Beiträge von SpeedBird90

    Schon 15 Minuten später hatte Hartmut, ein Fake-Profil in der Singlebörse angelegt, auch wenn weder Ben noch Semir das für eine besonders gute Idee hielten.

    Auch Dr. Schäfer hatte noch einmal seinen Einwand bekundet. Die Chefin hatte sich jedoch entschieden über jegliche Bedenken hinweggesetzt.



    „Wenn sie eine bessere Idee haben, wie wir den Scheißkerl schnappen, bevor er erneut tötet, bin ich gerne bereit mir ihren Vorschlag anzuhören, meine Herren! Bis dahin, versuchen wir es so! Vier tote Frauen reichen mir!“


    „Natürlich wollen wir den Kerl auch so schnell wie möglich schnappen... Aber das ist gefährlich...“ versuchte es Semir ein letzte Mal.



    „Was ist gefährlich? Wie du Auto fährst?“ Keiner hatte André Fux bemerkt, der soeben durch das Hauptbüro schritt und kurz darauf mit Leo an der Hand grinsend das Büro der Kommissare betrat.

    Er war hier, um Anna abzuholen und dadurch sicherzustellen, dass sie nicht zu lange Arbeiten würde.



    „Ein Lockvogel-Einsatz:“ verkündete Gerkhan nach einem kurzen Moment, den eindeutigen Blick seiner Chefin, die ihn ermahnte, die Klappe zu halten, geflissentlich ignorierend.


    „Was für einen Lockvogel?“ Fux sah interessiert von einem zum anderen.

    Ben, der sofort begriff was sein Partner hier tat und wusste, dass hier vermutlich gleich die Fetzen fliegen würden, ging breit lächelnd auf Leonie zu.



    „Leo habe ich dir schon meinen neuen Dienstwagen gezeigt? Der hat ein ganz neues Blaulicht!“


    „Echt? Kann ich das sehen?“ Sie sah kurz ihren Vater an, der lächelnd „Na klar!“ sagte und die Tochter mit Ben ziehen ließ. Er ahnte schon, dass hier etwas im Busch war und sah seinen ehemaligen Partner auffordernd an.


    „Semir...!“ der scharfe, mahnende Ton seiner Vorgesetzten ließ den kleinen Polizisten dann aber doch den Mund halten. Immerhin ging es hier um Polizeiinterna. Und André war nun mal kein Polizist mehr.

    Der hatte jedoch bereits einen Blick auf den Computer Bildschirm am Schreibtisch geworfen und Hartmut, der das Spiel verstanden hatte, hatte ein paar Sekunden gezögert, bis er das Fake-Profil geschlossen hatte.



    Die Maus war ihm einfach aus der Hand gerutscht...


    Für die Aktion wurde er jetzt allerdings mit tödlichen Blicken von Seiten der Engelhardt durchbohrt, die das durchaus mitbekommen hatte.

    Schon im nächsten Augenblick fragte André leicht alarmiert und anklagend an Anna gewandt: „Was soll das denn?“


    Da er ja bereits ungefähr wusste, worum es ging, war es ein leichtes für ihn, 1 und 1 zusammen zu zählen.



    Gerkhan, Einstein und auch der Psychologe hatten die Zeichen der Zeit erkannt und verließen unauffällig das Büro, die Tür sorgfältig hinter sich schließend.

    In die folgende Diskussion würden sie sich ganz sicher nicht einmischen... Das sollten die Zwei schön unter sich ausmachen.



    Nach einer kurzen, hitzigen Diskussion war jedoch klar, dass sich die Chefin anscheinend durchgesetzt hatte.


    Während sie in ihr Büro ging, um Jacke und Tasche zu holen, gesellte sich Semir kurz zu seinem Freund, der missmutig und mit in die Seite gestemmten Armen in seinem ehemaligen Büro stand und den Kopf schüttelte.



    „Die Frau ist so unglaublich stur!“ beschwerte sich Fux auch gleich, als Semir vor ihm stand.


    „Das ist einfach unfassbar! Da kann so viel schief gehen!“


    „Das stimmt schon. Aber leider ist es momentan auch unsere beste Chance, den Kerl zu schnappen...“


    „Trotzdem!“


    „Naja, erst mal muss er überhaupt auf das Profil aufmerksam werden... Vielleicht klappt es ja auch gar nicht.“ Semir klopfte André beruhigend auf die Schulter. „Und wenn doch, sind Ben und ich da, um auf sie aufzupassen!“

    14. September 2006


    PAST, 16:12 Uhr



    „Und es gibt keine Möglichkeit an die Identität von diesem ‚Gemini‘ zu kommen?“ fragte Semir zum gefühlt 100 Mal.


    „Nein, keine Chance!“ Hartmut schüttelte mit dem Kopf. „Und da er sich immer über öffentliches W-LAN ins Internet einwählt, ist es auch unmöglich ihn zeitnah zu lokalisieren.“


    Das war zwar ein Rückschlag, aber insgesamt waren sie im Laufe des Tages ein ganzes Stück weiter vorangekommen.

    Ähnlich wie die Chefin, hatte auch Hartmut ein paar Überstunden gemacht und war auf dem Laptop von der Toten, Susanna Liebher, auf einen Chatverlauf in einem Online-Flirtportal gestoßen.

    Und nach dem Chatverlauf zu schließen, hatte sie sich an ihrem Todestag mit einem anderen User getroffen, der sich ‚Gemini‘ nannte.


    Nach einem Besuch bei der Firma, die das Portal betrieb, hatten Ben und Semir herausgefunden, das Gemini in den letzten zwei Jahren bereits Kontakt mit mehreren Frauen hatte. Und eine konnten sie anhand ihres Usernames mit einem der ungeklärten Mordfälle in Verbindung bringen, die die Chefin am Abend zuvor gefunden hatte.

    Gegen Mittag war den Polizisten klar gewesen, dass sie durch Zufall auf einen Serien-Killer gestoßen waren.


    Die Chefin, Ben und Semir hatten sich daraufhin aufgeteilt und jeder der Kripobeamten war zu einem Angehörigen der ersten drei toten Frauen gefahren.

    Dabei wurde ihnen unabhängig voneinander bestätig, dass auch diese Frauen, regelmäßig auf Flirtportalen unterwegs gewesen waren.

    Es war also sehr wahrscheinlich, dass es sich bei diesem ‚Gemini‘ um den Mörder handelte.


    Noch am gestrigen Abend, während das Wasser in die Wanne gelaufen war, hatte die Chefin einen der LKA Psychologen via Mail gebeten, sich die Sache anzuschauen und ihn um eine Einschätzung gebeten.

    Schon vor Dienstbeginn hatte sie eine Antwort von ihm im Postfach, in der er ihr versicherte sich die Fälle anzusehen und im Laufe des Nachmittages auf der PAST vorbei zu kommen, um ihr eine erste Einschätzung seinerseits zu präsentieren.

    Genau diese Einschätzung gab der Psychologe, Dr. Martin Schäfer, ihnen jetzt, als sie zu viert im Büro der Dienststellenleitung saßen.


    „Ich kann ihren Verdacht, dass es sich hier um einen Serientäter handelt, nur bestätigen. Der Täter scheint einen ganz bestimmten Typ Frau derart zu hassen, dass er ihn wieder und wieder umbringen muss. Vermutlich ist er in seinem Leben von einer Frau, die den Opfern ähnlich ist, verletzt, enttäuscht oder abgewiesen worden. Seine Wut darüber, lässt er Stellvertretend, für die Frau, die ihm seiner Meinung nach, großes Unrecht angetan hat, an anderen Frauen aus.“ Dr. Schäfer nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und fuhr dann fort:


    „Dabei steigert sich sein Gewaltpotential von Tat zu Tat. Das, soweit wir wissen erste Opfer, Almut Eggers, hat er nur erwürgt. Bei den weiteren Opfern hat er sich damit nicht mehr zufriedengegeben, sondern hat sie zunehmend misshandelt. Er ist auf den Geschmack gekommen. Das zeigen auch die immer kürzeren Abstände zwischen den Taten.“


    „Er wird also weiter morden.“ Stellte Semir mit Bitterkeit in der Stimme fest.


    „Ja, davon können wir ausgehen. Und ich denke, dass sich seine Gewaltbereitschaft noch weiter steigern wird.“


    „Warum glauben sie, dass er seine Opfer nicht vergewaltigt, wie die Meisten Triebtäter?“ fragte die Chefin.


    „Schwer zu sagen. Vielleicht weil ihn das weibliche Geschlecht einschüchtert und er deswegen nicht kann. Oder weil er generell nicht kann. Es kann aber auch noch unzählige andere Gründe geben. Aber ich gebe ihnen recht, Frau Engelhardt. Das ist eher untypisch für derartige Taten.“


    „Was können sie uns denn über den Täter sagen?“ Ben beugte sich in seinem Sitz vor und sah den Psychologen aufmerksam an.


    „Männlich, vermutlich zwischen 40 und 55 Jahren alt. Eher unscheinbar und nicht besonderes selbstbewusst. Deswegen agierte er auch aus der Anonymität des Internets heraus. Es ist möglich, dass er aus dem Umfeld des ersten Opfers kommt.“ Schäfer sah zur Chefin.


    „Haben sie sich nicht vorhin mit dem Sohn von Almut Eggers unterhalten?“ Anna nickte.


    „Ja, das habe ich. Er hat bis heute keine Vermutung, wer seine Mutter getötet haben könnte. Laut seiner Aussage hat es im Umfeld von Frau Eggers auch keinen Verehrer gegeben. Allerdings hat er bestätigt, dass sie einen Computer gehabt hat, und regelmäßig im Internet gesurft hat.“ Die Engelhardt deutete auf eine der Akten auf ihrem Schreibtisch.


    „Die Kollegen vom KK60 haben das Umfeld der Frau damals durchleuchtet, konnten aber anscheinend nichts auffälliges finden.“


    „Wobei es schon verwunderlich ist, dass bis jetzt niemand auf den Zusammenhang gestoßen ist! Da haben einige Kollegen ziemlich nachlässig gearbeitet!“ gab Jäger zu bedenken und keiner konnte ihm widersprechen.


    Da war ganz eindeutig kräftig geschlampt worden!






    PAST, 16:20 Uhr




    „Wir kennen also sein Pseudonym und wissen in etwa, wie er vorgeht. Wie kommen wir an ihn ran?“ Semir sah von einem zum anderen im Büro.


    „Schwierig, wenn sie nicht an seinen richtigen Namen kennen...“


    „Sollen wir einfach hier rumsitzen und warten bis noch eine Frau stirbt?!“ fragte die Chefin deutlich gereizt.


    „Ich wüsste nicht, was sie sonst tun können. So hart es klingt.“ Der Psychologe sah sie entschuldigend an.


    „Und wenn wir ihm einen Köder auswerfen?“ fragte sie nach einer kurzen Pause.


    „Sie meinen einen Lockvogel?“


    „Ja. Wir wissen, wo er seine Opfer findet. Wir erstellen ein Profil, das all seinen Kriterien entspricht und warten bis er sich meldet.“


    „Und was machen wir, wenn er sich meldet? Soll sich Semir dann eine Perücke aufsetzen?“ Ben grinste kurz und sein Partner verdrehte die Augen.


    „Ich dachte da weniger an den Kollegen Gerkhan...“


    „Oh nein, Chefin! Das halte ich für gar keine gute Idee!“ Semir begriff, was sie vorhatte.


    „Warum nicht? Es ist doch offensichtlich, dass ich in das Opferprofil passe. Dunkle Haare, Anfang bis Mitte 40 und das Sternzeichen Zwilling vorzutäuschen sollte auch kein Problem sein.“


    „Das funktioniert nicht!“ Ben schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Sie sehen aus wie maximal Anfang 30!“


    Während die Chefin kurz mit den Augen rollte, dann aber doch grinste, murmelte Semir neben ihm: „Kleiner Schleimscheißer...“


    „Auch wenn sie in der Tat in das Profil des Täters passen, halte ich eine derartige Aktion für keine gute Idee. Der Mann ist gefährlich und schwer einzuschätzen. Sie würden ein kaum kalkulierbares Risiko eingehen, Frau Engelhardt.“ Mischte sich jetzt auch Dr. Schäfer ein.


    „Das bin ich gerne bereit zu tun, wenn wird dadurch einen weiteren Mord verhindern können!“



    Im Angesicht des Todes




    13. September 2006:


    PAST, Büro der Chefin 14:53 Uhr



    „Die Tote heißt Susanna Liebher, 40 Jahre alt. Laut Gerichtsmediziner ist sie schon seit drei Tagen tot. Fundort ist nicht gleich Tatort. Der Täter hat die Frau erst misshandelt und dann mit einer Drahtschlinge erdrosselt.“ Berichtet Ben und reichte der Chefin den vorläufigen Bericht der Spurensicherung.


    „Wurde sie vergewaltigt?“


    „Wurde sie nicht, nein. Den verschiedenen Hämatomen und Verletzungen auf ihrem Körper nach zu schließen, wurde sie getreten und mit einem Gegenstand, vermutlich ein Stock oder Ähnlichem geschlagen. Aber nicht vergewaltigt.“ Erklärte nun Semir.


    Die Engelhardt nickte bedächtig. Das war eher ungewöhnlich. Die meisten Täter, die ihre Opfer erdrosselten, insbesondere wenn es sich bei den Opfern um Frauen handelte, handelten aus einer perfiden Machtfantasie heraus, und erlangten den absoluten Kick durch die Demütigung ihrer Opfer.

    Und eine Vergewaltigung hatte sich über die Jahrhunderte als wohl das effektivste Mittel etabliert.


    „Wissen die Angehörigen schon Bescheid?“ Anna sah zwischen den Kommissaren hin und her.


    „Sie war Single und hat keine Kinder. Aber einen Bruder. Ben und ich wollten gleich zu ihm fahren.“


    „Gut, machen sie das. Und halten sie mich auf dem Laufenden.“ Jäger und Gerkhan verabschiedeten sich mit einem knappen Nicken und machten sich an die unendlich undankbare Aufgabe, einem Angehörigen vom Tod eines geliebten Menschen zu berichten.



    In der Zeit, wo Ben und Semir unterwegs waren, warf die Chefin einen genaueren Blick auf den bisherigen Bericht der Rechtsmedizin und Spurensicherung.

    Ein Detail fiel ihr dabei besonders ins Auge:

    Die Tote hatte recht schwarze Finger und Hände. Die Analyse musste noch abgewartet werden, aber alles sah danach aus, dass es sich dabei um Asche handelte.


    „Asche...“, murmelte die Polizistin vor sich hin und fuhr sich dabei nachdenklich über das Kinn.


    Schon im nächsten Moment war sie aufgestanden und ging aus ihrem Büro hinüber zum Schreibtisch ihrer Sekretärin, Petra Schubert.


    „Petra können sie mir bitte alle Akten von ungeklärten Frauen Morden in NRW der letzten fünf Jahre kommen lassen?“


    „Ja, natürlich!“


    „Danke ihnen!“


    ***


    Als Semir und Ben gut zwei Stunden später wieder auf dem Revier eintrafen, hatten sie nicht wirklich viel zu Berichten.

    „Der Bruder der Toten ist am Boden zerstört. Er kann sich nicht vorstellen, wer seiner Schwester das angetan haben könnte.“ Semir schüttelte mürrisch den Kopf.


    „Das Einzige, was vielleicht etwas sein könnte, ist ein möglicher Liebhaber. Er war sich nicht sicher und Frau Liebher hat sich wohl auch ziemlich bedeckt gehalten, aber er vermutete, dass es da vielleicht jemanden gegeben haben könnte. Sie hat sich wohl in letzter Zeit recht viel in diversen Chaträumen im Internet aufgehalten. Hartmut ist schon dabei sich ihren Laptop anzuschauen.“


    „Gut, bleiben sie da dran.“ Es klopfte und Petra steckte den Kopf zu Tür herein. „Chefin die Akten, die sie haben wollten, sind da.“


    „Vielen Dank Petra. Das wärs dann auch für heute. Machen sie ruhig Feierabend!“ Petra lächelte und wünschte auch den drei Polizisten einen schönen Feierabend.


    „Was denn für Akten?“ Semir sah die Engelhardt fragend an.


    „Ach, mir ist in dem Bericht der Spurensicherung etwas aufgefallen, weswegen ich Alte Fallakten noch einmal durchsehen wollte. Ich kann mich aber auch täuschen.“ Winkte Anna ab und sah auf die Uhr. „Machen sie Schluss für heute.“

    Sie selber würde sich die Akten auch mit nach Hause nehmen und später noch einen Blick hineinwerfen.





    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 20:05 Uhr



    André war am Morgen aus Avignon gekommen und hatte, nach dem sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte, den Nachmittag mit Leonie im Schwimmbad verbracht.

    Beim Abendessen hatte sie begeisterte von den vielen Rutschen im Schwimmbad erzählt und von dem neuen Wort, das sie heute in der Schule gelernt hatten zu schreiben.

    Dank der vielen Bewegung im Schwimmbad, war sie ohne Anstalten zu machen, zeitig ins Bett gegangen und binnen Minuten tief und fest eingeschlafen.


    Erst danach holte Anna die Akten aus ihrem Arbeitszimmer und setzte sich damit im Wohnzimmer an den großen Esstisch, was Fux mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete.

    Er war gerade dabei eine von seinen ersten eigenen Flaschen Rotwein zu entkorken, die er aus Frankreich mitgebracht hatte.

    Nachdem er zwei Gläser eingeschenkt hatte, ging er ebenfalls zum Esstisch hinüber und warf einen Blick über die Schulter seiner Partnerin.


    „Oh! Wie romantisch!“ Er stellte die Gläser auf dem Tisch ab und beugte sich dabei weiter nach vorne, mit seinen Lippen kurz Annas Hals streifend.

    „Mord und Totschlag!“ André grinste. „Genau so, habe ich mir unseren ersten gemeinsamen Abend seit knapp zwei Wochen vorgestellt!“


    Die Chefin verdrehte kurz die Augen, sah ihn dann aber doch ein wenig schuldbewusst an.

    Sie hatte sich den Abend ganz sicher auch nicht so vorgestellt...

    Aber sie hatte das Gefühl, das es wichtig war, sich die alten Fälle anzuschauen.


    „Tut mir leid... Das hatte ich so ganz sicher nicht geplant. Aber Semir und Ben haben heute Morgen zufällig eine Frauenleiche gefunden.“


    Nun war es André, der mit den Augen rollte, als er sich ihr gegenüber auf einen der Stühle setzte.

    Auf seine zwei Kumpel war also mal wieder verlass, dass sie ausgerechnet dann über eine Leiche stolperten, wenn er in der Stadt war und sich auf einige schöne, vor allem ruhige Tage, mit seiner Tochter und Lebensgefährtin gefreut hatte.


    „Um was geht es denn genau?“, fragte er dennoch.


    Das war das Praktische daran, das André selber mal bei der Polizei gewesen war. Anna konnte ihm hin und wieder Dinge erzählen, die sie belastete oder bei denen sie nicht weiterkam. Er konnte damit umgehen und wusste, wovon sie sprach. Außerdem konnte sie voll und ganz auf seine Verschwiegenheit zählen.


    Deswegen berichtete sie auch jetzt von der Toten und das sie glaubte, das mit der Asche an den Händen und Fingern schon mal irgendwo gelesen zu haben.

    Fux nickte nachdenklich und sah sie dann mit zur Seite geneigtem Kopf an.


    „Okay, ich habe einen Vorschlag, da ich ja durchaus zu Verhandlung bereit bin:


    Ich helfe dir bei der Durchsicht. In genau einer Stunde, also um Punkt 21:15 Uhr werden die Akten restlos beiseitegelegt und ich bestimme über das weiter Abendprogramm...“

    Der hungrige Ausdruck, der in seinem Blick lag, ließ keinen Zweifel daran, wie das Programm aussehen würde, aber dagegen hatte sie keinerlei Einwände, weswegen sie mit einem leicht anzüglichen Lächeln ihrerseits, nickte. „Deal!“



    Gemeinsam fanden sie tatsächlich recht schnell drei weitere Tote unter den ungeklärten Fällen, bei denen sich Asche an den Händen der Leichen befunden hatte. Auch dir Frauen waren erdrosselt worden.

    Und das war noch nicht die einzige Gemeinsamkeit.

    Auch die drei Frauen waren in etwa im selben Alter, zwischen 39 und 46, hatten Anfang Juni Geburtstag und hatte allesamt dunkle, mittellange Haare.

    André sagte es nicht laut, aber er fand, dass sie durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Anna aufwiesen.


    Wie vereinbart, brachte diese die Akten um viertel nach neun zurück in ihr Büro, das sie sorgsam verschloss, um zu verhindern, dass Leo durch Zufall eine der Akten in die Finger bekommen würde.

    Im Wohnzimmer klatschte André in die Hände:


    „Wunderbar! Dann können wir ja jetzt endlich zum gemütlichen Teil des Abends übergehen...“


    „Allerdings, ich wollte mir noch ein Bad einlassen...“ Sie legte den Kopf kess zur Seite:

    „Magst du mitkommen...? Oder hattest du schon genug Wasser für heute...?“


    Fux hob die Brauen. Was bitte war das für eine überflüssige Frage?



    'Flashback'



    11. Mai 2006:


    PAST, Büro der Dienststellenleitung, 13:09 Uhr




    „Die Frau kann sich an so gut wie nichts erinnern. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie etwas mit der Leiche zu tun hat, die wir ganz in der Nähe der Autobahn gefunden haben.“ Erklärte Ben soeben, während sein Partner unruhig auf seinem Stuhl auf und ab rutschte.


    „Was wissen wir über den Toten?“, fragte die Chefin und warf Semir einen kurzen, leicht genervten Blick zu, ehe sie wieder zu Jäger sah.


    „Leider nicht viel. Er hatte keine Papiere bei sich und wir warten noch auf den Bericht der KTU. Vielleicht können wir ihn über seine Fingerabdrücke identifizieren.“

    Anstelle seinem Partner zuzuhören, hatte Gerkhan soeben sein Handy gezückt, war von seinem Stuhl aufgestanden und hatte die Nummer seiner Frau gewählt.

    Andrea war im neunten Monat schwanger und der errechnete Geburtstermin war in zwei Tagen.

    Vorsorglich machte Semir seine Kollegen aber schon seit mehreren Wochen kirre und rief seine Frau gefühlt alle 10 Sekunden einmal an.


    Erst am Morgen war er, kurz nach Dienstbeginn, mit Ben in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit zurück nach Hause gefahren, nach dem Andrea nicht ans Telefon gegangen war.

    Wie sich vor Ort herausgestellt hatte, war sie schlicht auf der Toilette gewesen und deshalb nicht ans Telefon gegangen...


    „Andrea geht nichts an Telefon...“ verkündete Semir jetzt erneut, leichte Panik im Blick. „Chefin, ich muss weg! Mein Kind kommt!“


    „Seeeemir! Das ist vor einer Stunde auch noch nicht gekommen...“ versuchte Ben ihn zu beruhigen.


    „Ja, vor einer Stunde nicht! Seitdem kann aber viel passiert sein!“

    Gerkhan bekam große Augen. „Vielleicht ist es auch schon da!“ Er griff nach seiner Jacke und war auch schon zur Tür heraus.

    Die Chefin konnte nur belustigt schmunzeln, während Ben die Augen verdrehte und stöhnte:


    „Der macht mich wahnsinnig... Ich frag mich echt, wie Andrea das aushält!“


    Die Chefin verzog die Lippen. „Das frage ich mich allerdings auch...“


    Jäger wollte gerade wieder ansetzen und die Chefin weiter ins Bild setzen, als Semir plötzlich doch wieder im Büro auftauchte.


    „War ein Fehlalarm... Sie ist doch an Telefon gegangen. Ist nur nicht schnell genug die Treppe heruntergekommen...“


    „Semir darf ich ihnen einen Tipp geben?“ Anna sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.


    „Was denn?“


    „Hören sie auf ihre Frau die Treppen rauf und runter zu schicken... Denn Treppen steigen mit einem Neunmonats-Babybauch ist überhaupt nicht lustig! Andrea wird sich schon melden, wenn es losgeht.“


    „Ja, aber wenn es dann zu spät ist? Und ich nicht mehr rechtzeitig da bin?“


    „Lassen sie mich ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass es durchaus recht lange dauern kann, bis ein Kind auf der Welt ist...“


    „Ja, aber es kann auch ganz schnell gehen! Das habe ich gelesen! Zack ist das Kind da!“


    „Genau, Zack ist das Kind da! Willst du nicht lieber doch nach Hause fahren?“ schlug Ben vor.


    „Das sollte ich vielleicht wirklich besser tun...“


    „Genau Semir, machen sie das. Wir kommen ausnahmsweise ohne sie zurecht...“


    „Danke Chefin!“ Damit war Semir auch schon wieder zur Tür hinaus.


    „Und Zack, ist endlich Ruhe! So schnell kann das gehen!“ Ben grinste höchst zufrieden. „Wo waren wir stehen geblieben?“


    Auch die Chefin schmunzelte erneut, gab aber zu bedenken: „Ich möchte sie sehen, wenn sie das erste Mal Vater werden...“

    Ben winkte ab. „Ach was, das wird ganz easy! Ich bleib da mit Sicherheit tiefen entspannt.“

    „Sicher Ben... Natürlich bleiben sie das...“



    Eine halbe Stunde später hatte Ben Andrea am Telefon, die erbost fragte, was ihnen einfallen würde, ihr Semir schon nach Hause zu schicken...



    ***



    Noch am selben Abend wurde aus dem Fehlalarm jedoch richtigen Alarm, als bei Andrea die Wehen einsetzten.


    Nachdem er am Mittag zu Hause von seiner Frau Rausgeschmissen worden war, war Semir doch noch mal zurück in die PAST, und hatte sich mit Ben zusammen weiter um den Fall des, wie sie inzwischen wussten, toten Privatdetektives, gekümmert. Nebenbei hatten sie sich auch um die Frau gekümmert, die den Detektiv engagiert hatte und die ihr Gedächtnis verloren hatte.

    Als ihn der Anruf aus dem Krankenhaus erreicht hatte, war Semir in Panik geraten und Ben hatte ihn in die Klinik gefahren, da es offensichtlich war, dass sein Partner besser kein Auto mehr fahren sollte.

    In den Morgenstunden des 12. Mai hatte Ayda Gerkhan schließlich das Licht der Welt erblickt und ihrem Vater zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.


    Außerdem hatte sie Ben Jäger zum Patenonkel gemacht.






    27. Mai 2006:


    Haus der Gerkhans, Leverkusen 15:04 Uhr



    Die frisch gebackenen, stolzen Eltern, hatten einen Teil der Kollegen und Freunde zu sich nach Hause eingeladen.

    Auch André Fux war dafür früher aus Frankreich gekommen, als er es eigentlich geplant hatte.

    Nach Semir und Andreas Hochzeit hatte er im November 2004 tatsächlich das alte Landhaus samt Grundstück von Camille Berthold gekauft.

    Möglich gemacht, hatte das auch Ben Jäger.


    Ihm hatte Andrés Idee wirklich gut gefallen und die beiden Männer hatten sich danach noch mehrere Male zusammengesetzt und ein Konzept erarbeitet, wie sie das Haus renovieren und das Land bestellen konnten.

    Jäger war es auch, der bei der Finanzierung mithalf. Ihn und André verband mittlerweile ein gutes, freundschaftliches Verhältnis.

    Zusammen mit Semir, hatten sie bereits zwei ‚Männer-Wochenenden‘ in Avignon verbracht.



    Für André war bereits vor knapp zwei Jahren ziemlich schnell klar gewesen, dass er nicht einfach so in sein altes Leben nach Köln zurückkehren können würde.

    Er hatte es zwar zu Anfang versucht, aber es war zügig deutlich geworden, dass das nicht so einfach sein würde.

    Und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht.

    Schon vor dem Unglück auf Mallorca war er mit seinem Leben und wie es verlief, nicht mehr ganz zufrieden gewesen.

    Sein ungeplanter und eigentlich ungewollter Neuanfang in Frankreich, hatte also nicht nur etwas Schlechtes gehabt, da er sich dort durchaus wohlfühlte.


    Nichtsdestotrotz war Köln noch immer sein Zweites zu Hause.

    Es hatte einige Zeit gedauert, bis er und seine ehemalige Chefin gemeinsam rausgefunden hatten wie sie zueinanderstanden und was sie vom jeweils anderen erwarteten und wollten.

    Nach einigem hin und her hatten sie tatsächlich dem eine Chance gegeben, was vor seinem Verschwinden wohl undenkbar gewesen wäre:

    Sie hatten es miteinander versucht. Und zwar richtig.

    Nicht mehr nur freundschaftliche Treffen, die hin und wieder in einer gemeinsamen Nacht geendet hatten.


    Sie hatten sich von Anfang an wunderbar damit zurechtgefunden, dass André einen Teil der Zeit in Frankreich verbrachte und dort arbeitete.

    Ihren Urlaub verbrachte Anna im Gegenzug nahezu komplett in Frankreich.

    Auch wenn es für den ein oder anderen Außenstehenden vielleicht nicht ganz nachzuvollziehen war, hatten sie für sich einen Rhythmus gefunden, der wunderbar funktioniert. Vor allem auch für die gemeinsame Tochter.

    Gleichzeitig ließen sie sich dadurch gegenseitig ihre Freiräume.

    Für Leonie war die Zeit in Frankreich jedes Mal ein Abenteuer und sie hatte in dem Jahr bereits spielerisch eine recht beeindruckende Anzahl an französischen Vokabeln gelernt.

    Für einige kurze Sätze reichte es bereits. Und bei wichtigen Ereignissen in ihrem Leben war der Vater immer in Köln.



    „Ayda ist ja noch ganz, ganz klein!“ Leonie begutachtete fasziniert das Neugeborene, das momentan friedlich in seiner Wiege schlief.


    „Mein Engel, so klein warst du auch mal.“ Anna strich ihr über den Kopf, einmal mehr erschrocken darüber, wie schnell die Zeit verstrich. Im August würde Leo bereits eingeschult werden.

    Hinter ihnen waren auch Ben und André über die Wiege gebeugt.


    „Respekt Semir! Eine derart süße und hübsche Tochter hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ Flachste Ben, strahlte den stolzen Papa aber zeitgleich an.


    „Das liegt nur daran, weil sie ganz nach der hübschen Mutter kommt!“ konnte auch Fux sich einen Spruch nicht verkneifen.

    Semir grinste nur und konterte sofort: „Glashaus und Steine, mein Freund...“ Dagegen konnte Fux nichts sagen, sondern nur ertappt grinsen.



    02. Oktober 2004


    Hochzeitsfeier von Semir und Andrea Gerkhan, Schloss Eulenbroich, 19:54 Uhr




    „Du musst wirklich völlig übergeschnappt sein, den Kerl geheiratet zu haben!“ lachte Ben fröhlich und küsste Andrea auf die Wange als sie nach dem Abendessen zusammenstanden.


    „Oh ja! Da kann ich Ben nur recht geben! Völlig verrückt!“ lachte auch André und küsste die andere Wange der Braut.


    „Ist ja schön, dass ihr zwei euch da so einig seid!“ Semir sah kopfschüttelnd von seinem Partner zu seinem Ex-Partner. „Ihr seid ja nur neidisch, weil ihr nie ne Chance hattet! So sieht's nämlich aus!“


    „Da hat Semir leider recht...“ Andrea grinste von einem Ohr zum anderen.


    Ben griff sich theatralisch an die Brust. „Mein Armes Herz! Ich weiß nicht wie mein Ego so eine Abfuhr verkraften soll...“

    Nach der Nummer konnten sich die übrigen Vier ein weiteres Lachen nicht verkneifen und André klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.


    „Trag es mit Fassung junger Padawan! Das wird nicht die letzte Abfuhr in deinem Leben gewesen sein... Lass dir das von einem alten Jedi Meister sagen! An der Bar gibt’s auch bestimmt was für dein Ego.“


    „Hör auf den alten Meister Joda, der kennt sich mit Abfuhren aus.“ Feixte nun Semir und sah Fux frech grinsend an, was dieser mit einem Augenverdrehen zur Kenntnis nahm.




    Während Semir und Andrea sich um einige ihrer anderen Gäste kümmerten, schlenderten Ben und André tatsächlich in Richtung Bar.

    „Weißt du jetzt eigentlich schon was du mach willst? Beruflich, meine ich?“ fragte Ben, nachdem sie angestoßen hatten.


    „Ich habe da eine Idee... Aber das ist alles noch in der Planungsphase und ich bin mir nicht sicher, ob das alles so klappt, wie ich mir das Vorstelle.“ Fux schwenkte den Alkohol in seinem Glas.


    „Was stellst du dir denn vor?“ André musterte Ben noch kurz ehe er sagte:


    „Aber nicht lachen, ja?“ Der junge Polizist schüttelte den Kopf, fing aber an sich zu fragen, was Fux wohl plante...


    Und die Antwort überraschte ihn in der Tat sehr.


    „Albert Berthold hat ein etwas in die Jahre gekommenes Landhaus in den Weinanbaugebieten bei Avignon. Zu dem Haus gehört auch ein einigermaßen großes Stück Land, auf dem Wein angebaut wird. Er hatte das Grundstück erst kurz bevor er sich verspekuliert hat gekauft und der Plan war es, das Haus zu renovieren und auf dem Land weiter ein bisschen Wein anzubauen.“ Fux zuckte mit den Schultern.


    „Camille muss das Grundstück verkaufen und ich hatte die fixe Idee es vielleicht zu kaufen. Aber mit der Finanzierung ist das nicht ganz so einfach und ich habe von Weinanbau nicht wirklich viel Ahnung. Aber die Idee hat mir gefallen.“


    Ben sah ihn recht perplex an und André setzte schon an sich zu verteidigen, als Jäger anerkennend nickte.

    „Ganz ehrlich? Das klingt nach einer sehr coolen Idee! Und die Gegend um Avignon ist bekannt für ihre fantastischen Weingüter!“


    „Ja ich weiß! Das Grundstück grenzt an das Anbaugebiet vom Chateauneuf du Pape.“


    „Wow! Da solltest du wirklich dranbleiben!“


    Fux nickte gedankenverloren und Ben bemerkte, dass er den Saal absuchte, bis sein Blick auf Leonie hängen blieb, die gerade gebannt Hartmut zuhörte.


    Ah. Ben schmunzelte. Es lang vermutlich nicht nur an der Finanzierung...




    „So wie ihr beiden hier steht, könnte man glatt den Eindruck bekommen, dass ihr etwas ausheckt...“ Die Stimme der Chefin, die von hinten an sie herangetreten war, ließ sich beide Männer umdrehen.


    Ben grinste. „Jap! Erwischt! Wir planen die Weltherrschaft! André hier wir Minister für Chaos, Semir Minister für Zerstörung und ich passe auf das die Beiden ihren Job richtig machen!“


    „Wissen sie was das Schlimme daran ist, Ben?“ Anna schüttelte lachen den Kopf. „Das ich ihnen Drei das ohne weiteres zutrauen würde...“


    „Wir sind eben gut...“ Ben wurde von Leo unterbrochen, die von Hartmut auf sie zu gelaufen kam.


    „Mama ich habe neue Worte gelernt!“


    „Ach ja? Was denn?“


    „Quan-ten-phy-sik! Und Re-la-tivi-täts-the-orie!“ Ben und André prusteten sofort los während Anna noch bemüht war ein ernstes Gesicht zu machen. Natürlich hatte ihr Hartmut so etwas beigebracht...


    „Ich weiß nicht was das ist, aber es klingt gut.“


    „Leonie das ist gar nicht schlimm, dass du nicht weißt, was das ist... Das weiß ich auch nicht.“ Lachte Ben.


    „Bist du nicht so schlau wie Hartmut?“ Ben fiel die Kinnlade herunter. Dieses freche kleine Monster!


    „Na ja, so kann man das auch nicht sagen, junge Dame! Natürlich bin ich so schlau wie Hartmut! Nur... anders schlau!“


    „Wie, anders?“


    „Anders halt!“


    „Wie?“




    Die Diskussion zwischen Jäger und Leonie fand erst ein Ende, als Semir und Andrea für den Eröffnungswalzer in die Mitte des Saals traten.

    Leo blickte fasziniert zu den Beiden und flüsterte mit Ehrfurcht in der Stimme:


    „Das ist wie in meinem Buch Mama! Andrea schaut aus wie eine Prinzessin! Und tanzt auch wie eine!“


    „Ja, das tut sie, mein Schatz.“ Nach und nach gesellten sich auch einige der Gäste auf die Tanzfläche.


    „Kannst du auch so tanzen?“ Die Kleine sah ihre Mutter mit großen Augen an.


    „Ich? Na ja, schon...“


    „Machst du das?“ Leo klatschte in die Hände und sah sie mit großen erwartungsvollen Augen an. „Bitteeeeee!“


    Anna überlegte fieberhaft, wie sie aus der Nummer wieder rauskam, als Ben überraschend vor sie trat.


    „Chefin: Darf ich bitten?“ Er streckte ihr erwartungsvoll eine Hand entgegen.


    An Leo gewandt sagte er: „Ich, kann wie ein Prinz tanzen. Das kann Hartmut nicht! Da bin ich schlauer!“

    Leonie nickte erneut begeisterte und während Jäger seine Chefin galant auf die Tanzfläche führte, notierte er sich mental einen Ausgleich mit deren Tochter.



    Zu Annas leichter Überraschung, war Ben in der Tat ein recht guter Tänzer, der den ¾ -Tackt, wesentlich besser beherrschte als der Bräutigam.


    „Ihr Bauchgefühl und ihre Kombinationsgabe, bezüglich des Goldtransports, war übrigens wirklich beeindruckend, Ben.“


    „Danke Chefin!“ Er grinste verlegen. „Ich bin ziemlich froh, dass ich da richtig gelegen habe...“


    „Und ich erst! Ich habe mich tatsächlich schon kurz wieder in Uniform Streifen fahren sehen...“


    „Danke das sie uns trotzdem vertraut, und uns unterstützt haben!“


    „Ben, sie haben sich mein Vertrauen und meine Unterstützung redlich verdient. Das war selbstverständlich.“ Jäger lächelte zufrieden. Das hatten sie wohl wirklich.





    Über Bens Schulter beobachtete Anna, wie André und Leonie am Rand der Tanzfläche herumalberten und musste unbewusst lächeln.

    Die Zwei waren schon jetzt ein eingespieltes Team und das, obwohl Leo erst seit knapp zwei Wochen wusste, wer André wirklich war.

    Sie und Fux wussten noch nicht, wie genau es weiter gehen sollte, aber er würde ganz klar weiterhin eine Rolle im Leben seiner Tochter spielen.


    Um kurz vor Mitternacht verabschiedete sich Anna schließlich vom Brautpaar und den noch anwesenden Kollegen.

    Obwohl sie beteuerte nicht müde zu sein, fielen Leonie immer wieder die Augen zu und es war höchste Zeit für sie ins Bett zu kommen.

    Auch Fux verabschiedete sich und trug die halb schlafende viereinhalb Jährige zu einem der wartenden Taxen. Er und Anna hatten spontan entschieden, sich das Taxi zu teilen, da André ca. eine halbe Stunde fußläufig von der Wohnung der Chefin wohnte.

    In Marienburg angekommen, trug er das mittlerweile tief und fest schlafende Mädchen auf direkten Weg in ihr Bett, wo sie sich zusammenrollte und ohne Unterbrechung einfach weiterschlief.


    „Danke, dass du sie noch hochgebracht hast!“ Anna lächelte ihm zu, als sie die Tür zum Kinderzimmer hinter sich zuzog und dabei aus ihren hochhackigen Schuhen schlüpfte, die sie recht unachtsam Richtung Schuhregal warf.


    „Selbstverständlich! Das habe ich sehr gerne gemacht.“ Er lächelte zurück, musterte sie dabei, wie sie ihren Mantel auszog und an die Garderobe hängte, sodass das hellblaue Spitzenkleid einmal mehr zum Vorschein kam, welches ihm unglaublich gut gefiel und ihr ausgezeichnet stand.


    „Ich sollte mich wohl langsam an die Wanderung nach Hause machen.“ Sagte er nach einer kurzen Pause trotzdem und ging einen Schritt in Richtung Wohnungstür.


    „Das muss doch nicht sein…“ Anna schüttelte noch immer lächelnd den Kopf. „Ich werde dich natürlich nicht aufhalten, wenn du gehen möchtest, aber ich habe auch überhaupt nichts dagegen, wenn du bleibst.“


    Das Lächeln auf Andrés Gesicht wurde für einen kurzen Moment noch breiter. Er hatte gehofft, dass sie das sagen würde.



    -



    Um 08:05 Uhr am nächsten Morgen stand Leonie mit ihrem Kuscheladler unterm Arm vor dem Bett der Mutter und war durchaus überrascht, André ebenfalls dort vor zu finden.

    Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie angestrengt nachdachte und versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was sie da sah. Beide schliefen noch tief und fest und André hatte einen Arm um ihre Mutter gelegt. Die Falten auf der Stirn des Mädchens wurden noch ein wenig tiefer.

    Sonntagmorgens, bevor es Frühstück gab, war ihre Mama-Kuschel-Zeit!


    Und nur ihre!


    Entschieden kletterte sie in das Bett und schob sich, noch viel entschiedener, zwischen die Erwachsenen, die nur langsam wach wurden.

    Fux staunte nicht schlecht, als Leo sich doch glatt anschickte, ihn aus dem Bett zu drücken.


    „Mein Schatz hier ist genug Platz…“, murmelte Anna im Halbschlaf und zog die Tochter zu sich heran.


    „U-hm…“ Leo nickte, legte den Kopf in ihre Halsbeuge und fing nach kurzer Zeit an mit den langen, dunklen Haaren der Mutter zu spielen. Dabei musterte sie André weiterhin ein wenig skeptisch.


    Das war ihre Mama!



    01. Oktober 2004


    PAST, 09:04 Uhr



    „Wer bitte behauptet so einen Blödsinn, Frau Engelhardt?“


    Hauptkommissar Kellermann baute sich vor der Chefin auf und sah sie herablassend an, nachdem sie ihm von dem Verdacht, dass es einen Überfall auf den Goldtransport geben könnte berichtet hatte.


    „Zwei meiner besten Leute.“ Anna vermied es mit Absicht die Namen zu nennen.


    „Ist das so? Ihre Leute glauben also so gut zu sein, dass sie etwas sehen, was das LKA in den letzten drei Wochen Vorbereitung nicht gesehen hat, ja?“


    „Genauso ist es.“ Die Chefin wich keinen Zentimeter zurück, wusste aber, dass sie in dem Moment tatsächlich mit ihrer Kariere spielte.


    Es gab die ersten Anzeichen, dass man sie in nicht allzu ferne Zukunft zur Kriminalrätin befördern würde.

    Wenn die Nummer hier schiefging, müsste sie zwar vermutlich nicht wieder Streife fahren, Kriminalrätin, würde sie aber ganz sicher auch nicht werden.


    „Nun, Frau Kollegin: In dem Fall bin ich gerne bereit das Risiko einzugehen, das ihre Leute falsch liegen! Denn ich bin mir sicher, dass das LKA gründlicher arbeitet. Ihre Leute sind nur gut darin, unbeteiligten den Tag, oder gleich die Hochzeit zu versauen!“ zischte der Schwiegersohn des Polizeipräsidenten wütend.


    Dem konnte Anna nicht widersprechen:

    Ben und Semir waren Profis darin, andren den Tag zu verderben.

    In 97 % der Fälle waren das allerdings Verbrecher, denen sie in die Quere kamen und Straftaten vereitelten.


    „Es freut mich sehr für sie, dass sie ihren Leuten derart vertrauen. Ich vertraue meinen Leuten aber mindestens genauso sehr. Wenn, nicht sogar noch ein wenig mehr. Und ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen.“ Die Chefin machte eine kurze Pause.

    „Deswegen habe ich auch die Sicherheitsmaßnahmen angepasst.“


    „Sie haben WAS?“ Kellermann traute seinen Ohren nicht.


    „Ich habe die Eskorte verdoppelt und die Route geändert. Außerdem werden Gerkhan und Jäger den Konvoi begleiten.“


    Der LKA-Beamte hatte doch glatt das Bedürfnis, die vor ihm stehende Frau zu schlagen.

    Das hier war sein Fall!

    Er hatte die Einsatzleitung und nur er sollte solche Entscheidungen treffen können! Außerdem hatte er da gerade richtig gehört? Gerkhan und Jäger?!

    Die zwei Vollpfosten, die ihm die Hochzeit und Hochzeitsnacht ruiniert hatten, sollten seinen Konvoi begleiten?!?


    „Was fällt ihnen ein! Sie habe nicht das Recht...!“ Ihm blieben die Worte im Hals stecken, so wütend war er.


    „Vielleicht habe ich das Recht wirklich nicht... Ich habe es aber trotzdem gemacht. Und wenn ihnen das nicht passt, Herr Kellermann, dann können sie gerne den Schwiegerpapi anrufen und sich über mich beschweren!“ Damit nickte Anna, Ben und Semir zu, die sich das Spektakel zufrieden und breit grinsend angeschaut hatten.

    Auf ihrem Weg nach draußen, blieb Ben kurz neben Kellermann stehen, der die Chefin mit hochrotem Kopf und vor Wut sprühenden Augen anstarrte.


    „Ja, herzlichen Glückwunsch noch mal zur Hochzeit! Alles Gute für sie und ihre Frau!“


    Nun war es die Chefin, die ihrem jungen Kommissar gerne einen gepflegten Schlag in den Nacken verpasst hätte.

    Natürlich konnte Ben nicht einfach vorbei gehen...

    Nein, er musste einen Spruch klopfen und Kellermann noch weiter provozieren!

    Vielleicht würde sie bald doch wieder in Uniform Streife fahren...


    „Ja von mir auch alles Gute zur Hochzeit! Und grüßen Sie mir ihren Schwiegervater schön, wenn sie ihn sehen!“ stimmte jetzt auch Semir mit ein und goss damit noch weiter munter Öl ins Feuer, ehe er und Ben schnell das Weite suchten.


    Das war wieder einer der kurzen und seltenen Momente, in denen Anna sich fragte, was sie verbrochen hatte, dass man ihr Gerkhan und Jäger geschickt hatte...



    ***



    Gute fünf Stunden später, dankte die Chefin jedoch schon wieder den Göttern, das Semir und Ben zu ihrem Team gehörten.

    Die beiden Kommissare hatten mehr oder weniger im Alleingang verhindert, dass das Gold gestohlen wurde.

    Genau wie Ben es vermutet hatte, waren die Geschehnisse der letzten Tage Vorbereitungen auf den bevorstehenden Überfall gewesen. Eine rumänische Diebesbande hatte geplant, dass für die rumänische Regierung bestimmte Gold zu stehlen und für ihre eigene Zwecke zu missbrauchen.


    Und die Bande war gut organisiert und überaus brutal vorgegangen. Ben und Semir hatten mehr als einmal riesen Glück gehabt und waren wirklich nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. Insbesondere für Semir war es zum Schluss richtig, richtig knapp gewesen.

    Hätte Ben ihn nicht in letzter Sekunde aus dem LKW gezogen, wäre er in dem Führerhaus verbrannt.


    „Danke Partner! Das war wirklich knapp!“ Gerkhan hatte nach der Aktion noch immer leicht wackelige Beine, als er sich das Trümmerfeld, das mal die A44 gewesen war, begutachtete.


    „Dafür bin ich doch da! Das kann ich Andrea einfach nicht antun! Sie morgen alleine vor der Traualtar treten zu lassen.“ Ben neigte den Kopf zur Seite:


    „Wobei: Wenn‘s hart auf hart gekommen wäre, hätte ich ja einfach deinen Platz einnehmen können...“ Er grinste bubenhaft frech.


    „Wenn du mir nicht gerade den Hals gerettet hättest, würde ich dich jetzt schlagen, Partner!“, brummte der kleine Polizist, wurde im nächsten Augenblick aber auch von Bens Grinsen angesteckt.


    30. September 2004


    Haus von Andreas Eltern, Bergisch Gladbach, 20:45 Uhr



    „Ben, bist du dir sicher?“

    Semir sah seinen Partner etwas skeptisch an, der gerade das Abendessen mit seinen bald Schwiegereltern unterbrochen hatte, als er aus heiterem Himmel vor deren Haus aufgetaucht war.


    „Ja schon! Also zu 95 %... Ich glaube einfach nicht, dass die Vorfälle der letzten Tage Zufälle waren. Das passt alles zusammen! Und ich denke eben, dass es um diesen Goldtransport geht, den unsere Dienststelle morgen begleiten soll!“


    Jäger sprach vom Goldtransport, der am morgigen Tag von der Landeszentralbank in Düsseldorf zum dortigen Flughafen stattfinden würde und den die Autobahnpolizei bewachen sollte.

    Nahezu alle Beamten der PAST waren in die Aktion involviert... Außer sie beide.


    Anna Engelhardt hatte es mehr als deutlich gemacht, dass sie sie morgen weder auf dem Revier noch in der Nähe des Konvois sehen wollte.

    Grund dafür war noch immer ihr Missgeschick von vor sechs Tagen, als sie die Hochzeitslimousine von Hauptkommissar Kellermann geschrottet hatten. Denn niemand anderes als Kellermann leitete den Einsatz und die Chefin wollte ein Zusammentreffen ihrer Kommissare und Kellermann unter allen Umständen vermeiden.

    Semir musterte seinen Partner noch einen kurzen Moment, ehe er nickte.

    Ben hatte einen guten Instinkt und wenn er sich ziemlich sicher war, dann sollten sie dem auf jeden Fall nachgehen.


    „Problem ist nur, dass das nicht unser Fall ist... Was schlägst du also vor?“ fragte Semir schließlich.


    „Zur Engelhardt fahren und sie davon überzeugen, dass sie den Transport stoppt.“


    Gerkhan hob leicht fragend die Brauen, nickte dann aber erneut.

    Das sagte sich vermutlich leider nur leichter, als es letztlich sein würde, da sie sich heute einen erneuten Schnitzer geleistete hatten, der für recht viel Ärger gesorgt hatte.


    Ben und er hatten am Mittag aus Langeweile und Frust das nächstbeste Fahrzeug, das ihnen vor die Nase gefahren war, herausgewunken und den Fahrer und dessen Fahrzeug bei der anschließenden Kontrolle bis ins kleinste Detail auseinandergenommen.

    Da der Mann, zurecht, zunehmend gereizt auf die Kontrolle reagiert hatte, hatten sie ihn sogar zu einem Drogentest ins Krankenhaus gebracht.

    Dummerweise hatte sich herausgestellt, dass der Kerl Anwalt war und er war direkt vom Krankenhaus zu ihnen auf die Dienststelle gefahren, wo er der Chefin die Hölle heiß gemacht hatte.

    Hatte etwas von ‚Nötigung‘ und ‚Amtsmissbrauch‘ gebrüllt.

    Entsprechend ‚gut‘ war die Chefin momentan auf sie zu sprechen...



    Dennoch saßen sie keine fünf Minuten später in Bens Dienstwagen und waren auf dem Weg nach Marienburg.

    „Sorry, dass ich das Abendessen mit deinen sehr bald Schwiegereltern unterbrochen habe.“ entschuldigte Ben sich bei seinem Partner.


    „Du, kein Ding. Ich glaube eh, dass ich die Fische von Andreas Vater vergiftet habe...“ Ben bekam große Augen. „Was hast du?“


    „Ja, na ja.... Ich wollte sie Füttern. Die haben so hungrig ausgeschaut.“ Semir zuckte mit den Schultern. „Und dann ist mir die Fischfutterdose aufgegangen und der gesamte Inhalt ist ins Aquarium gefallen...“


    „Autsch! Respekt Partner! Du weißt, wie man seinen Schwiegervater für sich gewinnt...“ Jäger konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.


    Auch, wenn es eigentlich nicht lustig war.


    „Meinst du, wir sollten die Engelhardt anrufen und unseren Besuch ankündigen?“, fragte Semir nach einer kurzen Pause.


    „Ich glaube nicht… Wir sind eh gleich da.“ Ben schüttelte mit dem Kopf, grinste im nächsten Moment jedoch wieder verschlagen und fügte hinzu:


    „Oder meinst du sie braucht Zeit, um André im Kleiderschrank zu verstecken?“ Sein Partner grinste daraufhin genauso verschlagen.


    Nein, er würde nicht anrufen.

    Auch wenn er nicht daran glaubte, dass er gleich seinem Ex-Partner begegnen würde, sollte es doch so sein, wollte er ihn auf keinen Fall vorwarnen…





    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 21:23 Uhr



    Anna Engelhardt fluchte laut, ungehalten und mehrfach hintereinander, als es an der Tür klingelte. Welcher Idiot...?!?

    Keine zwei Minuten zuvor war sie endlich in das wohlverdiente heiße Wasser der Badewanne gesunken, von dem sie hoffte, dass es ihre leichten Nackenschmerzen und die restlichen Verspannungen in ihrem Körper lösen würde. Und sie den Stress des Tages vergessen lassen würde.


    Nach Jägers und Gerkhans erneuten Meisterleistung heute, die sie ordentlich Nerven gekostet hatte, hatte zu Hause auch noch eine schlecht gelaunte und nörgelige Viereinhalb jährige auf sie gewartete, der im Kindergarten anscheinend eine Laus über die Leber gelaufen war, weil sie mit irgendeinem Spielzeug nicht hatte spielen dürfen.

    Deswegen war Leonie, nach einigem Gezeter, auch erst vor gut einer halben Stunde eingeschlafen, nach dem sie partout nicht ins Bett hatte gehen wollen.


    Einen weiteren Fluch murmelnd stieg Anna schließlich aus der Wanne, griff nach einem Handtuch, das sie sich eilig um den Körper schlang und stapfte missmutig in Richtung Tür.

    Wer immer da draußen vor der Tür war, sie würde ihm oder ihr den Hals umdrehen!


    „Was?!“ blaffte sie entsprechend gereizt in die Gegensprechanlage.


    „Chefin wir sind‘s...“ hörte sie im nächsten Moment Semirs Stimme, die ziemlich kleinlaut klang.


    Anna stöhnte laut auf!


    Natürlich... Wer auch sonst! Gerkhan und Jäger! Die Zwei würden sie noch ins Grab bringen!


    „Dürfen wir hochkommen?“, fragte jetzt Bens Stimme.


    Nein, eigentlich konnte sie jetzt gerade gut auf die Gesellschaft ihrer Kommissare verzichten. Andererseits konnte sie ihnen nur dann den Hals umdrehen, wenn sie hochkamen, weswegen sie schließlich auf den Türöffner drückte.




    „Wir hätten doch besser anrufen sollen...“, murmelte Semir als sie die letzten Stufen nahmen und ihre Vorgesetzte ihnen die Wohnungstür öffnete.


    Ihr Gesicht verhieß Sturm und das Handtuch, in das sie eingewickelt war, machte es deutlich, dass sie ziemlich ungelegen kamen.

    Als dann, gerade als sie durch die Tür traten, auch noch Leonie mit einem zerknautschen Gesichtsausdruck aus ihrem Zimmer kam, weil die Klingen sie geweckt hatte, wussten Semir und Ben, dass ihre Chefin sie in dem Moment auf den Mond, oder besser, auf den Mars wünschte. Vermutlich sogar an den Rand des Universums.

    Annas Laune war auch nicht besser, als sie 20 Minuten später in einem Bademantel vor ihnen stand und mit tödlichen Blicken durchbohrte.


    „Wenn es hier nicht um eine nationale Krise geht oder zu mindestens um Leben und Tod, dann haben sie beiden ein riesengroßes Problem!“


    „Ja, na ja... Also ich denke schon das es eine nationale Krise ist... Also vielleicht? Oder werden könnte...? Auf jeden Fall hat es das Potenzial für eine Krise...“ stammelte Ben.


    „Jäger kommen sie auf den Punkt! Ich will sie beide so schnelle es geht wieder loswerden! Also: Worum geht es?“


    Als Ben anfing zu erklären wurde die Chefin allerdings doch recht schnell wieder sachlich und stellte ihre schlechte Laune hinten an.


    „Sind sie sich sicher?“


    „Chefin so sicher, wie man sich sicher sein kann. Ich weiß das es vielleicht alles ein bisschen weit hergeholt klingt, aber ich glaube wirklich, dass die Vorfälle der letzten Tage zusammenhängen und es um den Goldtransport geht.“

    Anna sah von Ben zu Semir, der seinem Partner zu vertrauen schien und nickte.


    Schließlich atmete sie schwer aus. „Also schön. Ich werde sehen was ich machen kann. Ich fürchte aber, dass ich den Transport nicht mehr stoppen kann.“

    Sie schüttelte gequält grinsend den Kopf.

    „Und am besten bestelle ich mir auch schon mal eine Uniform... Denn wenn das schiefgeht, wird mich der Polizeipräsident vermutlich auch wieder Streife fahren lassen...“


    Teil 3


    Zukunft





    'Für immer und ewig'



    25. September 2004


    Kölner Ringe, Club ‚Nachtflug‘ 23:58 Uhr




    „Prost!“


    Die Truppe um Semir stieß mit einer neuen Runde Tequila an. Der Deutschtürke hatte keine Ahnung, die wievielte Runde es war, aber ganz sicher nicht die zweite oder dritte.

    Ben hatte ihn unter einem Vorwand in die Stadt gelockt, wo einige Freunde und Kollegen bereits auf ihn gewartete hatten, um ihn mit einer Party zu seinem Junggesellen Abschied zu überraschen. In genau einer Woche würde er Andrea heiraten.

    Nach einem lustigen, noch recht gemütlichen Essen beim Italiener, waren sie schließlich in den Club, wo sie sich noch immer befanden, gezogen und hatten es bereits ordentlich krachen lassen.


    André Fux hatte sich schon den ganzen Abend über Ben und Semir lustig gemacht, da sie vor drei Tagen ihre Kripomarken hatten abgeben müssen und derzeit wieder in Uniform Streife fuhren, nach dem sie während einer Verfolgungsjagd die Hochzeitslimousine der Tochter des Polizeipräsidenten geschrotet hatten.

    Deren frisch angetrauter Mann, ebenfalls ein Polizist und Kollege, hatte dadurch die Hochzeitsnacht im Krankenhaus verbringen dürfen.

    Aus zuverlässiger Quelle wusste er, dass der Polizeipräsident am Toben war und auch sein Schwiegersohn, Kriminalhauptkommissar Kellermann vom LKA, nach Rache sinnte.



    „Ja Ha-Ha! Du hast gut lachen! Du musst dich auch nicht in Uniform zum Affen machen, sondern kannst dich auf deiner ‚Entschädigungs-Zahlung‘, oder was auch immer das war, ausruhen und dir ein Lotterleben machen!“ beschwerte sich der Bräutigam in Spe.


    Nachdem man ihn ja nun mal, fälschlicherweise, für tot erklärt hatte und er dadurch de facto, die ganzen Jahre über weiter in einem Beamtenverhältnis gewesen war, hatte André vor ein paar Wochen einen Großteil seiner fünf Jahres Löhne ausgezahlt bekommen, die ihm dadurch zustanden.

    Sofort danach hatte er allerdings endgültig seine Kündigung für den Polizeidienst eingereicht. Er war sich noch nicht ganz sicher, was er machen wollte, aber Polizist würde er unter keinen Umständen mehr sein, das stand fest.

    Schon als sich Fux und Gerkhan vor drei Monaten das erste Mal richtig ausgesprochen hatten, hatte er Semir gestanden, dass er sich bereits, bevor sie nach Mallorca aufgebrochen waren, nicht mehr sicher gewesen war, ob Polizist noch der richtige Job für ihn war.


    „Ja ja... Ihr hättet ja einfach nur einen anderen Wagen demolieren müssen!“ feixte Fux weiter.


    „Ja, aber dieses Mal konnten wir wirklich nichts dafür!“ beharrte nun Ben.


    Das habe ich auch immer gesagt... Die Ausrede hat aber damals schon nicht funktioniert...“


    „Dieses Mal ist es aber keine Ausrede! Aber wie, dem auch sei: Magst du uns nicht was erzählen?“ jetzt war es Jäger der feixte.


    „Oh ja, genau! Magst du uns nicht was zu erzählen?“ schlug auch Semir gleich in dieselbe Kerbe und die zwei Kommissare sahen ihre jetzt ganz offiziell Ex-Kollegen auffordernd an.


    „Was sollte ich euch zu erzählen haben?“, konterte André, aber es war offensichtlich, dass jetzt er es war, der nach Ausreden suchte.



    Bei einer zufälligen Unterhaltung mit Leonie ein paar Tage zuvor, hatte Semir von ihr am Rande erfahren, dass André anscheinend schon mal zum Frühstück dagewesen war, bevor sie in den Kindergarten gegangen war.

    Semir hatte daraus natürlich eindeutige Schlüsse gezogen und hatte es selbstverständlich auch gleich brühwarm seinem Partner erzählen müssen.

    Auch wenn sie es selbst unter Folter niemals zugeben würden, waren sie doch zwei kleine Klatschweiber. Jedenfalls hin und wieder. Und was gab es auch besseres, als derartigen Gossip, um sich die Zeit im Auto zu vertreiben...?


    „Och du, ich weiß auch nicht... Wie geht’s denn der Engelhardt so?“ fragte Ben wie die Unschuld vom Lande und nippte an seinem Drink.


    Fux Augen verengten sich für den Bruchteil einer Sekunde argwöhnisch, ehe er sich wieder im Griff hatte und unbeeindruckt mit den Schultern.


    „Du dürftest besser wissen, wie es deiner Chefin geht, Jägerch. Siehst sie ja jeden Tag.“


    Ben hatte jedoch, obwohl er nicht mehr nüchtern war, das kurze verräterische Zucken in Andrés Augen gesehen.

    Jetzt stieß der junge Polizist einen triumphierenden Laut aus und deutet auf Andrés Gesicht. „Er hat gezuckt! Ich hab‘s genau gesehen Semir! Er hat gezuckt!“

    Die Polizisten gaben sich ein ‚High-Five‘ und sahen dann André weiter auffordernd feixend an.


    „Uns kannst‘ es doch erzählen...“, sagte Semir schließlich verschlagen.


    „Da gibt’s nichts zu erzählen! Wir sehen uns hin und wieder, reden oder machen gemeinsam etwas mit Leo.“ Beharrte André weiter.



    Ben und Semir warfen sich daraufhin einen theatralischen Blick zu.


    „Sie Unternehmen hin und wieder was...“ äffte Ben, bevor Semir äffte:


    „Hmm... Und reden...“ Die Partner sahen gleichzeitig wieder zu Fux und Semir fuhr fort:


    „Müssen ja ganz schön lange Unternehmungen sein, wenn du schon zum Frühstück da bist...“ „...bevor Leonie in den Kindergarten geht.“ Beendete Ben den Satz und André begriff das es kein Entkommen mehr gab.


    Wie zum Teufen hatten die zwei Schlitzohren das jetzt wieder spitzbekommen?

    Ein paar Sekunden später glaube er jedoch schon zu wissen wie.

    Leo...

    Also zuckte Fux erneut lässig mit den Schultern und sagte:


    „Ja und? Was ist schon dabei, wenn ich einmal zum Frühstück da war? Wir sind ja alle schon Erwachsene, nicht wahr?“


    So richtig, konnte er tatsächlich selber nicht sagen, was das zwischen ihm und Anna war.

    Genau wie er gesagt hatte, hatten sie sich seit Mai immer mal wieder getroffen und gemeinsam etwas mit Leonie gemacht.

    Es war sehr schnell klar gewesen, dass sie sich, genau wie damals, noch immer gut verstanden und in vielen Dingen auf derselben Wellenlänge schwammen. Dass sie keine Kollegen mehr waren, hatte die ganze Sache natürlich verändert.

    Denn die Grenzen, die es mal gegeben hatte, bestanden nun mal nicht mehr.

    Dafür gab es jetzt andere.

    Welche Grenzen das jetzt aber genau waren, hatten sie noch nicht so ganz herausgefunden.

    Und es stimmte, dass er sogar schon zwei Mal über Nacht geblieben war und sie gemeinsam im Bett gelandet waren.

    Zusammen oder ein Paar waren sie jedoch ganz sicher nicht.



    „Was schon dabei ist...?“ Semir tat so als müsse er nachdenken. „Ich weiß nicht. Aber auch bei einem Mal kann schon ganz schön was passieren... Solltest du ja am besten wissen.“


    Er grinste frech und dem Alkohol in seinem Blut sein danke, fügte noch genauso frech hinzu:


    „Muss da vielleicht bald wieder jemand in Mutterschutz?“


    Ben prustete und André grinste nach ein paar Sekunden wie ein Harlekin, von einem Ohrläppchen zum anderen.


    „Wenn ich deiner Chefin sage, was du da grade gesagt hast, Semir, dann fährst du noch länger in Uniform Streife...!“


    Der Angesprochene dachte angestrengt über die Worte nach und sein eigenes Grinsen wurde ein bisschen weniger breit.

    Ben im Hintergrund wog abwiegend den Kopf hin und her, ehe er, matter of fact, verkündete: „Jo, da könnte was dran sein, Partner!“

    Keine Minute später lachten sie alle drei jedoch schon herzhaft darüber, stießen mit einer weiteren Runde Tequila an und Fux sagte, bereits ein wenig unartikuliert:


    „Aber bloß nicht Hotte sagen, dass ich vielleicht wieder mit seiner Angebeteten anbandele... Der muss noch den Schock verdauen, dass Leo keine jungfräuliche Empfängnis war...“

    Jäger und Gerkhan lachten daraufhin so laut und heftig, dass sie beide vom Barhocker fielen und auf dem Boden weiter lachen mussten.


    Draußen war es bereits wieder hell, als sie aus dem Club taumelten.



    Sonntag, 09. Mai 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg 17:10 Uhr



    André Fux lief leichtfüßig die Stufen in den ersten Stock hinauf.


    In der einen Hand hielt er eine Flasche französischen Rotwein, in der anderen ein in Geschenkpapier eingepacktes Buch.

    In der Wohnungstür stand auch schon die Besitzerin der Wohnung und lächelte ihm freundlich entgegen.

    Als er bei ihr ankam, begrüßte er sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und hielt ihr die Dinge in seinen Händen entgegen.


    „Noch mal alles Gute zum Geburtstag, nachträglich!“, sagte er breit lächelnd. Anna hatte erst am Tag zuvor Geburtstag gehabt und war 42 geworden.


    „Vielen Dank! Aber das wäre nicht nötig gewesen!“ sagte sie ebenfalls lächelnd, während Fux Schuhe und Jacke ablegte.


    Seit Mitte April hatten sich die Dinge rasant entwickelt und es war recht viel passiert, sodass sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt hatten, sich in Ruhe zu unterhalten.

    Albert Berthold hatte Wortgehalten und André aus allen Dingen herausgehalten. Ihre nicht ganz der Wahrheit entsprechende Geschichte hatte das LKA geschluckt, auch wenn Fux vermutete das dies nur daran lag, weil Kriminalrat Neumann vom LKA nicht allzu viele kritisch Fragen stellte.

    Was wiederum, einzig und allein daran lag, dass er seiner Kollegin von der Autobahnpolizei, nach einem recht langen und ausführlichen Gespräch, einen Gefallen tat.


    Der Komplize, den Ben verhaftete hatte, sagte nur, was er sage musste. Dass er an den Überfällen beteilig war, aber nicht wisse, wer seine Mittäter sein. Berthold nannte auch keine Namen und die Beschreibung, die er von Alain Duvért als dritten Täter gab, war mehr als wage.

    Fux hatte durchblicken lassen, dass der von Ben geschnappte Mann seinen Lohn bereits erhalten hatte und nur zu gerne bereit war eine kurze Haftstrafe abzusitzen.

    Die Staatsanwaltschaft hatte auch schon durchblicken lassen, dass sie im anstehenden Prozess gegen Berthold Milde walten lassen würde.


    Was an den gegebenen Umständen lag, hauptsächlich aber wohl daran, dass sämtliche erbeuteten Diamanten und Schmuckstücke zurückgegeben worden waren und bei den Überfällen niemand zu Schaden gekommen war.

    Und natürlich daran, dass sich die Kollegen der Autobahnpolizei für Albert einsetzten. Arnaud Berthold war auf dem besten Weg der Genesung und würde voraussichtlich in ein paar Tagen das Krankenhaus verlassen können.


    André selber hatte die letzten Wochen mit unzähligen Behördengängen zu tun gehabt und mit der ein oder anderen Befragung, unter anderem bei der Polizeigewerkschaft, die genau wissen, wollten was vor fünf Jahren geschehen war.

    Von den Toten aufzuerstehen, war recht umständlich, wie er feststellen musste. Aber seit zwei Tagen gehörte er als ‚André Fux‘ ganz offiziell wieder zu den Lebenden und nicht mehr zu den Toten.

    Und jetzt hatten er und Anna auch endlich die Zeit gefunden, in Ruhe miteinander zu Reden.



    „Hallo André!“, wurde er im nächsten Moment von Leonie begrüßt die im Wohnzimmer auf dem Boden saß und mit Duplo Steinen einen Turm oder etwas in der Art zu bauen.


    „Hallo Leonie!“, grüßte er lächelnd, aber mit einer gehörigen Portion Unsicherheit. Auch nach drei Wochen konnte er noch nicht so wirklich begreifen, dass da seine Tochter saß.


    Anna blieb die Unsicherheit keineswegs verborgen und sie gab ihm die Gelegenheit sich ein wenig allein mit Leo zu unterhalten, während sie in der Küche anfing das Abendessen zu machen.


    „Onkel Semir hat erzählt das er schon mit seinem Auto geflogen ist!“, hörte Anna die Tochter irgendwann begeistertet erzählen und sah daraufhin ein wenig skeptisch ins Wohnzimmer.


    „Hat er das?“ André nickte nachdenklich. „Hat der Onkel Semir auch gesagt wer ihm beigebracht hat, wie man ein Auto zum Fliegen bringt?“


    Oh nein...


    Die Chefin schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen, rang sicher aber dazu durch, im letzten Moment nichts zu sagen, sondern Fux weiter erzählen zu lassen.


    „Wer denn?“, fragte Leo auch schon mit großen Augen.


    „Na von mir. Ich war auch mal Polizist und habe mit Semir zusammengearbeitet.“


    „Wie Ben?“, fragte die Vierjährige und bekam noch größere Augen.


    „Ganz genau, wie Ben. Und ich habe Semir gezeigt, wie man mit Autos über andere Autos springt und sie ein Stück fliegen lässt...“


    „Kannst du mir das auch zeigen?!“ Leonies Augen hatten wieder das schelmische Leuchten, das er schon vor drei Wochen wiedererkannt hatte.


    „Na ja, aber du kannst doch noch gar kein Autofahren, junge Dame.“ Gab Fux zu bedanken, da er langsam begriffe, dass er vermutlich soeben die Büchse der Pandora geöffnet hatte.


    „Kannst du mir dann zeigen, wie man Auto fährt?“


    Oh ja.

    Die Büchse stand sperrangelweit auf, was auch der Blick bestätigte, den die Mutter ihm aus der Küche zuwarf. Der Blick gab ihm auch eindeutig zu verstehen, dass er beim Schließen der Büchse auf sich allein gestellt war.


    „Ja, aber dafür musst du größer werden.“


    „Wie groß?“ Himmel, das Kind war hartnäckig!


    „So groß wie deine Mama. Sonst kommst du nicht an die Pedale im Auto.“ Er grinste, zufrieden mit sich selbst, dass er doch so einfach aus der Nummer hinausgekommen war. Leo nickt ein wenig enttäuscht, hielt dann jedoch inne.


    „Aber Onkel Semir ist kleiner als meine Mama! Und der fährt Auto.“ André bekam große Augen. Das Kind war für ihr Alter eindeutig zu clever!


    „Na gut, dann musst du so groß werden wie Onkel Semir.“ Sagte er schließlich und Leonie nickte ein wenig zufriedener. „Dann ist das schon bald. Der ist nämlich nicht so groß...“


    Jetzt konnte Fux es endgültig nicht mehr verhindern das ihm die Kinnlade herunterklappte.



    ***



    Später am Abend, und nachdem Leonie im Bett lag und tief und fest schlief, saßen sich André und Anna im Wohnzimmer gegenüber und Fux kam nicht umher, sich ein wenig in den Abend von vor etwas mehr als fünf Jahren zurückversetzt zu fühlen, wo sich schon einmal ganz ähnlich gegenüber gesessen hatten.


    „Irgendwie habe ich grade ein Déjà Vu...“ Er grinste. „Aber ich habe ja schon vor meiner Abreise nach Mallorca gesagt, das wir uns noch einmal unterhalten sollten.“ Fux hob die Schultern. „Und hier bin ich! Hat alles ein bisschen länger gedauert als geplant... Aber besser spät als nie!“

    Die Chefin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

    Da war er wieder.

    Der Mann, mit dem sie sich von Anfang an gut verstanden hatte und mit dem sie unzählige Male zusammen gelacht hatte.


    „Das hat wirklich ganz schön lange gedauert...“, sagte sie schließlich und nippte an ihrem Wein.


    „Ich habe mich auf dem Weg zurück das ein oder andere Mal verfahren...“


    „Ah, verstehe... Ich fürchte in der Zwischenzeit ist die Liste der Dinge, über die wir uns unterhalten sollten, ein bisschen länger geworden...“


    Oh ja... Das war sie allerdings.


    Weswegen es auch bereits 02:00 Uhr in der Früh am Montagmorgen war, als er wieder in seine, vor einer Woche bezogene Wohnung fuhr.

    Aber sie hatten tatsächlich über fast alle die Dinge gesprochen, die in den letzten fünf Jahren passiert waren.

    Und auch über das, was kurz vor seinem Verschwinden geschehen war.


    Sie waren beide recht schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass es nichts bracht darüber nachzugrübeln, was hätte sein können, wenn er nicht verschollen wäre, da sie es eh nie erfahren würden. Außerdem war einfach zu viel Zeit vergangen und sie hatten sich beide verändert.

    Was blieb, war die Tatsache, dass sie in ihrer gemeinsamen Nacht, ein Kind gezeugt hatten und dafür gleichermaßen verantwortlich waren. Und André war nur zu gerne bereit dazu, dieser Verantwortung nach all den Jahren nachzukommen.




    Im Laufe des Abends hatte Anna ihm ein Fotoalbum gezeigt und er hatte seine Tochter im Zeitraffer älter werden sehen. Gleichzeitig hatte er auf den Bildern der Verwandlung seiner damaligen Vorgesetzten zusehen können.

    Angefangen von einem der ersten Bilder in dem Album das Weihnachten 1999 kurz vor der Geburt der Tochter aufgenommen worden war und sie hochschwanger zeigte, zum nächsten Bild, was von ihrer Schwester, die bei Leonies Geburt dabei gewesen war, sehr kurz nachdem die Kleine auf der Welt war, aufgenommen wurde.

    Auch wenn er nicht umher kam zu sagen, dass sie auf dem Bild vor allem völlig fertig aussah, glaubte er schon dort eine Veränderung erkannt zu haben, die sich über die Jahre fortsetzte, bis hin zu der Frau, die heute vor ihm saß.


    „Mir ist bewusst, dass fünf Jahre eine recht lange Zeit ist und wir vermutlich nicht mehr die Menschen sind, die wir damals waren. Jedenfalls nicht genau die Menschen. Aber ich würde mich freuen, wenn wir uns vielleicht wieder kennenlernen würden. Genau wie ich Leonie sehr gerne, noch besser kennenlernen möchte, wenn du es erlaubst.“ Hatte sich André schließlich verabschiedet.





    15. April 2004


    PAST, 17:04 Uhr




    Im Hauptbüro der PAST hatte Ben Berthold schon in das Büro der Chefin gebracht, während Semir auf direktem Weg zu Andrea gegangen war, die schon mehr als ungeduldig auf ihn gewartet hatte.


    „Mensch! Was macht ihr denn wieder für Sachen?! Geht’s euch gut?“ Natürlich hatte sich der Vorfall im Wald schon durch den Polizei-Busch-Funk herumgesprochen. Aber wie immer wusste niemand genaues und die ersten wilden Theorien machten bereits die Runde.


    „Alles gut, nur ein paar kleine Kratzer... Ich kann dir das alles heute Abend ganz in Ruhe erklären... Jetzt erschrick dich gleich nur nicht...“


    Die Warnung kam allerdings ein paar Sekunden zu spät.


    Auch wenn Andrea von Semir ja bereits wusste, dass André Fux am Leben war, entfuhr ihr ein spitzer Schrei der Überraschung, als genau dieser in dem Moment in das Großraumbüro trat.

    Die Sekretärin schlug sich beide Hände vor den Mund und brachte keinen weiteren Ton mehr hervor, als sie den totgeglaubten Kollegen und Freund anstarrte, der etwas verloren, stehen geblieben war und von einem der anwesenden Polizisten zum nächsten sah.


    Bonrath und Herzberger starrten André einfach nur mit weit aufgerissenen Mündern an und zwei weitere Kollegen rieben sich doch glatt über die Augen, offensichtlich nicht sicher, ob sie da richtig sahen.

    Andrea löste sich schließlich aus ihrer Erstarrung und stürmte auf Fux zu, dem sie auch schon im nächsten Moment um den Hals fiel.


    „Ich glaub das einfach nicht!“, lachte sie schließlich und musste ein, zwei Tränchen verdrücken. „Du bist wirklich am Leben!“


    „Dieter, kneif mich mal! Ich glaub ich spinne!“ murmelte Hotter derweil und konnte noch immer nicht glaube was, oder besser, wen er da sah.


    „Ich bin mir durchaus bewusst, dass das eine ziemliche Überraschung für sie alle sein muss, aber die Wiedersehensfeier muss leider noch ein klein bisschen warten. Herr Fux?“ sagte die Chefin schließlich und deutete auf ihr Büro, wo Ben schon wartete.





    Ein eigenartiges Gefühl befiel André, als er hinter Anna das Büro der Dienststellenleitung betrat, erinnerte er sich doch genau an den Moment, als er es das letzte Mal verlassen hatte.

    Genau wie im Rest der PAST, hatte sich auch hier die Einrichtung ein wenig verändert, nichtsdestotrotz erkannte er alles umgehen wieder.

    Gerkhan schloss hinter ihm die Tür und die Chefin deutete auf die Sitzecke und sagte an Berthold gewandt.


    „Sie können sich sicher denken, dass wir noch einiges zu besprechen haben und ein paar Dinge klären müssen, bevor das LKA hier auftaucht und einige etwas unangenehme Fragen stellen wird.“ Den Blick, mit dem sie ihn durchbohrte, während sie sprach, war eindeutig und Albert wusste, was sie ihm damit zu verstehen gab.


    Jetzt lag es an ihm, wie es weiter gehen würde.


    Da sein Sohn, dank ihrer und der Hilfe der anderen beiden Polizisten aber endlich in Sicherheit und wieder bei ihm war, war er durchaus bereit seinen Teil der Abmachung zu erfüllen.


    Sein Kind war sicher und nichts anderes zählte.



    Für Ben und Semir kam es zwar ziemlich überraschend, dass Berthold bereit war die komplette Schuld auf sich zu nehmen und André aus allem heraus zu halten, beide Kommissare hatten aber eine Fantasie davon, wo seine Bereitschaft, ihrem Ex-Kollegen zu helfen, herkam.

    Die einschüchternden Blicke, mit denen die Engelhardt den Mann durchgehend durchbohrte, sprach Bände.


    „Das ist ja alles schön und gut... Aber wie erklären wir dem LKA warum Arnaud entführt wurde? Und wie dieser Van Beust da mit drinsteckt?“ gab Ben nach einer Weile zu Bedenken.


    „Und wenn wir ihnen eben nicht alles erklären?“ Während Berthold gesprochen hatte, hatte sich Fux bereits seine Gedanken gemacht.


    „Wie meinst du das?“ Semir sah seinen Ex-Partner ein wenig skeptisch an.


    „Wir sagen nichts von Van Beust. Sagen das die vier Toten aus der Hütte die Entführung und Lösegeldforderungen alleine geplant haben.“ Er wandte sich direkt an Berthold:


    „Weil du das Geld nicht hattest, musstest du die Juweliere überfallen und hast, nach dem der letzte Überfall schiefgegangen ist, dass Mädchen entführt. Aber dir ist sofort klar geworden, dass du einen riesen Fehler gemacht hast und hast sie deswegen umgehen frei gelassen. Ich als dein Bodyguard habe mich auf wundersame Weise an meine wahre Identität erinnert, als ich Semir gesehen habe und ihn um Hilfe gebeten. Und so haben wir dann die Hütte gefunden.“ Fux zuckte mit den Schultern. „Das muss natürlich noch ein bisschen dilatierter besprochen werden, aber so in etwa...“


    „Und Van Beust? Was machen wir mit dem?“ Ben war noch nicht überzeugt.


    „Ich denke nicht, dass er zur Polizei gehen wird... Arnaud und Camille stehen unter Polizeischutz und vor ihm sich sicher. Außerdem...“ André machte eine Pause, sah von einem zum anderen. „Außerdem glaube ich nicht, dass Van Beust noch lange ein Problem sein wird...“


    Nacheinander fielen bei allen Anwesenden die Groschen und sie begriffen, was Fux damit andeutete.

    Wenn Van Beust nicht schleunigst die verlorenen Millionen auftreiben würde, würde sich die Triade seiner annehmen.

    Auf den Gesichtern der Polizisten war durchaus zu sehen, dass sie kein allzu großes Problem damit hatten, Van Beust seinem Schicksal zu überlassen. Nicht nach allem, was er dem Jungen angetan hatte.


    „Ich verspreche ihnen, dass wir alle ein gutes Wort für sie einlegen werden, Herr Berthold. Um eine Haftstrafe werden sie vermutlich nicht herumkommen, aber ich bin mir sicher, dass sie nicht allzu lange sein wird. Vielleicht ein, zwei Jahre.“ Sagte die Chefin an Albert gewandt, was dieser mit einem nicken zur Kenntnis nahm. Das würde er schon irgendwie verkraften...


    Schließlich hätte alles noch viel, viel schlimmer kommen können!




    15 April 2004


    Ambulanz Uniklinik Köln, 16:04 Uhr



    André Fux saß recht erschöpft, aber unendlich erleichtert im Wartebereich der Ambulanz.


    Seine leichten Verletzungen, die er sich bei dem Kampf in der Hütte zugezogen hatte, waren versorgt worden und man hatte ihm Sauerstoff gegeben, da er sich eine leichte Rauchgasvergiftung zugezogen hatte.


    Neben ihm auf einem der Plastikstühle saß seine ehemalige Chefin. Auch ihre Hände waren versorgt und anschließend verbunden worden. Die Schnitte waren nicht allzu tief und es waren keine Sehnen und Nerven verletzt worden.

    Es tat zwar weh, war letztlich aber nicht schlimm und würde komplett verheilen. Da sie ebenfalls eine leichte Rauchgasvergiftung hatte, hatte man auch ihr Sauerstoff gegeben.


    Momentan warteten sie auf ihre Entlassungspapiere und auf Ben und Semir, die Arnaud Berthold und seine Eltern mit auf Station begleitet hatten, in der Hoffnung das der Junge ihnen vielleicht noch etwas sagen konnte. Außerdem wollten sie sicherstellen, dass er alle Hilfe bekam, die er brauchte und standen den Eltern Rede und Antwort.



    „Die ‚Balto-Nummer‘ wäre je beinahe ganz schön schiefgegangen...“ durchbrach Anna schließlich die Stille und brachte Fux damit zum Schmunzeln. Wobei es ein schuldbewusstes Schmunzeln war.


    „Ja... Das war so nicht ganz geplant gewesen...“ gestand er ein und grinste dann frech: „Da wird der kleine Ben sicher ganz schön enttäuscht sein, dass wir seinen Hund nicht wiedergefunden haben...“


    Auch die Chefin schnaubt jetzt belustigt. „Und die andere drei erst...“


    „Ah, der Große wird’s überleben. Aber stimmt... Die ganz kleinen werden sicherlich sehr enttäuscht sein...“ Er wog kurz den Kopf hin und her. „Wobei vier Kinder schon recht stattlich ist, oder? Da habe ich vielleicht ein bisschen übertrieben...“


    „Ein bisschen?“


    „Na gut... Vielleicht habe ich auch ein bisschen sehr übertrieben.“ Fux wurde wieder ernster als er hinzufügte:


    „Aber wir haben den Jungen da rausgeholt. Und das ist alles was zählt.“


    Anna nickte genauso ernst.

    Ja, das hatten sie. Und das war wirklich das Wichtigste. Bei den Gedanken an den Jungen lief es ihr erneut kalt den Rücken herunter. Diese Unmenschlichkeit, die ihm widerfahren war, ging ihr einfach nicht in den Kopf! Und einmal mehr alles nur wegen des verdammten Geldes!



    Das Erscheinen von Ben und Semir am Ende des Gangs holte sie jedoch aus diesen düsteren Gedanken und sie sah ihren Kommissaren entgegen.

    Semir baute sich vor ihr und André auf und sah kritisch vom einem zum anderen.


    „Keine Alleingänge, ja? Das hat ja wieder richtig gut geklappt!“


    Die Chefin hob erstaunt die Augenbrauen und sah ihren Hauptkommissar perplex an.

    War das nicht eigentlich ihr Text?

    Auch der junge Kommissar Jäger stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihnen und sah sie tadelnd an.


    „Hach ja... Wie schnell die Kleinen doch Erwachsen werden.“ Seufzte André neben ihr theatralisch. „Und dann fangen sie an dir auf der Nase herumzutanzen...“


    „Welche Kleinen?“, fragte Ben und sah zwischen seiner Chefin und dem Totgeglaubten hin und her, die Beide amüsiert grinsten. Als sich Anna an Semir wandte sah sie jedoch schon wieder ernster drein.


    „Sie haben recht Semir. Die Aktion war keine gute Idee. Aber es ist ja zum Glück und dank ihnen beiden, alles nochmal gut gegangen. Es wird aber nicht wieder vorkommen.“ Nun war es Gerkhan, der schmunzelte. Das war eigentlich sein Text...


    „Wie geht es dem Jungen?“ Fragte Fux nach einer kurzen Pause.


    „Er liegt jetzt zur Beobachtung auf der Kinderintensiv, ist aber stabile und die Ärzte sind einigermaßen positiv gestimmt.“

    Anna und André nickten beide erleichtert. Das war immerhin ein Hoffnungsschimmer.

    Zeit zum Verschnaufen hatten sie aber noch nicht ganz.


    „Wir müssen uns alle zusammen mit Herrn Berthold Unterhalten. Und zwar sofort.“ Verkündete die Chefin schließlich. „Bringen sie ihn bitte auf die Dienststelle?“ Das galt Semir und Ben. An André gewandt sagte sie: „Bereit, langsam wieder in die Welt der Lebenden zu treten, Herr Fux?“






    15. April 2004


    PAST, 17:00 Uhr



    André war im Wagen der Chefin hinter Ben und Semir hergefahren, die Albert Berthold dabeihatte.

    Schon auf der Fahrt hatte Anna Fux von ihrer Unterhaltung am Morgen mit Berthold erzählt. Und dem ‚Angebot‘ was sie ihm unterbreitet hatte.


    Er war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte.

    Auf der einen Seite war er durchaus sehr positiv überrascht, dass sie sich schon jetzt derart für ihn einsetzte.

    Auf der anderen Seite überkam ihn umgehend ein schlechtes Gewissen.

    Albert hatte ihm das Leben gerettet und ihm die letzten fünf Jahre seines Lebens einen Job und ein Dach über dem Kopf gegeben.


    Im Augenblick war es jedoch noch wichtiger, was sie mit Van Beust machen sollten. Er hatte mit Sicherheit schon Verdacht geschöpft, dass etwas nicht stimmte. Und sie mussten sich Gedanken machen, was sie Neumann vom LKA erzählen wollten.

    Am nervösesten machte ihn jedoch die Tatsache, dass er zum ersten Mal seit fünf Jahren das Revier der Autobahnpolizei wieder betreten würde und einem Großteil seiner ehemaligen Kollegen begegnen würde...



    André stellte den Motor des Lexus ab und ließ seinen Blick über den Parkplatz vor der PAST schweifen. Gleich neben ihm stand der Polizei Porsche und weiterer Streifenwagen.

    Im Rückspielgel konnte er ein Paar der Buchstaben erkennen, die das markante Schild mit der ‚Autobahnpolizei‘ formten.

    Es kam ihm alles sofort unglaublich vertraut vor. Fast, als wäre er nie weg gewesen. Fux beobachtete Semir und Ben, die schon ausgestiegen waren und nun mit Berthold durch den Eingang der PAST in das Gebäude gingen.


    „Nervös?“ Die Frage vom Beifahrersitz holte ihn in das Hier und Jetzt zurück und Fux antwortete reflexartig:


    „Nein!“ Nur um sofort ertappt zu grinsen und sich zu verbessern. „Also... Ja, schon. Aber nur ein bisschen!“


    „Möchten sie lieber im Auto warten?“ Die Chefin musterte ihn von der Seite.


    „Nein... Nein, ganz sicher nicht.“ Er straffte die Schultern und öffnete schließlich die Fahrertür.


    15. April 2004


    Rheinbach Wald, 12:21 Uhr




    Vor der Hütte lieferten sich Ben und Semir derweil eine Schießerei mit dem vierten Verbrecher, der versuchte zu entkommen.

    Dabei war es dem Man gelungen ein großkalibriges Maschinengewehr aus dem vor der Hütte parkenden Jeep zu holen.


    „Wo kommt das Ding denn jetzt her?“, beschwerte sich Ben lautstark, während er und Semir hinter einem Baumstamm auf dem Boden kauerten, während unzählige Kugeln in ihre Richtung flogen.


    „Ja, aus dem Auto kommt das!“


    „Ja scheiße auch!“ Gerkhan konnte seinem jungen Kollegen nicht widersprechen! Das war scheiße! Das jetzt dichter schwarzen Qualm anfing aus der Hütte aufzusteigen, war allerdings auch scheiße.

    Und das ihnen langsam die Munition ausging, war noch viel beschissener!


    „Wie viel Schuss hast du noch?“, fragte Semir, während er sein eigenes Magazin überprüfte.


    „Vier! Du?“


    „Drei!“ Der Deutschtürke schüttelte missbilligenden den Kopf. Das war eindeutig zu wenig!


    Ben sah sich bereits fieberhaft um, da er wusste, dass sie sich etwas einfallen lassen mussten. Und das schleunigst! Mit sieben Kugeln kamen sie nicht weit.

    Er wandte sich um und blickte entlang des Waldwegs, über den der Jeep gekommen war. Hatte er im Vorbeirennen nicht einen Stapel Baumstämme gesehen, die am Wegrand lagerten...?

    Jäger dachte kurz nach, war sich dann aber ziemlich sicher, dass er in der Tat einen Stapel gesehen hatte.


    „Ich habe eine Idee Semir! Gib mit zwei Minuten und dann lass den Kerl wegfahren!“


    „Bitte was...?“ Ihn wegfahren lassen? Gerkhan war durchaus verwirrt, konnte aber nicht mehr nachfragen, da Ben ihm seine Dienstwaffe dagelassen hatte und schon durchs Unterholz verschwand.


    Semir hoffte inständig, dass sein junger Kollege wusste, was er da tat...




    In der kleinen Hütte brannte mittlerweile nicht nur der Vorhang, sondern auch das Sofa hatte bereits Feuer gefangen, genau wie neben den Kamin lagerndes Brennholz.

    Der dadurch entstehende Rauch ließ die Augen der Chefin tränen und sie musste immer wieder husten, als sie einen kleinen Tisch mit mehrfach mit aller Kraft vor das Schloss der verschlossenen Tür schlug.

    Ihr recht stark blutenden Hände machte es ihr jedoch immer schwerer den Tisch richtig zu greifen. Außerdem tat es höllisch weh.

    Anna hoffe inständig, dass das Schloss jetzt nachgeben würde, als sie den Tisch beiseite warf und stattdessen mit dem Fuß knapp unter die Türklinke trat.

    Beim dritten Tritt gab das Holz endlich nach und die Tür flog mit einem Krachen auf.


    Sofort schlug der Polizistin ein unangenehmer Geruch entgegen, den sie selbst durch den immer dichter werdenden, beißenden Rauch wahrnahm.

    Der kleine, dunkle Raum, war nicht viel größer als eine Abstellkammer, in den nicht viel mehr hereinpasste, als die am Boden liegende Matratze und ein in einer Ecke stehenden Eimer.

    Der Anblick, des auf der Matratze kauernden, abgemagerten Junge, der offensichtlich nicht bei vollem Bewusstsein war, ging Anna umgehend durch Mark und Bein und trieb ihr Zornesröte auf die Wangen!

    So umsichtig wie es in der Situation möglich war, trat sie an das Kind heran.


    „Salute Arnaud. Je m’appelle Anna...“ stellte sie sich kurz mit einem Lächeln vor, auch wenn sie sich nicht sicher war, dass er sie überhaupt verstand. „Je suis une officier de police et je suis là pour aider!“


    Die Chefin konnte die Hitze des sich schnell ausbreitenden Feuers mittlerweile im Rücken fühlen und wusste, dass sie sich beeilen musste.

    Sie hustete erneut, schaffte es aber den Jungen schon beim ersten Versuch hochzuheben und ihn sich halb über die Schulter zu legen.

    Der Rauch war inzwischen so dicht, dass sie die Tür, die ins Frei führte, kaum noch sehen konnte.


    Anna nahm eine Bewegung zu ihrer rechten wahr und fürchtete schon, dass einer der Verbrecher auf sie zukam, nur um in der nächsten Sekunde das blutige Gesicht von André zu erkennen. Umgehend fühlte sie, wie das Gewicht des Jungen von ihren Schultern genommen wurde und sie halb blind vom Rauch mit Fux in Richtung Ausgang stolperte.


    Die frische Luft einzuatmen, die ihnen entgegenschlug, als sie ins Freie taumelten, war unbeschreiblich!




    Bens Plan, den Jeep fahren zu lassen und ihn nicht weiter aufzuhalten stellte sich als goldrichtig heraus, musste Semir in dem Moment feststellen!

    Hätte sie das nicht getan, wären Fux und die Chefin, die soeben mit dem Jungen aus der inzwischen im Vollbrand stehenden Hütte herauskamen, vermutlich in den offenen Kugelhagel des Maschinengewehrs gelaufen!


    Wie Ben es ihm gesagt hatte, hatte Semir keine 30 Sekunden zuvor aufgehört auf den Typen zu schießen der daraufhin sofort die Chance zur Flucht mit dem Jeep genutzt hatte.

    Ein Stück den Weg hinunter hatte Ben jedoch in Rekordzeit herausgefunden, welchen der am Wegrand liegenden Baumstämme, er als erstes ins Rollen bringen musste, damit ein paar weitere Folgen würden.

    Und genau das tat er, als der Geländewagen in seine Richtung raste:


    Mit aller Kraft stemmte er sich gegen einen der Stämme und brachte ihn schließlich in Bewegung. Dabei wäre er fast noch selber von den nachfolgenden Baumstämmen erfasst worden, konnte sich aber noch gerade so mit einem Satz in Sicherheit bringen.

    Der Fahrer des Jeeps hatte weniger Glück:


    Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu Bremsen oder auszuweichen und wurde im Auto von den Tonnenschweren Stämmen überrollt. Ben hatte sich ordentlich ins Zeug gelegt und anstelle von ein paar Stämmen, waren gleich alle ins Rollen gekommen.

    Das war so nicht geplant gewesen, aber Ben hatte nur sehr wenig Mitleid mit dem Verbrecher, dessen Leiche nun in dem Autowrack eingeklemmt war.




    Als Jäger wieder vor der lichterloh brennenden Hütte ankam, hatten sich die anderen drei schon so gut es ging, um den halb bewusstlosen Jungen gekümmert.

    Es war deutlich, dass er schnellstens ins Krankenhaus musste und bei seinem Anblick hatte Ben noch gleich weniger Mitleide mit den vier Verbrechern, die ihre Begegnung mit ihnen alle nicht überlebt hatten.


    Aber wer einem wehrlosen Kind gegenüber derart grausam war, hatte nichts Besseres verdient!


    Arnaud war abgemagert, halb verdurstet und hatte anscheinen hohes Fieber, was wohl durch die so gut wie nicht versorgte Wunde an seiner linken Hand kam, an der sie ihm stümperhaft den Finger abgetrennt hatten.




    15.April 2004


    Rheinbach Wald, 12:17 Uhr



    Ben und Semir kamen gerade noch rechtzeitig am Rande der kleinen Lichtung an, auf der die Hütte stand, dass sie sehen konnten wie Fux und ihre Vorgesetzte mit hinter den Köpfen verschränkten Händen unsanft in die Hütte bugsiert wurden, während man zwei Waffen auf sie richtete.


    „Ich hab‘s gewusst! Dieser Idiot! Ich trete denen so dermaßen in den Hintern!“ brummte Gerkhan.


    „Wem genau? Fux oder der Chefin?“


    „Beiden!“


    Ben verzog kurz belustigt den Mund. Das würde er zu gerne sehen...!

    Dann sagte er:

    „Ich werde dich sicher nicht aufhalten, aber dafür müssen wir uns was einfallen lassen, wie wir sie da wieder herausbekommen... Immer hin wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind!“


    Das war sie eindeutig, ja! Kurz darauf hörte Semir, Ben hinter sich fluchen: „Kein Netz! Verstärkung wird also schwer!“

    Das war ja wieder klar... Wenn es wichtig war, hatte man natürlich keinen Empfang! Typisch!


    „Na dann muss Onkel Semir wohl wieder alleine den Tag retten...“, murmelte Gerkhan, fügte dann aber noch gnädig hinzu: „Und du darfst helfen, Jäger!“


    „Das ist aber nett, dass ich helfen darf...“ Ben wirkte leicht pikiert, während sie ein Stück näher an die Hütte heranpirschten.


    Als sie vorsichtig durch eins, der nicht von Fensterläden verschlossenen Fenster spähten, erkannten die Kommissare sofort das sie es mit ziemlich brutalen Schlägern zu tun hatten.

    Just in dem Moment als sie durch das Fenster ins Innere der Hütte sehen konnten, wurde Fux von einem der Typen eine kräftige Faust in den Magen gerammt und er krümmte sich vor Schmerzen.

    Und soweit sie sehen konnten, hatte auch die Chefin schon eine blutige Nase.


    „Kannst du den Jungen irgendwo sehen?“ Ben schüttelte den Kopf. Der war vermutlich im Nebenraum, den sie nicht einsehen konnten.


    „Glaubst du da sind noch mehr Verbrecher im Haus als die vier?“


    Ben wog den Kopf hin und her. Es war möglich, aber sehr unwahrscheinlich, weshalb er nach kurzem Zögern sagte: „Ich denke nicht...“


    Während Semir noch fieberhaft überlegte, was sie am besten tun sollten, eskalierte die Situation in der Hütte in einer rasanten Geschwindigkeit!

    Die zwei Polizisten konnten nicht genau hören was gesagt, oder besser, was gebrüllt wurde aber von der einen auf die andere Sekunde wussten sie das sie handeln mussten.


    Und zwar sofort!




    Im Hauptraum der Hütte fing sich Fux einen weiteren Schlag in den Magen ein, während einer der Männer, vermutlich der Anführer, ihn zum zweiten Mal fragte, was sie hier taten und ob noch mehr Bullen in der Nähe waren.


    „Ich habe keine Ahnung wovon sie da reden... Wir haben unseren Hund gesucht... Balto!“ keuchte André und hatte trotz allem noch immer ein leicht herablassendes Grinsen auf den Lippen.


    „Natürlich... Es ist also purer Zufall das die kleine Bullenbraut hier uns gestern Abend kontrolliert hat und ihr heute hier vor der Tür steht!“ Der Kerl sah abfällig auf Fux herab, der keuchend auf dem Boden kniete.


    „Ein letztes Mal: Sind hier noch mehr Bullen?! Und wer schickt euch?!“


    „Willst du mich nicht verstehen? Wir sind hier zufällig spazieren gegangen...“ Der Kerl der Fragen stellte, bewegte sich mit einer rasanten Geschwindigkeit, als er ein Butterfly Messer aus seiner Hosentasche zog und mit dem offenen Messer auf die Chefin zu trat.

    Er packte sie grob in den Haaren und im nächsten Moment fühlte sie die scharfe Klinge an ihrem Hals.

    Bereits im nächsten Augenblick flossen die ersten Tropfen Blut, als der Verbrecher einige Zentimeter Haut dicht neben ihrer Halsschlagader anritzte.


    „Wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen will, du Penner, gibt’s hier gleich eine riesen Sauerei!“


    Und die Sauerei gab es tatsächlich.


    Allerdings ein wenig anderes als der Mann es gedacht hatte. Während Fux erstarrte und auch die Chefin sich keinen Millimeter mehr bewegte, handelten Ben und Semir!




    Die Polizisten waren beide erfahren genug, um zu sehen, wenn umgehendes Handeln ohne Zögern gefragt war!

    Weder Ben noch Semir hegten den kleinsten Zweifel daran, dass der Typ ihrer Chefin, ohne zu zögern, die Kehle aufschlitzen würde.

    Es kam ihnen in dem Moment enorm zugute, das sie sich blind und ohne Worte verstanden. Zeitgleich standen sie auf, legten an und schossen auf ihr jeweiliges Ziel!


    Die Kugeln schlugen durch die Scheibe und trafen Dead-Center!


    In Semirs Fall traf die von ihm abgefeuerte Kugel den Kopf des Mannes, der die Engelhardt festhielt und mit dem Messer bedrohte.

    Bens Kugel ging in die Brust des Mannes, der seine Waffe auf Fux richtete.


    Als Anna den Knall hörte, griff sie Reflexartig in die Klinge an ihrem Hals.

    Eine Bewegung, die ihr vermutlich das Leben rettete.

    Der Typ, der sie gerade noch festgehalten hatte, fiel wie ein nasser Sack in sich zusammen, während ein Teil seines Schädels und seines Gehirns sich an der nächstgelegenen Wand verteilte.

    Dabei riss er sie mit sich zu Boden und hätte ihr wohl den Hals aufgeschnitten.

    So schnitte die scharfe Klinge des Messers nur ihre Handflächen auf.


    Fux hatte sich in Windeseile aufgerappelt und auf eine der noch übrig gebliebenen Männer gestürzt, während Ben und Semir weitere Kugel durch die Fenster feuerten und so den vierten im Bunde zum Rückzug zwangen.

    Die Chefin rappelte sich nun ihrerseits auf und sah sich kurz um. Dabei blieb ihr Blick an einer Holztür zu ihrer linken hängen. Sie eilte darauf zu, nur um festzustellen, dass sie abgeschlossen war.


    André und der grobschlächtige Hüne, den sie nach ‚Balto‘ gefragt hatten, lieferten sich derweil eine heftige Schlägerei, in der keiner dem Anderen etwas schenkte. Aus dem Augenwinkel sah Anna mit wachsendem Entsetzen, das soeben einer der Vorhänge abgerissen wurde und sich ein Teil des Stoffes im Kamin verfing, in dem ein Feuer brannte, welches den Vorhang sofort entzündete.


    Das war nicht gut!



    15. April 2004


    Rheinbach Wald, 12:05 Uhr



    Keine 10 Minuten zuvor, waren Fux und die Chefin bei ihrer Suche ein wenig erfolgreicher gewesen als ihre zwei Kollegen.

    Sie waren einem Weg gefolgt, der zu einer recht verborgenen, kleinen Waldhütte führte. Vermutlich eine Jagd- oder etwas größere Schutzhütte.

    Sie waren vom Weg abgegangen und hatten sich vorsichtig durch das Unterholz genähert.


    „Scheint jemand da zu sein...“ André deutete auf den Rauch, der aus dem Schornstein kam und den man auch deutlich riechen konnte.

    Anna nickt und hatte schon nach ihrem Handy gegriffen, nur um festzustellen, dass der Empfang so gut wie nicht vorhanden war und der Anruf nicht zu Semir durchging.

    Das erklärte auch, warum Hartmut das Gebiet nicht näher hatte eingrenzen können...


    So ein Mist!


    „Wir sollten ein bisschen näher ran...“, murmelte Fux und spähte durch die Zweige.


    „Das halte ich für keine gute Idee! Wie wollen sie das anstellen?“ Die Chefin schüttelte mit dem Kopf, aber André war bereits eine Idee gekommen.


    „Wie heißt unser Hund?“


    „Was?“


    „Unser entlaufener Hund, wie soll der heißen?“ er grinste verschwörerisch und Anna begriff was er vorhatte. „Das ist keine gute Idee...“


    „Na kommen sie... Nur mal kurz gucken. Vielleicht ist ja auch doch niemand da. Ein Auto sehe ich nämlich nicht...“

    Anna war noch immer nicht begeistert, ließ sich aber von Andrés Tatendrang anstecken und nickte schließlich.


    „Also schön... Balto. Der Hund heißt Balto.“ Das war der erste Name, der ihr einfiel, da es ein Kinderbuch mit dem Titel gab, aus dem sie Leonie erst vor Kurzem vorgelesen hatte.


    „Gefällt mir. Balto unser entlaufener Schäferhund Welpe... Dann lass uns den mal Suchen gehen... Schatz!“


    Ohne zu zögern, griff er nach ihrer Hand und zog sie auf den Weg zurück, der zu der Hütte führte. Schon im nächsten Moment rief er laut: „Balto! Balot komm her!“

    Anna musterte ihn einen weiteren Moment ziemlich skeptisch, insbesondere ihre ineinander geschlungenen Hände, ließ sich mit einem letzten Kopfschütteln dann aber auch auf das Theater ein und rief ebenfalls nach ‚ihrem entlaufenen Hund‘...




    Sie mussten nicht lange auf eine Reaktion warten, schon als sie noch gut 15 Meter von der Hütte entfernt waren, öffnete sich, angelockt von ihren Rufen, die Tür und ein Mann trat heraus.

    Schon auf den ersten Blick wirkte er recht grobschlächtig und einfach gestrickt. Trotzdem hatte Anna kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie und Fux sahen nicht wirklich aus, als ob sie einen Waldspaziergang geplant hatten.


    Sie hatte heute Morgen zwar auf einen Hosenanzug verzichtet und stattdessen zu einer weniger formalen und bequemen dunkelblauen Jeans, sowie einem einfachen hellen Langarmshirt gegriffen, aber ihre flachen Lederschuhe waren eigentlich ganz eindeutig nicht für einen Waldspaziergang tauglich.

    Außerdem musste sie aufpassen, dass man ihre Waffe nicht unter der kurzen Übergangsjacke sah.

    Und auch Andrés Schuhe und der Rest seiner Kleidung sahen nicht wirklich nach Waldspaziergang aus...


    „Ah, hallo!“ ging Fux im nächsten Augenblick aber schon auf den Mann zu und hob eine Hand zum Gruß. Dabei zog er sie mit sich, da er noch immer ihre Hand festhielt.


    „Können sie uns vielleicht helfen? Meine Frau und ich suchen unseren Hund.“


    „Ich habe keinen Hund gesehen.“ Brummte der Fremde und musterte sie.


    „Oh nein! Sind sie sicher? Ein kleiner Schäferhund, Balto...“


    „Ich habe nichts gesehen.“ Wiederholte der Kerl und schien bereits ein wenig genervt zu sein. André ließ sich jedoch nicht beirren und ging noch ein Stück weiter auf ihn zu, dabei erklärte er gespielt verzweifelt.


    „Wir haben ihn noch nicht so lange und er hört noch nicht so gut. Er war das Geburtstagsgeschenk für unseren zweitältesten Sohn, Ben. Der ist vor zwei Wochen 12 geworden.“


    Die Chefin schaffte es nur mit großer Mühe und gerade soeben, einen verräterischen Laut zu unterdrücken.

    ‚Balto‘ war also ein Geburtstagsgeschenk für den kleinen Ben...

    Fux redete weiter wie ein Wasserfall und hatte dadurch die Aufmerksamkeit von dem jetzt offensichtlich genervten Kerl, der noch immer vor der offenen Tür stand.


    „Ich weiß überhaupt nicht, wie wir ihm das erklären sollen, wenn er nachher aus der Schule kommt und wir den Hund nicht gefunden haben!“ Er fuhr sich dramatisch durch die Haare.


    „Und die beiden kleinsten erst! Die Mädchen sind erst drei und fünf und werden mit Sicherheit untröstlich sein!“

    André sah kurz zur Seite und Anna machte jetzt auch ein sehr betretenes Gesicht.


    Die armen Kleinen...


    „Selbst der Älteste, Se-bastian wird da ganz schön dran zu knabbern haben...“


    „Das tut mir leid, aber ich habe keinen Hund gesehen!“ Der Typ schüttelte entschieden mit dem Kopf. Hinter ihm bewegte sich etwas und nun trat auch ein zweiter Mann aus der Hütte, der fragend in ihre Richtung sah.


    André wollte auch ihn nach dem Hund fragen, als sie das Geräusch eines sich zügig nähernden Wagens hörten.

    Alle vier Augenpaare sahen den Waldweg hinunter, auf dem sich jetzt ein Jeep näherte.


    Oh. Nein!


    Die Chefin drückte alarmiert Andrés Hand. Es war der Jeep, den sie am Abend zuvor angehalten hatte! Als er Sekunden später vor ihnen zum Stehen kam, erkannte sie auch die beiden Wachleute wieder. Und leider erkannten die sie auch sofort...

    Sie hatten keine drei Schritte gemacht, als die Beifahrertür aufflog und einer der Wachleute eine Pistole auf sie richtete.


    Um zu zeigen, das er es bitterernst meinte, schoss er in den Boden, keinen Meter von ihnen entfernt. Der Fahrer verkündete derweil an seine Komplizen vor der Hütte gewandt, dass sie ‚eine scheiß Bullenschlampe sei‘!


    Wie charmant...


    André neben ihr murmelte derweil: „Jetzt wäre Lassie ganz praktisch, die Hilfe holt...“


    15.April 2004


    Rheinbach Wald, 11:30 Uhr



    Noch in der Villa hatte es eine kurze Diskussion gegeben, ob Fux mit den drei Polizisten fahren würde oder nicht. Wobei es mehr eine pro Forma Diskussion gewesen war, da es sehr schnell feststand, dass er natürlich mitkommen würde.

    Camille und Albert Berthold würden sie ein Stück des Weges begleiten, damit sie, sollte der Junge sich tatsächlich in der Gegen aufhalten, wovon sie stark ausgingen, zügig dazu stoßen konnten, wenn das Kind in Sicherheit war.

    Bei der Suche würden sie allerdings nicht dabei sein, da man nicht zu 100 % ausschließen konnte, dass Leute von Van Beust, die Bertholds im Zweifelsfall erkennen könnten, sollten sie gesehen werden.


    Sie hatten sich das von Hartmut markiertes, infrage kommende Gebiet angeschaut und bereits einen Teil für eher unwahrscheinlich markiert, da es dort einen großen Parkplatz und viel genutzte Wanderwege gab.

    Trotzdem war das etwas weiter abseitsgelegene Waldstück, das infrage kam, noch immer recht groß und vor allem recht unübersichtlich.

    Sie parkten die Wagen am Rande eines Waldwegs, der etwas breiter war als die anderen.

    Um Bens Dienstwagen versammelte sich die vierer Gruppe, um einen letzten Blick auf die Karte zu werfen und ihr Vorgehen ein letztes Mal zu besprechen.


    „Wir sollten uns aufteilen.“ Schlug Semir vor und zeigte auf zwei unterschiedliche Bereiche der Karte. „So kommen wir schneller voran und können mehr Boden gut machen.“


    „Also schön, aber keine Alleingänge! Wenn sie etwas finden, machen sie Meldung und warten!“ mahnte die Chefin.


    „Jaaa...“ kam es unisono von Ben und Semir, die zusammen losziehen würden.


    „Ich meine das ernst! Keine. Alleingänge!“ Die Kommissare nickten erneut, während Fux im Hintergrund in ihre Richtung feixte. Das stellte er jedoch sofort ein, als sich die Chefin zu ihm umdrehte.



    ***



    Ben und Semir waren eine gute halbe Stunde in die eine Richtung unterwegs gewesen, als der Waldweg, auf dem sie liefen, so eng wurde, dass es für ein Auto kein Durchkommen mehr gab.


    „Ich glaube nicht, dass wir hier weitersuchen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ein Versteck gewählt haben, das man nicht mit dem Auto erreichen kann.“ Verkündete Ben und deutete hinter sich.


    „Da war vor ein paar hundert Metern eine Abzweigung. Lass es uns da mal versuchen.“


    Semir nickte zustimmend und lief weiter neben seinem jungen Partner her.


    „Ganz schön beschissene Situation...“, sagte Ben schließlich.


    „Was meinst du genau?“


    „Na ja, in der Haut von diesem Berthold will ich nicht stecken. Aber auch für deinen ehemaligen Kollegen sieht es nicht rosig aus. Immerhin war er an den Raubüberfällen beteiligt.“ Ben sprach damit etwas an, über das Semir schon die letzte Nacht gegrübelt hatte. „Ne, das ist alles ziemlich bescheiden...“ stimmte er zu.


    „Glaubst du, wir können ein gutes Wort für ihn einlegen?“ Bei den Worten musste Semir unwillkürlich lächeln.

    Ben kannte Fux erst seit ca. 48 Stunden und war dennoch bereits bereit ihm zu helfen. Eine Eigenschaft, für den man ihn einfach nur mögen und ihm vor allem großen Respekt zollen musste.


    „Mal schauen, was wir tun können. Wir sollten uns jetzt-“ Semir brach abrupt ab, als Jäger ihn plötzlich am Arm festhielt und von dem Weg tiefer in den Wald hineinzog.

    In der nächsten Sekunde hörte Semir, was Ben ein paar Sekunden vor ihm gehört hatte. Das Motorengeräusch eines Autos.


    „Ist hier nicht eigentlich autofreie Zone?“, fragte Ben und sah sich um. Dabei versuchte er zu hören, von wo das Geräusch kam.


    „Eigentlich schon, ja! Vielleicht der Förster?“ Gerkhan glaubte seinen eigenen Worten jedoch nicht so recht. Das wäre ein komischer Zufall und er vermutete eher, dass es jemand anderes war.


    „Da drüben!“ Ben deutet auf einen an Semir vorbei zwischen den Bäumen hindurch.


    In knapp 100 Metern Entfernung konnte er einen Geländewagen erkennen, der einen dort verlaufenden Weg entlangfuhr. Die Polizisten sahen sich kurz an und nickten zeitgleich. Entschlossen setzten sie dem Wagen nach.

    Der nasse, rutschige Boden, der über und über mit Moos und umgefallenen Bäumen oder abgebrochenen Ästen übersät war, machte ihnen das Vorankommen recht müßig.

    Dadurch war der Gelände wagen schon wieder außer Sichtweite, als sie endlich den Weg erreichten, auf dem das Auto fuhr.

    Ben und Semir waren den Weg erst wenige Meter weit gelaufen, als sie erschrocken zusammenfuhren!


    Mehrere Hundert Meter vor ihnen fielen Schüsse!


    Ohne zu zögern begannen die Kommissare so schnell zu rennen, wie es ihnen möglich war. Allerdings schaffte es Semir dabei wie ein Rohrspatz zu schimpfen:


    „Klar! Keine Alleingänge!“ äffte er mit etwas höherer Stimme als normal. „Wetten das war André? Der ist nämlich Experte für die dümmsten Alleingänge, die du dir vorstellen kannst! So ein Idiot!“



    15. April 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 07:49 Uhr




    „Mama... Mama!“


    Anna brauchte etwas länger, bis sie schläfrig blinzelte und die kleinen Kinderhände registrierte, die sachte an ihrer Schulter wackelten.

    Erst jetzt hörte sie auch das Handy, das auf dem Nachtisch klingelte und das Leonie lange vor ihr gehört hatte.
    Ein wenig unbeholfen tastete sie nach dem Telefon und schaffte es schließlich auf den grünen Hörer zu drücken.


    „Ja?“, fragte sie und schaffte es dabei nicht ein Gähnen zu unterdrücken.


    „Morgen Chefin, Semir hier. Entschuldigung das ich so früh störe, aber Hartmut und dieser andere Kerl habe vielleicht etwas.“


    „Nein, ist schon okay... Ich hatte ja gesagt sie sollen sich jederzeit melden.“ Wehrte die Chefin ab, während Leo kichernd neben ihr hockte und mit ihren Haaren spielte.


    Sie fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und fügte hinzu: „Ich komme so schnell wie möglich...“

    Wenn Leo ihr allerdings weiter Knoten in die Haare machte, konnte das eine Weile dauern...


    Letztlich schaffte sie es dann aber doch, sich in Rekordzeit fertig zu machen, darum zu kümmern das ihr Vater vorbeikam, damit die Tochter versorgt war und hatte Leonie auch noch Frühstück gemacht.

    Eine gute Stunde nach dem Anruf parkte sie bereits vor der Villa bei Pulheim.


    Im Haus stellte sie fest, dass ihre Kollegen und Fux so müde aussahen, wie sie sich fühlte. Die sechs Becher frischen Kaffee, die sie auf dem Weg noch besorgt hatte und jetzt in einem Pappbecherhalten balancierte, fanden deshalb reißenden Absatz. Für Hartmute hatte sie sogar extra an einen Latte Macchiato gedacht, den dieser mit großen Augen entgegennahm.


    „Danke...“


    „Dafür nicht. Was haben sie herausgefunden?“


    „Wir hatten gehofft, dass sich die Kerle vielleicht Nachrichten mit dem Standort oder Hinweisen darauf geschickt haben- So dumm waren sie leider nicht, was die Sache ein wenig komplizierter gemacht hat. Insbesondere, weil die Handys auch über keine GPS-Empfänger verfügen.“ Hartmut nahm einen Schluck Kaffee und kratzte sich ein wenig unschlüssig am Kopf, wie er am besten weiter machen sollte.


    „Wir haben noch ein paar andere Dinge ausprobiert, das will ich jetzt aber nicht alles erklären. Letztlich sind wir mit der guten alten Triangulierung weitergekommen.“ Er tippte ein paar Befehle in seine Tastatur und der Bildschirm vor ihm zeigte im nächsten Moment eine Karte, auf der sich zig Punkte in verschiedenen Farben befanden.


    Auch Ben, Semir und André standen mittlerweile hinter Hartmut und besahen sich das Werk der Computer-Genies.


    „Die verschiedenen Farben stehen für die unterschiedlichen Benutzer der Handys. Rot ist Van Beust, Blau sein Fahrer. Grün und Gelb die Leute vom Wachschutz. Da es triangulierte Positionen sind, sind sie natürlich nicht ganz genau. Aber es fällt auf, dass die Kerle vom Wachschutz regelmäßig in diese Gegen fahren.“


    Freund deutet auf einen Bereich auf dem Monitor, der abseits der anderen lag. „Hier, in den Rheinbach Wald südwestlich von Bonn.“ Er wischte sich über die müden Augen.


    „Ich weiß natürlich nicht, ob das wirklich eine Spur ist, aber wir haben alle anderen Orte mit bekannten Adressen von ihnen oder von Kunden von Van Beust abgeglichen. Und das ist der einzige Bereich, der keinen Sinn ergibt, warum sie dahinfahren sollten. Sie machen es übrigens auch erst seit kurzem. In etwa der Zeit, seit der Junge entführt worden ist.“


    „Das ist fantastische Arbeit, Hartmut!“, lobte Anna ehrlich beeindruckt und auch Ben pfiff anerkennend. „Respekt, Einstein!“


    „Gibt es in dem Waldgebiet irgendwelche Häuser oder so etwas?“, fragte Semir.


    „Da sind wir noch dran... Bis jetzt haben wir noch nichts Auffälliges gefunden.“


    „Habt ihr eine detaillierte Karte von dem Gebiet?“, fragte Ben.


    „Ja, kann ich euch fertig machen.“





    Albert Berthold hatte sich bis jetzt vollständig im Hintergrund gehalten, trat jetzt aber zu ihnen ins Wohnzimmer.

    „Worauf warten sie noch? Wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt, das mein Sohn da irgendwo ist, dann müssen wir ihn sofort suchen gehen!“


    „Das haben wir vor zu tun, aber erst müssen wir zwei uns noch mal unterhalten!“ Die Stimme der Chefin nahm beim Anblick von Berthold sofort einen unglaublich scharfen Ton an und Fux spekulierte schon darauf, dass sie ihm noch mal eine verpassen würde.


    „Kann das nicht warten bis-“


    „Nein!“


    Ben, Semir und André machten sich schon mal daran, sich die Karten, die Hartmut ihnen soeben ausgedruckt hatte, genauer anzuschauen, während die Chefin mit Berthold in der Küche verschwand.


    „Kann man die da so alleine lassen...?“, murmelte Ben und warf einen kurzen Blick in Richtung Küche.


    „Willst du dich da einmischen?“, frage Semir und grinste schief.


    „Ne... Ich dachte da eher an dich, Partner.“ Semir schnaubte und zeigte seinem Jungen Kollegen einen unmissverständlichen Vogel.


    „Feiglinge... Alle beide!“ kommentierte Fux prompt mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.


    „Ah, schau an! Ein Freiwilliger...“ konterte Ben schlagfertig.



    ***



    Nachdem sie die Küchentür hinter sich geschlossen hatte, kam Anna ohne Umschweife zum Punkt.

    Eine Sache, über die sie bis um 04:00 Uhr in der Früh nachgedacht hatte, war, wie es nach dem ganzen Mist hier weiter gehen würde.

    Und wie sie es auch drehte und wendete, für André sah es nicht gut aus, hatte er sich doch einiges zuschulden kommen lassen.

    Auch, wenn es in bester Absicht gewesen war.


    „Ich weiß nicht, was André Fux in den letzten fünf Jahren alles getan hat, während er anscheinend für sie gearbeitet hat und nicht wusste, wer er war oder ist. Und eigentlich ist es mir auch egal. Was mir nicht egal ist, ist das er durch ihre Fehler in die beschissene Lage gekommen ist, wo wir uns jetzt befinden!“


    Anna deute mit dem Finger in Richtung Wohnzimmer.


    „Der Mann da draußen, der sich langsam wieder daran erinnert, wer er bis vor fünf Jahren war, hätte so einem bescheuerten Plan niemals zugestimmt und eine bessere Lösung gefunden! Und er hat es nicht verdient, dass sie ihn jetzt mit in den Abgrund reißen!“


    Albert Berthold nickte mit gesenktem Kopf.

    Er wusste zwar nicht, wer ‚André Fux‘ war, aber ‚Renard‘ war ein guter Mensch, der ihm mehr als einmal geholfen hatte.


    „Nein, das hat er wirklich nicht verdient...“, murmelte der Geschäftsmann.


    „Gut für sie, dass wir uns in dem Punkt einig sind.“ Die Chefin wartete, bis er ihr wieder ins Gesicht sah und fuhr dann fort:


    „Und deswegen werden sie alles Schuld auf sich nehmen und Fux aus allem raushalten.“ Albert sah sie etwas ungläubig an.


    „Es ist mir egal wie sie es anstellen, aber sie werden es so aussehen lassen das André weder von den Überfällen wusste noch daran beteiligt war! Haben sie das verstanden? Sollte es noch andere, illegale Dinge geben, die auf Fux zurückfallen könnten, werden sie auch dafür die Schuld auf sich nehmen!“ Berthold starrte sie mit offenem Mund an.


    „Wenn sie das tun, werde ich dafür sorgen, dass auch ihre Frau aus der ganzen Sache herausgehalten wird und man sie nicht belangt. Sie wird mit ihrem Sohn das Land verlassen könne. Sollten sie sich allerdings weigern, wird genau das Gegenteil passieren und ich werde dafür sorgen, dass sie für alles mitverantwortlich gemacht wird und gemeinsam mit ihnen in den Bau wandert! Was dann aus ihrem Sohn wird, können sie sich ja denken... Ich bin mir sicher, dass die französischen Kinderheime ebenso trostlos sind, wie die deutschen!“


    Dass dieser Deal alles andere als fair war, ganz im Gegenteil, sogar ziemlich mies und gemein, war der Chefin durchaus bewusst.

    Dass sie niemals so skrupellos war und so weit gehen würde, einem Kind ein derartiges Schicksal aufzuzwingen, brauchte Berthold in dem Moment auch nicht zu wissen...

    Ihre Wut auf ihn war noch immer recht ordentlich und diente als perfektes Cover.


    Der Mann starrte sie noch einen Augenblick lang an und versuchte einzuschätzen, ob sie es tatsächlich ernst meinte.

    Aber genau wie Anna es gehofft hatte, missdeutete er die Wut in ihren Augen als bittere Entschlossenheit und Kaltherzigkeit.


    Also nickte er schließlich niedergeschlagen.


    „Wunderbar. Schön zu sehen, dass sie immerhin in dem Punkt vernünftig sind.“



    Donnerstag, 15. April 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 00:50 Uhr




    Obwohl sie recht müde war, konnte Anna auch die dritte Nacht in Folge nur schlecht einschlafen und lag noch immer wach.

    Während sie an die Decke des Schlafzimmers starrte, strich sie immer wieder gedankenverloren über den Kopf von ihrer Tochter, der auf ihrer Brust lag. Gleichzeitig fühlte sie den ruhigen, gleichmäßigen Atem des jetzt friedlich schlafenden Kindes, an ihrem Hals.


    Als sie um kurz nach halb zehn nach Hause gekommen war, hatte Leo schon geschlafen.

    Auch wenn sie es eigentlich nicht vorgehabt hatte, hatte sie sich noch eine gute Stunde mit ihrem Vater unterhalten und ihm einige von den Dingen, die seit Montag passiert waren, erzählt. Schlicht, weil sie jemanden zum Reden brauchte und das Erzählen der Geschehnisse sie ein wenige realer machte.

    Sie hatte sogar ansatzweise versucht die ausgestandene Angst vom Vormittag in Worte zu fassen, was ihr jedoch mehr schlecht als recht gelungen war.


    Die Unterhaltung war jäh unterbrochen worden, als Leonie mit verweinten Augen und ihrem Stoff-Adler unterm Arm barfuß aus dem Kinderzimmer gekommen war.

    Sie hatte schlecht von Männern mit Masken geträumt.


    „Mama kann ich in deinem Bett schlafen...?“


    „Natürlich kannst du das, mein Engel!“


    Ihr Vater war danach zwar nach Hause gegangen, hatte aber mehrfach betont das Anna jederzeit anrufen konnte, wenn sie etwas brauchte. Da er selber nur zehn Gehminuten entfernt wohnte, konnte er innerhalb kürzester Zeit da sein.



    Leonie bewegte sich im Schlaf ein wenig und Anna nutze die Gelegenheit sie vorsichtig auf das Kopfkissen neben sich zu legen, um kurz aufzustehen und leise in die Küche zu gehen, wo sie sich ein Glas Wasser nahm.

    Während sie an der Arbeitsplatte lehnte und einen weiteren Schluck trank, fiel ihr Blick auf die Digitaluhr auf dem Küchentresen gegenüber, die neben der Zeit auch das Datum anzeigte.


    15. April... unwillkürlich musste sie leicht erstaunt mit dem Kopf schütteln.


    Wow!


    Fux hatte wirklich ein erstaunliches Timing, genau jetzt von den Toten aufzuerstehen.

    Es war einige Jahr her, dass sie das letzte Mal an die Nacht, vor auf den Tag genau, fünf Jahren gedacht hatte. Sich gefragt hatte, wie es dazu gekommen war.

    Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war sie sich sicher, dass sie vor vier Jahren das letzte Mal wirklich darüber nachgedacht hatte, als sie ähnlich wie jetzt, nachts wach gewesen war.


    Damals hatte sie allerdings nicht wach gelegen, weil sie nicht einschlafen konnte, sondern weil das vier Monate alte kleine Bündel Leben gestillt werden wollte.


    Sie war schon vor vier Jahren zu der Einsicht gekommen, dass sie André besser hatte leiden können, als sie es sich zu seinen ‚Lebzeiten‘ eingestehen wollte und es vermutlich nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis das, was dann passiert war, passieren musste.

    In dem Zusammenhang hatte sie sich auch dir Frage gestellt, was wohl geschehen wäre, wenn er von Mallorca zurückgekommen wäre...

    Darauf hatte sie allerdings nie eine Antwort gefunden, außer, dass es wohl fürchterlich kompliziert geworden wäre.


    Und genau so war es jetzt ja auch:

    Fux war nach all der Zeit von Mallorca zurückgekommen und es war unglaublich kompliziert!

    Wenn auch etwas anders, als sie es sich vorgestellt hatte.

    Anna seufzte und leerte das Wasserglas in einem Zug, ehe sie es in die Spüle stellte und zurück ins Schlafzimmer ging, wo Leonie mittlerweile quer im Bett lag.


    Sie hob amüsierte die Augenbrauen.


    Ein weiteres Mysterium dieser Welt! Wie schaffte es ein kleines Wesen, das noch nicht mal ganz einen Meter groß war, derart viel Platz einzunehmen?





    Villa am Stadtrand von Köln, 00:10 Uhr




    20 Kilometer Luftlinie von der Wohnung in Marienburg entfernt, konnten auch die Kommissare und André Fux nicht schlafen.

    Während Hartmut und Araignée im Wohnzimmer arbeiteten, saßen die anderen Drei in der Küche.


    „Sind Bonrath und Herzberger noch bei der Autobahnpolizei?“, fragte Fux interessiert.


    „Allerdings! Es hat sich eigentlich kaum etwas verändert. Drei Kollegen sind in Rente gegangen und der Grünschnabel hier“ Semir grinste Ben an „ist dazu gekommen.“


    André sah kurz zu Ben und grinste ebenfalls. „Auf mich macht der junge Mann gar nicht einen so grünschnäbeligen Eindruck...“


    Gerkhan wog gespielt nachdenklich den Kopf hin und her, während Jäger triumphierend grinste und sagte:


    „Hör gut zu Semir! André hier scheint ein sehr kluger Mann zu sein!“


    „Ja, ja... Ich sag ja: Noch völlig grün hinter den Ohren und hat keine Ahnung...“ feixte Gerkhan jetzt.


    „Ist Andrea auch noch da?“, fragte Fux und unterband damit ein weiteres Hin und Her zwischen den Polizisten.


    Semir grinste breit und antwortete höchst zufrieden: „Du meinst Andrea, die zukünftige Frau Gerkhan?“


    Nun war es André, der große Augen bekam. „Nein! Nicht dein Ernst!“


    „Oh doch!“


    „Hmm... Hast dann aber schon ganz schön lange gebraucht...“ Er lachte, fügte aber sofort hinzu: „Das freut mich wirklich für euch!“ Er lächelte Semir an, wurde aber Stück für Stück nachdenklicher und sagte schließlich: „Ganz schön viel passiert...“


    Das war für Ben wie ein Stichwort und er sah kurz zwischen den ehemaligen Kollegen hin und her, ehe er aufstand und in Richtung Wohnzimmer deutete.

    „Ich schau mal was Einstein da so treibt...“ Damit gab er ihnen die Gelegenheit sich in Ruhe unter vier Augen zu unterhalten.



    „Ja... Es ist ganz schön viel passiert...“ Sagte jetzt auch Semir und wirkte dabei genauso nachdenklich wie Fux, bis er diesen fragte:


    „Was ist vor fünf Jahren passiert? Wir... Ich habe lange nach dir gesucht...“


    „Ja ich weiß. Ich habe davon in einem Zeitungsartikel gelesen. Was genau passiert ist, kann ich dir nicht sagen. Also nicht alles. Nachdem ich ins Meer gefallen bin, muss ich wohl abgetrieben sein oder so etwas. Albert Berthold hat mich noch am selben Abend aus dem Meer gefischt.“


    Fux erzählte von seiner Rettung und wie er letztlich bei den Bertholds gelandet und geblieben war.


    „Ich konnte mich an überhaupt nichts erinnern und wusste nicht, wo ich hingehöre. Ich wusste nur, dass mich wohl jemand tot sehen wollte und es vielleicht gefährlich sein könnte, weitere Nachforschungen über meine Identität anzustellen. Also habe ich es bleiben lassen. Wenn ich gewusst hätte das...“ er brach ab und warf Semir einen prüfenden, gleichzeitig fragenden Blick zu.


    „Wenn du was gewusst hättest?“, fragte sein Gegenüber auch gleich nach und André versuchte einzuschätzen wie viel Gerkhan wusste.


    Semir tat genau dasselbe bei ihm.

    Auch er versucht einzuschätzen, was sein Ex-Partner schon alles wusste und keiner traute sich etwas preiszugeben.


    „Na ja, wenn ich gewusst hätte, dass ich eigentlich ein ganz anständiges Leben hatte, in das es sich gelohnt hätte, zurückzukehren.“ Sagte André schließlich ziemlich ausweichend.


    „Hmm...“ Es war Semir anzusehen, dass er es ihm nicht abnahm, dass er das hatte sagen wollen.


    Leicht unangenehmes Schweigen machte sich in der Küche breit, bis Fux schließlich möglichst beiläufig sagte:


    „Ich war ziemlich überrascht, als ich erfahren habe das die Chefin, also ich meine die Engelhardt, eine Tochter hat...“


    „Hmm...“ machte Semir wieder, fügte dann aber hinzu: „Ich war vor fünf Jahren ziemlich überrascht, als sie erzählt hat, dass sie schwanger ist...“


    „Hmm...“ war es nun von André zu hören. „Ja, das glaube ich dir. Kam wohl recht unerwartet...“


    Es war mittlerweile recht deutlich, dass sie beide um den heißen Brei herumtanzten. Semir war es, der schließlich der als erstes hinter seiner Deckung hervorkam:


    „Noch viel geschockter war ich, als ich erfahren habe, wer der Vater des Kindes ist...“


    „Ja, ich auch!“ pflichtete Fux sofort bei.



    Die Männer sahen sich einen Augenblick lang an, ehe sie sich ein belustigtes Schmunzeln nicht mehr verkneifen konnten und gleichzeitig mit dem Kopf schüttelten und Semir mit hochgezogener Augenbraue fragte:


    „Ich meine: Dein Ernst? Sie war deine Vorgesetzte...!“


    André hob recht unbeeindruckt die Schultern. Er wusste zwar, dass sie damals eine Grenze überschritten hatten, sagte aber trotzdem:


    „Naja das stimmt schon. Aber wenn es anderes herum gewesen wäre und ich ihr Vorgesetzter, hätte es niemanden wirklich interessiert, oder? Dann wäre es allgemein akzeptiert worden.“


    In dem Punkt konnte Semir ihm tatsächlich nicht widersprechen. Da wurde in der Tat noch immer mit zweierlei Maß gemessen.

    Gerkhan nickte und lehnte sich etwas weiter aus dem Fenster, als er frech sagte:


    „Aber selbst das hast du nicht ‚Unfallfrei‘ hinbekommen... Was bei deiner damaligen Unfallquote natürlich nicht verwunderlich ist...“


    „Offensichtlich nicht... Aber ich kann mich da an keine Details mehr erinnern, nur noch das es nach dieser Taxi-Nummer war. Wenn du zum ‚Unfallhergang‘ mehr wissen willst, musst du wohl deine Chefin fragen...“ konterte Fux schlagfertig, wobei es eine Lüge war. Er wusste genau was damals passiert war...


    „Die Unterhaltung würde ich dann allerdings sehr gerne bezeugen...“ fügte er noch breiter grinsend hinzu, während Semir ziemlich heftig mit dem Kopf schüttelte, dann aber doch innehielt.


    „Nach der Taxi-Nummer, ja?“ Gerkhan blickte jetzt ziemlich schelmisch drein. „Wenn Hotte das damals gewusst hätte, dass du die Situation derart ausnutzt, hätte er dich vermutlich auf der Stelle vergiftete...“


    „Was nicht ist, kann ja noch werden... Ist er immer noch in sie verknall, ja?“ grinste Fux.


    „Verliebt wie ein kleiner Schuljunge...“


    14. April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 21:05 Uhr



    Nach dem Ben ein paar Worte mit Camille Berthold gewechselt hatte, ging er auf den breiten Balkon, der sich vor dem Wohnzimmer befand und auf dem Semir über die Reling gebeugt in die hereinbrechende Nacht sah.


    „Ganz schön krasser Tag heute...“ begann Jäger schließlich, was Semir ein amüsiertes Schnauben entlockte.


    „‘Ganz schön krass‘ fängt es nicht mal an es zu beschreiben, würde ich sagen...“


    Ben grinste nun ebenfalls. Ja, damit hatte sein Partner wohl recht. „Wie geht es dir?“, fragte er schließlich und lehnte sich neben Semir gegen das Geländer, da es deutlich zu sehen war, dass Semir seit geraumer Zeit am Grübeln war.


    „Ich bekomme es einfach noch nicht so richtig in den Schädel, das André am Leben ist.“ Gab der kleine Polizist rund heraus zu.


    „Okay, aber das ist mehr als verständlich. Es passiert nicht allzu oft, das totgeglaubte plötzlich wieder vor einem stehen.“


    „Ja... Das stimmt schon. Es ist nur...“ Semir brach ab und überlegte kurz, wie er seine aktuelle Gefühlslage am besten beschreiben konnte.


    „Weißt du, ich war damals da. Ich habe gesehen wie André von der Harpune getroffen wurde und ins Meer gestürzt ist. Ich bin hinterher und habe ihn im Wasser gesucht. Aber ich habe ihn nicht gefunden. Anscheinend habe ich nicht gründlich genug gesucht und ihm dadurch seinem Schicksal überlassen...“

    Ben beobachtete seinen Partner und Freund aufmerksam. Daher wehte also der Wind. Semir machte sich Vorwürfe...


    „Was ist denn damals eigentlich genau passiert?“, fragte der junge Mann schließlich, da Gerkhan, seit sie zusammenarbeiteten, schon das ein oder andere Mal von Tom Kranich erzählt hatte, von André Fux jedoch nie.

    Semir blinzelte etwas überrascht und sah Ben einen Moment lang an, ehe er wieder in die Nach hinausstarrte.


    „Wir sind durch Zufall in die BKA ‚SOKO Mallorca‘ hineingeraten, die dem Waffenhändler Carlos Berger auf den Fersen war. Ein paar Tage vor dem Unfall, sind André und ich zufällig Zeuge einer versuchten Entführung geworden. Bergers Sohn und Ex-Frau haben in Köln gelebt und er hatte ein paar seiner Schergen losgeschickt, die seinen Sohn zu ihm nach Mallorca bringen sollten. Das ist jedoch fürchterlich schiefgegangen und einer der Männer hat den Jungen aus Versehen erschossen. André hat sich große Vorwürfe gemacht, dass er das nicht hatte verhindern können.“ Gerkhan zuckte mit den Schultern.


    „Die Chefin hat ihre Kontakte spielen lassen und uns freigestellt, sodass wir vor Ort der unterbesetzten SOKO zur Hand gehen konnten und gleichzeitig den Mörder des Jungen jagen konnten. André war kurz Undercover bei Berger in der Bande, ist dann aber aufgeflogen und nur um Haaresbreite entkommen. Wir haben ihn gemeinsam verfolgt, aber nach einem Kampf habe ich es nicht mehr in das Motorboot geschafft, mit dem Berger fliehen wollte. Fux schon...“


    Semir stoppte wieder und Ben konnte deutlich sehen, dass er sich dafür noch immer Vorwürfe machte.


    „Als ich sie mit dem Heli eingeholt habe waren sie schon auf dem offenen Meer und ich konnte nicht mehr verhindern das Berger mit der Harpune auf André schoss. Ich habe eine Woche lang nach ihm gesucht...“


    „Das klingt für mich aber nicht so, als hättest du ihm einfach seinem Schicksal überlassen. Für mich klingt da so, dass du alles getan hast, was du tun konntest. Es ist einfach nur richtig beschissen gelaufen.“ Sagte Jäger und klopfte seinem Kollegen aufmunternd auf die Schulter.


    „Ja, vielleicht habe ich das... Vielleicht aber auch nicht...“ Semir zuckte mit den Schultern. „Ändern kann ich es aber eh nicht mehr!“


    „So ist es. Deswegen bring es auch nichts, wenn du dir weiter selber ein schlechtes Gewissen machst.“


    Der Ältere grinste jetzt. „Hat dir schon mal jemand gesagt das du zwischendurch ein ganz schöner Klugscheißer sein kannst?“


    „Du hast ja keine Ahnung wie oft!“ Ben lachte, sah ihn dann jedoch wieder fragend an.


    „Sag mal... Vermutlich geht es mich nichts an, aber was geht da zwischen dir, Fux und der Chefin ab? Ich hatte schon gestern im Büro der Engelhardt den Eindruck, dass ihr etwas verheimlicht, als Hartmut das DNA-Ergebnis gebracht hat.“


    Semirs Miene verdüsterte sich ein bisschen.


    Auf der anderen Seite hatte er schon gewusst, dass es seinem Partner wohl nicht verborgen geblieben war, dass sie etwas vor ihm verheimlichten. Dafür war er, in dem Fall, leider, viel zu aufmerksam und intelligent.

    Gerkhan kaute unschlüssig auf seiner Unterlippe. Er wusste das sein Partner eh keine Ruhe geben würde, bis er es herausgefunden hatte. Auf der anderen Seite hatte er der Chefin versprochen nichts zu sagen.

    Er saß also an dem schönen Ort, den der Englänger: ‚Between a rock and a hard place‘ nannte...


    „Wenn ich dir das sage, musst du mir versprechen, es für dich zu behalten! Und ich meine das wirklich ernst, Ben! Kein Sterbenswörtchen zu irgendjemanden oder diese Hände“, er hielt Ben seine Hände vor das Gesicht, „werden dich erst verprügeln und dich dann erwürgen.“


    Jäger wäre fast ein „Na das will ich sehen!“ herausgerutscht, schaffte es aber den Impuls im letzten Augenblick zu unterdrücken. Stattdessen nickte er ernst.

    Semir sah sich kurz um, dass auch niemand in Hörweite war, bevor er leise sagte:


    „André ist der Vater von Leonie.“


    Jägers Augen sprangen beinahe aus ihren Höhlen, soweit riss der junge Mann sie auf, ehe ihm ein langgezogenes, tonloses „Oooooh...“ entfuhr.


    „Wie gesagt: Keinen Ton zu niemandem!“ mahnte Semir erneut eindringlich und Ben nickte entschieden mit dem Kopf.


    Er würde ganz bestimmt seine Klappe halten!

    Was aber weniger an Semirs, nicht ganz ernstgemeinter Drohung lag, als an der Vorstellung, was seine Vorgesetzte mit ihm machen würde, sollte er damit hausieren gehen.

    Die Chefin hatte heute eindrucksvoll bewiesen, dass sie einen ziemlich kräftigen Faustschlag hatte... Und er würde sich auch ziemlich anstrengen müssen, wollte er vor ihr weglaufen.

    Nein, er würde ganz eindeutig seine Klappe halten! Also fast...


    An Semir gewandt musste er dann doch noch fragen:

    „Weiß Fux das er eine Tochter hat...?“ Gerkhan wollte eigentlich schon mit dem Kopf schütteln, sagte dann aber doch: „Ich weiß es nicht.“


    Im selben Moment hörten sie wie vor dem Haus ein Auto vorfuhr und kurz darauf die Haustür geöffnet wurde. Ben sah feixend zu Semir.


    „Ich glaub da ist er. Ich kann ihn ja gleich mal fragen gehen...!“


    „Untersteh dich!“, polterte Gerkhan sofort, erkannte dann aber das sein Partner ihn nur ärgern wollte. Also fügte er „Blödmann!“ hinzu.


    Auf der anderen Seite interessierte ihn die Antwort, auf die Frage, selber brennend.


    „Lass uns mal schauen, ob die beiden Computer Genies schon etwas bewirkt haben.“ Schlug Ben schließlich vor und trat vom Balkon zurück in das Wohnzimmer, wo auch André mittlerweile angekommen war.




    14. April 2004


    Landstraße L34, östliche Richtung, 21:04 Uhr




    Die ersten Minuten der Fahrt verliefen in vollkommener Stille.


    Fux wusste nicht so richtig wie er das Gespräch beginnen sollte ohne gleich mit der Frage, die ihm seit dem Mittag am meisten unter den Fingernägeln brannte, ins Haus zu fallen und Anna hatte noch immer ein wenig Mühe zu begreifen, dass André wirklich am Leben war. Auch, wenn er direkt neben ihr saß.

    Schließlich entschied Fux sich, das Gespräch mit einer weiteren Entschuldigung zu beginnen:


    „Ich kann nur noch mal sagen wie leid es mir tun, was heute passiert ist!“


    „Ja... Aber ich glaube ihnen, wenn sie sagen, dass sie nichts davon wussten. Es ist also nicht ihre Schuld.“ Erneut herrschte kurz Schweigen.


    „Ich war ehrlich gesagt ziemlich überrascht, als ich gelernt habe, dass sie eine Tochter haben...“, sagte André vorsichtig, während er auf die Landstraße bog, die nach Rodenkirchen führte.


    Anna schloss kurz die Augen und fragte sich erneut, an was er sich alles erinnern konnte. Insbesondere ob er sich an die eine Nacht im April erinnerte...


    „Ja... Sie wurde nach ihrem Verschwinden geboren.“ Antwortetet sie schließlich. Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein, was sie dazu sagen sollte.


    „Hmm...“ er nickte langsam „Sie scheint ein unglaublich aufgewecktes Kind zu sein. Und ich war erstaunt, wie ähnlich sie ihnen sieht. Bemerkenswert.“ Fux machte eine kurze Pause und fragte dann: „Sie hat Ende Dezember Geburtstag, oder?“


    Ah. And here we go...


    Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

    Er schien sich also auch an die Nacht zu erinnern... Und anscheinend hatte er nicht, wie sein ehemaliger Partner, vier Jahre gebracht, bis ihm das offensichtlich ins Auge gesprungen war...


    „Leonie hat am 30. Dezember Geburtstag. Und wenn ihnen aufgefallen ist, wie ähnlich sie mir sieht, dann ist ihnen mit Sicherheit auch aufgefallen, dass ihre Augen nicht von mir sind, oder?“

    Anna sah ihn jetzt kontinuierlich an und auch er nahm den Blick kurz von der Straße, um ihr ins Gesicht zu sehen, als er direkt fragte: „Ist sie von mir?“


    „Ja, ist sie.“ Kam prompt die knappe, aber eindeutige Antwort. Denn was würde es bringe, lange um den heißen Brei herumzureden?


    Nach dieser Bestätigung herrschte erneut einige Zeit Stille, in der Fux versuchte seine Gedanken zu sortieren.

    Auch wenn er es schon geahnt hatte, war die Bestätigung aus ihrem Mund nochmal etwas anderes und es fühlte sich mit einem Mal sehr viel realer an.


    Er hatte also eine Tochter!


    Ein Tsunami aus Fragen und Gedanken brach über ihn hinein, die er am liebsten alle sofort laut ausgesprochen hätte, aber nicht einmal wusste, womit er hätte anfangen sollen.

    Seine Beifahrerin schien jedoch etwas in der Art zu ahnen und sagte:


    „Ich weiß das sie unendlich viele Fragen haben müssen. Und es ist auch ihr gutes recht, dass ich einen Großteil dieser Fragen beantworte. Aber es ist in den letzten Tagen unglaublich viel passiert und ich weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht. Ich bitte sie, sich noch ein wenig zu gedulden und dass wir uns in naher Zukunft ganz in Ruhe zusammensetzen, wenn das alles hier ausgestanden ist. Einverstanden?“



    Auch wenn es ihm unglaublich schwerfiel, nickte André, da er einsah, dass es so vermutlich am besten war. Eine Frage, musste er ihr jedoch jetzt noch stellen:


    „Wussten sie schon, dass sie schwanger, sind als Semir und ich nach Mallorca geflogen sind?“


    „Nein. Ich habe es erst eine Woche nach ihrem Verschwinden erfahren, André.“


    Anna beobachtete, wie er langsam nickte und seine Schultern sich ein wenig entspannten. Sie hatte eine starke Vermutung, was ihm durch den Kopf ging.

    Denn sie selber hatte sich in den fünf Jahre gut ein dutzend Mal die Frage gestellt, ob es etwas geändert hätte, hätte sie es früher gemerkt, oder vielleicht auch nur den Verdacht gehabt.


    Möglich gewesen wäre es.


    Als die Beiden nach Mallorca aufgebrochen war, war sie bereits den fünften Tag überfällig gewesen, was sie hätte stutzig werden lassen müssen, da sie immer eine sehr regelmäßige Periode hatte, nach der man die Uhr stellen konnte.

    Sie wusste nicht mehr, ob sie es einfach nur nicht im Blick gehabt hatte, oder es ignoriert hatte.

    Letztlich war es eh eine müßige Frage...

    Denn es war alles nun mal so passiert wie es passiert war und sie konnte es nicht mehr ändern.


    Und dennoch...


    Anna schüttelte leicht den Kopf und sah wieder auf die Straße, die im Scheinwerferlicht an ihr vorbeiflog.




    „Stimmt es das Leonie mit einem Bobbycar die Rutsche runtergefahren ist?“, fragte Fux unvermittelt und ließ die Chefin erneut schnauben.


    „Allerdings. Vorgestern, nachdem sie am Wochenende bei Ben oder Semir etwas von einer Sprungschanze und fliegenden Autos aufgeschnappt hat. Wie man in ihrem Gesicht sehen kann, ist das ziemlich schiefgegangen.“ Anna schüttelte missbilligend den Kopf und fügte hinzu:


    „Wir waren den halben Nachmittag in der Kinderklinik und abends fragt das kleine Monster doch ernsthaft, ob sie vielleicht einfach ein Dreirad hätte nehmen sollen. Anstelle des Bobbycars...“


    André neben ihr schaffte es nicht ein Lachen zu unterdrücken, bemühte sich aber sofort wieder ein ernstes Gesicht zu machen, was ihm kläglich misslang.


    „Warum wundert es mich nicht, dass sie das lustig finden?“


    „Ich finde es eher ziemlich beeindruckend. Ich bin erst mit sieben Jahren mit einem Bobbycar die Rutsche auf dem Schulhof runtergefahren und hab mir dabei einen Arm gebrochen.“


    Jetzt warf Anna ihm einen langen, prüfenden Blick zu.


    „Ist das so?“, fragte sie nach einer ganzen Weile und Fux hielt ihr seinen rechten Arm hin. „Ich habe noch eine Narbe von den Schrauben...“


    „Dann kann ich also froh sein, dass es nur ein paar Kratzer und ein blutiges Kinn war, ja?“


    Er wog den Kopf hin und her, während er in die Straße bog, in der die Chefin wohnte. „Vielleicht hätte ich damals auch besser ein Dreirad nehmen sollen...“ Bei der Aussage musste Anna dann doch ein wenig schmunzeln.




    Als André keine 20 Sekunden später vor dem Haus anhielt, wandte er sich seiner ehemaligen Vorgesetzten zu.


    „Danke das sie helfen, ohne viele Fragen gestellt zu haben und nach allem was passiert ist. Ich weiß das Berthold viel Mist gebaut hat, genau wie ich auch. Und wir werden uns dafür verantworten. Aber Arnaud ist ein guter Junge, der für das alles nichts kann! Er hat jede Hilfe verdient, die er kriegen kann.“


    Anna nickte langsam, sagte dann aber:

    „Danke sie vor allem Semir und Ben. Ich war heute Nachmittag alles andere als objektiv.“

    Sie schnallte sich ab, hielt dann aber noch einmal inne und musterte Fux einen kurzen Augenblick. Recht unvermittelt beugte sie sich schließlich vor und umarmte ihn.


    „Auch wenn ich das heute Nachmittag nicht so zeigen konnte, freue ich mich wahnsinnig, dass sie am Leben sind, André! Die unterkühlte Begrüßung tut mir leid! Aber es war einfach ein bisschen viel auf einmal.“


    Er hatte die Umarmung erwidert und schüttelte verständlich grinsend den Kopf. „Ist schon okay, wirklich.“

    Anna lächelte und wünschte ihm eine gute Nacht, ehe sie aus dem Audi stieg und den schmalen Weg zum Haus ging.


    Fux sah ihr nach, bis sie durch die Haustür verschwunden war.

    Auch wenn sich das alles hier noch sehr neu und ungewohnt anfühlte und er sich noch nicht an jedes Detail seines Lebens von vor dem Unfall erinnern konnte, glaubte er schon jetzt zu erahnen, wie er sich damals dazu hatte hinreißen lassen, mit ihr zu schlafen.


    Er schmunzelte, als er den Motor startete. Sein ‚Altes-Ich‘ hatte einen guten Geschmack gehabt...



    14. April 2004


    Autobahn 555 in Richtung Bonn, Parkplatz Herseler See, 19:47 Uhr




    Anna brachte den Audi, den sie sich von Fux ausgeborgt hatten, einige Meter hinter der dunklen Limousine zu stehen, die Ben und Semir soeben herausgewunken und auf den kleinen Parkplatz gelotst hatten.

    Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihr, dass der Jeep, den sie und Freund aus dem Verkehr gezogen hatten, hinter ihnen zum Stehen kam.

    Der KTU-ler neben ihr war sichtlich nervös.


    „So eine allgemeine Verkehrskontrolle sollten sie doch noch von der Polizeischule kennen, oder nicht?“ Die Chefin lächelte ihm aufmunternd zu.


    „Ja. Schon...“


    „Na also! Überlassen sie einfach mir das Reden.“ Damit stieg sie aus und ging mit einem neutralen Gesichtsausdruck auf den Fahrer des Jeeps zu, der schon das Fenster heruntergelassen hatte.


    „Schön guten Abend, Engelhardt von der Kripo Autobahn. Allgemeine Verkehrs- und Personenkontrolle. Steigen sie bitte beide aus dem Wagen aus?“



    Ein paar Meter weiter vorne hatte Ben die Insassen des ersten Fahrzeugs gebeten dasselbe zu tun.


    „Was soll das denn? Haben wir etwas falsch gemacht?“ Richard Van Beust entstieg der Limousine und sah sofort genervt zu Ben.

    Der musste sich extrem am Riemen reißen, freundlich zu bleiben. Van Beust Art, sein Äußeres und das Wissen darüber, was er getan hatte, deklarierten ihn einfach nur als schmierigen Widerling!


    „Wie schon gesagt, handelt es sich hier um eine Allgemeine Verkehrs- und Personenkontrolle. Gehören sie zusammen?“ Jäger nickte in Richtung des zweiten Wagens.


    „Ja, das ist mein Wachschutz.“


    „Verstehe. Wo kommen sie gerade her?“


    „Von der Arbeit und ich will nach Hause.“


    „Natürlich. Wir haben sie unter anderem angehalten, weil es in der Stadt heute Nachmittag zu einer Schlägerei mit anschließender Unfallflucht gekommen ist. Und Zeugen haben zwei dunkle Fahrzeuge vom Tatort fliehen sehen. Tragen sie irgendwelche Waffen bei sich?“


    „Nein tu ich nicht!“ Van Beust hielt kurz inne. „Mein Fahrer schon. Selbstverständlich hat er dafür aber eine Genehmigung!“

    Sofort legte Ben eine Hand auf seine Dienstpistole und wies den Fahrer an die Waffe mit zwei Finger langsam auf den Boden zu legen.

    Im Hintergrund konnte er hören, wie die Chefin dasselbe tat.


    „Wenn sie beide jetzt bitte ihre Taschen komplett leeren möchten? Den Inhalt können sie hier in die Kiste tun.“


    „Muss das sein?“ Van Beust wurde immer ungehaltener.


    „Ja, das muss sein! Und je schneller sie das machen, desto eher kommen sie auch nachhause!“ Auch Bens Ton wurde nun rauer.

    Nachdem die Männer ihre Taschen geleert hatten, tasteten Semir und Ben die beiden Männer ab um sich so vergewissern, dass die Taschen auch wirklich leer waren.


    „Gut, wenn sie sich bitten hinter das Auto zu ihren Begleitern stellen möchten. Wir würden uns jetzt noch gerne ihren Wagen anschauen, um zu sehen, ob er Unfallspuren aufweist. Mein Kollege wird in der Zeit ihre Papiere überprüfen.“


    Während Semir so tat, als untersuche er das Auto, brachte Ben die Kiste mit den Tascheninhalten zu Hartmut, der schon wieder in dem Audi saß und bereits das erste Handy von einem der Wachleute klonte.

    Die Chefin behielt unterdessen eben jene Wachleute im Auge und betrieb dabei oberflächlichen Smalltalk, wodurch die Männer Hartmut keinerlei Beachtung schenkten.

    Dabei musterte Anna die Männer aufmerksam. Ihre Körpersprache und Körperhaltung ließen darauf schließen, dass sie es hier mit Schlägern erster Klasse zu tun hatte. Die ein deren andere Narbe in deren Gesichtern verstärkte den Eindruck nur noch mehr.


    Sie war sich ziemlich sicher, das sie hier auf der richtigen Spur waren…


    Gut zehn Minuten und einiges Gemotze von Van Beust später, fuhren die zwei Wagen auch schon wieder von dem Parkplatz und ließen äußerst zufriedenen dreinblickende Polizisten zurück.






    Villa am Stadtrand von Köln, 20:55 Uhr



    Hartmut machte sich nach ihrer Rückkehr zusammen mit Araignée umgehen daran, die erbeuteten Daten auszuwerten und zu schauen, was sie damit anfangen konnten.

    Es folgte jedoch recht schnell ein wenig Ernüchterung, da sie wohl etwas länger an der Aufgabe sitzen würden.


    So einfach wie sie es sich gedacht hatten, war es leider nicht.


    Während Ben und Semir beschlossen die Nacht in der Villa bei Hartmut zu bleiben, wollte Anna dann doch wenigstens für ein paar Stunden zurück nach Hause und zur Tochter.


    „Melden sie sich jeder Zeit, wenn sich etwas tut.“


    „Machen wir. Soll ich sie nach Hause fahren?“ bot Semir an, wurde aber von André unterbrochen. „Das kann ich auch machen...“


    Die Chefin beäugte ihn etwas überrascht, nickte aber schließlich, da es ihr durchaus recht war. Früher oder später würde sie sich sowieso unterhalten müssen.


    Warum also nicht schon jetzt?