn seit zwei Tagen nicht erreichen." Die Antwort war zunächst Schweigen, dann ein leises, trauriges Seufzen. In Juan breitete sich ein ungutes Gefühl aus, das Eis schien ihm plötzlich eiskalt und bleischwer im Magen zu liegen. "Jenny? Was ist passiert?" "Kevin... ist gestern angeschossen worden. Er ist im Krankenhaus." Beinahe wäre Juan das Handy auf den Tisch gefallen. Jetzt hatte er so sehr aufgepasst, um mitzubekomme wenn Anis einen Anschlag plant. Wenn es Anis war. "Wie gehts ihm?" Er konnte das zögerliche Schlucken von Jenny hören, konnte spüren wie sie wiederholt in den letzten 30 Stunden gegen die Tränen ankämpfte. "Nicht gut. Er liegt im Koma, er wurde in den Oberkörper getroffen. Die Ärzte sagen, es ist kritisch."
    Der Kolumbianer atmete tief durch und eine unsagbare Wut stieg in ihm auf. Er hatte sich mit dem eigenartigen Mann angefreundet, auf eine Art und Weise, die man vermutlich nur schwer erklären konnte. Der Bulle und der Verbrecher. Der Bulle, der für ein Mädchen zum Verbrecher wurde, und der Verbrecher, der für den Bullen zum guten Kerl wurde. Das reichte für ein Drehbuch, dachte Juan damals. Die Nachricht von Jenny traf ihn sehr. "Wisst ihr... wisst ihr wer es war?", fragte er vorsichtig... auf Anis konnten sie noch nicht gekommen sein, denn mit dem hatte er vor drei Stunden noch telefoniert.


    "Ja... also, aufgrund von Beweisen wurde ein Mann festgenommen. Ein Polizist, der Kevin wegen seines Rufes aus der Polizei haben wollte." "Aufgrund von Beweisen? Also hat er nicht gestanden?" Die Frage verwirrte Jenny, das konnte Juan am Handy hören. "Nein, soviel ich weiß hat er nicht gestanden. Aber... warum willst du das so genau wissen?" "Hey, ich bin Kevins Freund... natürlich interessiert mich das, wer ihn so schwer verletzt hat.", sagte er fürsorglich, doch seine Gedanken an Anis rissen nicht ab. Seine braunen Augen blieben immer wieder an Menschen der Fußgängerzone haften und seine Hand winkte eine Kellnerin herbei, um zu bezahlen. "Ja... entschuldige. Es ist schwer im Moment.", entschuldigte Jenny sich für ihr Misstrauen. "Jenny, pass auf. Ich kann im Moment nicht vorbeikommen, um ihn zu besuchen. Aber es wäre nett, wenn du mich auf dem Laufenden hälst, ok?" Jenny versprach, sich sofort zu melden wenn es schwerwiegende Änderungen an Kevins Gesundheitszustand gab.
    Nachdem sie beide das Gespräch beendet hatten, atmete Juan tief durch. Er bezahlte sein Eis und den Kaffee, dann erhob er sich langsam von dem Platz und ging einige Schritte durch die Fußgängerzone. Seine Schritte fühlten sich taub an, und die Sonne heißer als vorher. Er wählte eine Rufnummer in Köln. "Ivan? Hier ist Juan. Ja, genau... der Juan. Ich brauch etwas von dir... sofort."

    Mordkommission - 12:00 Uhr


    Es war wie im Verhörzimmer... Semir und Ben saßen nebeneinander dem Verdächtigen gegenüber, der jetzt gerade dabei war auszupacken. Nur dass sie nicht im Verhörzimmer waren, sondern im Büro des Verdächtigen. Unauffällig hatte Semir, wie es in einem Verhörraum üblich war, sein Handy auf Aufnahme gestellt und hatte es sich auf den Oberschenkel gelegt... damit er mit jedem Satz von Frege eine hieb- und stichfeste Aussage hatte. "Was hat Kevin kaputt gemacht?", fragte er dann und hörte aufmerksam zu, während Frege immer wieder von Ben zu Semir und zurück blickte. "Er hat die Ermittlungen in Monikas Fall versaut. Er hat Fehler gemacht und diese noch verschleiert, nachdem sie aufgefallen waren. Er ist schuld daran, dass man ihren Mörder nie gefasst hat.", sagte er und man hörte in jedem Satz seinen Hass auf den jungen Polizisten.
    "Was ist passiert? Welche Fehler soll Kevin gemacht haben?", wollte Semir wissen, und in sein Interesse galt sowohl hinsichtlich des Falles, als auch hinsichtlich Kevin. Claus seufzte und scheinbar fiel es ihm schwer, sich daran zurück zu erinnern. "Ich war selbst in dem Fall nicht involviert und Kevin hat mich auch wenig informiert. Erst, als das Verfahren geschlossen wurde, habe ich mich eingemischt und mir sind so die Ermittlungsfehler aufgefallen. Es gab Verdächtige, die nicht verhört wurden. Es gab mindestens drei Handynummern, die nicht überwacht wurden. Eine davon gehörte einem Mann, der Verbindungen zur Autonomenszene hatte." Den eindeutigen Blick deutete Ben sofort... Autonome Szene = Kevins Vergangenheit.


    "An dem Fall haben vier Beamte ermittelt. Es kann doch nicht sein, dass keinem die Fehler aufgefallen sind.", sagte der junge Polizist und schüttelte den Kopf. "Da kann man doch nicht alles auf Kevin schieben." "Ja, natürlich waren die anderen auch beteiligt. Deswegen mussten sie auch sterben." Frege sagte dies in einer Seelenruhe, wie eine Rechtfertigung, eine gerechte Strafe. "Ich habe Monika geliebt." "Wenn du sie geliebt hast, warum hast du dich dann nicht früher eingeschaltet? Es kann doch nicht sein, dass der ganze Fall an dir vorbeigegangen ist.", beharrte Semir, der sich nicht vorstellen konnte, wenn Andrea etwas passieren würde, er den Fall einfach Ben und Kevin überlassen würde, und sich selbst nicht kümmert. "Aus Erfahrung weiß ich, dass die meisten Fehler passieren, wenn man befangen ist. Ich hätte nicht neutral ermitteln können, und habe mich auf meine Mitarbeiter verlassen." Semir zog die Augenbrauen hoch. "Und dann überlässt du denn Fall ausgerechnet dem jüngsten und unerfahrensten Beamten in deinem Team?" "Das hat die Behördenleitung entschieden."
    Ben und Semir sahen sich an. Sie wussten, sie hatten ein Geständnis... Frege war am Ende. Er hatte gemordet aus Rache an den Beamten, die den Fall seiner toten Affäre in den Sand gesetzt hatten... ob wissentlich oder unwissentlich. Dass eine der verdächtigen Handynummern aus der linken Szene stammte, war natürlich verdächtig, aber das traute Semir Kevin einfach nicht zu, dass er einen potentiellen Mörder deckte. Er hatte sich auch damals schon aus der Szene verabschiedet. Er hatte es ihnen geschworen... und der erfahrene Polizist betete kurz, dass er die Sache hoffentlich von Kevin hören würde... aus seinem Mund, bei vollem Bewusstsein.


    "Na gut...", sagte Semir mit ruhiger Stimme. Sie hatten ihr Ziel eigentlich schon erreicht. "Warum diese Inszenierung bis ins kleinste Detail? Und vor allem: Warum das Kind eures Ex-Kollegen? Das war völlig unnötig." "Kevin war der Hauptverantwortliche, deswegen wollte ich ihm die Aufgabe stellen, die gleichen Morde aufzuklären, die seine Kollegen nicht aufklären konnten. Und das waren nun mal jene Fälle, die ich nachgestellt habe." Kalt und skrupellos war Claus' Stimme, seine Gestik und Mimik. Er saß stocksteif und gerade in seinem Stuhl und strahlte sogar jetzt noch Souveränität und Autorität aus. Er schien keinen Schritt zu bereuen. "Das Kind gehörte zu jenem Fall nun mal dazu." Semir und Ben bettelten innerlich, dass er sagte, es hätte ihn überrascht und er hätte zumindest gegenüber dem Kind im Affekt reagiert. Aber nichts. "Es war alles geplant.", sagte er kalt. Dem zweifachen Vater fiel es schwer, ruhig zu bleiben.
    "Und Kevin hätte der Letzte sein sollen?" Claus nickte. "Allerdings hätte ich ihm genug Zeit gegeben die Mordfälle zu lösen. Aber auch das hat er nicht geschafft." "Er hätte es aber... und weißt du warum? Weil er bei uns, im Gegensatz zu hier Kollegen hat, die ihn unterstützen. Und nicht versuchen, ihn fertig zu machen.", keifte Ben. Claus zuckte mit den Schultern... diese Sache war ihm nun wirklich egal. "Also nimmst du den Anschlag an Kevin heraus?" Claus blickte vom Tisch zu Semir. "Natürlich. Damit habe ich nichts zu tun."


    Die Blicke von Ben und Semir waren skeptisch. Claus' Aussagen, um Torben zu belasten, kamen ihnen schon verdächtig vor. "Glaubt ihr wirklich, ich inszeniere die Morde davor sorgfältig, um bei dem letzten dann Kevin einfach über den Haufen zu schießen?" Er lachte sogar und schüttelte den Kopf. "Nein... es wäre an einer Tankstelle passiert, so wie Monika. Und wenn ich 100 Jahre hätte warten müssen.", sagte er mit einem Schuss Fanatismus in der Stimme. "Warum jetzt erst?", fragte Ben und blickte dem Leiter der Mordkommission fest in die Augen. "Was?" "Warum jetzt? Der Fall ist fast zwei Jahre her." "Ich wollte warten bis alle Ermittler nicht mehr in meiner Abteilung sind. Nur Plotz, der Fettsack, musste seine Pension ja noch rausschieben. Aber so konnte ich ihm besser die falschen Medikamente unterschieben." "Plotz Fall war auch der einzige, der gelöst wurde im Gegensatz zu den anderen." Der Polizist mit der Glatze nickte. "Das musste man Plotz lassen... ein guter Polizist war er."
    Semir stand auf. "Im Gegensatz zu dir. Befangenheit hin oder her... als Dienststellenleiter müsste man merken, wenn etwas in der Truppe nicht läuft. Vor allem, wenn es Mobbingaktionen gegen Beamte gibt, oder Fälle aus dem Ruder laufen." Claus blickte zu Semir auf und nickte nachdenklich. "Ja, das stimmt vielleicht." "Hast du bezüglich Kevins Anschlag die Wahrheit gesagt?", wollte Ben noch wissen, denn er wollte den Verursacher von Kevins Zustand unbedingt sicher hinter Gitter wissen... und keinen Unschuldigen. Claus Frege aber nickte. "Ich habe nie gelogen." Er wusste, wenn er die Wahrheit sagte, würde er im Knast nicht lange überleben. Er hatte Anis sein Ehrenwort gegeben... und sie waren quitt. Er hatte deswegen nichts zu befürchten. Irgendwie tat es ihm zwar leid für Torben, andererseits war der Polizist aber auch selbst schuld. Nur... verdammt, warum hatte er Anis nicht gefragt, auf welchen Polizisten der es abgesehen hatte. Ausgerechnet auf sein letztes Puzzlestück. Der Unterwelt-Boss hatte nur von Zeit und Ort gesprochen, dass derjenige ihm einen Deal versaut hat, und von der Autobahnpolizei gesprochen. Claus hatte recherchiert und herausgefunden, dass federführend Semir und Ben als Ermittler gegen Anis einen Drogendeal verhindert hatte. Kevin stand in keinem Bericht drin... Semir und Ben hatten ihn rausgelassen, wegen seiner Vergangenheit zu Anis. Und weil Torben und Bastian eben gerade ihre unangenehme Bekanntschaft mit der gesamten Autobahnpolizei gemacht hatte, kam ihm das gelegen, und er ließ den impulsiven Torben über die Klinge springen, dessen Ermittlungsmethoden im sowieso ein Dorn im Auge waren.


    "Lass uns gehen, Claus." Der atmete nochmal kurz durch und stand ebenfalls auf. Semir sah, dass Claus seine Dienstwaffe nicht am Gürtel trug, und das insofern keine Gefahr von ihm ausging. Zu dritt gingen sie durch den Flur der Mordkommission, keiner der Beamten fragte nach wo der Dienststellenleiter mit den beiden Autobahnpolizisten hinging. Sie verließen die Abteilung, gingen die Treppen herunter und Richtung Ausgang. Als gerade ein Ermittler den Eingang hineinging, der die Waffe am Gürtel trug, ging alles ganz schnell. Claus, der großgewachsen war und kräftig war, griff so blitzschnell zu, dass Semir auf seiner Seite nicht reagieren konnte. Der schmale Polizist verlor den Halt und fiel, merkte noch wie Frege ihm die Waffe entwendete und sah, wie er seinen Arm um den kleinen Semir schlang, der nicht schnell genug eingreifen konnte.
    Der zweifache Familienvater spürte die kalte Mündung der Waffe an seiner Schläfe, Ben hatte seine Waffe sofort gezogen und auf Frege gerichtet. Einige Beamte, die ebenfalls am Eingang waren, taten es Ben gleich, auch wenn sie nicht glauben konnten, dass es Frege war. "Was geht hier vor?", rief einer während Ben mit halbwegs ruhiger aber eindrücklicher Stimme Frege befahl, aufzugeben. "Alle legen die Waffen nieder, sonst gibt es hier ein Blutbad!", rief er und drückte die Mündung fester an Semirs Stirn. "Und welchen Fall inszenierst du jetzt?", fragte der, ebenfalls mit ruhiger Stimme und blickte mit seinen braunen Augen nach oben, um irgendwie den Mann im Blick zu behalten, der ihn gerade als Schutzschild benutzte, dafür aber sich sogar ein wenig beugen musste. Frege sah sich ein wenig gehetzt um und zog Semir rückwärts zur Straße. "Ihr sollt die Waffen niederlegen!!", schrie er dann nochmal nachdrücklich. "Fuck...", murmelte Ben und sah Semirs vertrauensvollen Blick. "Okay, Leute... tut was er sagt!"


    Langsam, wie in Zeitlupe sanken die Waffen und Claus entdeckte sein Fluchtauto. In direkter Nachbarschaft zum LKA-Gebäude war ein Autohaus, vor diesem gerade ein vollgeladener Autotransporter stand. Der Fahrer sprach gerade mit dem Besitzer des Autohauses, von dem er gerade mehrere Wagen aufgeladen hatte. "Los!", knurrte Claus und zog Semir zu dem Transporter hin. Ben griff seine Waffe wieder und folgte langsam. Als der Dienststellenleiter bereits an der Fahrertür war, sagte er noch zu Semir "Ist nichts persönliches." Mit einem Hieb knallte die Waffe in Semirs Gesicht und der kleine Polizist fiel auf die Straße, während Claus in den Transporter einstieg, wo der Schlüssel steckte. Semir fasste sich an die Nase, aus der Blut strömte, und bekam die Abgase der seitlichen Auspuffanlage ab. Gerade als der schwere LKW sich in Bewegung setzte, rappelte er sich auf und verfiel sofort in einen Sprint. "SEMIR!!!", rief Ben noch, um seinen Partner zurück zu halten, denn er konnte sich denken, was sein kleiner Partner vor hatte. Der LKW beschleunigte nur langsam, zu langsam für den sportlichen Semir der mit schnellen kurzen Schritten den kleinen Rückstand aufholen konnte und sich an den Gestängen des Autotransporters festhalten konnte. "Wir müssen sie verfolgen, los!!", rief Ben den anderen Beamten zu und lief seinerseits zu seinem Dienstwagen.

    Köln - 11:40 Uhr


    Semir und Ben hatten dann doch keine Zeit verlieren wollen - und ihren Plan kurzzeitig geändert. Die kurze Beschreibung, die Frau Verhofen ihnen durchs Telefon gesagt hatte, war eigentlich eindeutig und so riefen sie schnell Andrea an, sie solle ihnen das Bild des Verdächtigen sofort auf ihre Smartphones schicken. In gegebener Eile erreichten sie dann die Adresse von Frau Verhofen, und statt die 51jährige Putzfrau, die durchaus sehr schüchtern und zurückhaltend war, weil sie immer noch um ihren Job fürchtete, mit auf die Dienststelle zu nehmen und kostbare Zeit zu verlieren, befragten sie die Frau in ihrer Wohnung. Nochmal erläuterte sie, dass der Mann mindestens zweimal bei Frau Keller war, die beiden sehr innig miteinander sprachen und einmal auch ein Satz fiel, der auf eine heimliche Beziehung deutete.
    "Ich habe aber nicht gelauscht, das war absoluter Zufall, als ich gerade ins Büro kam.", sagte die Frau bestimmt 4 oder 5mal. Sie wollte nicht als Tratsche da stehen, wenn es doch einmal heraus kam. "Keine Sorge, Frau Verhofen. Wir werden das absolut vertraulich behandeln. Wenn sich der Verdacht aber erhärtet, können wir mit ihrer Aussage einen vierfachen Mörder überführen. Und dann müssen sie vielleicht auch nochmal vor Gericht aussagen.", sagte Ben. Er hatte dabei jedoch sein Strahlemann-Lächeln angeknipst und sprach so zutraulich wie der Schwarm aller Schwiegermütter. Die Frau lächelte, fasste Vertrauen und nickte.


    Das Bild bestätigte sie sofort. "Ich bin mir zu 100 Prozent sicher.", sagte sie mit leicht niederländischem Akzent. "Das ist der Mann, der bei Frau Keller war." Semir nickte und die beiden Männer brachen wieder auf. Es war Eile geboten... denn nachdem der letzte auf der Liste, Kevin, nun zumindest für einen gut nachgemachten Mord nicht mehr zur Verfügung stand, war die Gefahr da, dass der Killer seine Inszenierung abbrach... und vielleicht doch flüchtete. Ben betrachtete auf der Fahrt in die Innenstadt das Bild auf dem Handy. Der Kopf, die Glatze, die stechenden, einschüchternden aber irgendwie auch vertrauenserweckenden Augen... Claus Frege, Leiter der Mordkommission, hatte dahingehend die perfekte Ausstrahlung eines Polizisten. Einschüchternd auf Verdächtige, vertrauenserweckend für die Opfer.
    Als Semir den Wagen auf dem Parkplatz abstellte wurde er von seinem besten Freund angesehen. "Wie machen wir es? Nehmen wir ihn mit? Konfrontieren wir ihn?" Er wollte eine ungefähre Richtung, wie sie die Sache angingen und sein erfahrener Partner überlegte kurz. "Vielleicht schaffen wir es, dass er sich verrät. Wir sprechen ihn einfach auf Frau Keller an und beobachten seine Reaktion. Damit wird er nicht rechnen, weil es eigentlich keine Verbindung zwischen ihnen gibt." Ben nickte und war einverstanden, beide gingen in das Gebäude. Die Sonne brannte auf den Asphalt an diesem Sommertag.


    Semir hatte ein ungutes Gefühl, als sie den Flur betraten und von vielen Kollegen hier beäugt wurden. Natürlich hatte sich herumgesprochen, dass die Autobahnpolizei Torben festgenommen hatte wegen des Anschlags auf ihren Kollegen. Und auch wenn die Beweislast erdrückend war, hatte Torben Freunde unter den Kollegen, die natürlich eher ihrem Freund glaubten... und nicht den Partnern eines Polizisten, der im Verruf war. So lasteten einige feindselige Blicke auf den beiden Autobahnpolizisten, als sie durch die Abteilung zum Chefbüro gingen und dort klopften. Das herrische "Herein" ließ Semir aufatmen... Frege war schon mal da. Doch auch sein Blick war eher genervt, als er die beiden Autobahnpolizisten sah. "Ihr schon wieder...", merkte er an, hielt sich aber an die Höflichkeit des Händeschüttelns.
    "Ja, ich würde auch lieber darauf verzichten.", kam Ben nicht umhin auf die Spitze zu antworten. Er dachte halt auch lieber mit dem Bauch, statt mit dem Kopf, während Semir die Bemerkung einfach überhörte und Platz nahm. "Wir sind nochmal dienstlich hier." "Hat Torben noch etwas ausgesagt?", fragte Frege interessiert und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Nein. Um den geht es auch nicht... es geht um die Mordserie.", sagte Semir und Ben biss sich auf die Lippen. Nicht mal ein "Wie gehts Kevin?" kam Frege, immerhin Ex-Vorgesetzte von Kevin, über die Lippen.


    Der erfahrene Polizist spielte seine Karte, Frege zu überraschen, sofort aus. "Welches Verhältnis hattest du eigentlich zu Frau Keller?" Die spontane Reaktion des Stirnrunzelns kam dem erfahrenen Autobahnpolizisten eine Millisekunde zu spät... vorher hatte Claus durchaus erst einmal gestaunt. "Frau Keller?", fragte er dann nochmal genauer nach und Semir nickte, ohne dem scheinbar verwirrten Frege auf die Sprünge zu helfen. Der blickte zwischen Ben und dessen besten Freund hin und her. "Welche Frau Keller meinst du?" "Der Tankstellenmord, den ihr behandelt habt." Der Leiter der Mordkommission kratzte sich an den Händen, nicht nervös sondern bedächtig und er lächelte. "Wie kommst du darauf, dass es da ein Verhältnis gab? Sie arbeitete nicht bei uns sondern bei den Wirtschaftsermittlern.", sagte Frege.
    "Aber ihr habt euch doch gekannt.", beharrte Semir und das Lächeln verschwand aus Claus' Gesicht. "Flüchtig." "Flüchtig?" Nun war es Semir, der lächelte. "Worauf willst du hinaus?" "Ich will darauf hinaus, dass du mit Frau Keller gesehn wurdest. Mehrfach und in... sagen wir... eindeutigem Beziehungstatus.", erklärte Semir und Ben fügte in seiner gewohnten Flapsigkeit "Andere würden es auch Affäre nennen... oder F.ickbeziehung, aber wir wollen ja sachlich bleiben." Freges Augen wanderten zwischen Semir und Ben hin und her.


    "Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei der Mordserie um einen Racheakt handelt, weil ausschließlich Ermittler ermordet wurden, die an den verpfuschten Ermittlungen Anteil hatten, dann kommen nicht viele Personen in Frage. Der Ehemann hat sich umgebracht und scheidet aus. Die Schwester ebenfalls. Bleiben noch potentielle Affären.", sagte Semir sachlich und er merkte, dass die Gesichtszüge bei Frege vereist blieben. Wie bei einem Mann, der merkte dass in seinem Plan ein Fehler vorkam. Wie ein Mann, der seinen Plan in zweifacher Hinsicht zerstört hatte. In dem er nicht bemerkte, dass es scheinbar eine Zeugin gab... und dass er einem Mann einen Gefallen tat, wobei er nicht wusste welches Ziel dieser Mann verfolgte... und dass dieses Ziel ausgerechnet sein Finale war. Sein Plan war nicht mehr komplett umsetzbar.
    Semir zählte auf: "Du kanntest die Fälle und konntest alles nachstellen, wie du es brauchtest. Du hast als Partner von Monika Keller ein Rachemotiv. Und unter uns...", meinte er etwas leiser "Du bist kalt genug sowas durch zu ziehen..." Frege schwieg und sah aus eben jenen kalten Augen Semir an. Es sollte sein einschüchternder Blick sein, obwohl er wusste, dass dieser an zwei hartgesottenen Ermittlern, die hervorragende Statistiken vorwiesen, abprallten. "Sollen wir deine Alibis abfragen? Oder lieber direkt mit den Fragen beginnen, die uns interessieren, und die uns nur der Täter beantworten kann?" Claus Frege seufzte und hob die Augenbrauen. "Kevin hat alles kaputtgemacht... dieser verdammte Bastard.", sagte er leise.

    Krankenhaus - 11:30 Uhr


    Die Zeit verging einfach nicht. Würde es Jenny etwas bringen, wenn es jetzt schon später wäre? Vermutlich nicht. Ob es nun halb zwölf, drei Uhr oder bereits halb sieben war... die Situation in diesem verfluchten Raum war immer gleich. Er war immer gleich beleuchtet, das Piepen von Kevins Überwachungsmonitoren war Monotonie pur und die Geräusche um sie herum ebenfalls. Die einzige sekündliche Abwechslung war, wenn eine Krankenschwester an dem Fenster zum Flur vorbeihuschte, oder vielleicht sogar mal hineinkam um nach dem Rechten zu sehen. Immer wieder hörte Jenny dann ein fürsorgliches "Momentan können sie wirklich nichts tun." oder ein "Gehen sie doch mal an die frische Luft, oder nach Hause. Wir passen schon gut auf ihren Freund auf."
    Ja, es war ermüdend, erschwerend und ganz sicher unangenehm, die ganze Zeit hier zu sein. Und sie würde wirklich gerne nach Hause, auf ihre Couch, arbeiten oder mal in die Stadt gemütlich einen Kaffee trinken gehen. Mit Ben, mit Andrea. Aber was wäre sie für ein Mensch, wenn sie Kevin jetzt hier alleine ließe? Würde er es vielleicht sogar merken, wenn ihre Anwesenheit weg wäre, nicht nur ihre Hand nicht mehr auf seiner liegen würde? Würde er vielleicht denken, dass Jenny ihn verlassen hatte, und dann aufhörte zu kämpfen? Diese Gedanken, seien sie noch so unreal, fesselten Jenny in dieses Zimmer, an sein Bett. Der Gedanke, schuld zu sein und nicht bei ihm zu sein, wenn etwas passierte, war unerträglich. Und so wimmelte sie jede Geste und jeden gut gemeinten Ratschlag freundlich ab.


    Diesmal kam die Krankenschwester nicht alleine, sondern brachte eine, noch recht jung aussehnde Ärztin mit. Sie hielt ein Klemmbrett mit Papieren in der Hand und bat Jenny kurz aus dem Zimmer. Im Magen der jungen Polizistin bildete sich ein Klumpen, ein untrügerliches Gefühl, eine Vorahnung schlechter Nachrichten. Sie schloß im Flur die Tür, die Krankenschwester begann, Kevin zu waschen, und dabei wollte Jenny aus verständlichen Gründen nicht zuschauen. "Frau Dorn? Sie sind ja die nächste Angehörige, wie ich gehört habe.", begann die junge Ärztin, und Jenny nickte. Niemand hatte die Existenz von Kevins Vater erwähnt, sie waren alle der Meinung dass Jenny an Kevins Bett ihm definitiv besser taten als Erik Peters. Trotzdem, sagte Semir, müssten sie es dem Nachtbar-Besitzer zeitnah mitteilen. Streit und Auseinandersetzung hin oder her... Vater blieb Vater.
    "Die Blutwerte ihres Freundes haben sich verschlechtert. Es deutet stark auf eine Art Blutvergiftung, eine Sepsis durch die Schusswunde hin.", sagte sie vorsichtig und langsam. Jenny hatte schon von solchen möglichen Komplikationen bei Schusswunden gelesen, als sie selbst angeschossen wurde. Sie wusste, es konnte eine harmlose Komplikation sein. Sie wusste, dass diese Komplikation aber auch tödlich sein kann. Ein Biss auf die Lippen, ein banger Blick. "Wir werden dies bei Herrn Peters jetzt mit starken Medikamenten behandeln, eventuell auch eine Transfusion durchführen. Er wird rund um die Uhr betreut, und ich will ihnen sicherlich nicht mehr Sorgen machen, als sie sowieso schon haben, aber...", die junge Ärztin suchte einen Moment auch erst nach den passenden Worten "... ich komme nicht umhin ihnen zu sagen, dass eine Sepsis bei dieser Art Verletzung auch lebensbedrohlich sein kann." Als sie merkte, dass bei Jenny diese Information erst sacken musste und keine Fragen oder Antworten kamen, ging sie zurück in Kevins Zimmer, wo jetzt auch ein weiterer Pfleger dazu kam, vermutlich um die erste Therapie zu beginnen.


    Jenny atmete tief durch, sie wollte der Prozedur auch durch das Fenster nicht zuschauen. Es war schrecklich, Kevin so hilflos zu sehen. Als sie einige Schritte vom Zimmer wegging und sie gar nicht mehr spürte, dass ihr einige Tränen die Wangen herunterliefen, kam ihr eine vertraute Gestalt entgegen. "Ach Gott... ich bin gerade erst von deinen Kollegen informiert worden. Was hat er denn wieder angestellt?", klang Kalles helle, aber männlich klingende Stimme durch den Flur und die stämmige Gestalt schloß Jenny in ihre Arme. Die beiden hatten sich bereits zu der Zeit, als die junge Polizistin fest mit Kevin zusammen war, kennen gelernt. "Wie gehts ihm denn?" "Geht so... er wird gerade behandelt und wir können nicht rein zu ihm." "Dann lass uns doch runter zur Cafeteria was trinken gehen."
    Kalle nahm, burschikos wie sie war, Jenny einfach bei der Hand und duldete mit dieser Geste keine Widerworte. Jenny kam diese Form der Vehemenz und Konsequenz gerade recht, und so ließ sie sich verführen, Kevin alleine zu lassen. Die Ärztin war ja gerade da. Sie setzten sich vor die Cafeteria, wo das Krankenhaus sogar draussen einige Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgestellt hatte, für Besucher. Sie holten sich jeweils eine Tasse Kaffee und setzten sich zusammen, Jenny erzählte kurz und mit einem Klos im Hals, was genau vorgefallen war, wie es zu der Verletzung kam.


    "Ach... der Junge.", sagte Kalle ein wenig nachdenklich und man merkte ihr, trotz der harten Gangart, die sie einfach an sich hatte, eine große Zuneigung zu ihrem Ziehsohn an. "Es hört sich blöd an, aber ich hatte schon zu seiner Jugend immer damit gerechnet, dass es mal soweit kommt. Er hat sich einfach überall reingehängt, mit jedem angelegt. Vor allem wenn es um Janine oder gegen seinen Vater ging. Ich war auch nicht besonders begeistert, dass er zur Polizei ging nach Janines Tod... aber ich hatte gehofft, dass sein Leben dann etwas geregelter ist. Aber er hat sich so sehr verändert." Jenny hatte Kalle bisher nie in solch einer Stimmung erlebt, und sie hing an ihren Lippen. Über die Veränderung Kevins, vor und nach Janines Tod, hatte sie ja von Annie schon einiges erfahren. Aber jetzt war sie sehr interessiert daran, auch Dinge aus Kevins Vergangenheit von Kalle zu erfahren, die ja eine andere Sicht auf den jungen Punk hatte, als Annie.
    "Was ist eigentlich mit... also mit Kevins leiblicher Mutter?", fragte Jenny und rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. Kalle presste die Lippen aufeinander. "Ich weiß auch nicht alles... aber was ich weiß, ist dass Kevin eigentlich ein Unfall zwischen Erik und einem Straßenmädchen war. Nachdem er dann auf die Welt gekommen war... also...", sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es auch nicht genau... jedenfalls ist das Mädchen nach der Geburt verschwunden. Ohne Kevin. Ob gewollt oder ungewollt..." "Ungewollt?", fragte Jenny. "Ich hatte Erik damals in Hamburg, auf St. Pauli schon gekannt. Man hat sich in der Szene erzählt, dass er dem Mädchen gedroht hatte, wenn sie den Kiez nicht verlassen würde. Ich hab mal gehört, sie sei nach Berlin, und dort in der Gegend untergegangen, wo Christane F. gelebt hat."


    Jenny sah traurig auf den Tisch. Sie wusste, was diese Gegend bedeutete. "Hast du mal wieder was von ihr gehört?" "Ehrlich gesagt, glaube ich nicht dass sie noch lebt. Sie war damals schon abhängig. Aber ich glaube, dass Kevin von ihr weitaus mehr hat, als von Erik.", sagte Kalle lächelnd und auch Jenny musste lächeln. Schließlich wussten beide, dass Erik und Kevin wie Feuer und Wasser waren. "Ja, das kann ich mir vorstellen. Wollte er nie wissen, wer seine Mutter ist? Dass er auf die Suche gegangen ist, oder so?" Jennys Gegenüber schüttelte den Kopf. "Kevin hatte seine Freiheit und vor allem Janine im Kopf. Er hätte sie niemals hier alleine bei seinem Vater gelassen. Wenn er seine Mutter hätte suchen wollen, dann hätte er Janine mitgenommen, und das wollte er nicht so lange sie noch zur Schule ging. Er hat sein Wohl stets unter das von seiner Schwester gestellt." Jenny fand das rührend, und es machte nochmal deutlich, wie besonders das Verhältnis zwischen den Geschwistern war.
    "Ich bin mir sicher, wenn Janine nicht getötet worden wäre, wäre Kevin immer noch auf der schiefen Bahn... vielleicht viel weiter, als er sich hätte vorstellen können.", sagte Kevins Ziehmutter nachdenklich und nahm noch einen Schluck ihres Kaffees. "Aber Janine hätte dafür garantiert Karriere gemacht. Kevin wollte nie, dass sie so wird wie er.", setzte sie lächelnd hinzu. Die junge Polizistin konnte sich gut vorstellen, dass Kevin selbst alles versucht hätte, die dunkle Welt von Janine fernzuhalten. Als sie weg war, floh er selbst vor ihr.


    Nachdem sie den Kaffee bezahlt hatten, gingen sie gemeinsam zurück auf die Intensivstation. Auch Kalle beobachtete ihren Ziehsohn nur kurz durch die Scheibe. Sie ließ es sich nicht anmerken, aber der Anblick ging auch ihr nahe. Sie war schonungslos ehrlich zu Jenny: "Versteh mich nicht falsch. Ich wünsche dir und mir, dass er möglichst gesund wieder aufwacht. Aber die Gewissheit, dass er dort oben seine geliebte Schwester wiedersehen würde...", sie stockte kurz und sah Jenny an. "Es würde mir die Trauer erträglicher machen, denke ich." Jenny verstand Kalle und nickte. Und sie musste, so schwer es ihr auch fiel, Kalles letzten Satz zustimmen: "Ich wäre mir nicht mal sicher, ob Kevin sich für das Leben entscheiden würde, wenn er jetzt die Wahl hätte..."

    Allerdings hatte er wirklich auf Jenny gezielt-warum denn das? =O


    Aus welchem Satz wird das deutlich bzw ausgehend auf welchen Satz kommst du darauf? Denn eigentlich hatte Anis schon auf Kevin gezielt, bei einem Drive-By dann aber eben das Risiko in Kauf genommen, auch Jenny zu erwischen.

    Also Ziel war schon ganz klar Kevin. Das sollte auch in dem Gespräch deutlich wären. Muss ich da was verbessern?

    Vor dem Krankenhaus - 10:00 Uhr


    Man konnte Anis für einen seriösen Besucher halten, als er mit schnellen Schritten aus dem Ausgang des Krankenhausgebäudes schritt. Sein Freund Ari hatte an der Seite des Gebäudes geparkt... zum Glück. Denn Anis musste auf dem eigentlichen Wege abbiegen und über ein Stück Rasen gehen, um zur Nebenstraße zu gelangen. Wäre er den Weg weitergegangen bis zur Hauptstraße, wäre er dort wohl Semir, Ben und Jenny in die Hände gelaufen. Er war zwar sicher, dass ihn bei dem Anschlag niemand gesehen hatte, doch er wollte keinen Zusammenprall riskieren, denn sicher waren die drei Polizisten nicht erfreut darüber, wenn der Hauptverdächtige ihres letzten Falles, den sie nicht überführen konnten, den schwerverletzten Kevin besuchen würde. Im schwarzen Audi, nicht der Anschlagswagen, wartete Anis Freund.
    "Alter... du bist echt wahnsinnig.", schüttelte der nur den Kopf. "Du schiesst den Bullen über den Haufen und gehst in dann noch ins Krankenhaus besuchen? Was, wenn dich die Tussi doch erkannt hat?" "Hat sie aber nicht, Mann. Jetzt mach dir nicht ins Hemd.", antwortete Anis gelangweilt und sein Freund ließ den Motor an, um sich danach in den laufenden Verkehr einzufädeln. "Und, wie siehts aus?" "Lebt scheinbar noch, hängt aber an Maschinen.", war die kurze Antwort. Anis wirkte nicht unzufrieden darüber, dass Kevin noch lebte.


    "Ja, was heißt das? Willst du etwa nochmal nachlegen?", fragte Ari und war immer noch erstaunt wie viel Risiko sein Boss einging. Aber er wusste aus langjähriger Freundschaft, dass Anis Dinge gerne selbst in die Hand nahm, egal wie gefährlich es war. Und scheinbar hatte es auch diesmal geklappt. "Keine Ahnung. Abwarten, ob er überhaupt überlebt... und wie er überlebt. Er hat seine Rechnung bezahlt, dafür dass er sich mit uns angelegt hat. Und wenn er überlebt, wird er bestimmt bei uns vorstellig, das lässt er nicht auf sich sitzen.", sagte er. "Du meinst, er hat dich erkannt?" "Er hat mich zumindest direkt angesehen, als ich geschossen habe, und er seine Freundin gerettet hat. Möglich wäre es." "Ey Mann, Alter... was, wenn er eben schon wach gewesen wäre?", polterte Ari und hielt mit quietschenden Reifen an der nächsten Kreuzung.
    "Mann, der Kerl hat uns das Geschäft unsres Lebens versaut! Er hat es gewagt, sich mit uns anzulegen, sich auf ein Spiel mit dem Teufel einzulassen, verstehst du, Alter?", knurrte Anis. "Wenn ich schon das Risiko eingehe, das Problem selbst zu lösen, dann will ich auch selbst das Ergebnis sehen. Also kack dich jetzt nicht ein und versau mir nicht den schönen Tag, ok? Ich weiß, was ich tue." Ari presste die Lippen aufeinander, und sagte nichts mehr. Gemeinsam fuhren sie in Anis Club.


    So schnell, wie Jerry im Krankenhaus aufgetaucht war, so schnell verschwand er auch wieder. Die Hände tief in den Taschen, den Kopf gebeugt, ging er an der dreiköpfigen Gruppe vorbei, die am Eingang stand und frische Luft schnappte. Jenny hatte sich beruhigt, nachdem Semir und Ben auf sie eingeredet hatten. "Egal, was er getan hat! Er ist Kevins Freund und natürlich macht er sich die gleichen Sorgen um ihn. Sei dir sicher, dass es ihm mehr leid tut als alles andere und jedem anderen, dass die Sache damals so schief gelaufen ist.", sagte Semir und strich Jenny über die Schulter. Als sei noch eine Bestätigung dessen nötig, kam fünf Minuten später Jerry in jener gebückten Haltung aus dem Krankenhaus und blieb kurz neben der Gruppe stehen. Er war niemand, der kneifte... auch nicht in der Gefahr einer zweiten Ohrfeige.
    "Es tut mir leid, was passiert ist. Alles... aber Kevin wird wieder aufwachen." Er sagte es in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete, als gäbe er einen Befehl oder eine Anweisung an seine junge Straßengang, der er als Vaterfigur diente. Jenny tat dieser Satz gut, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, Ben und Semir nickten nur stumm. Auch wenn sie Verständnis für Jerrys Sorge hatten und nicht so hart wie Jenny mit ihm ins Gericht gingen... freundlich gesinnt waren sie ihm nicht. Das spürte der Ex-Knacki, und konnte es ihnen nicht verübeln. Er nickte und ging weiter seines Weges.


    "Ich... ich gehe wieder rauf.", sagte Jenny dann nach einigen Minuten und kehrte ins Krankenhaus zurück. "Wir müssten vielleicht wieder was arbeiten, hmm? Wird uns ablenken.", meinte Semir zu seinem besten Freund und berührte ihn freundschaftlich kurz am Arm. "Ja... wäre vielleicht ganz gut." Ben ließ seinen Wagen für Jenny am Krankenhaus stehen, die mit Semir kam und stieg bei seinem Partner ein, der sofort losfuhr in Richtung Autobahn. "Das ist so komisch, ihn da liegen zu sehen. Damals wusste man ja nicht, was in Kolumbien passiert war, und die Ungewissheit ob wir trauern oder hoffen sollen... das war schlimm. Aber ihn so jetzt zu sehen... ich weiß nicht, was schlimmer ist.", sagte Ben leise nach einiger Zeit des Schweigens und sah aus dem Seitenfenster des BMW.
    "Sieh es doch mal so... jetzt können wir zumindest hoffen. Wir sind immer informiert. Wenn etwas passiert, können wir trauern, auch wenn es weh tut und auch wenn es schwer ist, ihn jetzt so zu sehen.", machte Semir ihm Mut, auch wenn es ihm natürlich auch schwer fiel. Kevin war immer ein Typ, der gerne alles im Griff hatte, der die Kontrolle behielt. Jetzt war er vollkommen hilflos, auf andere angewiesen... das war, für seine Freunde die ihn mittlerweile gut kannten, schwer zu ertragen. Für Jenny war es eine Folter.


    Semirs Handy klingelte. "Semir, hier ist Andrea.", meldete sich die Stimme seiner Frau aus der Freisprechanlage. "Ich habe hier eine Frau am Telefon, sie hat auf deinen Apparat angerufen. Ich stelle sie dir mal durch, ok?" "Alles klar." Ein kurzer Verbindungston erklang, dann meldete sich Semir mit seinem Namen. "Herr Gerkhan?", klang eine unsichere, mit leichtem Akzent sprechende Stimme. "Ja, das bin ich... was kann ich für sie tun?" "Ich... ich habe ihre Karte gefunden. Sie waren vor einigen Tagen bei den Wirtschaftsermittlern... und haben nachgefragt wegen... wegen Monika Keller.", sprach sie den Fall der erschossenen Polizistin in der Tankstelle an, weswegen vermutlich die ganze Mordserie startete. "Woher wissen sie das?" "Ich... ich habe ihr Gespräch gehört. Ich putze dort in den Räumlichkeiten."
    Jetzt erinnerten sich die beiden Polizisten, dass dort eine Putzfrau war. "Und, wie können wir ihnen helfen?" "Vielleicht kann ich ihnen helfen. Ich habe beobachtet... also... beobachtet, als mal ein Mann bei Frau Keller war. Und... die beiden wirkten sehr vertraut... wenn sie verstehen was ich meine. Und sie sprachen von Frau Kellers Ehemann... also kann der es nicht gewesen sein. Oh Gott, ich hab solche Angst meinen Job deswegen zu verlieren.", stotterte die Frau am Telefon und war scheinbar vollkommen verunsichert. Der Anruf musste sie einiges an Überwindung gekostet haben. "Sie brauchen keine Angst zu haben. Wenn sie in einem Mordfall helfen, wird sie das bestimmt nicht ihren Job kosten. Können sie den Mann beschreiben, Frau... ähm" "Ich heiße Verhofen... Melinda Verhofen... also..." Als die langsam sprechende Frau die ersten prägnanten Merkmale des Mannes aufzählte, schauten sich Ben und Semir mit großen Augen an. "Frau Verhofen, wo können wir sie abholen? Wir brauchen ihre Aussage ganz dringend offiziell!", sagte Semir aufgeregt und Frau Verhofen nannte eine Adresse ganz in der Nähe.