Dienststelle - 12:30 Uhr
Das Erste, was anlief, war die Fahndung nach Christian. Die Chefin hatte zwar rechtlich ein wenig Bauchschmerzen diesbezüglich, denn eine Fahndung war immer noch "vorbehalten" für Verbrecher oder Vermisste, von denen eine Gefahr für sich und andere ausging, und beides traf auf Christian nicht zu. Aber sie sah, dass Ben doch ernsthaft besorgt war und Lucas befeuerte die Sorge indem er sagte, dass man annehmen könnte, dass die beiden Verhafteten nicht die einzigen Mitglieder der Verbrecherorganisation wären, die sich zur Zeit in Deutschland aufhielten. Insofern war Christian in ernsthafter Gefahr. Das überzeugte die Chefin dann, und lieferte ihr auch die entscheidende Begründung um die Fahndung einzuleiten.
Ben versuchte es währenddessen immer wieder auf dem Handy seines Cousins, doch das war mittlerweile tatsächlich komplett ausgeschaltet. Hartmut wurde informiert den letzten Standort herauszufinden, was lediglich die Funkzelle war, die sich über der Innenstadt um dem Parkhaus ausbreitete. Entweder ging es auf der Flucht tatsächlich kaputt, oder man hatte ihn schnell einkassiert. Eine Möglichkeit war so beunruhigend wie die andere. "Oder er hat es selbst ausgeschaltet?", warf Semir eine weitere Möglichkeit in den Ring, als die beiden Polizisten für einen Moment alleine im Büro waren. "Warum sollte er das tun?" Bens Stimme war sofort angriffslustig, was Semir auch regestrierte und der erfahrene Polizist verlor immer mehr die Lust auf seinen streitsüchtigen Partner einzugehen und sachlich zu bleiben. "Keine Ahnung. Ist nur eine Möglichkeit.", winkte er sofort ab.
Es graute ihm beinahe davor, mit Ben zusammen die Vernehmung der beiden verhafteten Männer durchzuführen. Es ging bereits auf die Mittagszeit zu, weil ein Dolmetscher für Japanisch nicht gerade im LKA Düsseldorf war, sondern von etwas weiter weg quasi "einreisen" musste, im Schnellverfahren von der Chefin beauftragt. Jetzt stand der Mann im dunklen Anzug und Krawatte vor Ben und Semir, schüttelte freundlich die Hände und entsprach einem tatsächlich freundlichen Klischee der Japaner - er lächelte durchgängig. Semir erwiederte dies, doch Ben ließ sich nicht mal von der Freundlichkeit anstecken, blieb wortkarg und mahnte zur Eile, nachdem er sich vorher über eine Stunde darüber ausgelassen hatte, warum es so lange dauerte bis der Übersetzer für diese schwere Sprache endlich eintraf. Er brachte Semir an den Rand eines Wutausbruchs.
Jenny beobachtete aus ihrem Büro, wo sie alleine saß, besorgt die Mienen ihrer beiden besten Freunde. Sie hatten sie so rührend unterstützt nach Kevins Tod zusammen mit Andrea. Semir fast noch mehr als Ben, weil Jenny wusste dass Ben selbst am Tod seines Freundes so schwer zu knabbern hatte. Beide verarbeiteten die Trauer anders. Bei Ben schlug sie um in schlechte Laune, Wut und teilweise sogar Selbsthass. Jenny dagegen stürzte sich in Arbeit, was ihr besser gelang als damals, als Kevin verschollen war. Sie konnte sich ablenken, die Einsamkeit schlug erst zu, als sie zu Hause war.
Semir und Lucas setzten sich mit dem Dolmetscher gegenüber des verhafteten Japaners, während Ben sich im Hintergrund hielt. Semir hatte das so angeordnet und nur ein wortloses Nicken geerntet. Ob er sich an diese Rangordnung hielt, würde er abwarten, entschied er für sich. "Wozu die Überfall auf meinen Partner und dessen Cousin? Was haben sie sich dabei erhofft zu finden?", fragte Semir als erstes und der Dolmetscher übersetzte ihn eine Sprache, die für die drei Männer keinen Sinn zu ergeben schien. Konnte man Englisch oder andere germanisch angehauchte Sprachen einigermaßen nachvollziehen und einzelne Wörter erkennen, so war asiatisch, in diesem Fall japanisch, ein komplettes Wirrwarr aus Buchstaben und Laute. Der Mann, der seinen Arm in einer Schlinge trug, da Ben ihm tatsächlich schmerzhaft die Schulter ausgekugelt hatte, sah nur den Dolmetscher an. Semir und Ben würdigte er keines Blickes, nur auf Lucas blieb sein Augenpaar kurz hängen.
Seine Antworten waren kurz und kamen ohne großes Nachdenken. "Es war eine Verwechslung. Das hatten sie zu spät bemerkt." Semir zog die Augenbrauen nach oben. "Und wenn erhofften sie sich zu finden?" Der Dolmetscher übersetzte und sprach auf japanisch gefühlt doppelt so schnell, genauso schnell kam erneut die Antwort. "Er bittet um Immunität. Er sei ein Gast dieses Landes." "Als Gast dieses Landes hat man nicht das Recht, Menschen mit Waffen zu bedrohen!", rief Ben aus dem Hintergrund und Semir verdrehte die Augen, während der Dolmetscher das Gesicht verzog. "Sie übersetzen bitte nur, was ich sage.", meinte Semir beiläufig. Für Ben klang das wie eine Suspendierung.
"Auch als Gast, müssen sie sich an unsere Regeln halten. Schusswaffengebrauch ist bei uns nicht erlaubt, und meines Wissens in Japan genauso. Also beantworten sie bitte die Frage." Er lauschte erneut der merkwürdigen Sprache und ein Kopfschütteln mit kurzer Antwort war die Folge. "Er sagt: Nein. Er hat ihnen nichts zu sagen, das sei nicht die Aufgabe ihres Landes." Semir presste die Lippen zusammen, er hatte sich schon so etwas gedacht. Sollte die Vermutung von Lucas stimmen, so würden sich Mitarbeiter von diesen Kartellen eher die Zunge abschneiden, als etwas Wissenswertes verraten. Das war in Japan nicht anders als in Deutschland oder Europa. "Arbeitest du für Ho Lee?", fragte Lucas nun ohne mit der Wimper zu zucken und sowohl Semir als auch Ben fiel die Reaktion des Mannes sofort auf. Eine kleine, aber feine Reaktion, eine Heben der Augenbraue, ein stechenderer Blick als vorher, der Lucas traf... aber nur kurz. Noch bevor der Dolmetscher übersetzte, was er erst tat, als er von Semir ein kurzes Nicken als Bestätigung erhielt. "Nein, er kenne diesen Mann nicht." "Wer sagt, dass es ein Mann ist?" Lucas lächelte kurz, ein undurchdringbares Lächeln, das auch Semir kurz aufschauen ließ. "Das wird nichts bringen.", sagte der Glatzkopf und stand vom Tisch auf. "Was soll das heißen? Irgendwelche Informationen muss er doch haben! Die haben doch eindeutig nach einem Stick gefragt!", sagte Ben laut in Richtung Lucas, der kurz vor der Tür von Bens lauter Stimme gebremst wurde. Dann kam Bewegung in den Polizisten und er ging auf den Japaner zu, in dem er ihn mit dem Zeigefinger fixierte. "Ausserdem versteht der Kerl jedes Wort! Im Parkhaus habt ihr auch Deutsch mit Christian geredet! Also rede endlich! Was wolltet ihr von meinem Cousin!"
In Ben kam so schnell Bewegung, dass Semir erst eingreifen konnte, als sein bester Freund bereits auf dem Wege war, den Verdächtigen mit den Händen anzugreifen. "Nein, Stop! So nicht!", sagte er streng und stoppte seinen Partner mit einem Griff an die Schulter. Der Dolmetscher rückte erschrocken mit dem Stuhl nach hinten, während sein Landsmann stocksteif sitzen blieb. "Los, raus!", zischte Semir und Ben wehrte sich. "Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.", rief er und ließ sich dann doch nach draussen schubsen, bevor er die Tür hinter sich schloß. "Was soll die Scheisse?", giftete Ben noch auf dem Flur, so dass sich einige Kollegen in der Nähe zu ihm umdrehten. "Wir klären das im Büro!", sagte Semir mit angestrengter, ruhiger Stimme. "Gehts noch? Bist du mein Vater, der mich auf mein Zimmer schicken will, um mir eine Standpauke zu halten?"
Der erfahrene Ermittler presste die Lippen zusammen, und am liebsten hätte er seinem Freund eine gescheuert... in der Hoffnung, er würde wieder zur Besinnung kommen. "Gut, ok. Ich hab darauf keinen Bock mehr! Nicht auf dich und nicht auf deine Laune. Geh da hinein, dein Verdächtiger, dein Cousin, dein Fall!", knallte er ihm vor die Füße und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei. Auf Höhe des Großraumbüros rief er, überdeutlich in Jennys Richtung. "Jenny! Komm bitte mit mir auf Streife!" Dann war er bereits auf dem Weg zum Parkplatz, während die Chefin ein wenig erstaunt durch ihre gläsernde Tür sah und Ben mit den Händen in den Seiten, schnaubend im Flur blieb. Jennys besorgter Blick in Bens Richtung bekam er noch mit. "Ist alles okay?", fragte sie besorgt. "Ach, fahr mit Papa Streife.", sagte er abweisend und widerspenstig. Dabei machte er eine abweisende Handbewegung, so dass Jenny verstand... kein Gespräch, keine Fürsorge erwünscht. Sie folgte Semir zum Dienstwagen.
Als Ben sich umdrehte sah er Lucas im Türrahmen stehen. "Der Dolmetscher möchte wissen, ob er noch gebraucht wird." Dabei war Lucas Stimme so seelenruhig trotz der Aufregung, dass es Ben wie eine Provokation vorkam. "Nein, der kann nach Hause fahren. Sie von mir aus auch und ihre japanischen Freunde können sie mitnehmen." Er wusste, dass er sich unmöglich benahm, aber diese unbekannte Wut hatte erneut total Besitz von ihm ergriffen. Mit knallender Tür sperrte er sich in seinem Büro ein und warf einen Blick aus dem Fenster, wo Semirs Wagenheck sich gerade vom Parkplatz entfernte. "Ja, leck mich doch...", murmelte der Polizist, bevor er spürte, dass er gerade zwei Leute, die ihm helfen wollten, wieder vor den Kopf gestoßen hatte. Er konnte nicht sagen, auf wen er die Wut, die ihn ihm aufstieg, projezierte. Auf Semir, der ihn berechtigterweise zurechtgewiesen hatte? Auf Jenny, die nur helfen wollte? Auf Lucas, der sich über die Differenzen in dieser Dienststelle scheinbar amüsierte? Oder auf sich selbst? Er konnte es nicht sagen, aber in diesem Moment hasste er sich, als er vor Wut den Aktenschrank griff, und ihn mit einer kurzen Kraftanstrengung krachend zu Fall brachte.