Beiträge von Mikel

    Später als gewöhnlich erschien Elena, die diesmal von Dragan Kovac, einem der Zwillingsbrüder, begleitet wurde. Der Serbe blaffte nur einen Befehl in den Raum:

    „Kein Laut! … Sonst!“

    Dabei hob er die schussbereite Waffe in seiner Hand hoch und zielte auf Elena.


    Ein bisschen erleichtert atmete Ben auf, dass diesmal nicht wieder Remzi erschienen war. Durch die geöffnete Zimmertür hörte man die Stimmen von Männern, die auf Serbisch miteinander diskutierten. Deutlich war Remzis dröhnende Stimme herauszuhören, der verärgert klang. Angespannt lauschte der Polizist, der mit geschlossenen Augen im Bett lag, ob er auch Gabrielas Stimme dabei war.


    Die Auseinandersetzung schien sehr interessant zu sein, denn Dragan Kovac, der nach wie vor unter dem Türrahmen stand, achtete mehr auf die Diskussionen im Erdgeschoss als auf Elena. Weder Anna noch der Russin entging dies. Dennoch wagte keine der beiden Frauen sich dem Befehl des Söldners zu widersetzen und ein Wort zu sprechen. Die Ärztin formte mit ihren Lippen eine stumme Frage: Gabriela? Doch die Russin wich ihr aus. Stattdessen schob sie sehr geschickt einen Zettel unter die Bettdecke, als sie die Schmutzwäsche, die dort an der Bettkante für sie bereit lag, mitnahm.


    Dragan wurde ungeduldig und fuchtelte mit seiner Waffe herum.
    „Beeil dich! Ich will hier nicht übernachten!“
    Mit gesenktem Kopf beeilte sich Elena der Aufforderung nachzukommen. Eilig tauschte sie das Geschirr aus und huschte an dem Serben vorbei ins Treppenhaus. Die Tür schloss sich und die beiden Gefangenen waren wieder alleine. In den vergangenen Tagen war dies in der Regel der letzte Besuch ihrer Entführer gewesen. Würde dies auch für diesen Abend und Nacht zu treffen oder? … Ben wagte nicht den Gedanken zu Ende zu denken. Er öffnete die Augen und sah, wie Anna zum Fußende des Bettes eilte. Unter der Zudecke zog sie einen kleinen Zettel hervor. Ihre Finger zitterten, als sie ihn auseinanderfaltete. Laut las sie vor: „Flight at Midnight!“


    Mit dieser Botschaft kehrte die Hoffnung bei Ben und Anna zurück. Was auch immer diese Worte in Bezug auf Gabriela Kilic bedeuten mochten? Für die beiden Gefangenen bedeuteten sie nur eines: Elena würde wie versprochen um Mitternacht mit dem Autoschlüssel erscheinen.


    Nach dem Abendessen wagte es Ben das erste Mal an diesem Tag, das Bett zu verlassen. Anna stand vor der Zimmertür und drückte ihr rechtes Ohr gegen das Türblatt. Angespannt lauschte sie, ob irgendein Geräusch ihr verriet, dass sich jemand ihrem Zimmer näherte.


    Nach dem Gang zur Toilette beschäftigte sich der dunkelhaarige Polizist eingehend mit dem Zylinderschloss des Fensterriegels. Nach wenigen Minuten gelang es ihm tatsächlich das Schloss zu knacken. Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht meinte er:
    „Semir sei Dank! … Diese Dinger sind dafür gedacht, unliebsame Besucher von draußen abzuhalten … Voila …!“ und der Riegel ließ sich drehen und die Fensterflügel öffnen. Gierig sog er die einströmende Frischluft in seine Lunge. Draußen brach die Abenddämmerung an. Ben wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Um diese Zeit hielten sich die Entführer normalerweise noch auf der Terrasse auf. Zu groß war die Angst vor Entdeckung, darum lehnte Ben sorgsam die Flügel wieder an. Von unten sah es sicherlich so aus, als wäre das Fenster noch verschlossen sein.


    Mindestens noch drei Stunden würde es dauern, bis Elena mit dem Autoschlüssel kommen würde. Drei endlos lang erscheinende Stunden.

    „Leg dich noch ein wenig hin und versuche zu schlafen!“, sagte Anna zu ihm, der sich mittlerweile wieder auf der Bettkante niedergelassen hatte. „Keine Angst, ich bleibe wach und werde dich rechtzeitig wecken.“
    Zu ihrer Überraschung kam kein Protest von ihm. Stattdessen legte er sich hin und war nach wenigen Minuten auch eingeschlafen. Die junge Ärztin traf noch einige Vorbereitungen und ließ sich im Schaukelstuhl nieder. Von da an kroch die Zeit endlos langsam dahin.


    *****
    Zurück am Buchheimer Ring ….


    Der von Oma Else vorgeschlagene Parkplatz am Waldrand war durch etliche Autos überbelegt. Die Transportboxen im Kofferraum der Kombis zeigten Semir, dass hier einige Herrchen oder Frauchen mit Hund zum Gassi gehen geparkt hatten. Die Merheimer Heide war mit ihren Freilaufflächen für Hunde fast ein kleines Paradies.


    Auf dem Seitenstreifen herrschte absolutes Halteverbot. Links neben der Straße befand sich ein befestigter Rad- und Fußweg. Auf der gegenüberliegenden Seite ein ausgewiesener Reitweg, dahinter befanden sich eingezäunte Koppeln oder Felder. Suchend blickte sich der kleine Türke nach einer unauffälligen Parkmöglichkeit um. Letztendlich ließ er den Mercedes bis zu den ersten Wohnhäusern rollen. Dort gab es ausgewiesene Parkflächen, auf denen er den silbernen Mercedes abstellte. Als er das Fahrzeug abschloss, überlegte er kurz, ob er sich bei der Zentrale telefonisch abmelden sollte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass Susanne bereits nach Hause gegangen war und bevor er einem übereifrigen Kollegen, der nicht in die geheime Ermittlungsaktion eingeweiht war, Rede und Antwort stehen musste, verzichtete er darauf.


    Stattdessen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Jennys Nummer. In knappen Sätzen berichtete er von dem Gespräch mit der alten Frau und seiner Absicht, sich die Villa und das Grundstück mal näher anzuschauen. Er verabschiedete sich:
    „Mach dir keine Sorgen Jenny! … Ja, kein Alleingang versprochen … ich passe auf! … Nein, ich riskiere wirklich nichts! … Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr im Büro. Ciao … ciao!“ Als er das Gespräch beendet hatte, meldete ein leises Piepen seines Handys „Akku leer, bitte an Ladestation anschließen!“ „Na Klasse, das fehlt mir noch zu meinem Glück!“, kommentierte er die Meldung und schaltete das Handy komplett aus, da ihn das ständige Piepsen nervte.


    Er schätzte die Entfernung zwischen der Wohnsiedlung und dem bewussten Waldstück auf gut fünfhundert Meter. Ein kleiner Abendspaziergang konnte nach dem reichlichen Kuchengenuss bestimmt nicht schaden. Auf dem Rad- und Fußweg folgte der Autobahnpolizist dem Buchheimer Ring, bis er zu der beschriebenen Kreuzung kam, wo der Weg in einen betonierten Flurbereinigungsweg überging. Rechts von ihm war das Waldstück, in dem sich die Villa und deren etwas verborgene Zufahrt befanden. Von dem Flurbereinigungsweg zweigte ein unbefestigter Feldweg ab. Die Anzahl der Hufspuren und Pferdeäpfel zeugten davon, dass er häufig als Reitweg genutzt wurde. Links von Semir befanden sich weitläufige Koppeln und Wiesen. Er ging wieder einige Schritte zurück. Die tief herabhängenden Äste der Bäume verbargen eine asphaltierte Zufahrt zu dem bewussten Grundstück. Es war alles genauso, wie es die alte Frau geschildert hatte.


    Ein von Ästen leicht verdecktes Verbotsschild wies darauf hin, dass es sich um einen Privatweg handelte, mit dem Warnhinweis, dass Unbefugten der Zutritt verboten war. Er folgte der asphaltierten Zufahrt und schon nach wenigen Metern, war es wie das Abtauchen in eine andere Welt. Ein leicht modriger Geruch umfing ihn. Links und rechts säumten alte Bäume den Weg, deren mächtige Äste wie ein Dach über den Weg ragten. Unter den mächtigen Baumkronen wuchsen Sträucher, Farne und ein undurchdringlicher Dickicht von Pflanzen, deren Namen Semir nicht kannte. Der Ruf eines Kuckucks überlagerte das Gezwitscher der anderen Vögel. Doch der Türke hatte in diesem Moment keinen Blick für die Schönheit der Natur.


    Ein schummriges Licht begleitete ihn bis er auf eine kleine Lichtung kam und ein großes Metalltor, das in einer zwei Meter hohen Mauer eingebaut war, erreichte. Rechts neben dem Tor befand sich ein Durchlass in der Mauer, der durch eine kunstvoll geschmiedete Pforte verschlossen wurde. Der jetzige Besitzer des Anwesens schien keinen Wert darauf zu legen, ungebetene Gäste zu empfangen. Auf der Innenseite des Grundstücks hatte ein Mauerer mit Bruchsteinen den Durchgang verschlossen. Der Schlitz für den Briefkasten war zugeschraubt worden. Das Schild, auf dem normalerweise der Name des Bewohners stand, war nicht beschriftet. An der Stelle, wo früher sich ein Klingelknopf befand, klaffte ein Loch in der Mauer. Keine Chance etwas über den Eigentümer zu erfahren! Keine Fuge, keine Ritze zwischen Tor und Mauer, um einen Blick in das dahinter liegende Grundstück zu werfen. Über dem Tor waren Überwachungskameras angebracht. Am linken Torposten war ein Empfangsteil installiert, über das mittels Funksignal das Rolltor geöffnet und geschlossen wurde. Das Anwesen war wie eine Festung, die Fort Knox glich, schoss es dem Türken durch den Kopf, als er sich langsam rückwärts bewegte. Mit seinen Blicken scannte er akribisch das Anwesen vor sich. Keine Möglichkeit auch nur einen winzigen Blick auf das Anwesen zu werfen. Semir schlich ein Stück an der Mauer entlang und suchte irgendeine Möglichkeit, um Einblick auf das Grundstück zu bekommen. Ab und an war das Surren der Kameras zu hören, die über einen Bewegungsmelder gesteuert wurden und ihren Blickwinkel auf verräterische Bewegungen zoomten. Auf der Mauerkrone spiegelten sich im abendlichen Sonnenlicht silberne Drähte. Wer sich so gegen die Außenwelt abschottete, hatte nach Ansicht des Kommissars etwas zu verbergen. So sehr er sich auch bemühte, die Mauer ließ keine Sicht auf das Grundstück zu. Etwas enttäuscht beschloss er wieder zurück zur Zufahrt zu gehen und von dort aus zur Kreuzung am Buchheimer Ring. Etwas ratlos stand Semir da und fuhr sich mit seinen gespreizten Fingern durch das kurzgeschorene Haar. Dabei überlegte er, ob es nicht sinnvoll wäre, Feierabend zu machen. Wahrscheinlich würde Susanne morgen früh mit ihren Fähigkeiten dem Internet und allen ihr zur Verfügung stehenden Datenbanken etwas mehr über den geheimnisvollen Besitzer dieses Grundstücks in Erfahrung bringen können. Mit hängendem Kopf trat der Türke seinen Rückweg zum silbernen Mercedes an.

    Schon nach wenigen Minuten langweilte sich Gabriela Kilic im Audi. Sie stellte das Autoradio an und suchte einen Regionalsender mit Verkehrsfunk. Zusätzlich zückte auch sie ihr Handy und recherchierte im Internet nach Informationen zum Unfallgeschehen auf der Autobahn vor ihnen. Die aktuellste Meldung, die sie in den sozialen Netzwerken und im Stau-Infos fand, besagte nur, dass die Polizei eine Totalsperre der Autobahn A3 in beiden Fahrrichtungen durchführte und den Verkehr an den davor liegenden Ausfahrten ausleitete. Die Autofahrer, die im Stau feststeckten, wurden um Geduld gebeten. THW und Rotes Kreuz würden in Kürze die Verkehrsteilnehmer, die auf dem Teilstück fest saßen, mit Getränken und kleinen Snacks versorgen.


    Die Kroatin wechselte ihren Sitzplatz und machte es sich auf dem Rücksitz gemütlich. Sie nutzte die Zeit auf ihre Art und Weise und dachte über die letzten Tage, ihre Zukunftspläne und ihren Rachefeldzug nach. Über Belgien, Luxemburg und der Schweiz hatte sie alles für ihre Flucht nach Südamerika arrangiert. Peter Brauer vom BKA hatte ihr eine neue Identität im Zeugenschutzprogramm der BKAs und neue Ausweispapiere besorgt. Die Übergabe hatte vor zwei Tagen in Luxemburg stattgefunden. Ausweispapiere gegen Geld, einem kleinen Vermögen. Anschließend hatte sie sich nochmals mit Dr. Hinrichsen in Zürich getroffen, um ihre Bankgeschäfte zu regeln. In genau drei Tagen würde abends um 20.00 h ein vollgetankter Learjet auf einem Privatflughafen in Belgien auf sie warten, um sie zu einem Ziel ihrer Wahl in Südamerika zu fliegen.


    Ihr Blick richtete sich nach vorne, auf ihre Zukunft. In den letzten Stunden hatte sie gründlich darüber nachgedacht, die verschiedenen Angebote, die ihr Dr. Hinrichsen zur Geldanlage empfohlen hatte, eingehend studiert. Ihre Wahl für das Land ihrer Zukunft war auf Brasilien gefallen. Dort bekam man für Geld alles und ihr Bankkonto, das einen siebenstelligen Betrag auswies, war reichlich gefüllt. Ein neues Leben wartete auf sie, welches sie sich in ihren Träumen in den rosigsten Farben ausmalte. Eine Villa in Strandnähe … vielleicht ein Mann, mit dem an eine eigene Familie gründen könnte … Kinder … wer wusste schon, was das Schicksal noch Gutes für sie bereithielt.


    Wenn Remzi wollte, konnte er ihr jederzeit folgen. Für ihren engsten Verbündeten, der mittlerweile per Internationalen Haftbefehl gesucht wurde, wie sie von Peter Brauer bestätigt bekommen hatte, hatte sie ebenfalls eine neue Identität gekauft, getarnt durch das Zeugenschutzprogramm des BKA.


    Vor einer Stunde, während einer Rast in der Nähe von Frankfurt, hatte sie mit Remzi das letzte Mal telefoniert und seitdem schwebte sie im siebten Himmel. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte ihren Mundwinkel. Ihr genialer Plan konnte einfach nicht schief gehen. Die Bomben für die geplanten Anschläge auf die Autobahnpolizei, die Staatsanwaltschaft und das Landgericht waren einsatzbereit. Ein tödliches Werkzeug zur Vernichtung ihrer Feinde. Die privaten Adressen der Polizisten und von Bens Familie, die sie töten wollte, waren bekannt. Alle Anschlagsziele waren durch die Kovac Brüder ausgekundschaftet worden. Alles war vorbereitet für den finalen Schlag.

    Aus ihrer Sicht war das Beste dabei, Ben Jäger konnte ihrem Rachefeldzug beiwohnen, dem Untergang seiner Familie.

    Nichts und niemand würde sie diesmal aufhalten können, nicht einmal dieser verfluchte Türke. In drei Tagen würde Ben Jäger der Vergangenheit angehören. Seine Leiche den Vorgarten von Semir Gerkhan als Dekoration zieren. Bei dieser Vorstellung überzog ein teuflisches Grinsen ihr Gesicht.


    Remzis genialer Plan, mit einem Schlag die Familie Gerkhan zu vernichten und den Türken durch gezielte Schüsse eines Scharfschützen in die Knie zum Krüppel zu machen, hatte ihre volle Begeisterung gefunden. Fast bedauerte Gabriela ein wenig, den Türken nicht mehr als gebrochenen Mann zu sehen bekam. Sie malte sich aus, dass der verhasste Mann als ein menschliches Wrack enden würde, wenn man ihm alles genommen hatte, was ihm im Leben wichtig war.


    Auf der anderen Seite, wer wusste es schon? Möglich war alles, auch eine Rückkehr nach Deutschland mit ihrer neuen Identität… nach Köln. Dieser Anblick war es ihr Wert ein Risiko einzugehen. Sie blendete das Geschehen um sich herum aus und schwelgte in ihren Träumen, deren Inhalt ihre Rachepläne waren.


    *****


    Zur selben Zeit in der Villa


    Die Zimmertür flog mit einem lauten Knall ins Schloss. Das hämische Lachen von Remzi verstummte.
    „Du musste langsamer atmen!“, drang Annas Stimme gedämpft wie durch einen Wattebausch zu dem dunkelhaarigen Polizisten durch.


    Jeder Atemzug bedeutete Schmerz. Ben merkte, dass er nur noch stoßweise die Luft in seine Lungen sog. Er konzentrierte sich auf seine Atemfrequenz und versuchte die Schmerzwellen, die von seinen Rippen ausgingen und seinen Körper durchfluteten, zu ignorieren. Als Annas warme Hände sich unter sein Shirt schoben, um es hochzuschieben, umschlang er ihr Handgelenk und hielt es fest.


    „Es geht schon!“, presste er mühsam hervor, „Gib … mir einfach ein … paar Minuten noch!“

    Ein Stöhnen entfuhr Ben, als er sich langsam auf den Rücken drehte. Der Dunkelhaarige schloss die Augen und konzentrierte sich weiter auf seine Atmung und hörte seinen Herzschlag, der wie wild zwischen seinen Schläfen pochte. Der wütende Schmerz in seinem Rücken und seiner Flanke ebbte langsam ab und er bekam sich wieder unter Kontrolle. Durch seine geöffneten Lider sah Ben zuerst alles wie durch einen Schleier, der sich lichtete und er erkannte Annas besorgte Miene. Seine Freundin saß auf der Bettkante und beobachtete ihn genau. Die letzten Worte des Söldners geisterten durch seinen Kopf und er konnte die Bedrohung, die davon ausging, fast körperlich spüren. Es schien fast so, als könnte Anna seine Gedanken lesen.

    „Die Hexe kommt heute noch zurück! … Es ist aus Ben! … Alles aus und vorbei!“

    Angst schwang in ihrer Stimme mit und er sah den Anflug von Panik in ihrem Gesicht. Auch wenn es ihm schwer fiel, richtete er seinen Oberkörper mit einem unterdrückten Stöhnen auf. Mit seinen Händen umschlang er die Handgelenke seiner Freundin und blickte sie mit seinen dunklen Augen durchdringend an.


    „Das Letzte was passieren darf, dass wir in Panik verfallen. Das wäre der Anfang vom Ende.“ Mit einem beschwörenden Tonfall sprach er weiter: „Wir geben nicht auf, Anna! … Noch ist die Wahnsinnige nicht da … noch bleiben uns ein paar Stunden, wobei eine Flucht bei Tageslicht in meiner Verfassung Selbstmord wäre!“ Er schwieg für einige Sekunden und dachte nach. Mehr zu sich selbst murmelte er: „Wir werden nur diese eine Chance haben. … Heute Nacht! … Nach Einbruch der Dunkelheit!“ und er ließ sich wieder zurück auf das Kopfkissen sinken.


    Erneut fasste Anna sein T-Shirt am Saum an und zog es ihm vorsichtig über den Kopf. Diesmal wehrte er sich nicht. Schweigend begann die junge Frau seine Verbände zu wechseln und die Wunden zu versorgen. Seine Freundin bemühte sich, ihm so wenig Qual wie möglich zu bereiten, aber dennoch merkte sie wie sich Ben verkrampfte und die Lippen zusammen presste. Ab und an entwich ihm ein leises Stöhnen, als der Schmerz zu heftig wurde, dabei verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Nachdem die schmerzhafte Prozedur vorüber war, setzte sich Anna wieder zurück in ihren Schaukelstuhl. Eine bedrückende Stille breitete sich im Zimmer der Gefangenen aus. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Anspannung steigerte sich von Minute zu Minute. Wie ein Damoklesschwert hing die Rückkehr von Gabriela im Raum. So sehr sich Ben auch bemühte, an etwas anderes zu denken, seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Ein Horror-Szenario nach dem anderen spielte sich vor seinem inneren Auge ab … immer wieder die Fragen:
    Was wäre wenn?
    So verging die Zeit bis zum Abendessen.

    Seine Gedankengänge wurden unterbrochen. Oma Else stellte laut klappernd ein Tablett mit Kaffeegeschirr und Kuchen auf den Holztisch, der aus roh bearbeiteten Baumstämmen angefertigt worden war. Semir musterte die alte Frau, die in etwa so groß war, wie er selbst und eine zierliche Gestalt hatte. Ihre faltigen Hände zeugten davon, dass sie in ihrem Leben hatte hart zupacken müssen. In ihr mütterlich strahlendes Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben.


    „Nun langen Sie schon zu junger Mann!“, forderte sie ihn auf und goss den Kaffee aus einer Porzellankanne mit Blumendekor in die dazu passende Kaffeetasse ein.

    Während sich Semir ein großes Stück Apfelstrudel auf den Kuchenteller schaufelte, meinte er anerkennend, „Ein wunderschönes Plätzchen ist das hier. So viel ländliche Idylle inmitten von Köln. Hätte nicht gedacht, dass es so etwas noch gibt.“


    Oma Else setzte sich neben Semir auf die Bank und begann zu erzählen, von den Zeiten nach dem Krieg, als es hier in Köln Merlheim noch Bauern gab, wie sich alles im Laufe der Zeit verändert hatte, die Stadt sich Stück für Stück einen Teil der Natur durch Industrie und Wohnungsbau holte. Vor zwanzig Jahren war ihr Sohn auch vor der Entscheidung gestanden, alles aufzugeben und zu verkaufen, weil sich die reine Landwirtschaft nicht mehr wirtschaftlich betreiben lies. Der Familienrat hatte damals beschlossen einen Teil der Ländereien zu verkaufen und aus dem Rest ist der Reiterhof entstanden. Dann fiel ein Satz und Oma Else hatte die volle Aufmerksamkeit von Semir wieder, der mittlerweile bei seinem dritten Stück Kuchen und der vierten Tasse Kaffee angelangt war.


    „Das alte Forsthaus mit den angrenzenden Ländereien und dem Waldstück mussten wir verkaufen, um den Aufbau des Reiterhofs zu finanzieren. So ein Finanzhai hatte damals ein kleines Vermögen hingeblättert, um das Grundstück zu kaufen. Sie müssten mal sehen, was der Kerl daraus gemacht hat!“ Angewidert verzog Oma Else das Gesicht. „Das alte Forsthaus hat er abgerissen und eine riesige Bonzen-Villa mitten in das Waldstück reingebaut. Zur Krönung wurde das Ganze noch mit einer hohen Mauer eingefasst, damit ja keiner unerlaubt auf das Grundstück kommt. Das gleicht einer Festung!“

    „Und wohnt er noch dort?“ Bei der Bezeichnung Geldhai musste Semir unwillkürlich an den Rechtsanwalt denken. So eine Person würde zu dessen Mandantenkreis passen.

    „Nein … nein, all sein Geld hat ihm kein Glück gebracht. Die Frau hat sich scheiden lassen und zuletzt hatte dieser Hofer sich auch noch an der Börse verspekuliert. Vergangenes Jahr wurde das Anwesen verkauft. Eine Zeit lang schien das Haus unbewohnt gewesen zu sein.“ Semir unterbrach die alte Frau wieder. „Kennen Sie die Leute, die das Haus gekauft haben?“ - „Nein! Sind aber komische Menschen, die dort seit einem halben Jahr leben. Direkt an der einen Mauerseite führt ein Reitweg vorbei, der von unseren Reitern viel benutzt wird. Es ist schon mehrmals passiert, dass unsere Leute massiv beschimpft wurden und aufgefordert wurden, weiter zu reiten. Die rasen mit ihren dunklen Autos jedes Mal hier vorbei, als wäre das eine Autobahn!“

    Oma Else kam so richtig in Fahrt und ließ ihren Unmut über die Bewohner der Villa mehr als deutlich raus. Sie erzählte und erzählte … und Semir hörte ihr aufmerksam zu, sog jedes Detail in sich auf.


    Vollgestopft mit leckerem Apfelstrudel und abgefüllt mit dem besten Kaffee aller Zeiten verabschiedete sich Semir bei der netten alten Dame, als die Sonne langsam hinter dem Horizont als glutroter Ball verschwand. Die Natur zauberte mit dem Abendrot ein unvergessliches Farbenspiel an den Himmel. Doch Semir hatte dafür keinen Sinn. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch eine knappe Stunde sollte es hell sein. Er wollte die verbleibende Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit nutzen und sich unbedingt diese Villa noch einmal aus der Nähe anschauen, bevor er nach Hause fuhr. Oma Else hatte ihm die Umgebung genau beschrieben und auch eine Stelle genannt, wo er unauffällig Bens silbernen Mercedes parken konnte.


    *****


    Gleicher Abend - Auf der A3 Fahrtrichtung Köln


    Gabriela Kilic döste auf dem Beifahrersitz des Audi Q7 vor sich hin. Die Rückfahrt von Zürich nach Köln zog sich länger hin als erwartet. Auf der A5 waren sie in der Nähe von Karlsruhe am Vormittag in einen längeren Stau geraten, der ihre Reisezeit um zwei Stunden verlängert hatte. Mittlerweile befanden sie sich auf der A3, Höhe Limburg, und sollten laut Navi in einer guten Stunde zurück in Köln sein.


    Camil Musicz, der Fahrer des Audis, trat voll in die Bremsen, um einen Unfall zu vermeiden. Auch die Fahrer der nachfolgenden Fahrzeuge hatten ihre liebe Not, rechtzeitig zu bremsen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Gabriela wurde ziemlich heftig aus ihrem Dämmerschlaf gerissen und hing lauthals schimpfend in ihrem Sicherheitsgurt. Dann erblickte sie die Ursache des Bremsmanövers.


    Ein LKW Fahrer in Fahrtrichtung Köln hatte im Baustellenbereich auf der Gefällstrecke bei Limburg verbotener Weise überholt und nach einer Berührung mit einem anderen LKW die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Lastwagen hatte zwei PKWs auf der linken Fahrspur touchiert und die Leitplanke aus Beton auf die Gegenfahrbahn verschoben. Die Sattelzugmaschine stand auf der Gegenfahrbahn in Richtung Frankfurt. Mehrere Fahrzeuge, die keine Chance mehr hatten, rechtzeitig zu anzuhalten, waren in das Hindernis gerast und hatten sich ineinander verkeilt. Der Sattelauflieger stand quer über die drei Fahrspuren in Richtung Köln und blockierte diese. Ein roter Kleinwagen hatte sich unter dem Sattelauflieger verkeilt. Durch die Wucht des Aufpralls war die Ladung des Lastwagens, die aus verschiedenen Lackfarben für eine Baumarktkette bestand, auf den Fahrspuren verteilt worden. Viele Farbdosen waren beschädigt worden und der flüssige Inhalt lief über den Asphalt. Nichts ging mehr. Der Verkehr stand. Der Tank des Lastwagens, der den Unfall verursacht hatte, war beschädigt worden. Graue Rauchwolken stiegen von der Unfallstelle gen Himmel.


    Der Audi befand sich auf der linken Fahrspur und der Serbe folgte dem Beispiel der anderen Autofahrer vor ihm und parkte das Fahrzeug so nahe wie möglich an der Leitplanke, um eine Rettungsgasse zu bilden. Anschließend stellte er den Motor ab und atmete tief durch.


    Ungehalten fluchte die Kroatin in der Zwischenzeit vor sich hin, bis ihr Fahrer sie genervt anblaffte: „Lass es mal gut sein Gabriela! Fluchen ändert auch nichts dran. Wir stecken hier fest. … Und so wie das aussieht, behaupte ich für längere Zeit. Ich laufe mal die paar Meter bis zur Unfallstelle und schau mir mal das Desaster an! Anschließend sage ich Remzi Bescheid!“


    Camil wartete nicht auf eine Antwort seiner Beifahrerin. Beim letzten Satz öffnete er die Fahrertür, stieg aus und ließ die verdutzte Kroatin zurück. Draußen schob er sich als erstes eine Kippe zwischen die Lippen und stapfte in Richtung der Unfallstelle, die in einigen hundert Metern Entfernung lag. Er inhalierte den blauen Dunst tief in seine Lungen und bildete sich ein, dies würde sein angekratztes Nervenkostüm ein wenig beruhigen.


    Die vergangenen Tage waren kein Zuckerschlecken gewesen. Bei unterschiedlichen Anlässen hatte er den Lebenspartner der Kroatin spielen müssen, um deren Tarnung zu perfektionieren. Für ihn, der steife Umgangsformen hasste, legere Kleidung liebte, war das Tragen von Anzügen, die verschiedenen Essen und Treffen mit diesem windigen Anwalt aus Köln, ihren Geschäftspartnern in Belgien, Luxemburg und der Schweiz der reinste Horror gewesen. Insgeheim bereute er mittlerweile den Entschluss, den Ruf seines Kumpels Remzi gefolgt zu sein. Seit dem gestrigen Abend war seine Laune auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Da er der Tarnung wegen, sich mit Gabriela zum Übernachten eine Suite teilte, er schlief auf dem Sofa und sie ihm Doppelbett, hatte er einen letzten Versuch gewagt.


    Wie er es Elena versprochen hatte, wollte er die junge Frau mit zurück in seine Heimat nehmen. Wie die Male zuvor ließ ihn Gabriela eiskalt abblitzen.

    Ziemlich kaltschnäuzig hatte sie ihm erklärt: „Die Kleine hat zu viel gesehen und zu viel mitbekommen. Das letzte was ich für meine Zukunft gebrauchen kann, ist eine geschwätzige Zeugin. Du kannst den Job gerne haben, wenn dir so viel an dem Wohlergehen der Russin liegt!“

    Damit war das Thema erledigt und insgeheim fragte sich der Serbe, ob er letztendlich auch ein lästiger Zeuge sein würde. Einzig und allein das sein Freund Remzi für Gabriela bürgte und das fürstliche Honorar, das ihm die Kroatin in Aussicht gestellt hatte, hielten ihn von einer vorzeitigen Rückkehr in seine Heimat zurück.


    Von seiner Position aus erkannte Camil die Dimension des Unfalls. Da er absolut keine Lust hatte, erste Hilfe zu leisten, setzte er sich auf eine der Betonabgrenzungen, fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seines Kumpels Remzi. Während er mit seinem Freund telefonierte, konnte der Serbe im Schein der untergehenden Sonne die flackernden Blaulichter der sich nähernden Rettungsfahrzeuge erkennen. Das Geheul ihrer Sirenen war weithin hörbar. Und dennoch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Einsatzfahrzeuge ihren Weg durch den Rückstau gebahnt hatten.

    Zur selben Zeit in der Villa


    Der Morgen und die Mittagszeit waren für die beiden Gefangenen in der Villa der reinste Horror gewesen. Remzi ließ Elena keinen Moment mehr unbeobachtet in das Zimmer der Gefangenen. Es war deshalb keine Kommunikation mehr zwischen ihr und Anna möglich. Die junge Ärztin musste darauf vertrauen, dass die Absprachen zwischen ihr und Elena für die kommende Nacht funktionieren würden. Akribisch kontrollierte der Söldner jedes Stück Wäsche und die Nahrungsmittel, welche die kleine Russin ins Schlafzimmer zu den beiden Eingesperrten brachte. Die Luft im Raum war abgestanden und stickig, doch das schien den Grauhaarigen nicht im Geringsten zu stören. Die Fenster blieben verschlossen. Anna wagte es auch nicht zu fragen.


    Während seiner Anwesenheit im Schlafzimmer verhöhnte er Ben und beschrieb ihn ins kleinste Detail, welche Quälereien den jungen Polizisten in den kommenden Tagen erwarten würden. Anna war ebenfalls das Ziel seiner spöttischen und demütigenden Kommentare. Ihr gelang es nicht so gut, ihre Panik und Ängste zu verbergen. Remzi genoss jede Sekunde seiner Macht, die er über die Gefangenen hatte. Jedes Mal atmeten die beiden Eingeschlossenen erleichtert auf, wenn sich die Tür hinter dem grauhaarigen Sadisten schloss.


    Doch am frühen Nachmittag wendete sich das Blatt. Mit einem lauten Knall flog die Zimmertür gegen die dahinterliegende Wand. Anna saß wie so oft in den vergangenen Tagen in ihrem Schaukelstuhl. Durch die geschlossene Fensterscheibe hatte sie nach draußen geblickt und war in ihren Tagträumen versunken gewesen. Erschrocken fuhr sie zusammen, während Ben weiter seelenruhig in seinem Bett schlief. Wie üblich hatte sich der Verletzte auf seine rechte Körperseite gedreht, weil er so am wenigsten Schmerzen hatte. Völlig überraschend stand der Grauhaarige alleine hämisch grinsend in der Tür. Anna ahnte schon, das verhieß nichts Gutes, als er auf seine Krücken gestützt, langsam ins Zimmer Richtung Bett humpelte.


    „Na Schätzchen! … Wird wohl langsam Zeit, dass wir den Bullen mal aus seinen Schönheitsschlaf wecken!“, dabei holte er mit einer seiner Krücken aus und schlug damit Ben auf den Oberkörper.


    Keine Sekunde später fuhr der dunkelhaarige Polizist mit einen unmenschlichen Schmerzensschrei in die Höhe um anschließend wieder in sich zusammen zu fallen. Er wimmerte vor sich hin und krümmte sich. Anna schrie hysterisch auf und sprang wie eine wild gewordene Löwin auf den Grauhaarigen zu.
    „Du Schwein! … Du verdammtes Schwein!“, brüllte sie außer sich vor Zorn und Wut den Söldner an. Sie stellte sich breitbeinig vor den Kranken, der im Hintergrund leise im Bett stöhnte und breitete ihre Arme aus, als wollte sie mit ihrem Körper eine Schutzmauer für ihn vor Remzi bilden. „Lass ihn in Frieden!“
    Der Grauhaarige quittierte dies mit einem Lachen, das nur so vor Hohn und Bösartigkeit troff. „Überanstrenge dich nur nicht Schätzchen! … Die Schonzeit ist für euch vorbei. Ich hatte gerade einen Anruf von unserer gemeinsamen Freundin Gabriela. Sie kommt im Laufe des Abends zurück.“


    ******
    Nachmittags ein Reiterhof am Schlagbaumsweg in Köln Merlheim


    Mit Hilfe den Videoaufzeichnungen aus der Stern-Apotheke konnte Einstein den Beweis erbringen, dass der gesuchte Camil Music dort Schmerzmittel eingekauft hatte. Geschickt hatte es der Serbe verstanden sein Gesicht so zu halten, dass man es auf dem Video kaum erkennen konnte, doch das Tattoo auf seiner rechten Hand war eindeutig erkennbar gewesen und hatte ihn verraten. Ein Vergleich mit dem Bildmaterial von der Notaufnahme der Uniklinik ergab laut Hartmut eine neunundneunzig prozentige Übereinstimmung. Ebenso war die Befragung der Angestellten in der zweiten Apotheke im Einkaufscenter ein Volltreffer.
    Semir zeigte der Apothekerin auf seinem Handy ein Foto des Verdächtigen, die ihn sofort wieder erkannte. Die Frau war sich absolut sicher, dass in den vergangenen Tagen mehrfach eine junge Frau, die entweder in der Begleitung des Verdächtigen oder in Begleitung von Männern mit südländischem Aussehen war, auffallend viel Verbandsmaterial und Medikamente für eine Wundversorgung eingekauft hatte. Eine Videoüberwachung gab es hier leider nicht. Trotzdem erinnerte sich eine der Apothekenverkäuferinnen an das auffällige Tattoo. Das bestärkte den Türken in seiner Meinung, endlich eine wirklich heiße Spur gefunden zu haben. Er meldete sich über Funk bei Susanne ab und begann systematisch im Laufe des Nachmittags nach Dienstschluss alle Anwesen entlang des Schlagbaumswegs in Köln Merlheim abzuklappern.


    Am späten Nachmittag blieb nur noch der Reiterhof blieb übrig, wobei sich Kollege Turbo ziemlich sicher war, dass der schwarze Audi Q5 nicht auf dieses Grundstück abgebogen war. Der Türke parkte sein Fahrzeug auf einem beschilderten Gästeparkplatz und stieg aus. Suchend blickte sich Semir um und erspähte eine alte Frau, die aus ihrer Haustür heraustrat. Das kleine Häuschen mit seiner Fachwerkfassade vermittelte einen idyllischen Eindruck.


    „Hallo junger Mann! Wen suchen Sie denn?“ In ihrer Hand hielt sie eine alte Kaffeemühle, an deren Kurbel sie fortwährend drehte. Der Kommissar ging auf die alte Frau zu, fischte seinen Ausweis aus der Hosentasche und stellte sich vor.
    „Gerkhan, Kripo Autobahn. Ich suche diesen Mann hier! War der hier mal auf dem Hof?“ Dabei zeigte er ihr das Foto von Camil Music.
    „Kripo Autobahn?“, meinte die alte Frau verwundert, „Die Autobahn ist doch mindestens zwei bis drei Kilometer Luftlinie weg von hier. Zeigen Sie noch mal her junger Mann! Meine Augen sind mit meinen achtundsiebzig Jahren nicht mehr so gut!“ Sie betrachtete das Foto auf dem Handy Display eingehend und schüttelte den Kopf „Nein, dieser Mann war in den letzten Wochen nicht hier auf dem Hof, da bin ich mir absolut sicher! Ich kenne alle Leute, die zum Reitunterricht herkommen oder ein Pferd bei meinen Enkelsohn eingestellt haben.“


    Die Weißhaarige sah Semirs enttäuschten Gesichtsausdruck. Aus dem offenen Küchenfenster ertönte das Pfeifen eines Wasserkessels.
    „Das Kaffeewasser ist heiß. Haben Sie ein bisschen Zeit Herr Kommissar? Dann lade ich sie zu einer guten Tasse Kaffee ein.“ Dabei hielt sie ihre Kaffeemühle aus Holz demonstrativ nach vorne und drehte weiter emsig an der Kurbel. „Nicht so eine komische braune Brühe, wie sie aus den neumodischen Apparaten kommt. … Sondern so richtig mit der Hand gemahlen und gefiltert. Dazu gibt es frischen Apfelkuchen, von unseren Sommeräpfeln!“
    Semir wollte schon ablehnen und weiterhetzen. Doch da war etwas an dieser alten Frau, der in ihm den Wunsch weckte, zumindest für ein paar Minuten bei seiner Suche nach Ben und Anna zur Ruhe zu kommen.
    „Ach, übrigens, wo bleiben denn meine Manieren. Ich habe mich ihnen ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Elisabeth Winkler. Aber alle nennen mich Oma Else und machen Sie das bitte auch!“
    Der Türke seufzte unbewusst auf.
    „Sie sehen müde aus Herr Kommissar. Setzen Sie sich schon mal auf die Bank, ich decke den Tisch!“
    Sie lächelte ihn mütterlich an und verschwand in der Haustür. Nach einigen Minuten schnupperte Semir den verlockenden Duft von Kaffee, der durch den Spalt in der Haustür nach draußen drang.


    Von seinem Sitzplatz aus konnte er fast das komplette Areal des Reiterhofs überblicken. Er hatte seinen Kopf an die Hauswand angelehnt, sorgsam darauf bedacht, keine der Geranienblüten abzubrechen. Oma Else hatte an jeder freien Stelle vor der Hauswand, einen Blumentopf mit einer prächtig blühenden Pflanze stehen. Die abendlichen Sonnenstrahlen spendeten eine angenehme Wärme. Der kleine Türke ließ seinen Blick umherschweifen. Da waren die Stallungen, das Haupthaus, die Sattelkammer und natürlich die Koppeln, auf denen Pferde unterschiedlichster Rassen grasten, von einem kleinen Pony bis hin zum stämmigen Kaltblüter. In einer anderen Koppel bekam eine Gruppe von Mädchen Reitunterricht. Seine Gedanken schweiften ab zu seiner Familie. Aida hatte sich so sehnlichst zu ihrem achten Geburtstag ein paar Reitstunden gewünscht. Wenn er die geparkten Fahrzeuge betrachtete, würden die Kosten dafür wohl seine Gehaltsklasse sprengen. Allerdings würde Andrea wieder arbeiten ….

    Einige Zeit später lag Anna immer noch wach neben ihrem Freund und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Sie grübelte über seine Fluchtpläne nach, die Aussicht auf Erfolg. Sie betete inbrünstig, dass Gabriela Kilic wie von Elena behauptet, erst am darauffolgenden Tag wieder nach Köln. Ihr war klar, was die Rückkehr der Kroatin für sie und Ben bedeutete. Der Anfang vom Ende.


    *****


    Kurz nach 20.00 h bog Semir in die Zufahrt zu seinem Grundstück ein. Ein schwarzer getunter Buick stand in der Zufahrt zur Garage, an dem Tacho lässig lehnte und mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht auf den Kommissar wartete. Der kleine Türke parkte sein Fahrzeug dahinter. Beim Aussteigen aus dem silbernen Mercedes, der normalerweise Bens Dienstwagen war, hielt er für einen Moment inne. Er nahm die Sonnenbrille ab, lehnte sich mit dem linken Unterarm auf die Fahrertür und starrte den jungen Polizisten an.


    „Ich glaube es nicht!“ Semir schlug die Fahrertür zu und ging langsam auf Tacho zu. Dabei musterte er ihn von oben bis unten. „Kneif mich mal in die Backe und sag, dass du es bist!“, forderte er den Blonden auf, „Wo hast du denn den schicken Anzug her?“ Anerkennend pfiff Semir vor sich hin. „Meine Fresse, du könntest ja locker als einer dieser jungen aufstrebenden Banker an der Frankfurter Börse durchgehen!“


    Der blonde Polizist löste sich von seinem Fahrzeug, drehte sich wie ein Modell einmal um die Körperachse und grinste von einem Ohr zum anderen: „Gewusst wie! … Kleider machen Leute, Kollege Gerkhan. So eine Pleite wie Bonrath wollte ich in diesem Nobelschuppen in Brüssel nicht erfahren.“ Er deutete eine leichte Verneigung vor Semir an und feixte frech vor sich hin: „Darf ich vorstellen: Dr. Klaus Traminski, Junior Assistent des Geschäftsführers der Deutschen Bank in Brüssel! …“ Für ein paar Sekunden wurde er ernst. „Ich habe einige sehr interessante Informationen aus den Angestellten dieses Nobelschuppens rausbekommen. … Vor allem die Weiblichen waren sehr gesprächig.“ Und schon zwinkerte er amüsiert den Türken zu. „Aber ich denke, wir sollten auf die anderen warten, sonst muss ich es doppelt erzählen.“


    „Ich sehe schon, da wurden wieder einige Frauenherzen gebrochen!“, antwortete der Türke mit gespielter Empörung.

    Die Augen des Blonden blitzten bei der Antwort voller Übermut und unternehmungslustig auf, dass Semir einfach lachen musste. Für einige Augenblicke rückte der Ernst der Lage ein wenig in den Hintergrund. Tacho berichtete wortgewandt von seinen Erlebnissen mit dem weiblichen Geschlecht, während die beiden Polizisten, miteinander lachend, gemeinsam zur Haustür schritten.
    Als Semir den Schlüssel ins Schloss steckte, tauchten bereits Jenny und Hartmut auf, dicht gefolgt von Dieter Bonrath und Susanne. Bonrath und Susanne waren mit Kartons, auf denen die Insel Sizilien in den Landesfarben von Italien gedruckt war, bepackt. Sie hatten bei einem Abhol-Service Pizzas besorgt.
    „Hallo Jungs, Abendessen ist da!“, meinte Susanne und hielt die quadratischen Kartons, aus denen ein verführerischer Duft kam, in die Höhe.
    Zum Schluss traf noch Werner Holzinger, ein Kollege von der Streife der PAST ein. Dessen Partner überwachte momentan sicherheitshalber das Anwesen von Dr. Hinrichsen.


    *****


    Am darauffolgen Tag …. Früh morgens auf der Dienststelle


    Als Semir auf die Zufahrt zur Dienststelle einbog, glitzerte der Asphalt von der Feuchtigkeit des Regenschauers, der vor einer Stunde über Köln niedergegangen war. An einigen Stellen riss die Wolkendecke auf und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg. Der Nachrichtensprecher im Radio versprach bei der Wetterprognose für den heutigen Tag schönes warmes Sommerwetter.
    Der Parkplatz vor der PAST war wie leergefegt. Die Frühschicht war längst auf den Autobahnen unterwegs. Im morgendlichen Berufsverkehr war es durch die regennasse Fahrbahn zu kleineren Auffahrunfällen mit Bagatellschäden gekommen, wie ihm Kollege Lang, der heute den Schalter besetzte, nach einer freundlichen Begrüßung erklärte. Die Kollegin in der Funkzentrale empfing den Türken auch mit einem freundlichen Guten Morgen und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand bei der Suche nach Ben und Anna. Mit einem leichten Seufzer trotte Semir in sein Büro und fuhr seinen Rechner hoch, las hoch konzentriert die letzten Mails und die Polizeiberichte über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht. Dabei blendete er die Geräuschkulisse aus dem Großraumbüro völlig aus. Das Klingeln der Telefone, das Stimmengewirr der Kollegen, das Randalieren eines Betrunkenen, den die Kollegen eingesammelt hatten, als er auf der Autobahn spazieren gehen wollten.


    Ein leises Klopfen am Türrahmen ließ ihn aufblicken. In der Tür stand Susanne und murmelte ein freundliches „Guten Morgen!“ Fast schon gewohnheitsgemäß stellte sie ihm eine Tasse schwarzen Kaffee auf den Schreibtisch. „Schwarz wie die Nacht und zwei Löffel Zucker extra!“, bemerkte sie mit einem Lächeln. „Hast du einen Moment Zeit? Ich bin mit den Anrufen durch, die wir gestern Abend besprochen hatten!“


    Vorsichtig nippte der Türke an dem heißen Getränk. „Ohne das Zeug, würde ich wohl keinen Tag mehr durchstehen! Sag, hast du was rausgefunden?“


    Die Sekretärin seufzte auf und ließ sich auf einem Stuhl neben Semirs Schreibtisch nieder. „Also ich habe alle Apotheken und Allgemeinärzte im Umkreis von drei Kilometern um den Buchheimer Ring angerufen. Bei den Ärzten gab es nur negative Auskünfte. Aber es gab eine Apothekerin, eine Frau Maria Kleinschnitz von der Stern Apotheke, die konnte sich an einen schnauzbärtigen Mann erinnern, südländischer Typ, der hatte bei ihr Freitag auf Samstag vergangener Woche während des Nachtdienstes geklingelt und starke Schmerzmittel verlangt. Er hatte sich alle Packungen, die sie ihm zur Auswahl hinlegte geschnappt und mit einem hundert Euro-Schein bezahlt. Weil damit die Medikamente reichlich bezahlt waren, hatte sie von einer Anzeige abgesehen. Jenny fuhr von zu Hause aus direkt zu dieser Apotheke, um die Zeugenaussage der Frau aufzunehmen und holt das Überwachungsvideo von jener Nacht ab.“ Susanne blickte auf ihre Armbanduhr und meinte anschließend: „Sie müsste längst auf dem Weg zur KTU sein. Vielleicht kann ja Hartmut ein verwertbares Foto aus dem Film rausbekommen.“


    Mit seiner flachen Hand hieb Semir leicht auf die Schreibtischplatte. „Ich wusste doch, dass dieser verdammte Rechtsverdreher nicht zufällig in dieser Gegend unterwegs war!“


    „Semir, ich habe noch etwas! … In einem Real Einkaufszentrum in Köln Merheim gibt es auch eine Apotheke. Dort hat eine Angestellte mir von einer jungen Frau, Anfang zwanzig, berichtet, die in den vergangenen Tagen mehrmals ungewöhnlich viel Verbandsmaterial eingekauft hat. Dazu Schmerzmittel und sonstige Medikamente, die man zur Wundversorgung benötigt.“ Sie reichte Semir einen Notizzettel. „Ich habe dir mal die Anschrift und Telefonnummern der Apotheke in dem Einkaufsmarkt aufgeschrieben.“


    Semir schlug den Aktendeckel zu, der vor ihm lag und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Während er die Informationen las, die auf dem Zettel standen, den Susanne ihm in die Hand gedrückt hatte, sagte er: „Weißt du was, dieses Aktenwälzen bringt ja sowieso nichts. Zuerst besuche ich diese Apotheke im Real Markt und anschließend werde ich mich in der Gegend um den Buchheimer Ring nochmals gründlich umschauen um!“


    „Frau Krüger hat sich vor ein paar Minuten gemeldet. Sie kommt frühestens morgen Mittag mit unserem Herrn Oberstaatsanwalt zurück. …“ Die letzten Worte betonte sie besonders und zwinkerte mit den Augen. „Sprich keiner hindert dich daran Nachforschungen der besonderen Art anzustellen.“


    Daraufhin kehrte Susanne an ihren Schreibtisch zurück. Semir trank unterdessen seine Tasse leer und fischte seinen Autoschlüssel vom Schreibtisch, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Ein Blick auf das Display verriet ihm, das sich Hartmut am anderen Ende der Leitung war. „Guten Morgen Einstein, hast du schon etwas rausgefunden?“ Aufmerksam lauschte er den Worten des Rotschopfs und meinte zum Abschluss des Gespräches: „Das hört sich nach einer brauchbaren Spur an. Ich komme gleich bei dir in der KTU vorbei. Die Bilder will ich mir persönlich anschauen.“


    Auf dem Weg nach draußen stoppte der Türke für einen Moment an Susannes Schreibtisch.

    „Kleine Planänderung. Ich fahre zuerst zu Harmut in die KTU. Er hat das Video aus der Apotheke ausgewertet und einen alten Bekannten entdeckt. … Vermutlich diesen Camil Musicz. … Rechne nicht damit, dass ich heute noch mal auf die Dienststelle zurückkomme. Wir halten uns über Funk auf dem Laufenden.“
    Wenig später brauste er mit durchdrehenden Reifen vom Hof der Dienststelle.

    Als sich die Tür hinter dem Söldner schloss, fuhr die Gefühlswelt von Anna Achterbahn. Es war eine Mischung aus Angst, Entsetzen und gleichzeitig Erleichterung darüber, dass ihr und Ben erst einmal nichts geschehen war. Sie wusste mittlerweile wozu Remzi fähig war. Nicht auszudenken welche Vergeltungsmaßnahmen er ergriffen hätte, wenn er das Seil, das Elena am Vormittag mit der Wäsche ins Zimmer geschmuggelt hatte, gefunden hätte. Innerlich dankte Anna für die Eingebung, dass sie das Seil, welches ihnen die Flucht durch eines der Fenster ermöglichen sollte, unter der Matratze versteckt hatte.
    So sehr sie sich auch bemühte, ihre Fassade konnte sie nicht länger aufrecht halten. Ihre Beine gaben nach und Anna sank vor dem Bett auf die Knie. Sie starrte ihren Freund an. Nur langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag, doch die Angst blieb. Und nicht nur ihr erging es so, wie sie an Bens Mimik erkennen konnte.


    Der Dunkelhaarige lag kreidebleich da und biss sich auf die Lippen, zwischen denen er leise hervorzischte:
    „Gerade noch einmal gut gegangen!“
    Hörbar entwich ihm die Atemluft.
    „Du hast Recht! … Völlig Recht. Unsere letzte Chance zu überleben, ist eine Flucht!“ Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Fenstern hin und her. „Doch verrate mir wie? … Wie sollen wir aus diesem verdammten Zimmer rauskommen! Die Fenster sind mit diesen Sicherheitsschlössern verschlossen!“


    Anna kämpfte gegen ihre Emotionen an und konnte nur mühsam ein verzweifeltes Aufschluchzen unterdrücken. Ben schob Anna, die sich an ihn herangeschmiegt hatte, leicht von sich. Er richtete seinen Oberkörper auf und setzte sich auf die Bettkante. Sorgfältig musterte er den Fensterriegel und das Schloss. Seine Freundin zog er zu sich auf die Bettkante und schlang seinen Arm um ihre Schulter. Er hauchte ihr einen Kuss ins Haar und murmelte in einem beruhigenden Tonfall: „Scht … alles wird gut. Ich verspreche es dir! ... Der Fensterriegel …“, er schmunzelte vor sich hin. „Das ist ein Grund, aber kein Hindernis. … Ich hatte da so einen kleinen türkischen Lehrmeister, der mir beigebracht hat, jedes Zylinderschloss kann man knacken, man muss nur wissen wie!“
    „Ehrlich?“ Sie löste sich von ihm und blickte ihn skeptisch an. „Womit denn?“
    Wieder lachte er leise auf. „Na in deiner schwarzen Tasche ist bestimmt das richtige Werkzeug vorhanden. Viel wichtiger ist die Frage: Kann Elena den Autoschlüssel mit dem Toröffner besorgen? Damit steht und fällt unsere Chance auf eine erfolgreiche Flucht! … und wenn es geht eine Schusswaffe!“
    Anna nickte zustimmend. „Elena ist sich sicher, dass sie Aleksandar Kovac seinen Autoschlüssel und auch die Waffe entwenden kann. Sie wird alles so machen, wie du es mir erklärt hast: Morgen Nacht, eine Stunde nachdem alle schlafen gegangen sind, wird sie den jungen Mann fesseln und knebeln, damit er nicht vorzeitig Alarm schlagen kann. Dann schleicht sie sich zu uns ins Zimmer …!“
    „… und ich habe bis zu diesem Zeitpunkt eines der Fensterschlösser geknackt!“ So gut es ging versuchte Ben ein wenig Optimismus auszustrahlen. „Wir schaffen das, du musst nur fest daran glauben!“ Er hob seine Hand, strich ihr mit dem Daumen über die Wange, über ihre Lippen. Seine dunkelbraunen Augen hatten dabei einen Ausdruck, den Anna nicht zu deuten wusste. „Ich liebe dich mein Schatz!“ Sein Kopf bewegte sich auf sie zu und sie kam ihm entgegen, bis sich ihre Lippen trafen. Als sie sich voneinander lösten, meinte er: „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich vor Hunger sterben könnte!“
    „Herr Jäger! … Bitte!“, murmelte sie gespielt entrüstet und lachte auf „Du änderst dich nie!“


    Nach dem Abendessen schlüpfte Anna zu ihm unter die Bettdecke. Eng schmiegte sie sich an ihn heran. Ihr Kopf lag in seiner Armbeuge und ihre Haare kitzelten seine Nase. Nach wenigen Minuten verrieten ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Obwohl er körperlich müde und erschöpft von dem kleinen Gang zur Toilette war, fand Ben einfach keinen Schlaf. Tausend Gedanken geisterten durch sein Gehirn. Er fühlte sich zurückversetzt in die Situation vor einem guten Jahr. Nur damals waren es Andrea und Aida gewesen, die mit ihm in diesem Schuppen gefangen gewesen waren. Grausame Ironie des Schicksals? Auch damals plante er eine Flucht, die für ihn völlig aussichtslos erschien. Er hatte überlebt, sollte er das als Zeichen der Hoffnung werten?


    Ben hatte sich auch heute nicht anmerken lassen, welche Kraft und Überwindung ihn jeder einzelne Schritt kostete. Ob Anna ahnte, welche Schmerzsignale sein Körper bei jeder Bewegung aussandte? Wie lange würde sein geschundener und entkräfteter Körper auf der Flucht durchhalten? Fragen über Fragen quälten ihn und er wusste doch keine Antwort darauf. Stattdessen hielt er sich sein Ziel vor Augen. Anna und Elena sollten aus diesem Gefängnis lebend entkommen. Er wollte, dass seine Freundin und sein ungeborenes Kind eine Zukunft hatten. Ben vertraute darauf, dass die Vernunft in Anna siegen würde, falls er, wovon er ausging, irgendwo auf dem Gelände der Villa zurückbleiben musste, sich irgendwo im Unterholz des Parks verkriechen konnte. Mehr oder weniger hing alles davon ab, wann ihre Entführer ihre Flucht entdeckten. Mit einer Waffe in der Hand konnte er sich die Söldner eine gewisse vom Leib halten, die Flucht der Frauen decken. Und den Rest sollte das Schicksal entscheiden. Nur bei einer Sache war sich Ben sicher, niemals würden ihn diese Bestien in Menschengestalt nochmals lebend in die Finger bekommen.


    Stunden später ….


    Leise Schreie und ein Stöhnen rissen Anna aus ihrem Tiefschlaf. Sie lag mit ihrer Wange auf Bens Brust, die sich im schnellen Rhythmus hob und senkte. Sie richtete sich auf und fuhr mit ihrer Hand über seine schweißnasse Brust. Durch das geschlossene Fenster fiel der fahle Lichtschein des Mondes ins Schlafzimmer und spiegelte sich auf dem hellen Parkettboden und spendete ein spärliches Licht. Anna merkte wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Seit zwei Tagen hatte sie Ben kein Antibiotikum mehr verabreichen können. Waren die Infektion und das Fieber zurückgekehrt? Waren die Anstrengungen am heutigen Tag zu viel gewesen? Sie tastete nach seinem Puls, sein Herzschlag raste, strich über seine Stirn, die sich zwar schweißnass aber nicht heiß anfühlte. Langsam verstand sie seine gemurmelten Worte.


    „Nein! … Nein! Nicht mehr schlagen! … Nicht mehr schlagen!...“ Er keuchte und stöhnte. Sie begriff, dass er einen furchtbaren Alptraum durchlebte. Sanft tätschelte sie seine Wangen. „Ben! … Ben! … Hörst du mich? … Schatz! … Bitte wach auf!“ beruhigend sprach sie auf ihm ein. Urplötzlich versuchte er sich aufzurichten und fiel mit einem abgrundtiefen Stöhnen wieder zurück auf das Kissen. Auf einmal schlug er die Augenlider auf. Die blanke Panik stand in seinen Augen geschrieben. Das weiße in seinen Augen trat hervor und war deutlich im Zwielicht zu erkennen. Diesmal drangen ihre beruhigenden Worte zu ihm durch. „Schatz, ich bin es Anna! …Keiner tut dir etwas zu Leide! … Scht … Scht … Beruhige dich!“

    Seine Atmung verlangsamte sich.
    „Anna! … Halt mich fest! … Halt mich einfach nur fest!“


    Bei diesen Worten zog er sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen fanden. Seine Ängste suchten einen Ausweg. Ihre Zungen begannen ein wildes Spiel miteinander. Seine Hand fuhr unter ihr T-Shirt und mit der flachen Hand strich er zuerst über ihren Rücken, fühlte ihre weiche Haute, die Wärme ihres Körpers, die vertrauten Rundungen und es vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit. Er brauchte mehr davon.


    „Oh Gott Ben, was machst DU? … Doch nicht hier …!“
    Der Rest ging in ihrem Stöhnen unter. Zu sehr hatte ihr Körper nach seinen zärtlichen Berührungen gelechzt.
    „Doch! … Jetzt und hier! … Ich liebe dich Anna! … Du hast mir die Kraft gegeben, dass alles bis hierher durchzustehen … durchzuhalten … all diese furchtbaren Schmerzen zu ertragen, du und deine Liebe!“

    Zurück in der Villa
    Die Luft im Raum war heiß und stickig. Seit der Abreise von Gabriela Kilic hatten Remzi und Iwan Kovac unzählige Stunden in dem Zimmer verbracht, welches bis zum Tod von Rashid Stojkovicz als Überwachungs- und Computerraum gedient hatte. Gleich einem Haufen Schrott lagen die hochwertigen Laptops, Bildschirme und das sonstige elektronische Zubehör des Albaners unbeachtet in einer Ecke gestapelt. Iwan hatte die Schreibtische in der Mitte des Zimmers zu einem Quadrat zusammengeschoben und saß seinem Kumpel gegenüber.


    Mit einem entspannten „Ahhhh, geschafft!“, ließ sich Remzi in seinem Bürostuhl zurückfallen. Zwischen seinen Lippen hing eine qualmende Kippe. Er reckte seine Arme in die Höhe und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, dehnte und streckte sich. Sein verletztes Bein lag auf einem Hocker. Die Schreibtischplatte vor ihm war übersät mit elektronischen Bauteilen, farbigen Drähten, Feinwerkzeugen und Sprengstoff. Der Lötkolben qualmte noch ein wenig vor sich hin und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Die Luft des Raumes war vom Zigarettenrauch vernebelt, weil sich auch Iwan in den letzten Tagen zu einem Kettenraucher entwickelt hat.


    Die vergangenen Tage hatten Remzi und Iwan Kovac damit verbracht, die von Gabriela gewünschten Autobomben und Briefbomben zusammenzubauen, um deren teuflischen Racheplan in die Realität umzusetzen. Die Sprengsätze waren mit Zeitzündern oder Fernauslösern versehen. War Remzis Motiv vor wenigen Tagen noch die Geldgier gewesen, so hatte Gabriela Kilic in dem Grauhaarigen einen Verbündeten gefunden, der ihre skrupellosen Rachepläne bis ins Detail umsetzen würde. Seit der missglückten Entführung von Semir Gerkhan und seiner daraus resultierenden Verletzung nahm Remzi die Angelegenheit persönlich. Sehr persönlich! Er konnte es nicht verwinden, dass andere seine Schwäche gesehen hatten. Wenn es darum ging, Schmerzen zu ertragen, war er ein Weichei. Der Serbe hatte seinen Schuldigen gefunden: den türkischen Kommissar der Autobahnpolizei.


    Ihn machte er dafür verantwortlich, dass die Polizei ihn zur Fahndung ausgeschrieben hatte. Wobei ihn die Fahndung durch die deutsche Polizei relativ wenig interessierte. Es war der internationale Haftbefehl, der eine Rückkehr in sein Heimatland und sein bisheriges Leben verhinderte und seine Wut und Hass anstachelte. Die Vorbereitungen für den letzten großen Anschlag waren so gut wie abgeschlossen. Die Ziele waren nicht nur die Dienststelle der Autobahnpolizei, deren Angehörige, die Staatsanwaltschaft sondern auch die Familie von Ben Jäger waren. Die Kovac Zwillinge hatten die bewussten Personen und Örtlichkeiten in den letzten Tagen ausgekundschaftet. Sobald Gabriela nach Köln zurückkehrte, konnten die Attentäter jederzeit zuschlagen.


    Nur für die letzte Bombe, das letzte Ziel, hatte sich der Grauhaarige etwas Besonderes einfallen lassen. Er war sich sicher, Gabriela würde von seiner Idee begeistert sein. Das Anschlagsziel war der kleine türkische Kommissar und dessen Familie. Remzi schloss die Augen und gab sich der Vorstellung hin, wie die Leiden des Türken aussehen würden, wenn er seiner Familie beim Sterben zuschauen durfte. Sie würden in einem Moment zuschlagen, wo niemand mehr damit rechnete. Er wusste, irgendwann würde die Familie des Türken wieder nach Deutschland kommen und dann würde die Stunde der Rache schlagen. Einer der Kovac-Zwillinge würde die Bombe, die eine Fernzündung mittels Handy-Anruf besaß, bei nächster Gelegenheit im Haus des Türken platzieren. Ein Anruf und die Familie des Türken gehörte der Vergangenheit an, das Wohnhaus der Familie Gerkhan ein Berg aus Schutt und Asche, in dem sich die Überreste seiner Frau und Kinder befanden und der Türke sollte hilflos davor stehen.
    Ein kleines Haus am Stadtrand zum Untertauchen war bereits angemietet und die Miete für mehrere Monate bezahlt worden. Langweilig würde es ihm nicht werden, da war sich Remzi sicher, denn die junge Ärztin sollte ihm die Wartezeit vertreiben. Die Vorstellung, was er alles mit der kleinen Wildkatze anstellen könnte, ließ sein Blut in die unteren Regionen seines Körpers sacken.
    „Soll ich die Sprengsätze heute noch in die Autos einbauen?“
    Die Frage seines Kumpels riss Remzi aus seinen Gedanken. Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Lippen, überlegte kurz und antwortete:
    „Wir warten bis Gabriela zurück ist. Vielleicht hat sie sich es zwischenzeitlich doch anders überlegt oder ein neues Ziel gefunden. … Man weiß nie, was so in ihren Kopf rumspuckt!“ Dabei kratzte er sich am Hinterkopf und ließ seine Hände wieder nach vorne sinken.
    Der Glatzkopf nickte zustimmend und murmelte: „Dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich mir dem Abend frei nehme und in die Innenstadt verschwinde. Ich brauche ein wenig Zerstreuung!“ Die Geste seiner Hand führte zu seinem Schritt.
    Remzi quittierte dies mit einem dreckigen Lachen. „Leg eine für mich mit flach! Bin ja zurzeit verhindert! … Wobei?… Ich sollte mal nach unseren Gefangenen schauen. Mein Schätzchen hat bestimmt schon Sehnsucht nach mir!“
    Nun fiel auch Iwan Kovac in das schmutzige Lachen ein.


    Eine halbe Stunde später begleitete Remzi die Russin, als die junge Frau das Abendessen zu den Gefangenen ins Obergeschoß brachte. Wie in den vergangenen Tagen stellte sich Ben schlafend. Anna fuhr erschrocken zusammen, als sie die Gestalt des Grauhaarigen im Türrahmen erblickte. Der Serbe hatte sich von den Auswirkungen seiner Schussverletzung gut erholt. Um das verletzte Bein trug er eine Immobilisierungsschiene, die dem Oberschenkelknochen zusätzliche Stabilität verlieh. Gestützt auf seine Krücken musterte er das Schlafzimmer der Eingeschlossenen und den Verletzten eingehend. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er schürzte verärgert die Lippen. Wütend brüllte er in seiner Muttersprache ins Treppenhaus:
    „Aleksandar, beweg deinen A.rsch hierher!“


    Ein wenig außer Puste kam kurze Zeit später der junge Serbe angerannt. Anna verstand von der folgenden Unterhaltung nichts, da sie in Serbisch geführt wurde. Nur etwas war unübersehbar, Remzis Gesicht war vor Zorn gerötet. Die Schärfe in seiner Stimme verhieß nichts Gutes für den jungen Mann.
    „Was soll der S.cheiß hier!“, blaffte der Söldner den jungen Mann an.
    Ahnungslos zuckte Aleksandar mit den Achseln: „Was meinst du?“ Er setzte einen gelangweilten Blick auf und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.
    Der Grauhaarige hob eine der Krücken an und stupste mit deren Spitze den Jüngeren gegen die Brust. „Hast du nur noch im Kopf, wann und wo du die Russin flachlegen kannst? Du solltest die Weiber bewachen! Den Verletzten! … Warum erfahre ich nicht, dass es dem Bullen besser geht? … Warum?“, brüllte er lauthals los.


    Erneut schlug er brutal mit der Krücke zu. Katzengewandt wich Aleksandar dem Schlag aus und fauchte seinen Gegner wütend an. Der junge Mann wollte sich diese Behandlung nicht gefallen lassen. Von seinem Vater im Nahkampf ausgebildet, setzte er zur Gegenwehr an. Bereit den wesentlich größeren und kräftigeren Mann anzugreifen, ging er in Kampfhaltung.


    „Na los, schlag noch mal zu alter Mann!“, provozierte er den Grauhaarigen noch zusätzlich. Remzi ließ eine der Krücken fallen und zauberte wie aus dem Nichts eine Pistole hinter seinem Rücken hervor. Ohne zu zögern, drückte er den Abzug durch. Die Kugel fuhr vor dem jungen Serben in den Parkettboden, der daraufhin stocksteif stehen blieb. Holzsplitter spritzten auf. Ben riss im Bett erschrocken die Augen auf und drehte sich auf den Rücken.


    „Das meine ich!“, blaffte Remzi den Jüngeren an und deutete mit dem Lauf der Pistole in Richtung Bett. Er wandte sich Ben zu und sprach diesen auf Deutsch an:
    „Freut mich Bullenschwein, dass du dich so gut erholt hast. Das verspricht ja nochmals richtig unterhaltsame Vorstellung mit dir zu werden. Gabriela wird begeistert sein, wenn sie von ihrem kleinen Ausflug zurückkommt und hört, dass du dem Ableben deiner lieben Familie beiwohnen kannst.“
    Nicht nur der Tonfall und die grausame Drohung jagten Ben sondern auch seiner Freundin einen Schauer über den Rücken. Bens Augen weiteten sich vor Entsetzen. Anna, die seitlich auf dem Bettrand saß, erbleichte. Mit ihrer Hand tastete sie nach der Hand ihres Freundes und umschlag diese. Ihre Hände waren eiskalt und zitterten. In ihrem Magen lag ein steinerner Klumpen, dessen Gewicht sie zu erdrücken drohte. Aber die Minuten des Schreckens waren noch nicht vorbei.


    Dem Grauhaarigen entging die Reaktion seiner Opfer nicht. Genüsslich leckte er sich über die Lippen und wandte sich Anna zu: „Päpple deinen Lover ruhig in den nächsten Stunden noch ein wenig auf. Dann hält er bei meiner Spezialbehandlung länger durch!“ und fiel in einen teuflischen Lachanfall. Wortlos hob Aleksandar die Krücke auf und reichte sie dem Älteren.
    Remzis Zorn war noch nicht verraucht, im Gegenteil, sein Misstrauen war geweckt worden. Der Grauhaarige konnte es förmlich riechen, dass die Gefangenen etwas planten. Ihm waren die Blicke die zwischen Anna und Elena, die sich im Treppenhaus aufhielt, hin und her flogen nicht entgangen. Er humpelte ins Zimmer und befahl Aleksandar alle Schränke und das Badezimmer zu durchsuchen. Pedantisch überwachte der Söldner die Durchsuchungsaktion des Jüngeren. Bei jedem Handgriff setzte es einen giftigen Kommentar. Zum Schluss zog er Ben einfach die Bettdecke weg. Jedoch konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Gereizt brummte er vor sich hin.


    Innerlich dankte Anna für die Eingebung, dass sie das Seil, welches Elena am Morgen ins Zimmer geschmuggelt hatte und ihnen die Flucht ermöglich sollte, unter der Matratze versteckt hatte.
    Auf Anweisung von Remzi musste Aleksandar die Fenster verschließen und an den Fensterriegeln die Sicherungsschlösser gegen Einbrecher aktivieren. Lange überlegte der Grauhaarige, scannte mit seinem Blick nochmals das Schlafzimmer, das angrenzende Badezimmer und das Treppenhaus. Erst als er sich sicher war, dass aus seiner Sicht keine Fluchtgefahr mehr bestand, verschwand er zusammen mit Aleksandar.

    Zurück auf der PAST


    Ungeduldig wartete Semir auf den Telefonanruf seines Kollegen Andreas Trachinski aus Brüssel. Tacho hatte ihm hoch und heilig versprochen, sobald er im Hotel etwas über den Verbleib von Hinrichsen rausgefunden hatte, sich bei ihm zu melden. Wahrscheinlich hatten ihn die Hotelangestellten genauso wie am Abend vorher Dieter Bonrath, einfach abblitzen lassen.


    Zu Hause hätte Semir keine Ruhe gefunden, geschweige denn sich nochmals zum Schlafen hinlegen können. Deshalb beschloss er, direkt die Dienststelle anzusteuern. Vielleicht hatten die Kollegen etwas herausgefunden. Susanne war auf einer benachbarten Raststätte noch zum Mittagessen, während ein Großteil seiner Kollegen auf der Autobahn Streife fuhr oder Verkehrskontrollen durchführte. Das Großraumbüro wirkte fast menschenleer.


    Kim Krüger kam ihm auf dem Weg zu seinem Büro entgegen. Sie schien genauso müde und ausgebrannt zu sein, wie er sich fühlte. Ihre dunklen Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Der Haaransatz bildete einen Kontrast zur fahlen Blässe in ihrem Gesicht. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihrer Stirn eingegraben. Semir wusste, dass sich seine Chefin schwere Selbstvorwürfe machte, weil sie Anna Becker nach dem misslungenen Attentat auf Julia Jäger nicht unter Polizeischutz gestellt hatte. Selbst der Kotzbrocken von Oberstaatsanwalt hatte reumütig seine Fehler eingestanden und versuchte seitdem alles, um bei der Suche nach Ben und Anna mitzuwirken.
    Was weder Semir, noch einer der anderen Mitarbeiter der PAST ahnte, Kim hatte für sich einen Entschluss gefasst: Falls man Ben Jäger oder Anna nur noch als Leiche oder vielleicht überhaupt nicht finden würde, würde sie ihren Job hier auf der PAST hinschmeißen und sich irgendwo in den Innendienst versetzen lassen. Die Selbstvorwürfe, als Chefin versagt zu haben, hatten sich tief in ihrer Seele eingebrannt. Erschöpft ließ Kim sich auf Bens Bürostuhl nieder.


    „Hallo Herr Gerkhan!“, murmelte sie „Haben Sie irgendetwas Neues herausgefunden?“ Kim betrachtete Bens aufgeräumten Schreibtisch. Der Ansatz eines Lächelns zeichnete sich in ihrem Mundwinkel ab. „Ist schon verrückt! Was hätte ich manchmal darum gegeben, wenn der Schreibtisch von unserem Chaos-Polizisten so aufgeräumt ausgesehen hätte. Und jetzt … jetzt, wäre ich froh, wenn hier das übliche Durcheinander herrschen würde!“


    Kim Krüger beugte sich ein wenig nach vorne und stützte ihr Ellbogen auf der Schreitischplatte ab. Mit ihren Fingerspitzen rieb sie sich an den Schläfen. Dabei fiel ihr Blick auf die Akte über Julias Unfall, in der Ben zuletzt gelesen hatte. Sie biss sich auf die Lippen, bis von diesen nur noch ein farbloser Strich übrig war. Mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen blickte sie Semir an.


    „Wissen Sie welche Frage mir überhaupt nicht mehr aus dem Kopf geht?“ Erwartungsvoll starrte der Türke seine Chefin an. „Was wäre passiert, wenn wir Ben von Anfang an geglaubt hätten? Seine Vermutung, dass alles eine geschickt eingefädelte Intrige war?“ Sie schniefte auf. „Was wäre passiert? … Hätten wir es verhindern können?“


    Stille breitete sich im Raum aus.


    Semir starrte in Richtung von Bens Gitarre, die in einer Ecke des Büros an der Wand einsam und verlassen lehnte. Er hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn Ben ihm gegenüber gegessen wäre und den Gitarrensaiten eine rockige Melodie entlockt hätte. Für ein paar Sekunden schloss der Türke seine Augenlider und tauchte ab in die Vergangenheit. Es fühlte sich an als wäre es erst gestern gewesen, als sein Freund vom Dienst suspendiert wurde … dieser hässliche Streit in ihrem Büro, der ihr letztes Gespräch gewesen war … Bens anklagende Worte hallten in seinem Kopf wieder.


    „Du lässt mich im Stich? … Hilfst mir nicht?“ …


    Unbewusst seufzte er resignierend auf und blickte seine Chefin an.


    „Diese Frage kann ich ihnen nicht beantworten!“, gab der Türke desillusioniert zurück, „Wer auch immer hinter diesem perfiden Racheplan gegen Ben steckt, derjenige hat mit uns gespielt, wie ein Schachspieler mit seinen Spielfiguren. Er hat nicht nur Ben studiert sondern auch uns. Unsere Reaktionen vorausschauend mit eingeplant … einkalkuliert, seine Strategie festgelegt. Und wir …“, Semir senkte seine Blick, schüttelte ungläubig den Kopf. Von einer Sekunde zur anderen sah er niedergeschlagen und um Jahre gealtert aus. Sein Oberkörper sackte in sich zusammen. Langsam hob er seinen Kopf an und blickte seiner Chefin direkt in die Augen „… und wir Idioten haben uns genauso verhalten, wie es unsere Gegnerin erwartet hat!“
    „Und was sind wir jetzt!“, spann sie seine Gedanken weiter, „Die Looser?“ Wieder ein herrschte ein Moment der Stille zwischen den Beiden, in denen sie sich fragend anschauten. „Sagen, Sie es mir Herr Gerkhan? … Sind wir Schach matt? … Game over!“


    Kim lehnte sich resignierend im Drehstuhl zurück.


    Semir schüttelte erneut den Kopf und betrachtete nachdenklich seine Chefin.
    „Nein! … Nein Frau Krüger! Schach matt, sind wir erst, wenn wir Bens oder Annas Leiche gefunden haben. Solange nur ein Funken Hoffnung besteht, dass wir die beiden lebend finden werden, gebe ich nicht auf.“ Er richtete sich in seinem Bürosessel auf. Die Spannung kehrte in seinem Körper zurück und der Kommissar strahlte ein wenig Zuversicht aus. „Wir sind angezählt, unser König sitzt vielleicht im Schach, doch wir sind noch nicht Schach matt. Noch können wir einen rettenden Zug machen, wenn wir beim Schachspiel bleiben. Mein Bauchgefühl sagt mir dieses verdammte Weibsstück Gabriela Kilic steckt dahinter. Die hat uns alle von Anfang an manipuliert, ihren Willen aufgezwungen, wie es ihr beliebte. Doch das ist vorbei!“


    Nun nickte ihm Kim Krüger zustimmend zu und auch in ihren Augen glomm ein Funken Hoffnung auf.
    „Ich habe ein paar Menschen versprochen Ben zu finden, Chefin! Nichts und niemand wird mich daran hindern!“ Semir war in diesem Augenblick versucht, seine Vorgesetzte in seine geheime Aktion, die er hinter ihrem Rücken und ohne ihr Wissen gestartet hatte, einzuweihen. Als er ansetzen wollte, bog der dunkle Mercedes des Staatsanwalts auf einen der Besucherparkplätze vor der PAST ein. „Ihr Freund, der Herr Oberstaatsanwalt, ist in Anmarsch!“, bemerkte er trocken.


    „Herr Gerkhan, Semir, bitte! Keinen Krieg mehr!“ Sie legte ihre Stirn nachdenklich in Falten, was die dunklen Ränder um ihre Augen noch verstärkte. „Konrad Jäger und Anna Beckers Vater haben all ihre politischen Beziehungen spielen lassen und über den Innenminister Druck auf das BKA ausgeübt. Herr van den Bergh und ich fahren nach Wiesbaden zum BKA. Wir haben dort morgen früh um 09.00 h einen Termin mit einem Herrn Brauer und sollen komplette Akteneinsicht zu diesem Remzi Berisha bekommen. Da der Verdächtige offensichtlich in Verbindung mit Gabriela Kilic stand, soll uns auch in diese Ermittlungsakten Einsicht gewährt werden!“


    „Warum diese Geheimniskrämerei?“ fiel ihr Semir verwundert ins Wort. „Können die uns nicht einfach eine Kopie der Ermittlungsakte zukommen lassen?“


    „Weil es bei diesen Akten um streng geheime Dokumente handelt, die unmittelbar Einfluss auf aktuelle Ermittlungen von Interpol gegen den internationalen Drogenhandel und Waffenschmuggel über die Balkanroute in die Krisenregionen des Nahen Osten handelt. Die hohen Herren haben scheinbar Angst, wenn diese Informationen zu vielen Leuten zugänglich werden, dass etwas nach draußen sickern könnte! Keine Sorge, im Notfall übernachte ich in Wiesbaden, bis ich alle Akten gesichtet habe. Und es gibt ja auch noch das hier!“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Ein Foto ist schnell gemacht!“


    Semir konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Zu gerne hätte er diesem Typen vom BKA mal auf den Zahn gefühlt. „Frau Krüger, sie lassen sich von diesem BKA Typen nicht einfach abspeisen. Der Kerl hatte schon vergangenes Jahr seine Finger mit im Spiel gehabt, als es darum ging, die Fahndung nach der Kilic einzustellen und die Beweise zu manipulieren!“


    „Ich werde aufpassen, keine Sorge. Den Kerl habe ich nicht vergessen. Übrigens ich habe Susanne gebeten, nochmals zu überprüfen, ob wir alle Gebäude, die in irgendeiner Form mit der Familie Stojkovicz in Verbindung stehen, durchsucht haben. Vielleicht können sie ihr dabei helfen. Falls was ist … sie wissen schon …!“


    „… rufen wir sie an Chefin oder schicken ihnen eine Nachricht!“, vollendete er den Satz.
    Nach diesen Worten erhob sich Kim Krüger, warf an der Tür des Büros nochmals einen wehmütigen Blick auf Ben Jägers Stuhl. Sie packte den Griff ihres kleinen Reisekoffers, der neben Susannes Schreibtisch stand und eilte nach draußen, wo sie vom Staatsanwalt erwartet wurde. Semir konnte sie nicht weiter beobachten, weil in diesem Moment Susanne zu ihm ins Büro kam.
    „Bleibt es bei heute Abend, wie besprochen?“
    „Ja, die anderen sind alle informiert!“, gab der Türke zurück.

    In knappen Sätzen erläuterte der dunkelhaarige Polizist Anna seinen Fluchtplan, bei dem Elena eine Schlüsselrolle spielen sollte.
    „Du bist verrückt Ben!“, fiel ihm die Dunkelhaarige ins Wort, stand auf und trippelte nervös vor dem Bett auf und ab. „Völlig verrückt! … Das wird niemals funktionieren. … Niemals! … Wie willst du das schaffen? In deinem Zustand! … Schau dich doch einmal an, du bist noch viel zu schwach!“
    Sie hielt inne, blieb vor ihm stehen und schluckte den Rest ihrer ärztlichen Ratschläge lieber mal runter. War ihr doch klar, dass sie bei ihrem Freund auf taube Ohren stoßen würde.
    „Sag mir nicht, was ich kann oder nicht kann mein Engel! Es wird Zeit, dass ich anfange, wieder auf meinen Beinen zu stehen. Das wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Wenn Elena Recht hat, bleibt uns nicht mehr viel Zeit! Ein Tag? Vielleicht auch zwei? Oder nur noch eine Nacht? Bandagieren mir den rechten Unterschenkel und hilf mir anschließend ins Bad zu kommen!“
    Anna entwich deutlich hörbar ihre Atemluft. Insgeheim gab sie Ben ja Recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie streute das Verbandsmaterial auf die Zudecke und suchte nach ein paar geeigneten Binden. Bei ihren eingehenden Untersuchungen Tage vorher hatte Anna den Verdacht gehegt, dass Bens Schienbein durch den massiven Schlag von Gabriela angebrochen worden war. Fachmännisch legte sie ihm einen Verband an, der den Bruch bei Belastung stabilisieren sollte.
    Als seine Freundin fertig war, atmete Ben noch einmal tief durch, umfasste Annas Schultern und richtete sich endgültig zum Stand auf. Eisern behielt Ben seine Gesichtszüge unter Kontrolle.
    „Geht es?“, fragte Anna vorsichtig nach.
    Ben nickte. Der erste Schritt, gestützt auf Anna und dem Bett, war der reinste Horror für den verletzten Polizisten. Wie glühende Nadelstiche zog der Schmerz von seinen Zehen bis in die letzte Haarspitze, jede Körperzelle rebellierte, sandte ihr eigenes Schmerzsignal aus. Er biss die Zähne zusammen und konnte in letzter Sekunde einen schmerzhaften Aufschrei unterdrücken. Kein verräterisches Zucken zeigte an, welche Anstrengung und Überwindung es ihm kostete einen Schritt vor den anderen zu setzen. Nur keine Schwäche zeigen, wenn du jetzt und hier zusammenklappst, wird es keine Chance auf Flucht geben, sprach er sich selbst Mut zu. Scharf sog er die Luft durch die Nasenflügel. Mit einem unbändigen Willen schaffte es Ben, den Weg zur Toilette und nach einigen Minuten wieder zurück zum Bett zu meistern. Sein Kreislauf spielte mehr als einmal bei seinem kleinen Ausflug verrückt. Ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte, gelangte er zurück ins Schlafzimmer. Er benötigte äußerste Konzentration, um nicht wie ein nasser Sack auf sein Bett niederzusinken. Seine Stimme vibrierte leicht „Geschafft!“, als er flach auf der Matratze lag. Ein triumphierendes Grinsen überzog sein schweißnasses Gesicht. Minuten später war er vor Erschöpfung eingeschlafen.


    In der kommenden Nacht und dem folgenden Tag arbeitete Ben verbissen daran, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, vor allem wenn nicht die Gefahr bestand, dass einer der Entführer unerwartet im Zimmer stand.


    *****


    Währenddessen …. In der Brüsseler Innenstadt


    Semir und seine Kollegen tappten noch immer im Dunkeln. Alle Spuren, alle Hinweise, die er und seine Kollegen auf der Dienststelle verfolgt hatten, hatten im Nichts geendet. Es schien fast, als wäre Gabriela Kilic und mit ihr Ben und Anna spurlos verschwunden.


    Seit dem versuchten Überfall auf den Türken vor einigen Tagen beobachteten Semir und seine Kollegen heimlich den Rechtsanwalt Hinrichsen auf Schritt und Tritt in ihrer Freizeit. Der kleine Kommissar klammerte sich förmlich an diesen letzten Strohhalm, dass der zwielichtige Anwalt ihn zum Versteck von Gabriela Kilic und somit zu Ben und Anna führen würde. Kim Krüger und den Oberstaatsanwalt hatte er in diese eigenmächtige Überwachungsaktion nicht eingeweiht. Zu groß war seine Angst, dass durch irgendein Leck dem Anwalt diese Information zugespielt werden könnte.


    Aus diesem Grund war Kollege Bonrath Dr. Hinrichsen am gestrigen Tag von Köln nach Brüssel gefolgt. Der Rechtsanwalt war zusammen mit seiner Frau in dem Luxushotel „Royal Windsor Hotel“ im Stadtzentrum von Brüssel für zwei Nächte abgestiegen. In dem hoteleigenen Restaurant hatte sich Dr. Hinrichsen mit Frau abends mit einem Ehepaar zu einem gemeinsamen Dinner getroffen. Wegen seiner nicht angemessenen Kleidung wurde dem großgewachsenen Autobahnpolizisten der Zutritt zum Nobel-Restaurant untersagt und der Portier bat ihn höflich, aber bestimmend, die Hotellobby zu verlassen. Da der schlaksige Polizist kein Aufsehen erregen wollte, hielt er sich an die Anweisung des Hotelpersonals, verließ das Hotel und fuhr zurück nach Köln. Gemäß Absprache übernahm Kollege Tacho die Überwachung des windigen Anwalts.
    Als der blonde Polizist am darauffolgenden Morgen in Brüssel eintraf, musste er enttäuscht feststellen, dass der Rechtsanwalt samt Gattin in den frühen Morgenstunden abgereist war. Er verständigte Semir. Der Türke hatte nach seiner Nachtschicht gerade mal zwei Stunden geschlafen. Völlig verschlafen meldete er sich am Handy.
    „Morgen! … Wer stört?“
    „Ich bin es Semir. Der verdammte Rechtsverdreher ist uns wieder mal durch die Finger geschlüpft. Er ist kurz vor meiner Ankunft hier in Brüssel abgereist. Wie gehen wir weiter vor? Ich höre mich auf jeden Fall im Hotel einmal um. Vielleicht weiß ja eine der Angestellten, was das nächste Reiseziel unseres Anwalts ist. Überprüfst du sicherheitshalber, ob der Kerl zurück nach Köln gefahren ist.“


    Die beiden Polizisten stimmten ihr weiteres Vorgehen ab und beendeten das Telefongespräch. Einer Dusche mit kalten Wasser folgte noch ein Kaffee Marke Extra stark zum wach werden. Daraufhin fuhr der Kommissar zur Villa des Verdächtigen in einem Kölner Vorort. Das vergitterte Eingangstor erlaubte einen Einblick auf das äußerst gepflegte und großzügige Grundstück am nördlichen Stadtrand von Köln. Leise pfiff er durch seine Lippen. Der Rechtsanwalt gehörte auf jeden Fall zu den Großverdienern seiner Berufsgruppe.


    „Irgendwie habe ich den falschen Job gewählt.“, murmelte Semir zu sich selbst und sondierte von seinem Standort aus das Grundstück. Negativ, lautete die erste Analyse des Türken. Der auffällige Audi SUV stand nicht in der Auffahrt zum Haus, obwohl der Anwalt die Fahrstrecke locker in der Zeit seiner Abreise in Brüssel hätte bewältigen können.


    „Ich krieg schon raus, wo du abgeblieben bist!“, führte Semir das Gespräch mit sich selbst weiter, während er den Klingelknopf drückte. Sofort richtete sich die Überwachungskamera am Torbogen auf ihn. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Gegensprechanlage.
    „Guten Morgen, Sie wünschen bitte?“
    „Guten Morgen, mein Name ist Karim Gülcan von den Stadtwerken Köln. Ich müsste mal an den Stromzähler dieses Anwesens!“
    „Tut mir Leid Herr Gülcan, aber Dr. Hinrichsen hat mir keine Anweisung hinterlassen, die auf ihren Besuch hinweist. Der gnädige Herr und seine Gattin werden frühestens am Sonntag in Köln zurück erwartet.“
    Semir hätte fast das Kotzen gekriegt, als die Haushälterin Dr. Hinrichsen so mit so viel Ehrfurcht in der Stimme als „gnädiger Herr“ bezeichnet hatte. Er räusperte sich kurz und wollte etwas erwidern, als die Frau sich scheinbar rechtfertigen wollte.
    „Bitte, verstehen Sie! Der gnädige Herr wünscht keine unangemeldeten Besucher auf dem Grundstück und schon gar nicht in seinem Haus. Ich weiß, dass Sie ja nur den Zählerstand benötigen. Kommen Sie doch am Montag wieder vorbei!“
    „Ja danke! Kein Problem. Meine Kollegen werden den nächsten Besuch vorher telefonisch ankündigen!“, versuchte er sich geschickt aus der Affäre zu ziehen.


    Langsam schlurfte Semir wieder zurück zu seinem Dienstwagen. Unbewusst hatte ihm die Dame alles verraten, was er wissen wollte. Dr. Hinrichsen hielt sich nicht in Köln auf. Machte er mit seiner Frau eine Vergnügungsfahrt oder hatte seine Reise einen geschäftlichen Hintergrund. Wie bereits am vergangenen Wochenende war es dem Kerl gelungen, der Überwachung durch ihn und seinen Kollegen zu entgehen. Fieberhaft überlegte der Kommissar auf der Fahrt zur Dienststelle, wie er an den Aufenthaltsort dieses aalglatten Typen kommen konnte.

    Ben lag auf seiner rechten Seite und schlief tief und fest vor Erschöpfung, als Elena in Begleitung von Aleksandar Kovac das Abendessen brachte. Wie üblich lehnte sich der Serbe lässig gegen den Türrahmen und beobachtete von dieser Position aus Anna und Elena. Für Ben hatte er nur einen flüchtigen Blick übrig.
    Die Russin warf Anna einen fragenden Blick zu und ihre Kinnspitze ging in Richtung des Patienten. Kaum merklich nickte die Ärztin mit dem Anflug eines Lächelns im Mundwinkel. Wie so oft in den vergangenen Tagen tauschten die beiden Frauen das Geschirr aus. Anna stapelte die frischen Teller und Tassen zusammen mit den Essensvorräten auf die Kommode. Aus dem Kochtopf drang ein verlockender Essensduft. Argwöhnisch behielt sie dabei den jungen Serben im Auge und raunte der Russin zu:

    „Hast du Neuigkeiten? … Semir?“ Anstelle einer Antwort drückte Elena der Dunkelhaarigen einen Zettel in die Hand und stellte das überfüllte Tablett auf die Kommode.


    Ungeduldig blaffte Aleksandar sie an: „Beeile dich gefälligst! … Ich habe keine Lust hier zu übernachten!“ Gierig glitt dabei sein Blick über den Körper der jungen Frau, was Anna nicht entging. Am liebsten hätte sie dem Kerl vor Verachtung in das Gesicht gespuckt. Elena schien ihre Gedanken zu erahnen.
    „Pssst! … Nichts tun!“, ermahnte sie die Ärztin und legte eine Hand beschwichtigend auf deren Unterarm. „Ich weiß, was gemacht habe … Im Bordell war es schlimmer!“, wisperte sie und drückte Anna eine Stofftasche mit Verbandsmaterial und frischer Kleidung in die Hand. Entgegen seiner Gewohnheit betrat Aleksandar das Zimmer. Prüfend wanderte sein Blick im Schlafraum und im angrenzenden Badezimmer umher. Als er scheinbar zufrieden war, brummte er vor sich hin und drängte Elena aus dem Zimmer. Die Tür fiel ins Schloss und wurde sorgfältig verschlossen.


    Wie betäubt, stützte sich Anna mit ihren Händen am Rand der Kommode ab. Der letzte Satz von Elena löste gemischte Gefühle in ihr aus. Zum einen machte sie sich Sorgen um die junge Frau und gleichzeitig verspürte sie eine unendliche Dankbarkeit gegenüber Elena, die alles riskierte und in den letzten Tagen riskiert hatte, um ihr und Ben zu helfen. Sie kannte auch Elenas Motiv, die ihr von Gabrielas Mordabsicht erzählt hatte. Zwischen ihren Fingern spürte sie den kleinen Papierschnipsel. Langsam faltete sie ihn auf und las die wenigen Worte, die Elena in Englisch aufgeschrieben hatte.


    ‚No chance to get in contact with Semir‘


    Anna merkte, wie sie bei diesem Satz die Verzweiflung zu übermannen drohte. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht lauthals loszubrüllen. In diesem Moment schien alles hoffnungslos, keine Aussicht auf Rettung. Es fühlte sich für die junge Frau an, als würde sich ein riesiger Abgrund auf tun, ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gab.


    Eine Bewegung und eine leises Stöhnen von Ben unterbrachen ihre düsteren Gedanken. Sie wendete sich zu ihm um. Mit geöffneten Augen, auf den Rücken liegend, blickte er sie an. Sein Kopf hob sich leicht an und schnüffelnd reckte er seine Nase in die Luft.


    „Hmmm, lecker! Es riecht nach Essen. …. Ich habe einen Bärenhunger!“, meinte er mit einem verzückten Lächeln im Mundwinkel. Allerdings entging ihm nicht der feuchte Schimmer in den Augen seiner Freundin. Besorgt fragte er nach: „Was ist passiert?“


    „Nichts! … Ähm … naja!“, druckste Anna herum.


    „Was jetzt?“, gab er ungeduldig zurück und richtete sich ein wenig im Bett auf. Anna reichte ihm den Zettel und er murmelte leise: „Das habe ich befürchtet!“ Er ging nicht näher darauf ein, sondern wechselte einfach das Thema. „Das ändert nichts daran, dass ich vor Hunger sterbe!“


    Nun konnte Anna einfach nicht anders und lachte auf. „Du Vielfraß!“ Sie stopfte ihm das Kopfkissen hinter den Rücken, legte ihm ein Handtuch über die Brust und versorgte ihn mit einem vollen Teller Eintopf. Zu ihrer Verwunderung aß er langsam und bedächtig. Sie setzte sich neben ihn in den Schaukelstuhl. Obwohl der Eintopf, der hauptsächlich aus Kartoffeln und Gemüse der Saison bestand, vorzüglich schmeckte, löffelte Anna lustlos. Sie musste sich förmlich zum Essen zwingen. Ben beobachtete seine Freundin beim Essen und ahnte, was sie bedrückte. Als sie die Teller zurück auf die Kommode stellte, dachte er nochmals kurz nach und beschloss seine Absicht in die Tat umzusetzen. Normalerweise kamen die Entführer so spät am Abend nicht mehr ins Zimmer ihrer Gefangenen. Unten auf der Terrasse herrschte eine ausgelassene Stimmung. Das Gelächter und Stimmengewirr drang durch das offene Fenster ins Zimmer herein. Die Bande nahm dort ebenfalls ihr Abendessen ein.


    Ben richtete sich im Zeitlupentempo auf, schob seine Füße unter der Bettdecke hervor und schaffte es sich alleine an den Bettrand zu setzen. Mehrmals atmete er deutlich hörbar ein und aus.


    „Hilf mir Anna! … Ich will diesmal nicht nur aufstehen, ich will ins Bad!“, kündigte Ben sein nächstes Vorhaben an.
    Anna stellte die leeren Teller mit einem lauten Knall zurück auf die Kommode und wandte sich ihrem Freund zu. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und fing an energisch zu protestieren.
    „Spinnst du jetzt völlig? … Das klappt nie in deinem geschwächten Zustand!“
    Ben schüttelte eigenwillig den Kopf. „Nein! … Vergiss es! … Ich will da rein!“ und er deutete mit seinem Zeigefinger in Richtung Badezimmertür. Anna startete einen letzten Versuch. „Aber wenn du so dringend musst, dafür habe ich doch das Teilchen hier!“ Sie hielt ihm ihre provisorische Pinkelente hin, die sie aus einer Plastikflasche bestand, wo Anna Teile des Flaschenhalses abgeschnitten hatte und meinte trotzig, „Mit dem angebrochenen Bein schaffst du das niemals! Denk an die Schmerzen! … Du Dickkopf!“
    „Schmerzen?“, er lachte ironisch auf, „Erzähle mir nichts von Schmerzen! … Ich habe einmal durch die Hölle und zurück hinter mir. Schon vergessen? Da werde ich diesen kleinen Spaziergang auch noch überstehen. Es geht um etwas völlig anderes!“ Er richtete sich weiter auf und setzte sich an die Bettkante. Mit seinen Händen umfasste er ihre Unterarme. „Anna! Ich muss nicht nur pinkeln … ich muss mehr! Bitte lass mir noch ein bisschen meine Würde! … Ja?“ Anna blickte ihn an und nickte verstehend. Aber er war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen. Seine Miene war ernst und nachdenklich. „Wie lange bist du schon zusammen mit mir in dieser Villa gefangen? …Hmmm?“ Fragend blickte er sie an. „Wieviel Tage sind es? ... Acht oder mehr?“


    Wieder bewegte sie den Kopf schweigend auf und ab und legte unbewusst eine Hand wie zum Schutz auf ihren Bauch. Leise murmelte sie: „Ich habe aufgehört zu zählen!“


    Zärtlich strich er mit seinen Daumen über ihren Unterarm. In einem beschwörenden Tonfall fuhr er fort.
    „Machen wir uns nichts vor, mein Engel! Kein Schwein weiß wo wir sind! … Semir wird nicht kommen. Begraben wir diese Hoffnung einfach. Wir können ihm keine Nachricht zukommen lassen, … ihn informieren, wo wir sind.“


    Ben ließ seine Worte auf seine Freundin wirken, sah wie sie schluckte und schluckte, ihr Kehlkopf auf und ab hüpfte. Anna kniff ihre Augen zusammen und trotzdem sah er, wie es in ihren Augenwinkel feucht schimmerte, sah ihre Angst. Ihre Reaktion versetzte ihm einen Stich ins Herz.
    „Ich liebe dich Anna, dich und unser ungeborenes Kind. … Solange es in meiner Macht steht, werde ich nicht zulassen, dass dir und unserem Kind etwas passiert.“, versicherte er ihr.


    Anna schaute ihren dunkelhaarigen Freund an, der körperlich ein Schatten seiner selbst war, schaute in die Abgründe seiner dunkelbraunen Augen und lass darin, wie in einem Buch. Seine Liebe und Zuneigung zu ihr und auch seine Angst und Verzweiflung, dass ihr etwas geschehen könnte. Sie wollte ihm widersprechen, ihn auf seine Schwäche aufmerksam machen. Doch er schien es zu erahnen. Ben legte einen Finger auf ihre Lippen.
    „Nicht! … Sag es nicht!“ …
    Er legte seine Hände um ihre Wangen und zog sie sanft zu sich heran. Mit all seiner Liebe und Zuneigung, die er für sie empfand, küsste Ben seine Freundin und sie erwiderte den Kuss mit der gleichen Intensität. Als sie sich voneinander lösten, meinte er fast schon beschwörend:
    „Wir sind auf uns alleine gestellt, höchstens Elena kann und wird uns helfen, weil sie so wie wir aus diesem Gefängnis entkommen will. Gabriela, dieses rachsüchtige Weibsstück wird wieder zurückkommen!“ Er wandte seinen Kopf in Richtung der Zimmertür, „Durch diese Tür marschieren und du weißt, was dann passieren wird! Niemand wird sie dann aufhalten können.“ Er atmete mehrmals tief durch. „Ich lass mich von der nicht mehr wie ein Lamm zur Schlachtbank führen …!“ Ein Schauder durchlief seinen Körper und Anna konnte seine Gänsehaut unter ihren Fingerkuppen spüren. Eindringlich blickte er sie an. „Hör mir genau zu. Ich habe in den letzten Stunden nachgedacht. Wir haben keine andere Wahl, uns bleibt nur die Flucht!“

    Der Morgen dämmerte, als das heftige Schlagen der Fensterflügel Anna aus ihrem Schlaf weckte. In weiter Ferne war das Grollen des Donners zu hören. Ein Gewitter war im Anmarsch. Die nächste Windböe ließ die Fensterflügel erneut gegen die Wand knallen. Seufzend stand die junge Frau auf und verschloss das Fenster sorgfältig. Nachdenklich betrachtete sie den Nachthimmel. Blitze zuckten am Horizont auf, erhellten für Sekundenbruchteile die Nacht und tauchten das unter ihr liegende Grundstück in ein gespenstisches Licht.


    Sie schlüpfte wieder unter die Zudecke und schmiegte sich eng an Bens Rücken heran. Das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben und der Donnerhall hielten sie wach. Anna lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihres Freundes, die ab und an von einem leichten Schnarchen unterbrochen wurden. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude durchströmte sie, wenn sie daran dachte, dass Ben das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Gleichzeitig betrachtete sie die Wunden, die die Peitschenstriemen hinterlassen hatten. Bei einigen der Striemen fiel der Wundschorf ab und rote Haut schimmerte darunter hervor. Selbst die entzündeten Verletzungen heilten langsam ab. Doch Ben würde sein Leben lang durch die Narben gezeichnet sein. Sie schloss die Augen. Wilde Gedanken spukten durch ihren Kopf, als sie die vergangenen Tage und Nächte Revue passieren ließ.


    Dieser Tag verlief so ereignislos wie der vorherige. Die Abenddämmerung brach heran. Anna hatte es sich im Schaukelstuhl, der neben dem Bett stand, gemütlich gemacht. Aufmerksam beobachtete sie ihren schlafenden Freund. Versonnen streichelte sie über ihren Bauch und hielt in Gedanken Zwiesprache mit ihrem ungeborenen Kind. „Sag Würmchen, weißt du wie es weiter gehen soll?“, murmelte Anna leise vor sich hin. „Wieder ist ein Tag vergangen und Semir ist nicht aufgetaucht.“ Sie kniff ihre Lippen zusammen und hielt einen Moment mit den Bewegungen inne. „Weißt du, ob es noch Hoffnung auf Rettung gibt?“ Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust.


    Denn mit jeder Stunde, die sie hier zusammen mit Ben in diesem Schlafzimmer eingesperrt war, schwand ihr Glaube an eine Rettung und einem guten Ausgang der Entführung. Da war dieses Wissen, das irgendwann Gabriela durch diese Tür marschieren würde und ihre Zukunftspläne zu Nichte machen würde. Eine einsame Träne kullerte über ihre Wange.
    „Schatz! … Nicht weinen!“
    Sie blickte hoch und direkt in Bens tiefgründigen braunen Augen. „Ich weiß, an was du gerade denkst! … Verdränge es! … Wir leben!“
    Bevor es Anna verhindern konnte, hatte er sich auf den rechten Unterarm gestützt und mit dem Oberkörper leicht aufgerichtet. Seine linke Hand tastete nach der ihren und umschlang diese.
    „Hilf mir hoch! Ich möchte mich aufsetzen!“
    „Du bist verrückt! Deine Verletzungen könnten wieder aufbrechen!“, protestierte sie.
    Ben ignorierte ihre Warnung und stemmte seinen Oberkörper weiter in die Höhe. Das Bett fing scheinbar an zu schaukeln, wie ein Boot bei starkem Wellengang. Vor seinen Augen blitzten die Sterne und sein Pulsschlag hämmerte zwischen seinen Schläfen. Annas Stimme hörte sich wie aus weiter Ferne an. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Eingeweide, die Rippen rebellierten, es zippte und zwickte überall. Trotzdem gab er nicht auf, schob seine Beine unter der Zudecke hervor und setzte seine Füße auf den Boden.
    „Du bist verrückt! Was machst du da!“, rief sie empört. „Dafür habe ich dir nicht die Schmerztabletten gegeben, damit du solche Experimente machst!“
    Gleichzeitig war sie aus dem Schaukelstuhl aufgestanden und hatte sich vor ihm hingestellt. An seinen Schultern hielt sie ihn fest und wartete.


    Ben wurde ein kleines bisschen Übel. Er drückte links und rechts seine Hände als Stütze auf die Matratze, um noch zusätzlichen Halt zu finden. Leicht schüttelte er seinen Kopf um den Schwindel zu vertreiben und konzentrierte sich auf seine Atmung. Schön langsam und gleichmäßig atmen, nahm er sich vor. Dann vergehen die Schmerzen von alleine und der Rest gelingt. Weiche Hände umfassten seine Schultern und verliehen ihm zusätzlich Stabilität. Seine verschwommene Sicht wurde langsam klarer.
    „Nimm den Kopf hoch und schaue mich an Ben!“, befahl Anna.
    Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Freund es in seinem geschwächten Zustand tatsächlich geschafft hatte, sich alleine aufzurichten. Ihr besorgter Blick galt dem Verband, der die Schusswunde am Bauch bedeckte. War die Wunde unter der Belastung wieder aufgebrochen?
    „Ok, du sturer Bock! Du willst das wirklich durchziehen und aufstehen!“
    Etwas gepresst antwortete er ihr: „Du hast es erkannt. Im Krankenhaus jagt ihr die Patienten schließlich auch so schnell wie möglich aus dem Bett.“ - „Im Krankenhaus gibt es Schmerzmittel! Hilfsmittel! … und wenn es sein muss einen kräftigen Pfleger!“ Da saß er vor ihr, mit nacktem Oberkörper, bleich, abgemagert und sein Körper übersät von den Wunden, die man ihm zugefügt hatte.
    „Hilf mir einfach hoch!“, befahl er ihr.
    Ben schaute Anna direkt in die Augen. Sie konnte darin seine wilde Entschlossenheit erkennen. Irgendwie verstand sie ihn ja. Professionell übernahm sie die Führung und erteilte ihm Anweisungen, die er befolgte. Nach wenigen Minuten stand er tatsächlich nach über einer Woche auf seinen Beinen, wobei er das angebrochene rechte kaum belastete. Er zitterte vor Anstrengung und ein dünner Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Durch seine zusammengebissenen Zähne entwich ihm deutlich hörbar die Atemluft und schon nach wenigen Sekunden sank er zurück aufs Bett. Mit Annas Hilfe legte er sich wieder hin und ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
    „Der Anfang ist gemacht!“, nuschelte er.
    Sie deckte ihn sorgsam zu und schon Minuten später war er eingeschlafen. Im Laufe der Nacht stand er noch mehrmals auf. Jedes Mal gelang es ihm ein wenig besser, brachte er es fertig, länger auf seinen Beinen zu stehen.


    Auch am darauffolgenden Morgen und im Laufe des Tages gelang die Täuschung von Aleksandar Kovac. Elena hatte maßgeblichen Anteil daran. Geschickt setzte die Russin ihre körperlichen Reize ein, um den jungen Serben abzulenken, wenn sie den Gefangenen Essen brachte. Remzi erschien nur einmal um die Mittagszeit und warf einen prüfenden Blick ins Zimmer der Gefangenen. Ben schlief die meiste Zeit des Tages. Anna war verblüfft, wie gut sich ihr Freund Stunde um Stunde erholte, seit das Fieber aus seinem Körper verschwunden war. Seine Wunden heilten und er war beim Frühstück bereits in der Lage gewesen, ohne ihre Hilfe zu essen. Nur zweimal wagte es Ben während des Tages das Bett zu verlassen, zu groß war die Angst vor einer Entdeckung.

    Kurz nachdem Ben wieder eingeschlafen war, schälte sich Anna aus dem Bett und begab sich ins angrenzende Bad. Sie hatte die lüsternen Blicke des neuen Aufpassers am gestrigen Abend nicht vergessen. Nach einer schnellen Dusche schlüpfte sie in frische Kleidung und flocht die handtuchtrockenen Haare zu einem Zopf. Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und sie beeilte sich, zurück ins Schlafzimmer zu kommen. Erleichtert stellte sie fest, dass Ben noch auf seiner rechten Seite in Bauchlage zum Schlafen im Bett lag. Somit war für ihre Aufpasser nicht gleich ersichtlich, dass er auf dem Weg der Besserung war.


    Wie am gestrigen Abend wurde Elena von dem Jüngsten des Kovac Clans begleitet. Anna schätzte den jungen Mann auf höchstens zwanzig Jahre. Seine schwarzen Haare waren modisch geschnitten, an den Seiten sehr kurz und oben lang. Der sommerlichen Jahreszeit angepasst trug er knielange Bermuda Shorts, die bunt kariert waren und dazu farblich passend ein T-Shirt. An den Füßen trug er Flip-Flops. Eigentlich ein hübsches Kerlchen hatte Anna gedacht, wenn da nicht seine tiefblauen Augen gewesen wären, mit denen er sie gestern kalt abschätzend wie eine Beute gemustert hatte. Sie wirkten eiskalt und ihnen fehlte jegliches menschliche Gefühl. Elena hatte ihr zugeflüstert, dass der junge Mann der Sohn des Glatzkopfs sei und Aleksandar hieß. Anna fiel dazu nur ein, der Apfel fällt nicht weit vom Baumstamm.


    Aleksandar Kovac war unter der Tür stehen geblieben und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Der aufmerksamen Russin war nicht entgangen, dass sich Bens Zustand im Vergleich zum Vortag sichtlich gebessert hatte, als sie das Tablett auf der Kommode abstellte. Ihr fragender Blick ruhte auf Anna. Aleksandar war indessen mehr damit beschäftigt, auf seinem Smartphone herumzuspielen und Nachrichten zu versenden, als seiner Aufgabe nachzukommen, die beiden jungen Frauen im Auge zu behalten.
    Anna half der Russin das verschmutzte Geschirr, die leeren Flaschen auf das Tablett zu stapeln und die verschmutzte Wäsche einzusammeln. Von ihrem Aufpasser unbemerkt, wisperten sich die beiden Frauen dabei gegenseitig einige Informationen zu. Unter anderem verschwanden die beiden Frauen auch im Badezimmer.


    Verstohlen flüsterte Anna, „Ben ist aufgewacht. Ich brauche Essen für ihn. Leichte Kost und noch ein paar Schmerztabletten, wenn du diese, ohne dich in Gefahr zu begeben, besorgen kannst!“
    Elena nickte nur leicht als Antwort.
    „Kilic … vier Tage weg sein! … Vielleicht ein Tag mehr!“, nuschelte die Russin der Ärztin als Information zurück und blickte verstohlen über die Schulter, was der Aufpasser machte. Elena hatte diese Information aufgeschnappt, als sie am frühen Morgen bei Remzi Berisha den Verband gewechselt hatte. Dieser hatte zu diesem Zeitpunkt mit Gabriela telefoniert. Leise fuhr sie fort: „Nichts Semir erreichen! … Kein Handy!“
    Die junge Ärztin versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. So sehr hatte sie darauf gehofft, dass Elena für einige Minuten eines der Handys entwenden könnte und sich mit Semir in Verbindung setzen könnte. Im Hintergrund brüllte Remzi, der die meiste Zeit des Tages in seinem Bett verbrachte. Aleksandar Kovac gab ihm aufmüpfig und in der gleichen Lautstärke eine Antwort zurück. Entsprechend ungehalten brüllte er die Russin in seiner Muttersprache an, sie solle sich gefälligst beeilen. Anna entging nicht dessen lüsterner Blick, der über die Figur der jungen Frau wanderte. Als die Tür sich schloss, wurde es draußen im Treppenhaus richtig laut. Die dunkle Stimme des Grauhaarigen war unüberhörbar. Die Ärztin hätte einiges dafür gegeben, wenn sie den Inhalt des Gespräches hätte verfolgen können.


    Eine Stunde später tauchte Elena erneut in Begleitung des dunkelhaarigen Serben auf. In der einen Hand trug sie einen Weidenkorb, befüllt mit Lebensmittel und in der anderen Hand einen Stapel frischer Wäsche. Diesmal achtete der junge Mann peinlich genau darauf, was die Russin aus dem Korb holte und auf der Kommode abstellte. Anna schloss daraus, dass er von Remzi wegen seiner Nachlässigkeit wohl gewaltig zusammengestaucht worden war. Und trotzdem, die beiden Frauen kommunizierten auch lautlos ohne Worte nur mit ihren Blicken, ihrer Mimik und mit kleinen Gesten.


    Durch die geöffnete Tür erklang das Tack, tack, wenn Remzi mit Krücken über den Gang lief. Anna merkte, wie sich bei dem Geräusch ihr Magen zusammenzog. Unter der Tür blieb der Grauhaarige auf den Krücken gestützt stehen. Die Ärztin in ihr hatte registriert, dass er nach wie vor das verletzte Bein nicht belastete. Argwöhnisch musterte er Ben, der zum Glück völlig regungslos in Bauchlage dalag.
    „Wie geht es ihm?“, blaffte er Anna an. Dabei hob er eine der Krücken an und deutete auf den Kranken.
    „Er lebt!“, lautete ihre knappe Antwort.
    Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee sich von Bens Zustand selbst zu überzeugen, dachte sie bei sich. Denn sie wusste nicht, was dann geschehen würde. Welche Teufelei der grauhaarige Sadist sich ausdenken würde? Sie von Ben trennen? Ihn zurück in das Kellerloch bringen? Remzi humpelte zwei Schritte weiter ins Zimmer und betrachtete die Vorräte auf der Kommode. In dem Augenblick war sich Anna sicher, jetzt würde alles auffliegen. Ihr Pulsschlag hämmerte zwischen ihren Schläfen. Ihre Handflächen wurden feucht. Mit der Spitze der Krücken deutete er auf die drei Thermoskannen.
    „Was soll das?“
    Die Frage ging in Richtung der Russin, die ihn trotzig anblickte. Die Spuren von Gabrielas Schlägen hatten ihr Gesicht gezeichnet. Das linke Auge war ebenso wie die Wange dick angeschwollen. Die Blutergüsse schillerten von lila bis dunkelrot. Im Augenbereich wanderte das Hämatom rüber zum rechten Auge. Elena wusste, dass der Grauhaarige genauso brutal und rücksichtslos sein konnte wie Gabriela. Deshalb beeilte sie sich zu antworten. Trotz ihrer Angst gelang es der jungen Frau ihrer Stimme einen festen Tonfall zu verleihen: „Du sagen… Frau gut versorgen! … Tee … Kaffee … Ich nicht wissen, was trinken wollen! Essen wollen! … Auswahl gemacht!“
    Anna bewunderte sie insgeheim für diese kreative Antwort, die ihr bestimmt nicht so schnell eingefallen wäre.


    Widerwillig brummte Remzi vor sich hin und gab sich erst einmal mit der Erklärung zufrieden. Bevor er das Zimmer verließ, warf er nochmals einen misstrauischen Blick auf Ben, ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und schüttelte kurz den Kopf. Knapp befahl er: „Raus hier!“
    Nachdem die Tür geschlossen war, lehnte sich Anna mit dem Rücken gegen das Türblatt. Erleichtert atmete sie aus, das war noch einmal gut gegangen. Aber ihr war auch klar, lange würde sich der Grauhaarige über Bens Zustand nicht täuschen lassen. Sie lauschte mit ihrem Ohr, ob sich die Schritte entfernten.


    „Ist er weg?“, kam die Frage vom Bett her.
    Mit einem leisen Stöhnen drehte sich Ben zurück auf den Rücken und schaute zu Anna. Er entdeckte die Thermoskannen und die Lebensmittel auf der Kommode und meinte: „Ist da was zu essen für mich dabei? Ich habe Hunger!“


    Die Anspannung fiel von Anna ab und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das war der Ben, den sie kannte, immer hungrig. Sie ging zur Kommode und sondierte, was Elena so alles mitgebracht hatte. In einer Tüte befanden sich frische Brötchen und ein paar Scheiben Toast. Dazu gab es Marmelade und Schmelzkäse. Nacheinander öffnete sie die Thermoskannen, roch daran und sondierte deren Inhalt. In einer befand sich eine pürierte Gemüsesuppe, in der anderen einfach nur eine Fleischbrühe und in der letzten Kanne war Früchtetee. Zu ihrer Überraschung hatte Elena zwischen dem Trinkbecher und dem Verschluss der Thermoskanne mit Tee einige Schmerztabletten versteckt. Sie überlegte kurz und goss einen Trinkbecher voll mit Gemüsebrühe. Auf der Nachtkonsole stellte sie den Becher und Löffel ab und holte aus dem Bad ein Handtuch. Das Kopfkissen richtete sie so, dass es Ben als Stütze diente. Als sie sich neben ihm auf der Bettkante niederließ, war das Grummeln seines Magens zu hören. Das Handtuch legte sie einem Lätzchen gleich auf seine Brust. Er war zu schwach, um mit dem Löffel selbst zu essen, deshalb begann sie ihn zu füttern.


    „Wie ein Baby?“, meinte er mit einem schelmischen Grinsen zwischen zwei gefüllten Löffeln und tastete voller Zärtlichkeit nach ihrem Bauch. Im Laufe des Tages wachte Ben noch mehrmals auf. Jedes Mal jammerte der Dunkelhaarige, dass er am Verhungern sei. Laut protestierte er, als ihm seine Freundin zum dritten Mal einen Becher Suppe einflößte.


    „Ich habe Hunger! … Wie soll ich denn mit solch einer dünnen Brühe satt werden?“ Er hatte dabei eine beleidigte Schnute gezogen, dass Anna lauthals auflachen musste. Klipp und klar erklärte ihm die junge Ärztin, dass sein Magen und Darm nach den Verletzungen noch keine andere Nahrung vertragen würde.
    „Schön langsam mein Schatz! … Kleine Portionen … und wenn du das gut verträgst, bekommst du etwas anderes!“ – „Du quälst mich!“, gab er gespielt eingeschnappt zurück und war gleich nach dem Essen wieder eingeschlafen.


    Anna schmunzelte vor sich hin, als sie ihn ein bisschen Körperpflege angedeihen ließ. Das war ihr Ben und sein Appetit und Verhalten das beste Zeichen, dass es gesundheitlich aufwärts ging.

    Früh morgens am darauffolgenden Tag
    Ben hatte dieses unbeschreibliche Gefühl zu schweben … zu fliegen … getragen von weißen Wolken einfach dahin. Seine Empfindungen veränderten sich nach und nach. Seine Sinne begannen langsam zu arbeiten. Vogelgezwitscher drang an sein Ohr, übertönt von dem Gurren einer Taube. Er lauschte weiter. Da war noch mehr, die gleichmäßigen Atemzüge eines Menschen. Ihm wurde bewusst, er lag mit dem Rücken auf etwas Weichem, er lag in einem Bett.

    Seinem Bett?

    Doch nicht alleine! Er spürte die Wärme eines menschlichen Körpers, der sich an seine rechte Seite heranschmiegt. Ein Arm lag über seiner Brust. Haare kitzelten seine Nase. Alles wirkte so friedlich und vertraut, wenn da nicht wie feurige Blitze Bruchstücke von Erinnerungsfetzen in seinem Gehirn zuckten. Gabriela … die Folterungen im Keller … der Grauhaarige … Anna …
    Mit einem Schlag waren die Erinnerungen an die vergangenen Tage und Wochen wieder vollständig da. Ben kämpfte gegen die Schwere seiner Augenlider an. Er wollte Gewissheit haben. Mühselig öffnete er seine Augen. Sein Blick war verschleiert, er blinzelte mehrmals, bis seine Umgebung langsam Konturen annahm. Leicht drehte er seinen Kopf und sein Blick schweifte verwundert im Raum umher. Dieses Zimmer war weder sein eigenes noch das Schlafzimmer seiner Freundin.

    Krankenhaus?

    Hatte man sie doch gerettet und er hatte es in seiner Bewusstlosigkeit und seinem Fieberwahn einfach nicht bemerkt? Nein, das war keine Krankenzimmer, stellte er fest. Irgendetwas passte nicht. Ben schaute an sich herunter. An seiner rechten Seite lag eng angeschmiegt Anna. Ihr dunkles Haar hatte sich fächerförmig auf der Zudecke und seiner Brust verteilt. Die Zudecke war nicht mit Bettwäsche bezogen. Seine Finger fuhren über die Matratze. Hier fehlte das Bettlaken. Wo waren sie nur?


    Ben lauschte in seinen Körper hinein. Die fürchterlichen Schmerzen, die seine Eingeweide innerlich geradezu zerrissen hatten, ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, waren verschwunden. Zurückgeblieben war ein gleichmäßiges Ziehen und Pochen. Der stechende Schmerz beim Atmen, war einem erträglichen Ziehen gewichen. Die Feuerlohen auf seinem Rücken verschwunden. Mit seinen Fingerspitzen tastete er vorsichtig über seine linke Brusthälfte hinunter zu seiner Bauchseite. Er spürte die Ränder von Wundpflastern, den weichen Mull des Verbandes um seinen Bauch und die grobe Struktur des Schorfs von heilenden Wunden.


    Seine sachten Bewegungen hatten Anna aufgeweckt. Wie in Zeitlupentempo richtete sie sich auf, gähnte und schaute ihn aus völlig übermüdeten Augen an. Die Müdigkeit wich einem überglücklichen Strahlen, das durch ihr Lächeln noch unterstrichen wurde.

    „Ben! Oh mein Gott! Du bist wach!“, hauchte sie. Zärtlich umfasste Anna den Kopf ihres Freundes und überschüttete ihn mit Küssen auf der Stirn, den Wangen und den Lippen. „Ich kann es einfach nicht glauben. Du fühlst dich überhaupt nicht mehr heiß an! … Oh Gott Ben, wir haben die Infektion und den Fieber besiegt!“

    Wieder küsste sie ihn auf die Lippen. Als sie sich von ihm löste und die Freudentränen mit dem Handrücken von ihren Wangen wischte, setzte Ben mehrmals zum Sprechen an. Er räusperte sich, doch aus seiner ausgetrockneten Kehle wollte einfach kein Ton kommen. Unglaublich schnell huschte Anna, nur bekleidet mit einem viel zu weiten T-Shirt, aus dem Bett, griff nach der Wasserflasche, die auf der Nachtkonsole bereit stand. Vorsichtig schob sie ihre linke Hand unter seinem Kopf, um ihn zu stützen und leicht anzuheben. Mit der anderen schraubte sie die Flasche auf und hielt die Öffnung an Bens Lippen und ließ ein wenig Flüssigkeit hineinrinnen. Erst als sie sich sicher war, dass er sich nicht verschlucken würde, hob sie die Flasche weiter an und er trank in gierigen Schlucken.
    Als sein Durst gestillt war, probierte Ben erneut, ob ein Laut aus seiner Kehle kam. War das wirklich seine Stimme, es glich mehr einem Krächzen einer rostigen Gießkanne, was da für Töne schwach und leise über seine Lippen kamen.

    „Wie lange war ich weggetreten?“ Sein Blick wanderte um Zimmer umher „Das ist aber nicht das Ritz! …. Wo sind wir? “
    Anna stellte die Flasche zurück und setzte sich seitlich auf den Bettrand. Sie umschlang Bens Hand.

    „Du warst über drei Tage im Fieberwahn gefangen. Zu deiner zweiten Frage: Wir befinden uns noch immer in der Gewalt dieser Wahnsinnigen. Dieses Zimmer liegt im Obergeschoss der Villa!“
    Für einen Augenblick senkte Ben seine Augenlider und schien nachzudenken. „Anna?“, murmelte er leise fragend, „Das mit dem Baby … unserem Baby? … Habe ich das nur geträumt oder ist es wahr?“
    „Es ist wahr, Ben!“ Wie vor einigen Tagen nahm sie seine Hand, schob sie unter das Shirt und führte sie zu ihrem Unterbauch. „Hier wächst unser Baby heran.“ Langsam zeichnete sie mit seinen Fingerspitzen die Umrisse der Gebärmutter nach. „Spürst du es?“

    Seine tiefbraunen Augen suchten Kontakt zu den ihren. Unendliche Liebe und Zuneigung spiegelten sich darin wieder. Ein Lächeln zeichnete sich in seinen Mundwinkeln ab. Anna beugte sich zu ihm herunter, ihre Lippen fanden sich und verschmolzen zu einem Kuss.
    Als sie sich von ihm gelöst hatte, richtete sie sich auf und fragte Ben, „Wie fühlst du dich? … Schlimme Schmerzen?“
    „Auszuhalten! Ich darf nur nicht tief Luft holen oder mich groß bewegen.“, spielte er seinen Zustand etwas herunter. „Hast du noch etwas anderes außer Wasser? … Ich … habe … Hunger!“
    Anna lachte auf „Ja, ich habe noch etwas Fleischbrühe!“ Sie eilte erneut aus dem Bett zur der Kommode, auf der ihre bescheidenen Vorräte standen und goss den Trinkbecher der Thermoskanne voll mit Brühe. Vorsichtig schob sie ihren Arm unter seinen Kopf und hob ihn leicht an, ausgehungert trank er Schluck für Schluck den Becher leer.
    „Das war schon alles!“, meinte er sichtlich enttäuscht. „Ich könnte noch etwas vertragen.“

    Die junge Frau wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die Tage vorher hatte sie Stunden gebraucht um ihrem Freund solche eine Menge Flüssigkeit einzuflößen. Und jetzt, trank er die Tasse innerhalb weniger Minuten leer.
    „Tut mir furchtbar leid, es ist nichts mehr da, was ich dir geben kann!“, erwiderte sie. „Ich hoffe, dass Elena in der nächsten Zeit auftaucht und das Frühstück bringt.“

    Anschließend kümmerte Anna sich um seine restlichen körperlichen Bedürfnisse und versorgte seine Wunden. Zufrieden lag er auf dem Bett und lächelte sie an. Er wollte diesen schönen Moment nicht zerstören. Dennoch eine Frage brannte ihn auf der Seele.

    „Wo ist Gabriela? Und vor allem warum sind wir auf einmal in einem Schlafzimmer gefangen?“
    Anna kroch zu ihm zurück ins Bett und schmiegte sich an Ben heran. Sie lagen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Anfangs hatte Ben noch die Augen geöffnet, als sie mit ihrer Erzählung begann. Wenig später fielen ihm die Augenlider zu und seine gleichmäßige Atmung verriet ihr, dass er eingeschlafen war.

    Unbemerkt hatte Gabriela das Zimmer betreten. Auf den ersten Blick hätte sie ihre Widersacherin fast nicht wiedererkannt, so hatte diese ihr Äußeres verändert. Die Haare waren haselnussbraun gefärbt und von kleinen blonden Strähnen durchzogen, straff nach hinten gekämmt und zu einem Dutt zusammengefasst. Ihr Gesicht wurde von einem Makeup kaschiert, das ihre Züge weicher und ein bisschen älter aussehen ließen. Dazu trug sie noch eine dunkle moderne Hornbrille. Ihre eisgrauen Augen hatten eine neue Farbe: tiefblau, dank farbiger Kontaktlinsen. Ihr Kleidungsstil hatte sich auch völlig verändert. Zum ersten Mal sah Anna die Kroatin in einem Rock. Das weichgegerbte graue Leder passte sich perfekt ihrer Körperform an. Ein leichter Sommerblazer in Nadelstreifenoptik, darunter ein cremefarbenes Top, eine dezente Perlenkette, passende Ohrstecker und graue High Heels vervollständigten ihr Outfit. Wäre Anna dieser Frau irgendwo in der Kölner Innenstadt begegnet, hätte sie in ihr eine erfolgreiche Geschäftsfrau oder Managerin vermutet, aber niemals eine skrupellose Bestie.


    Gabriela stakste auf ihren grauen High Heels näher an Ben heran. Fast schon mechanisch lupfte sie die Zudecke und betrachtete ihr Opfer.
    „Unfassbar! Wie viele Leben hat der Kerl? Sieben, wie eine Katze oder mehr?“ achtlos ließ sie die Daunendecke fallen. Ihr Blick wanderte zu Anna. „Was hast du gemacht Schätzchen? Kannst du hexen … zaubern? Oder bist du wirklich so gut in deinem Job?“
    Der Kroatin war nicht entgangen, dass die oberflächlichen Verletzungen des Polizisten anfingen abzuheilen. Die unzähligen Blutergüsse schimmerten in allen Regenbogenfarben.


    Anna zog es vor die Fragen unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. Wie eine Skulptur stand sie weiter regungslos am Fenstersims. Ihr Herzschlag beschleunigte sich leicht. Hoffentlich kam diese Hexe nicht auf die Idee ihre Arzttasche zu durchsuchen, in der die Ärztin ihren heimlichen Medikamentenvorrat versteckt hatte. Erleichtert atmete sie durch als diese an der schwarzen Tasche vorbeischritt. Zielgerichtet bewegte Gabriela sich auf sie zu, drückte sie leicht zur Seite und blickte selbst zum Fenster hinaus. Auf der Terrasse vertrieben sich die Kovac Brüder ihre Zeit mit Kartenspielen und ein paar Flaschen Bier. Sie wandte sich wieder Anna zu.


    Auge in Auge standen sich die ungleichen Frauen gegenüber. Unbeeindruckt hielt die Ärztin dem Blick der Kroatin bei deren kommenden Worten stand. Kein Zucken des Gesichtsmuskels, keine Gestik verriet, was in ihr vorging.


    „Du wunderst dich über mein Outfit, ich sehe es dir doch an. Ich bin ein paar Tage weg. Geschäfte erledigen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du dort unten in dem Kellerloch weiter mit deinem Lover schmoren können. Doch Remzi meinte, dir und der kleinen Russin könnte man nicht trauen, euch auf keinen Fall alleine lassen. Ihr gehört unter seiner Aufsicht gestellt! Zum Schluss verschwindet ihr aus dem Keller und keiner hat es gemerkt!“ Gabriela kicherte albern auf, wurde jedoch sofort wieder ernst und ihr Tonfall nahm an Schärfe zu. „Egal was mit deinem Lover wird, Schätzchen, du gehörst Remzi. Er betrachtet dich als sein Eigentum, seine Trophäe. Also keine Angst, die Idioten dort unten auf der Terrasse werden es nicht wagen dich anzufassen oder dir ein Haar zu krümmen.“ Abschätzig blickte sie zu Ben hinüber „Was mit deinem Lover geschieht, entscheide ich nach meiner Rückkehr, wenn das große Finale meines Rachefeldzuges stattfindet! Vielleicht binde ich ihm eine Bombe um den Bauch und schicke ihn damit zu seinem türkischen Freund und seinen Bullenfreunden auf der Autobahndienststelle. Wäre doch cool! Kannst gerne zu schauen, wenn dort alles in die Luft fliegt!“


    Da lag so ein gewisser Unterton in Gabrielas Sätzen, der Anna verriet, dies war keine leere Drohung, sondern deren bitterer Ernst.


    „Du hast noch nicht gewonnen Kilic! Solange Semir einen Atemzug machen kann, solltest du dich vor ihm in Acht nehmen! Er wird dich kriegen, so wahr ich Anna Becker heiße!“, gab sie drohend zurück.
    „Warten wir mal ab Schätzchen, wer Recht behält!“, zischelte sie wie eine Giftschlange zurück. „Genieße deine letzten Tage mit deinem Lover!“


    „Genieße du deine letzten Tage in Freiheit!“, konterte Anna zurück. „Semir wirst DU nicht entkommen!“


    Zwischen den beiden Frauen hatte sich aus dem perversen Spiel, das die Kroatin mit der Ärztin getrieben hatte, in den vergangenen Tagen eine Art Krieg entwickelt. Anna hatte ihre bitteren Lektionen gelernt, erkannt, dass sie sich nur mit stumpfen Waffen wehren konnte. Bei diesem Aufeinandertreffen fühlte sie sich als Siegerin. Diesmal hatte sie es geschafft, an ihren Vorsatz zu denken, ihn zum Mittelpunkt ihres Handelns zu machen. Der Erfolg zeigte sich. Ihre Antwort ließ die Kroatin erblassen und verstummen.
    Eine Mischung aus einem wütenden Fauchen und einen Jaulen entrang sich ihrer Kehle, während sie versuchte, Anna mit ihren Blicken einzuschüchtern. Doch die Ärztin reagierte darauf nicht. Das Schweigen im Zimmer war unheimlich. Nervös öffnete und schloss Gabriela ihre linke Hand. An ihrer Mimik, an jeder Geste erkannte Anna, wie diese Hexe eine Möglichkeit suchte, um ihr Angst einzuflößen. Wütend stampfte sie mit einem ihrer Füße auf und drehte sich auf den Absatz um und stakste zur Tür. Mit einem lauten Knall flog diese ins Schloss und der Schlüssel wurde umgedreht. Draußen keifte Gabriela lauthals los: „Remzi! …. Remzi! …!“ Die restlichen Sätze verstand Anna nicht, da die Kroatin ihre Muttersprache benutzte. Nur etwas hörte sie deutlich aus der sich überschlagenden schrillen Tonlage heraus: Die Kroatin war nahe daran ihre Beherrschung zu verlieren. Das laute, schnelle tack, tack, tack verriet Anna, dass sie über den Gang in das Schlafzimmer des Grauhaarigen hetzte.


    Was die junge Frau nicht ahnte, mit ihrer Drohung hatte sie den empfindlichsten Punkt der Kroatin getroffen. Den Menschen Ben Jäger hasste Gabriela abgrundtief dafür, dass er ihren Bruder und Cousin getötet hatte, wollte ihn mit seiner Familie auslöschen. Doch Semir Gerkhan war ihre Achillesferse. Der Kommissar hatte sie im Krankenhaus vor einem Jahr überwältigt, vor wenigen Tagen ihren perfiden Mordplan gegenüber Julia Jäger zu Nichte gemacht. Auch wenn die Kroatin es nie zugegeben würde, empfand sie eine unheimliche Angst vor dem Türken. In ihren Alpträumen verfolgte sie diese Furcht wie ein Dämon. Es glich einer düsteren Vorahnung, dass Semir Gerkan dazu berufen sei sie, Gabriela Kilic, eines Tages zur Strecke bringen würde.


    Anna setzte sich wieder zurück in den Schaukelstuhl und hielt Krankenwache an Bens Seite. Vorher hatte sie seinen Puls und seine Atmung geprüft, an den noch nässenden Wunden die Wundauflage und den Salbenverband erneuert und die Medikamentendosis für den Abend verabreicht. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie durch das geöffnete Fenster den glutroten Sonnenball beobachten, wie er langsam am Horizont verschwand. Der Himmel hatte die gleiche Färbung übernommen. Sie genoss dieses Schauspiel der Natur, vermittelte es ihr die Hoffnung auf Leben. Unbewusst streichelte sie dabei über ihren kleinen Babybauch.

    Zurück auf der PAST – Nachmittag - am gleichen Tag


    Jenny und Semir saßen Frau Krüger in deren Büro gegenüber. Erwartungsvoll blickte die Chefin ihre beiden Mitarbeiter an. „Nun, haben ihre Recherchen in dem Hospiz etwas Neues gebracht? Die Krankenakte oder die Handy-Nummer?“


    „Nichts, Frau Krüger! Absolut nichts! Keiner der Verantwortlichen kann sich erklären, wo die fragliche Krankenakte von Boris Stojkovicz geblieben ist oder warum die fraglichen Datensätze aus dem Computer gelöscht worden sind. Die einzig wirklich interessante Aussage kam vom Verwaltungschef des Hospizes. Alle Rechnungen wurden einen Tag nach dem Ableben von Boris Stojkovicz über die Rechtsanwaltskanzlei von unserem alten Freund Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen beglichen. Na, klingelt es bei ihnen auch Chefin?“


    „Das passt hervorragend zu dem was mir der Oberstaatsanwalt mitgeteilt hat. Der Haftbefehl gegen diese Krankenschwester wurde nicht erteilt. Kein begründeter Tatverdacht! Halten Sie sich fest, der Rechtsbeistand von unserer lieben Krankenschwester ist Herr Dr. Hinrichsen.“


    „Pfffffffff“, entwich sowohl Semir als auch Jenny die Atemluft.


    „Der Richter hat uns ausrichten lassen, im Zweifel für die Angeklagte. Die Aussage der Dame, sie könne sich keine Handy Nummern merken, muss als gegeben hingenommen werden.“ Kim seufzte auf, „Wir stehen also vor dem NICHTS.“ Sie lehnte sich in ihren Bürosessel zurück und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Die Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Im Raum herrschte Totenstille.


    „Frau Krüger! Wir geben nicht auf! Irgendwo da draußen werden Ben und Anna von dieser Kilic gefangen gehalten und warten darauf, dass wir sie finden! Was ist denn mit diesem alten verfallenen Objekt in Düsseldorf rausgekommen? Hat Susanne über den Eigentümer etwas erfahren können?“


    Jenny hatte einen Geistesblitz und sie unterbrach den Türken in seinem Redefluss. „Chefin, warum können wir denn nicht den Rufnummernnachweis für das komplette Hospiz bekommen. Oder zumindest für den fraglichen Zeitraum vor und nach Boris Stojkovicz Ablebens. Das Heim muss ja einen nahen Angehörigen verständigt haben! Oder vielleicht sogar für das Handy von dieser Krankenschwester?“, meinte die angehende Kommissarin.


    „Hervorragende Idee, Frau Dorn! Warum sind wir noch nicht früher darauf gekommen! Ich kümmere mich sofort darum, dass wir eine entsprechende richterliche Anordnung bekommen! Falls der Herr Richter Dengel sich diesmal wieder quer stellt, hetze ich ihm die Herren Jäger und Becker auf den Hals. Herr Becker hat mir zu verstehen gegeben, dass er der private Weinlieferant unseres Herrn Landesjustizministers ist und mit diesem auch befreundet. Bei Bedarf spielen wir diesen Trumpf aus.“


    Bei dieser Gelegenheit informierte Kim ihre beiden Mitarbeiter über einige weitere wichtige Details des Gesprächs, das sie am Morgen mit Bens und Annas Vater geführt hatte. Zum Ende der Besprechung tauchte Hartmut, um seine Kollegen über das Ergebnis der Verkehrsüberwachung zu informieren.
    „Die Auswertung der Verkehrsüberwachung ist abgeschlossen. Der schwarze Toyota ist auf der A1 auf Höhe des Leverkusener Kreuzes und in der Nähe von Boklemünd aufgetaucht. Dann verliert sich seine Spur. Aber ich bleibe weiter dran. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat der Fahrer den Wagen doch gestoppt die Kennzeichen getauscht, um im Großraum Köln unterzutauchen.“


    Sie philosophierten an Hand der Straßenkarte noch ein wenig herum. Hartmut erklärte dabei, welche Verkehrsüberwachungspunkte ausgewertet wurden. Nachdem die Besprechung im Büro der Chefin beendet war, wäre eigentlich Feierabend gewesen. Doch keiner der Beiden dachte daran nach Hause zu fahren. Jenny unterstützte Susanne bei ihren Nachforschungen, die ebenfalls freiwillig länger arbeitete und Semir wollte sich Vorort nochmals mit einem Verdächtigen beschäftigen.


    *****
    24 Stunden später …
    Anna lehnte am Fenstersims und blickte zwischen den Lamellen des Sonnenschutzes sehnsuchtsvoll nach draußen. Von ihrem Standort aus konnte sie einen großen Teil des Grundstücks, das einer Parklandschaft ähnelte, überblicken. Links unterhalb von ihr befand sich ein riesiger Swimmingpool ohne Wasser. Zwischen den Terrakottaplatten, die den Pool einfassten, wucherte das Unkraut. Über einige Treppenstufen konnte man die großzügig angelegte Terrasse erreichen. Die komplette Gartenanlage mit ihren Pflanzen erinnerte sie sehr an das Landhaus in der Toskana mit dem daran angrenzenden Garten, in dem sie mit Ben ihren Urlaub verbracht hatte.


    Auch bei diesem Anwesen grenzte an die Terrasse und die Poolanlage ein Park, dessen alter Baumbestand Anna gefiel. Die alten Baumriesen hatten weit ausladende Äste, in denen Vögel brüteten und mit ihrem Gesang die Luft erfüllten. In den Lücken, wo die Sonnenstrahlen die Erde erreichten, hatte der Landschaftsgärtner, der diesen Park angelegt hatte, gezielt blühende Sträucher gepflanzt. Dazwischen wucherten Buchspflanzen, deren fachmännischer Formschnitt früher einmal geometrische Figuren dargestellt hatte. Hier hatte schon lange kein Gärtner mehr Hand angelegt. Überall konnte man erkennen, wie sich Mutter Natur Stück für Stück dieses Fleckchen Erde zurück eroberte. Der ehemalige Rasen war zu einer Wildblumenwiese mutiert. Zwischen den wild wuchernden Gräsern leuchteten einige Rosenblüten heraus und ließen die ehemaligen Blumenbeete, die als Blickfang gedacht waren, nur erahnen. Nach den düsteren Tagen in dem Kellerraum genoss Anna diesen Anblick der Natur. Warum auch immer, er vermittelte ihr Hoffnung, strotze nur so von Leben.


    Ab und an biss sie in den Apfel, den sie in ihrer Hand hielt. Elena hatte ihr diesmal einiges an frischem Obst in den Korb gepackt. Anna glaubte im ersten Moment zu träumen, als sie zwischen den Weintrauben versteckt, einige Schmerztabletten entdeckt hatte. Sie bewunderte die junge Frau für ihren Mut und ihre Kreativität. Zwischen dem Verschluss der Thermosflasche und des Edelstahlbechers fand die Ärztin eine kleine Tablettendose, in dem sich das homöopathische Mittel mit dem Arnika Wirkstoff befand, der die Wundheilung bei Ben unterstützen sollte. Anna fragte sich, wie sie jemals für diese Hilfe erkenntlich zeigen könnte.


    Ein leises Surren riss sie aus ihren Gedanken. Die elektrischen Rollläden, die am Haus für den Sonnen- und Sichtschutz angebracht worden waren, fuhren in ihrem Schienensystem wieder zurück in die Ausgangsstellung am Mauerwerk und gaben die komplette Fensterfläche frei. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen. Die einströmende Luft war sommerlich warm. Das schmiedeeiserne Fenstergitter, das einen Sturz nach draußen verhindern sollte, endete bei Anna auf Brusthöhe. Sie lehnte sich mit ihren Unterarmen darauf und schaute an der Hauswand entlang nach unten. Ein schmaler Sims, der das Haus umlief, teilte das Erdgeschoss optisch vom Obergeschoss. Wie hätte sie denn hier fliehen sollen? Sie hätte schon ein Akrobat sein müssen, um darauf entlang zu balancieren. Der Serbe hatte schon richtig erkannt, nur durch Abseilen über verknotete Decken und Bettlaken wäre für Anna eine Flucht möglich gewesen. Doch diese hatte man ihr vorerst genommen.


    „Über was brütest du denn gerade nach Schätzchen? Flucht? Schlag dir das gleich mal aus dem Kopf!“
    Anna fuhr beim ersten Wort erschrocken herum.

    Draußen auf dem Besucherparkplatz stieg Konrad Jäger aus seinem schwarzen Audi A8 aus und schaute sich suchend um, als würde er jemanden erwarten. Während sie Bens Vater weiter beobachtete, führte sie das beabsichtige Gespräch mit der Staatsanwaltschaft.


    „Das ist mir egal, was Du als Begründung in den Haftbefehl schreibst, wenn dir Verdunklungsgefahr zu wenig ist! …. Denke dir was aus! …“
    Kim Krüger ließ nicht eher locker, bis ihr Hendrik van den Bergh versicherte, sich selbst um einen Haftbefehl für Jutta Klotzbach beim zuständigen Amtsrichter zu kümmern.


    Neben dem schwarzen Audi hielt ein weißer Mercedes Kombi, dem ein Mann in Konrad Jägers Alter entstieg. Das schlohweiße schulterlange Haar rahmte das braungebrannte Gesicht des Mannes wie eine Mähne ein. Die beiden Männer begrüßten sich reserviert per Handschlag. Während Konrad Jäger, wie üblich einen eleganten taubenblauen Sommeranzug trug, trug sein gegenüber eine helle Jeans und ein kurzärmliges Baumwollhemd mit einer ärmellosen Weste darüber. Als die beiden gleich großen Männer die Eingangstür der PAST ansteuerten, wurde Kim bewusst, dass Konrad Jägers Begleiter für sein Alter eine athletische und muskulöse Figur hatte. Ihr war klar, wem der Besuch der beiden Männer galt, ihr. Deshalb zog sie sich in ihr Büro zurück. Durch die geöffnete Tür hörte sie, wie Herr Jäger Susanne begrüßte und zielstrebig in Richtung ihres Büros stapfte. Nach einmal klopfen, betraten die beiden Männer Kims Büro.
    Kim war schon gespannt, wen Bens Vater diesmal im Schlepptau hatte. Zum Glück war es diesmal nicht dieser rot-blonde Riese von einem Rechtsanwalt. Der ihr unbekannte Mann hatte ein sympathisches männlich geschnittenes Gesicht, was durch seinen sorgfältig gestutzten Kinn- und Schnurrbart noch unterstrichen wurde. Gleich seiner Haarfarbe war auch der Bart schlohweiß.


    „Guten Tag! Ich nehme an Sie sind Frau Krüger. Mein Name ist Johannes Becker, der Vater von Anna Becker. Ich denke, wir beide haben gestern miteinander telefoniert!“
    Kim erhob sich, nickte zustimmend und begrüßte die beiden Männer, die anschließend auf den Besuchersesseln Platz nahmen. Wie selbstverständlich übernahm Bens Vater die Gesprächsführung. Kim hatte ihre Hände auf der Schreibtischplatte abgelegt und die Finger ineinander verschlungen, während sie geduldig die Fragen von Konrad Jäger nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen und Suche der Entführten beantwortete. Hin und wieder warf Johannes Becker eine Bemerkung oder Frage zwischen rein. Man konnte ihm deutlich seine Verärgerung anmerken, weil seine Tochter trotz der offensichtlichen Bedrohung keinen Personenschutz durch die Polizei erhalten hatte.


    „Das wird ein Nachspiel haben Frau Krüger, seien Sie sich dessen sicher!“ Er erhob sich aus dem Stuhl, nestelte an seiner Hemdtasche herum und zog eine Visitenkarte heraus, die er an Kim weiterreichte. „Über meine Handynummer bin ich jederzeit erreichbar. Ich werde mir ein Hotel suchen und hier in Köln bleiben, bis meine Tochter gefunden wurde.“
    „Ich kann Sie ja verstehen, Herr Becker!“, versuchte Kim den verärgerten Mann etwas zu beschwichtigen. „Bitte glauben Sie mir und auch Sie Herr Jäger, wir unternehmen momentan alles Menschenmögliche um die beiden Vermissten zu finden!“


    Konrad Jäger stand ebenfalls auf und schickte sich an zu gehen. Nach einer kurzen Verabschiedung verließen die beiden Männer die PAST. Auf dem Parkplatz sprach Konrad Jäger Annas Vater an.
    „Herr Becker? Einen Moment noch!“ Der Weißhaarige, der bereits im Begriff war in sein Fahrzeug zu steigen, hielt einen Moment inne und blickte interessiert über das Wagendach hinweg zu Konrad Jäger.
    „Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennengelernt haben. Ich möchte ihnen gerne den Vorschlag unterbreiten, mein Gast zu sein und nicht in einem Hotel zu schlafen. Mein Haus ist groß genug …. Und … zu zweit lässt sich vielleicht diese Ungewissheit über das Schicksal unserer Kinder leichter ertragen!“
    „Gerne Herr Jäger! Doch zuerst möchte ich mir diesen Oberstaatsanwalt einmal zur Brust nehmen. Werden Sie mich begleiten?“
    „Selbstverständlich! Der Herr soll sich mal warm anziehen!“


    Die beiden Männer unterhielten sich noch kurz um die weitere Vorgehensweise abzustimmen. Man beschloss zuerst zu Konrad Jägers Anwesen zu fahren und anschließend mit einem Fahrzeug zur Kölner Staatsanwaltschaft.


    ****
    Zurück in der Villa … irgendwo
    Anna runzelte die Stirn. In düsteren Gedanken versunken, starrte sie die Zimmertüre an, als könne diese ihr eine Antwort auf diese eine Frage geben.
    Warum?
    Warum hatte man sie in dieses Zimmer gebracht?
    Die Ungewissheit schürte ihre Ängste. Sie fühlte sich elendig und schutzlos dieser hinterlistigen Schlange Gabriela ausgeliefert, die für die Ärztin die dämonische Verkörperung des Bösen war.


    Sie wischte mit ihren Händen über das Gesicht und versuchte diese zu vertreiben. Es wurde Zeit, dass sie sich um Ben kümmerte. Beim Umbetten hatte sie vor ein paar Minuten entdeckt, dass sich Teile des Verbandes, der die Bauchwunde bedeckte, sich durch frisches Blut rot gefärbt hatte. Behutsam löste sie die Bandage und atmete erleichtert auf, als sie erkannte, dass es sich hauptsächlich um Wundsekret handelte, das aus der Drainage gesickert war. Sie erneuerte die Wundauflage und den Verband. Anschließend versorgte sie die unzähligen anderen kleinen und großen Verletzungen, die man ihm zugefügt hatte. Mit Wehmut betrachtete sie den kümmerlichen Rest von Verbandsmaterial, der ihr noch zur Verfügung stand. Sorgfältig deckte sie Ben zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, die sich heiß anfühlte. Ihr Freund hatte nach wie vor hohes Fieber. Sein Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen Atemrhythmus. Immer wieder erwachte er in den kommenden Stunden aus seiner Bewusstlosigkeit. Aber es war kein wirkliches Erwachen. Seine Augen glänzten fiebrig und seine Blicke schienen durch Anna hindurchzugehen. Ben schien sie überhaupt nicht richtig wahrzunehmen. Er redete wirr und zusammenhanglos vor sich hin und durchlebte mehr als einmal diese grausamen Stunden der Folterungen. Sein Körper bäumte sich schmerzhaft auf und fiel wieder in sich zusammen.

    Zwischendrin gab es Momente, wo er ein bisschen wacher und ansprechbar war, die Anna nutzte, um ihm Flüssigkeit und das Antibiotikum einzuflößen. Trotzdem hatte Anna das Gefühl, dass das Fieber im Vergleich zum gestrigen Tag nicht weiter angestiegen war. Sie hatte sich den Schaukelstuhl neben das Bett geschoben und hielt Bens Hand umschlungen. Nachdenklich betrachtete sie sein Handgelenk. Auf der Wunde hatte sich dicker Schorf gebildet. Um Verbandsmaterial zu sparen, hatte sie nur ein wenig Salbe aufgetragen. Zwischendurch erhob sie sich, um im angrenzenden Bad im Waschbecken das kleine Gästehandtuch im kühlen Wasser auszuwaschen. Beharrlich tupfte sie ihm anschließend den Schweiß von der Stirn und dem Oberkörper.


    Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen drangen durch die geschlossene Tür Geräusche der anderen Bewohner des Hauses zu ihr durch. Zimmertüren wurden mit einem lauten Knall zugeschlagen, Gabrielas schrille Stimme erklang im Treppenhaus, sie schien sich mit einem der Männer zu lauthals zu streiten. Eine weitere Männerstimme mischte sich in das Gespräch ein. Leider verstand Anna kein Wort, weil sich die Streithähne in einer fremden Sprache anbrüllten. Also doch nicht alles Eitelkeit und Sonnenschein unter den Herrschaften, dachte sie bei sich.


    „Anna!“, sagte Ben leise. – „Mein Schatz!“ – Seine dunkelbraunen Augen blickten durch sie hindurch. „Hörst du es auch?“ – „Was?“ – „Die Brandung! … Die Wellen, wie sie gegen die Felsen schlagen. Ist es nicht herrlich hier am Meer? …. Der Sand ist so himmlisch weich … so warm … Komm lass uns baden gehen!“


    Es versetzte Anna einen Stich mitten ins Herz, unwillkürlich schossen ihr die Tränen in die Augen. In ihr kehrten die Erinnerungen an diesen unvergesslichen Urlaub zurück. Zwei Tage waren sie nicht aus dem gemieteten Landhaus gekommen, hatten sich hemmungslos und wild geliebt. Sie betrachtete versonnen Bens Fingerspitzen, seine Hände, seine Lippen. Welche Wonnen hatten diese auf ihren Körper gezaubert. Für einen Moment schloss sie die Augen und glaubte Bens zärtliche Hände auf ihrem Körper zu spüren. Ihre Mitte fing bei der Vorstellung erregt an zu pochen. Sie hätte sich keinen schöneren Zeitpunkt oder Ort als diesen Traumurlaub in der Toscana vorstellen können, um ein Kind mit Ben zu zeugen. Mittlerweile wusste sie ja, dass sie schon damals schwanger war.


    Sie rutschte aus dem Schaukelstuhl und kniete sich auf den Fußboden vor dem Bett hin. Voller Hingebung begann Anna die Fingerkuppen von Bens Hand zu küssen, begann sehnsuchtsvoll seinen Körper mit Liebkosungen zu überschütten.


    „Oh mein Gott Ben! Werden wir das hier überleben? … Wie wird es weiter gehen? Wirst du all das, was man DIR angetan hat, überwinden können … vergessen können? … Wie wird das alles enden?“


    Ben murmelte leise vor sich hin. Die Laute, die er von sich gab waren undeutlich. Hatte er irgendetwas von dem verstanden, was sie zu ihm gesagt hatte?

    Plötzlich waren auf dem Gang vor der Tür Schritte und ein Gemurmel zu vernehmen. Da war noch ein Geräusch, das Anna nicht zuordnen konnte. Ein merkwürdiges tack … tack … tack. Der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht und die Tür geöffnet. Unter der Tür stand Remzi, schwer atmend, auf Krücken gestützt, dahinter sein schnauzbärtiger Kumpel.


    Das Gesicht des Grauhaarigen hatte einen ungläubigen Ausdruck angenommen. „Der Kerl lebt ja tatsächlich noch!“ Er humpelte zwei Schritte in den Raum und betrachtete nachdenklich den Verletzten und Anna, drehte seinen Kopf über die Schulter. „Elena!“ brüllte er lautstark ins Treppenhaus, „beweg deinen Hintern hierher!“ Camil blickte seinen Kumpel fragend an. „Nehmt ihnen die Decken weg!“, er deutete mit einer Krücke Richtung der Fenster, „Oder du kannst der kleinen Wildkatze gleich eine Leiter an die Mauer zur Flucht hinstellen!“


    In der Zwischenzeit war Anna unter den Decken hervorgekrochen. Schützend stellte sie sich breitbeinig mit verschränkten Armen seitlich am Bett vor ihren Freund. Insgeheim bewunderte sie in diesem Moment den Grauhaarigen, der eine Bärenkonstitution haben musste. Wie hatte er es nach dem erlittenen Blutverlust geschafft, von seinem Bett bis hierher zu laufen, wenn auch mit Hilfe von Krücken. Kleine Schweißperlen lagen auf dessen Stirn. Mehr als einmal musste ihn sein Kumpel Camil stützen, als Remzi leicht wankte, weil der Kreislauf Probleme machte.


    Erleichterung machte sich in der Ärztin breit, als hinter Camil tatsächlich die zierliche Russin auftauchte. Sie lebte also noch. Ihre linke Oberlippe war dick angeschwollen und das linke Auge blutunterlaufen, dessen Schwellung so heftig war, dass sie nicht daraus schauen konnte. Ansonsten konnte sie so rein äußerlich keine weiteren Verletzungen an Elena entdecken. Der Schnauzbärtige erteilte der Russin einige Befehle, die Anna nicht richtig verstand, weil Remzi gleichzeitig zwei Schritte auf sie zu humpelte. Sie wich keinen Zentimeter zurück. In ihren Augen spiegelte sich ein trotziger und widerspenstiger Ausdruck, mit dem sie seinen gierigen Blicken standhielt. Es war ein Machtspiel ohne Worte. Unwillig brummte der Grauhaarige. „Falls du auf die Idee kommen solltest Schätzchen, über das Fenster abzuhauen, ist dein Lover tot. Verstanden! … Mach dir keine Hoffnungen! Ich warne dich nur einmal! Das Grundstück wird von einer hohen Mauer umgeben. Überall sind Bewegungssensoren eingebaut! Du hast keine Chance.“


    Anna glaubte ihm aufs Wort, denn auch Elena hatte ihr das Grundstück und die Alarmanlagen, mit denen es gegen unerwünschte Besucher abgesichert wurde, beschrieben. Eine Flucht durch das Überklettern der mächtigen Außenmauer war schier unmöglich. Remzi drehte sich um, mühselig auf seine Krücken gestützt, verließ er das Zimmer und steuerte sein eigenes Schlafzimmer an. Auf dem Korridor begegnete ihm Elena, die ihm alle Gegenstände, die für Ben und Anna bestimmt waren, einzeln zeigen musste. Camil stand unter der Tür und beobachtete die Szene wortlos. Die Russin brachte eine Daunendecke, zwei Kopfkissen und einige frische Kleidungsstücke für Anna.


    Zusammen zogen die Frauen das verschmutzte Laken unter Ben hervor, wobei sie äußerst behutsam vorgingen. Elena verschwand mit dem Laken und den Decken aus dem Zimmer und kehrte einige Minuten später, wie so oft in den letzten Tagen mit einem Korb vollgepackt mit Essen und Trinken zurück. Camil warf einen flüchtigen Blick auf die mitgebrachten Dinge und verließ zusammen mit der Russin das Zimmer. Sorgfältig wurde die Tür versperrt und Anna war wieder mit Ben allein.


    *****


    Zur gleichen Zeit auf der PAST
    Mit einem lauten Knall legte Semir den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Susanne war neben ihm gestanden, während Frau Krüger an der Zugangstür zu Semirs Büro stehen geblieben war. Beide Frauen hatten dem Gespräch, das Semir über Lautsprecher geführt hatte, aufmerksam gelauscht. Der Kommissar hatte gerade mit Thomas Hauptmann vom LKA Düsseldorf, Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität, ein langes Gespräch geführt. Bis in die frühen Morgenstunden sind die verhafteten Mitglieder des Stojkovics Clans von Verhörspeziallisten des LKAs vernommen worden.
    Das Ergebnis war gleich Null.
    Keiner der Bandenmitglieder wusste etwas über die Entführung und den Verbleib von Ben und Anna. Der Kopf des Clans, Zladan Stojkovicz und einige seiner engsten Mitarbeiter hüllten sich in Schweigen. Dessen Frau war es gelungen, sich zusammen mit ihrer Tochter ins Ausland abzusetzen.


    Der Oberstaatsanwalt und die ranghohen Politiker der Stadt Köln brüsteten sich während des Vormittags in einer Pressekonferenz mit ihrem Fahndungserfolg und der erneuten Zerschlagung eines Mafiaclans. Kim Krüger, die ebenfalls zur Teilnahme eingeladen worden war, hatte dankend abgelehnt. Semir verfolgte die große Show des Hendrik van den Bergh und des Polizeipräsidenten live am Bildschirm mit. Susanne stand hinter ihm.


    „Diese Idioten stellen sich hin und schwärmen von ihren Fahndungserfolgen und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, was sie für tolle Kerle sind. Dabei haben wir nichts … absolut nichts in den Händen!“ Semirs Gesicht färbte sich vor Zorn dunkelrot. Wild gestikulierte er vor sich hin. „Wir haben nicht den blassesten Schimmer, wo Ben und Anna gefangen gehalten werden. Ob die beiden noch am Leben sind? Oder wo diese Kilic steckt! Und dieser Hinrichsen … unsere einzige Spur genießt den Schutz des Innenministers! … Des Innenministers – das muss man sich mal geben. Der hohe Herr Minister kann sich seine Drohung in den Allerwertesten stecken, wenn wir den verehrten Rechtsanwalt nicht in Ruhe lassen, können wir uns einen neuen Job suchen. Der kann mich mal … Der kann mich mal!“, brüllte der Türke wild herum und gleichzeitig tigerte er wie eine gefangene Raubkatze in einem Käfig in seinem Büro umher.
    Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch. Mit einem hilflosen Blick musterte er die ausgedruckten E-Mails, Telefaxe und Verhörprotokolle, die wild durcheinander auf seinem Schreibtisch dalagen. Wie oft hatte er diese in den vergangenen Stunden studiert? Immer und immer wieder, in der Hoffnung noch einen entscheidenden Hinweis zu entdecken. Seine Hilflosigkeit schlug um in Wut, grenzenlose Wut. Semir schrie: „Verdammt … Verdammt Ben! Anna! Wo seid ihr?“ Er stützte sich leicht vornübergebeugt mit seinen Handflächen auf der Schreibtischplatte ab. Sein Blick fiel auf die oberste aufgeschlagene Akte, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er schrie erneut auf und wischte mit einer Handbewegung alles von seinem Schreibtisch herunter. Mit einem lauten Aufklatschen landeten die Akten und Blätter auf dem Fußboden.


    „Verdammt Gerkan, ich will Jäger und Frau Dr. Becker auch finden!“, meinte Kim Krüger in einem beruhigenden Tonfall. Er wendete den Kopf und blickte über seine Schulter. Die Chefin trat einen Schritt näher heran und umfasste die Schultern ihres Kommissars und drückte ihn sanft auf seinen Bürostuhl. „Nur wenn Sie durchdrehen, hilft das keinem. Am allerwenigsten den beiden Vermissten. Wir können diesem aalglatten Rechtsanwalt einfach nichts nachweisen. Susanne ist alle Anrufprotokolle der Physio-Praxis und der Kanzlei in der fraglichen Zeit durchgegangen. Es gibt nur eine Handy-Nummer, die zu einem Pre-Paid-Handy gehört, die regelmäßig während der Therapiestunden von Gabriela Kilic bei der Anwaltskanzlei angerufen hat. Der Name des Handy-Besitzers ist nicht zu ermitteln.“ Kim ließ den Türken los, trat einen Schritt zurück und verschränkte ihre Arme vor der Brust und schloss für einen Augenblick nachdenklich die Augen. Semir erhob sich aus seinem Drehstuhl, kniete sich auf den Fußboden und fing zwischenzeitlich mit Susannes Hilfe an, die verstreuten Akten und Papiere vom Boden aufzulesen.


    „Herr Gerkhan, lassen Sie das Susanne machen. Schnappen Sie sich Frau Dorn und fahren nochmals zu diesem Hospiz. Keine Krankenakte verschwindet einfach so. Nehmen Sie die Klinikleitung in die Mangel! Diese Krankenschwester, die regelmäßig Kontakt mit Rashid Stojkovicz hatte. Diese Frau weiß mehr als sie zugibt, da ist sich Herr Bonrath sicher. Bringen Sie diese Schwester Jutta Klotzbach wenn möglich zum Verhör mit auf die Dienststelle. Wir kommen noch dahinter, welche Leiche diese Frau im Keller begraben hat! Ich kümmere mich bei unserem lieben Staatsanwalt darum, dass wir für die Dame einen Haftbefehl wegen Verdunklungsgefahr bekommen.“


    Die Chefin schnappte sich den Telefonhörer des Telefons, das auf Semirs Schreibtisch stand, und hielt mit im Tippen der Rufnummer inne. „Scheiße!“, entfuhr ihr, „Das hat mir gerade noch gefehlt!“

    Irgendwann gelang es Camil, Annas Handgelenke zu umfassen und diese festzuhalten. „Verdammt, Weib! Beruhige dich!“, blaffte er sie mehrmals an.
    Die junge Frau spürte in dem Moment keinen Schmerz und rief nur einen Namen: „Ben!“
    „Ich bringe dich gleich zu ihm. Wir haben deinem halbtoten Bullenschwein nichts getan.“
    Es dauerte einige Sekunden bis Anna den Sinn der Worte begriff, die der Schnauzbärtige ihr ins Gesicht gebrüllt hatte. Langsam beruhigten sich ihr keuchender Atem und ihr Herzschlag.


    „Ihm ist wirklich nichts passiert?“, fragte die Ärztin vorsichtshalber nach und meinte so was, wie eine Spur von Mitleid in Camils Augen erkennen zu können, als dieser sie anwies: „Ja, keiner hat deinem Bullen was getan. … Sammle deine Sachen ein, ihr zieht in ein neues Etablissement um!“


    „Ich habe in diesem Raum außer meiner Arzttasche, ein bisschen Verbandsmaterial und ein paar Sachen nichts rumliegen.“, murmelte Anna, während sie sich von dem Söldner abwandte. Geschickt hob sie vom Boden ihre paar medizinischen Ausrüstungsgegenstände auf und stopfte sie in die schwarze Arzttasche. Anschließend huschte sie ins angrenzende Badezimmer, suchte auf die Schnelle die versteckten Medikamentenampullen zwischen den Badetüchern und ließ sie ebenfalls in der schwarzen Tasche verschwinden. Dabei ging ihr immer wieder durch den Kopf, was bezweckten ihre Entführer mit dieser Maßnahme? Welche neue Teufelei hatte diese Hexe, die lässig am Türrahmen lehnte und ihre grässliche Zigarillo rauchte, sich ausgedacht? Würden sie in den Weinkeller umquartiert werden, von dem ihr Ben erzählt hatte? Das wäre das sichere Todesurteil für ihren schwer kranken Freund. Nachdem die Ärztin das Badezimmer verlassen hatte, hielt sie für einige Augenblicke inne und ließ sie ihren Blick im Fitnessraum umherschweifen, in dem sie in den letzten Tagen so viele dramatische Stunden verbracht hatte. Mittlerweile hatte sie sich wieder beruhigt und ihre Emotionen wieder voll im Griff.


    Als sie an Gabriela vorbeiging, die hämisch vor sich hin kicherte, zischte Anna ihr wütend zu: „Du elendes Miststück! Das hast du nicht umsonst gemacht. Glaube mir, der Tag der Rache wird kommen! … Schneller als du glaubst!“


    Gabriela verfiel in einen diabolischen Lachanfall angesichts dieser in ihren Augen leeren Drohung. Wenn die Kleine wüsste, was ihr in den nächsten Tagen noch blühen würde. Die Ärztin hatte es schon richtig erkannt, sie war Remzis Beutestück. Camil umfasste Annas Arm und schob sie neben sich her in Richtung der Treppe. Die Kroatin folgte den beiden ins Erdgeschoß und machte einen Abstecher in die Küche, in der Elena das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine verstaute. Die junge Russin fuhr erschrocken zusammen, als die Stimme von Gabriela hinter ihr erklang.
    „Wenn du mit der Küche fertig bist, bewege dich in den Keller! Bis zum Mittagessen hat der Fitnessraum blitz sauber zu sein verstanden!“
    Elena nickte eingeschüchtert und atmete erleichtert auf, als sich die Dunkelhaarige entfernte.


    Zu ihrer Verwunderung wurde Anna von Camil wieder zurück ins Obergeschoß gebracht, wo sich nach ihrem Wissen die Schlafzimmer der Villa befanden. Ihr Weg führte ans andere Ende der Galerie, die Zimmertür lag genau gegenüber von Remzis Schlafgemach.


    „Na los, geh schon rein!“, forderte der Serbe sie auf, an ihm vorbei ins Zimmer zu gehen.
    Er gab ihr einen leichten Schubs, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Tatsächlich, gegenüber von der Tür stand ein Doppelbett aus Schmiedeeisen, welches weiß lackiert. Auf der Matratze lag Ben. Man hatte ihn in dem Bettlaken, auf dem Anna ihn zusammen mit Elena vor zwei Tagen gebettet hatte, einfach nach oben getragen. Rechts und links vom Bett befanden sich raumhohe Fenster, die teilweise brusthoch durch Gitter abgesichert waren. Die Gardinen waren mit roher Gewalt entfernt worden. Vereinzelte Fetzen hingen noch in der Leiste.


    Ihr Blick schweifte kurz im Raum umher. Links von der Zugangstür stand eine kleine Kommode mit drei Schubladen, das helle Birkenholz passte farblich zu dem Bett. Die leere, halb aus der Wand gerissene Halterung darüber verriet Anna, dass sich dort scheinbar einmal ein Fernsehgerät befunden hatte. Links an der Wand stand großzügig dimensionierter Kleiderschrank mit Schiebetüren, der aus dem gleichen Holz gefertigt worden war. Auf den Türen selbst waren Spiegel angebracht worden, die den Raum noch optisch vergrößerten, bis auf einen, der in unzählige Teile zersprungen war. Auf der rechten Seite war der Zugang zum Badezimmer. Die Tür zum angrenzenden Badezimmer stand einladend offen. In der Ecke hinter der Tür stand ein Schaukelstuhl aus hellem Rattan.


    Anna verstand die Welt nicht mehr. Wieso hatte man sie und Ben hier in dieses Zimmer gebracht, bei dem es sich offensichtlich um eines der früheren Gästezimmer handelte. Sie vermutete dahinter eine erneute Riesenschweinerei der Kroatin oder steckte dieser erbarmungslose Söldner Remzi dahinter? Ihr Blick wanderte wieder zurück zu Ben. Schwach hob und senkte sich sein Brustkorb. Sie eilte zum ihm hin. Ihr Freund lag auf der bloßen Matratze, nur mit diesem dünnen Lacken bedeckt. Kein Kissen, keine wärmende Zudecke. Sie kniete vor dem Bett nieder. Seine Augenlider flatterten. Unvermittelt schlug er die Augen auf. Anfangs schien sein Blick durch sie hindurch zu gehen und irrte im Raum umher. Sie umschlang seine Hand und er begann sie zu fixieren. Er starrte sie an und zu ihrer Überraschung veränderte sich der Ausdruck Augen, sein Blick wurde klarer. Anna hatte das Gefühl, als würde er sie erkennen.


    „Anna!“, hauchte er. Sie strich Ben über die Wangen, küsste ihn voller Freude zärtlich auf seine Lippen. „Ja mein Schatz! Wie fühlst du dich?“ – „Mir ist kalt! Furchtbar kalt!“ – Sein Körper bebte und fing an zu zittern. „Warte ich suche schnell nach einer Decke!“ Anna schob die Schranktüren auf, in der Hoffnung darin etwas Brauchbares zu finden und wurde bitterlich enttäuscht. Der Schrank war bis auf paar T-Shirts, die achtlos auf einem der Einlegeböden lagen, leer. Eilig zog sie die Schubladen der Kommoden heraus. In der Obersten befanden sich verschiedene Kleidungsstücke, die Anna nicht näher in Augenschein nahm. In der unteren Schublade wurde sie fündig. Darin lagen fein säuberlich zusammengefaltet einige Wolldecken und Bettlacken. Achtlos zog sie zwei Decken heraus und breitete sie über Bens Körper aus. Zusätzlich schlüpfte sie darunter, zog ihren Freund an sich und versuchte ihn mit ihrer Körperwärme zu wärmen.


    „Wird es besser!“ – Durch halb geschlossene Lider sah er sie an. Der fiebrige Glanz seiner Augen war unübersehbar. „Ich liebe dich Anna!“, murmelte er kaum hörbar und sie konnte nicht mehr feststellen, ob er noch bei Bewusstsein war oder wieder in seine Schattenwelt seiner Fieberträume abgetaucht. Leise sprach sie auf ihn ein, um ihn das Gefühl zu vermitteln, nicht alleine zu sein.

    In den frühen Morgenstunden, die Dämmerung kündigte den neuen Tag an, übermannte ihre Müdigkeit Anna endgültig. Die Augenlider fielen ihr zu und sie schlief ein. Jemand stieß ihr unsanft in die Seite.
    „Schätzchen, Zeit zum Aufwachen!“


    Aus übermüdeten Augen blinzelte Anna nach oben, nachdem sie sich von Ben gelöst hatte. Gabriela stand wie ein Racheengel über ihr und blickte sie aus ihren kalten grauen Augen an, in der eine gewisse Fassungslosigkeit stand, dass dieser verhasste Mann noch atmete.


    „Ich kann es einfach nicht glauben, der Kerl lebt immer noch!“
    Die Kroatin lief um den Verletzten herum, bückte sich herunter und zog die verschwitzte Zudecke mit zwei Fingern weg. Angewidert ließ sie diese zu Boden fallen. Eingehend begutachtete sie den nackten Polizisten, wie ein Stück Vieh, das auf einer Auktion zum Verkauf angeboten wurde.


    Anna hatte sich von Ben gelöst, sich aufgerichtet und stand Gabriela gegenüber. Jedoch fiel ihr Blick voller Mitgefühl und Sorge auf ihren Freund. Dessen Gesicht, mit all seinen Schwellungen und Blutergüssen, glich mehr der Maske eines Zombies aus einem Horrorfilm, als die eines Menschen. Die Wangen waren durch das Fieber leicht gerötet. Der Rest seiner Gesichtszüge war aschfahl. Sein einstmals muskulöser Körper war abgemagert. Die Rippen zeichneten sich unter der Haut ab. Hämatome, die in allen Farbtönen von blau-rot bis hin zu gelb-grün schillerten, überzogen zusammen mit unzähligen Verletzungen seinen Körper.
    „Lass ihn in Frieden!“ fauchte Anna ihre Widersacherin an, schnappte sich die Zudecke und bedeckte Bens Blöße. Die quittierte die aufmüpfige Antwort mit einem gehässigen Lachen.


    „Auf geht‘s! Verbandswechsel bei Remzi steht an und diesmal ohne Sondereinlage von DIR!“, befahl sie der Ärztin.
    Um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, zog sie dabei ihre Pistole aus dem Holster am Rücken. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen trug Gabriela heute eine hautenge schwarze Jeans und ein eng anliegendes Top. Außerdem hatte sie darauf verzichtet, ihren verkrüppelten Arm durch eine Jacke zu kaschieren.


    Auf dem Weg ins Obergeschoß versuchte Anna irgendwo ein Lebenszeichen von Elena zu erhaschen. Als sie das Schlafzimmer des Grauhaarigen betraten, verschloss Gabriela die Tür und blieb wachsam am Türblatt angelehnt stehen. Argwöhnisch beobachtete sie jeden von Annas Handgriffen. Auf dem Beistelltisch lag die volle Ausrüstung für eine optimale Wundversorgung bereit. Zu gedröhnt von Alkohol und Schmerztabletten ließ Remzi die Prozedur des Verbandswechsels und der Wundversorgung über sich ergehen.


    Anna ging dabei nicht sehr zartfühlend vor, im vollen Bewusstsein, dass sie dem Verletzten mehr Schmerzen zu fügte, als unbedingt notwendig war. Jedes Mal wenn Gabrielas Folterknecht das Gesicht verzog, stöhnte, zischend die Atemluft ausstieß, verschaffte es der Ärztin abermals ein Gefühl der Zufriedenheit.


    Die Kroatin begleitete Anna zurück in das Kellerverlies. Dort wurden sie von Camil an der Tür erwartet, die nur angelehnt war. Der Schnauzbärtige nickte der Kroatin zu. Als Anna den Fitnessraum betrat und galt ihr erster Blick Ben. Stocksteif, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, blieb sie stehen. Der Platz, auf dem ihr Freund gelegen hatte, war leer. Ihr Entsetzensschrei blieb ihr fast in der Kehle stecken.


    „Beeeeeeeeeeenn!“


    Ihr Magen krampfte sich zusammen, während ihr Pulsschlag zwischen ihren Schläfen hämmerte. Zurückgeblieben war auf der Bodenmatte eine Matratze, deren Stoffbezug mit Flecken von getrockneten Blut und menschlichen Ausscheidungen überzogen war. Die Zudecke lag am Fußende. Hinter ihr klang das diabolische Lachen von Gabriela auf.


    „Was habt ihr mit ihm gemacht? … Wo ist Ben?“, Annas Stimme überschlug sich fast. Die Angst um Ben raubte ihr in diesem Augenblick fast den Verstand. Sie drehte sich auf dem Absatz zum und gebärdete sich wie eine wildgewordene Furie. Mit ihren Fäusten hämmerte sie auf den Schnauzbärtigen ein und schrie ihn dabei immer wieder an: „Wo ist Ben?“

    also der Therapieansatz von Ben und Semir war schon genial ...

    Feinmotorik stärken ... Muskulatur in den Beinen stärken ... :):)

    und dann werden die Bergwanderer tatsächlich fündig

    Ben schleicht sich an ... die Beobachtungen sehr interessant ..

    ich hoffe nur, unsere Helden bleiben vernünftig ... unbewaffnet und alle beide noch mit Schlagseite ...

    der Plan, die Krüger einzuschalten, klang vernünftig

    nur .... hmmm ... was spielt dieser Jake jetzt für eine Rolle :/:/:/