Betonkunst

  • Vielleicht lag es am anderen Narkosemittel, oder auch an Sarah´s und Semir´s Gegenwart, die Ben sehr wohl wahrnahm, aber er tauchte langsam aus dem wirren Meer seiner Träume und Gedanken in die Realität. Eine halbe Stunde, nachdem Sarah die Sedierung reduziert hatte und sich wieder entspannt auf den bequemen Stuhl neben seinem Bett gesetzt hatte und sanft seine festgebundene Hand streichelte, schlug Ben zum ersten Mal die Augen auf. Sarah erhob sich, beugte sich ein wenig über ihn, damit er sie sehen konnte und lächelte ihn liebevoll an. Ruhig sagte sie: „Hallo Schatz! Es ist alles in Ordnung, schlaf noch ein bisschen und ruh dich aus!“ Ben musterte sie ein Weilchen, währenddessen man erkennen konnte, wie es in seinem Kopf arbeitete, dann versuchte er etwas zu sagen und bemerkte erneut den lästigen Tubus. Nachdem immer noch der Doppellumentubus lag, der aber nur noch an einer Stelle geblockt war und gleichzeitig beide Lungenhälften belüftete, war der sogar noch ein wenig dicker, als der, den Ben selber entfernt hatte. Aber mit Sarah´s gutem Zureden schaffte Ben es, den Schlauch zu akzeptieren und glitt wieder in einen leichten Schlaf.


    Auch Semir hatte den Kopf zu seinem Freund gewandt und zwar erschöpft, aber doch mit Interesse beobachtet, dass Ben anscheinend keinen Stress hatte. Auch sein Blutdruck und Puls waren nur unmerklich angestiegen und so dämmerte auch Semir wieder in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen und alles blieb ruhig. Semir´s Blutgase hatten sich nicht verschlechtert und als abends Andrea nochmals vorbeisah und ein Weilchen an seinem Bett saß, bedeutete er Sarah, die Maske kurz zu entfernen, was sie auch sofort machte. Obwohl es ihm mit der Sauerstoffbrille sichtlich Mühe bereitete zu atmen, fragte er seine Frau: „Schatz, wie geht´s dir-und wie geht´s den Kindern?“ Andrea lächelte ihn an. „Mir geht´s ganz gut, ich nehme halt die Schmerzmittel, die sie mir geben, sonst würde es schon noch ziehen, aber der Arzt hat vorhin nochmals bestätigt, dass ich morgen die Drainagen rauskriege und danach entlassen werde. Meine Mutter holt mich ab und die Mädels sind guter Dinge, weil die Oma da ist!“ „Na Gott sei Dank!“ sagte Semir rau und bat Sarah noch um einen kleinen Schluck zu trinken, was sie ihm auch mit dem Schnabelbecher eingab. Danach war es allerdings wieder dringend notwendig die Maske aufzusetzen, aber Semir hatte sich inzwischen daran gewöhnt und konnte auch darunter ganz gut ausruhen. Langsam begann auch Sarah zu hoffen, dass man um eine Intubation bei ihm herumkommen würde.


    Sie brachte Andrea zurück auf die Station, um sich auch ein wenig die Füße zu vertreten. Ihre Kollegen hatten Pizza bestellt und holten sie danach ins Stationszimmer, so dass sie wenigstens etwas im Magen hatte-bisher hatte sie sich überwiegend von Kaffee und Cola ernährt.
    Frisch gestärkt machte sie mit ihrer Kollegin die beiden Patienten noch für die Nacht fertig und dann streckte sie sich selber im Zimmer auf dem flachgestellten Mobilisationsstuhl, eng neben Ben aus. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, war sie in Kürze eingeschlafen und als die Nachtschwester zur ersten Runde ins Zimmer kam, fand sie drei friedlich schlafende Menschen vor und verließ auf Zehenspitzen wieder den Raum.


    Die Sharpova hatte derweil im fernen Almaty alles vorbereitet, oder vielmehr vorbereiten lassen. Sie war eine Russin aus reichem Hause und hatte bereits viel Geld mit in die Ehe gebracht. Sie wurde von ihren Bekannten und Freunden erst geschnitten, als sie vor über zwanzig Jahren den Deutsch-Russen Sharpov geheiratet hatte. Man blieb in den ethnischen Gruppierungen normalerweise unter sich und die Deutschen waren im damaligen Zentralrussland nicht sonderlich angesehen. Auch nach der Aufspaltung in eigenständige Staaten war das nicht anders gewesen. Sharpov allerdings hatte seinen Sonderstatus genutzt und war nach Deutschland gegangen, um dort sein Glück zu machen und als der Rubel dann nur so rollte, konnten merkwürdigerweise dann auch die alten Bekannten etwas mit der Beziehung der beiden anfangen. Schade war nur, dass er immer so wenig Zeit gehabt hatte, aber man musste verstehen, die Firma ging einfach vor, wie er ihr immer erklärt hatte. Sie hatten früher täglich telefoniert und seitdem das Internet überall alltäglich geworden war, hatten sie geskyped und waren sich dadurch immer nahe geblieben. Waldemar hatte ihr versichert, ihr immer treu geblieben zu sein und sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als er ihr erklärt hatte, dass er einen Käufer in Deutschland für ihre Firma gefunden hatte und nun endgültig zu ihr und den Kindern zurückkommen würde.
    Sie konnte gar nicht glauben, was die Schwester am Telefon zu ihr gesagt hatte-das konnte einfach nicht wahr sein, dass sie ihren geliebten Mann verlieren sollte. Aber was wusste eine Krankenschwester schon? Die im Krankenhaus ahnten vermutlich nicht, wie reich sie waren. Sie würde ihm die besten Ärzte kaufen, ihn in eine Spezialklinik verlegen lassen und dann würde er schon wieder gesund werden. Daher hatte sie den Sekretär auch angewiesen mitzufliegen, damit der in Deutschland auch alles organisieren konnte. Nach einer kurzen Nacht standen sie früh auf und machten sich auf den fünfstundigen Direktflug mit einer Linienmaschine nach Düsseldorf.

  • Nachdem die Zeitverschiebung vier Stunden betrug, kamen die Sharpova, ihre missgelaunten Kinder und der gestresste Sekretär schon um 9.30 Uhr Ortszeit in Düsseldorf an. Ein luxuriöses Hotel in Köln nahe des Universitätsklinikum war bereits gebucht und während sich der Sekretär um das aufwendige Gepäck kümmerte, waren Sharpov´s Frau und seine Kinder im Flughafenshop und versuchten sich die Zeit mit Einkäufen zu vertreiben. Leider hatten sie ja eigentlich schon, was das Herz begehrte und so kamen irgendwelche Nichtigkeiten als Frustkäufe zustande und als der Sekretär endlich auf der Matte erschien und vermeldete, dass das Großraumtaxi, beladen mit ihren Habseligkeiten, bereit stünde, bekam er als Dank für seine Mühen, nur einen vernichtenden Blick geschenkt. Wenn sein Chef Waldemar ihn nicht immer großzügig bedenken und ihm ständig mitteilen würde, wie wichtig seine Diskretion und Mitarbeit wäre, hätte er den Job schon lange gekündigt! Aber so konnte er nirgendwo anders so viel verdienen, wie in der Sharpov´schen Villa und die Unterkunft und Verpflegung waren zudem exquisit. Wenn allerdings seine Freundin endlich Lust zum Heiraten hätte, würde er voller Begeisterung den Job kündigen, der ihn eher an moderne Sklaverei, als eine ausfüllende Berufstätigkeit erinnerte!


    Auch bei Semir und Ben war der Morgen angebrochen. Semir hatte erstaunlicherweise mitsamt seiner Gesichtsmaske relativ gut geschlafen. Was eher störend gewesen war, war, dass er immer wieder auffieberte und sich damit gar nicht so unwohl fühlte. Ging die Temperatur allerdings zu hoch, bekam er wieder leise eine Paracetamolinfusion angehängt und schwamm danach vor lauter Schwitzen beinahe aus dem Bett. Sarah und die Nachtschwester versuchten ihn dann zwar frisch zu machen, ohne dass Ben wach wurde, aber trotzdem fühlte er dann immer dessen fragenden Blick auf sich ruhen. Anscheinend hatte der genau so viel Sedierung, dass er schlafen und den Tubus tolerieren konnte, aber trotzdem von seiner Umgebung genügend mitbekam, dass er verwirrt war und nicht wusste, wie die Zusammenhänge waren. Ach wie sehr sehnte Semir sich ihren normalen Alltag zurück, wo man einfach sagte, was Sache war, seiner geliebten Arbeit nachging und dabei immer Zeit für einen flapsigen Spruch hatte. Aber diese Rauschgift-Kunstsache hatte Dimensionen angenommen, die keiner von ihnen vorher erwartet hätte!


    Bei der Übergabe um kurz nach sechs wurde dann, wie der Arzt am Vortag angeordnet hatte, Ben´s Sedierungsperfusor komplett ausgeschaltet. Nur das Sufenta lief noch in einer kleinen Spur mit, da die Schmerzen sonst für ihn nicht auszuhalten gewesen wären. Nachdem das Midazolam noch im Organismus nachwirkte, wurde Ben erst allmählich wacher. Der Pfleger, der am Vortag dagewesen war, hatte seine beiden Patienten mit einem Lächeln begrüßt. Heute hatten sie die Patientenaufteilung anders gemacht als gestern und so hatte er als dritten Patienten nicht Sharpov, sondern einen jungen Mann, der nur zur Überwachung da war, denn erfahrungsgemäß waren das Weaning und die geplante Extubation durchaus aufwendig.


    Während der Pfleger sich dann Semir zur gründlichen Ganzkörperpflege widmete, begann Sarah nun wieder Ben zu waschen. Ganz so friedlich, wie in der Nacht zuvor lief das allerdings nicht ab, da er ja nicht mehr tief und fest schlief, sondern wacher wurde, aber leider noch keinen Peil hatte. Sie sprach die ganze Zeit mit ihm, er erkannte sie anscheinend auch, aber mit dem Inhalt ihrer Worte konnte er wenig anfangen. Als sie seine Hände losmachen musste, um den Rücken ihres Freundes, soweit er nicht von Verbänden verklebt war, zu waschen, holte sie sich vorsichtshalber Jens dazu, denn es wäre der Alptraum, wenn sich Ben nochmals den geblockten Tubus ziehen würde. Es machte zwar Mühe, aber miteinander schafften sie es, Ben zu bändigen und als er frisch gewaschen im frisch bezogenen Bett lag, schloss der die Augen wieder und schlief erschöpft vor sich hin.
    Sarah sagte, während Jens gerade Semir´s Atemmaske zum Zähneputzen und Rasieren entfernte: „Du, ich gehe jetzt schnell mal in mein Appartement, dusche mich und zieh mich um. Danach bin ich wieder da und passe auf die beiden auf!“ und ihr Kollege nickte. Bei Semir klappte es heute mit der Sauerstoffbrille schon viel besser, als am Vortag. Seine Sättigung sank nicht mehr ganz so tief und die Atemnot hielt sich in Grenzen. Jens nahm noch ein Kontrollgas ohne CPAP ab, aber als er danach die Maske wieder festschnallte, war Semir dennoch erleichtert, dass er wieder problemlos Luft bekam. Das hätte er sich auch nicht träumen lassen, dass er sich an so eine Maschine sehnte, die doch eigentlich unbequem war, aber er merkte einfach, wie gut ihm diese Überdruckbeatmung tat und ruhte sich nun ebenfalls wieder ein wenig aus.


    Andrea hatte auch recht gut geschlafen, was sie erstaunte, aber ihr erschöpfter Körper hatte das einfach verlangt. Sie wusste Semir bei Sarah in guten Händen und so war sie nur einmal wach geworden und hatte ein Schmerzmittel gebraucht. Die Schwester half ihr morgens beim Waschen und Anziehen und Andrea war sehr froh, dass ihre Mutter und Susanne lauter praktische, weite Sachen zum Schlüpfen eingepackt hatten. Sie bekam noch Frühstück und die gleiche Schwesternschülerin wie gestern gab ihr das Essen ein. Kaffee trinken funktionierte ganz gut mit Strohhalm und Andrea seufzte, als sie an die kommenden Wochen zuhause dachte, aber das musste einfach gehen. Danach wurde es zwar ein wenig unangenehm, als der Arzt ihr die Drainagen zog und einen dünnen Verband um die sauber vernähten Schnittwunden machte, aber auch das war auszuhalten. Sie bekam noch eine Tagesration Schmerzmittel, einen Brief an den Hausarzt und den nächsten Vorstellungstermin in der Handambulanz mit und der Orthopädietechniker des Krankenhauses passte ihr zwei Handschienen aus Kunststoff an. Die hatten ein flottes Design und waren gar nicht mehr so dick und sperrig, wie die Gipsschienen. Außerdem wurden die mit Klett befestigt und Andrea war nun etwas versöhnt mit der Situation. Bevor sie sich abholen ließ, musste sie nun aber dringend zu ihrem Mann und machte sich auch gleich auf den Weg. Sogar das Knöpfchendrücken am Fahrstuhl, als auch das Läuten außen an der Intensiv klappten ganz gut-sie würde mit der Situation schon zurecht kommen und das Wichtigste war, dass sie Semir gerettet hatte, da nahm sie die Unannehmlichkeiten doch gerne in Kauf!

  • Kaum war die Sharpova mit ihrem Anhang im Hotel eingezogen, machte sie sich zunächst ohne ihre Kinder, nur begleitet vom Sekretär, auf in die Uniklinik. Als sie außen an der Intensivstation läutete und sich anmeldete, holte der diensthabende Stationsarzt sie erst einmal ins Arztzimmer, um mit ihr die Aussichtslosigkeit der Situation bei ihrem Mann zu besprechen. „Frau Sharpova, bei ihrem Mann ist es nach der Fentanylgasintoxikation leider zu schweren Komplikationen gekommen. Er hat erbrochen und das Erbrochene eingeatmet. Bis wir wieder eine ausreichende Sauerstoffversorgung des Gehirns herstellen konnten, hat das leider irreversible Schäden erlitten. Der Neurologe wird später noch einmal die Hirnströme zu messen versuchen, aber obwohl ihr Mann seit gestern Abend keine Sedierung mehr hat, hat er keinerlei Abwehrreflexe, die Pupillen sind entrundet und er wird nur noch von Maschinen am Leben gehalten. Wenn die weiteren Untersuchungen das bestätigen, was wir vermuten, werden wir ihn demnächst für tot erklären!“ sagte er sachlich, aber doch mitfühlend. Die Sharpova sprang auf und schrie: „Niemand wird mir meinen Waldemar wegnehmen! Wenn ihr deutschen Ärzte unfähig seid, muss ich ihn eben mit nach Russland nehmen, wo er bestens versorgt wird!“


    Der Arzt, der angesichts solch schrecklicher Eröffnungen an extreme Reaktionen der Angehörigen gewöhnt war, nahm das nicht persönlich, sondern erhob sich und sagte emotionslos: „Dann gehen wir erst einmal zu ihm und schauen, dass sie sich gebührend verabschieden können. Hatte nicht auch jemand gesagt, er hätte Kinder?“ Der Sekretär, der der Truppe über den Intensivflur gefolgt war, erklärte: „Ja, eine 17jährige Tochter und einen 15jährigen Sohn-die warten im Hotel, weil ihre Mutter sie nicht unnötig belasten wollte!“ Der Arzt sagte leise. „Ich würde trotzdem empfehlen, sie herzuholen, damit sie sich persönlich verabschieden können. Letztendlich müssen sie das natürlich selber wissen, aber in der Verarbeitung von Todesfällen naher Verwandter ist es besser, die Trauer und den Schmerz zuzulassen und sich das persönlich anzusehen, so fällt das Loslassen oft leichter.“ Der Sekretär nickte, während die Sharpova gar nicht mehr richtig zugehört hatte.


    Nachdem sie um zwei Ecken gebogen waren- eben war ihnen eine Frau mit zwei Handschienen begegnet- traten sie gemeinsam ins Patientenzimmer. Es war nur ein Bett belegt und in dem lag mit erhöhtem Oberkörper, angeschlossen an eine Menge blinkender Maschinen, Waldemar Sharpov. Er war intubiert, hatte einen mehrlumigen ZVK und eine Arterie und es liefen einige Perfusoren mit Elektrolyten, er bekam Infusionen, die fragliche Mängel in der Versorgung ausgleichen sollten und sonst sah er aus, als würde er schlafen. Seine Gesichtszüge waren zwar ein wenig aufgequollen, aber der Sekretär, der einen schrecklichen Anblick erwartet hatte, war positiv überrascht. Es war eigentlich kaum zu glauben, dass dieser Mann so totgeweiht sein sollte, wie der Arzt ihnen weiszumachen versuchte. Einen Moment war er fast unsicher, ob da nicht wirklich ein Irrtum vorlag, obwohl er eigentlich den deutschen Ärzten schon eine gewisse Kompetenz zusprach. Die Sharpova, die anscheinend dieselben Gedanken wie er hatte, trat zu ihrem Mann und sprach ihn auf Russisch an. Sie streichelte ihn, küsste ihn und als er nicht reagierte, schüttelte sie ihn sogar ein wenig. „Er hat doch sicher noch eine Narkose?“ fragte der Sekretär zweifelnd, aber der Arzt schüttelte den Kopf. „Die braucht er nicht mehr, denn das Gehirn ist so weit zerstört, dass er nichts mehr fühlen kann. Wir haben heute Morgen schon ein CCT des Schädels gemacht, aber das Gehirnrelief ist kaum mehr zu erkennen. Auch wenn das schwer vorstellbar ist-vor uns liegt ein Sterbender “- sagte er leise.
    Sharpov´s Frau wollte nicht glauben, was der Arzt ihr sagte: „Ich werde sofort einen russischen Arzt herholen, der soll ihn sich ansehen und dann eine Prognose stellen, wehe sie lassen ihn bis dahin sterben!“ sagte sie laut, so dass es bis auf den Flur hallte. Sarah, die gerade aus dem Stationszimmer zurückkam, wo sie einen Kaffee getrunken hatte, erhaschte im Vorbeigehen einen Blick auf die Frau des russischen Industriellen. Auch wenn er ein Verbrecher war und schuld daran, dass Ben und Semir so viel aushalten mussten, aber den Tod hatte er dennoch nicht verdient. Eine lebenslange Haftstrafe ja, aber in der Blüte seiner Jahre sterben zu müssen, war etwas, was niemand verdient hatte, zumindest in Sarah´s sozial geprägtem Universum. Das war etwas, was ihr ihren Beruf oft schwer machte, dieses Mitleiden mit den Patienten und Angehörigen. Aber man gewöhnte sich ein wenig daran und mit jedem Berufsjahr wurde es leichter.


    Während Sarah wieder zu Ben ging und Andrea, die ebenfalls gerade zu Semir getreten war, mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, verließ die Sharpova, gefolgt von ihrem Sekretär, der den Arzt entschuldigend anblickte, wie eine Furie die Intensivstation, um sich ans Telefon zu hängen und einen russischen Spezialisten in der Nähe ausfindig zu machen. Sie traute dieser Bande nicht! Die wollten ihren Waldemar nur loshaben!


    Der Arzt gab der zuständigen Schwester, die inzwischen ebenfalls in Sharpov´s Zimmer gekommen war, seine Anordnungen. „Wir machen in der Therapie weiter, wie bisher, die Angehörigen sind noch nicht so weit, dass man vernünftig mit ihnen reden könnte. Ich hoffe jetzt, dass er nicht stirbt, bevor die Ehefrau einen Landsmann hergekarrt hat, der ihr dann das bestätigt, was ich ihr gesagt habe. Allerdings findet keine Reanimation statt, wenn sein Herz zu schlagen aufhört, das wäre unethisch!“ legte er fest und nachdem er das noch schriftlich in der Patientenkurve dokumentiert hatte, verließ er den Raum, um seiner weiteren Arbeit nachzugehen.

  • Die Sharpova hatte sich wieder ein wenig beruhigt, bis sie am Taxistand angekommen waren. „Welches ist der beste russische Spezialist hier in Köln?“ wollte sie von ihrem Sekretär wissen und der griff zum Telefon und kontaktierte einige vertrauenswürdige Landsleute, die ihm eine bestimmte Person weiterempfahlen. Als er das der Sharpova mitteilte und die Adresse der Praxis ganz in der Nähe sagte, wollte sie, ohne zuvor anzurufen, sofort zu diesem Mann fahren und der Sekretär winkte kommentarlos nach einem Taxi. Seine Chefin würde sowieso bekommen, was sie wollte-warum ihr dann im Wege stehen?
    Wenig später waren sie an der luxuriösen Praxis des ausgezeichneten Internisten mit russischen Wurzeln angekommen, der ihnen empfohlen worden war. Der Name Sharpov hatte unter den russischstämmigen Deutschen in Köln ein Gewicht und gegen die Zusicherung eines fetten Privathonorars ließ der Arzt seine bestellten Patienten im Wartezimmer sitzen und machte sich mit seinen beiden Begleitern auf den Weg zur Uniklinik.


    Dort war Ben inzwischen wach geworden-sehr wach! Obwohl Sarah ihn zu beruhigen versuchte, zerrte er schweißüberströmt an seinen Fesseln, mitleidig beobachtet von Semir. Andrea war inzwischen von Margot abgeholt worden, damit sie rechtzeitig wieder zurück waren, wenn die Kinder Schule und Kindergarten-Schluss hatten und so hatte Semir die letzten Stunden Ben´s zunehmende Wachheit beobachtet. Endlich konnte er auch gezielt reagieren und die Aufforderungen, die man an ihn richtete, erfüllen, aber erstens störte ihn der Tubus gewaltig und außerdem hatte er dazu schlimme Schmerzen! Obwohl das Sufenta noch niedrig dosiert lief, genügte es anscheinend nicht, Ben´s Wundschmerz im Zaume zu halten und so verzog er zwar das Gesicht-besorgt beobachtet von Sarah und Semir, aber er konnte sich auch nicht äußern, wie unerträglich ihm seine augenblickliche Situation schien. Was kein Problem darstellte, war der Zustand der Lunge-die Blutgase waren seit der intrathorakalen Blutstillung zügig besser geworden, es war Zeit, den Beatmungsschlauch zu entfernen.


    Endlich hatte der Stationsarzt, der zuvor einen Notfall versorgt hatte, Zeit und der Notfallwagen wurde ins Zimmer gefahren. In Stand-by, falls man doch wieder reintubieren müsste, stand der Wagen bereit und der Arzt saugte Ben´s Mund und Bronchien noch ein letztes Mal ab, was bei dem wieder einen schrecklichen Hustenanfall hervorrief, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Trotz seiner Verletzungen und der ganzen Schläuche drehte man ihn auf den Rücken und stellte das Bettkopfteil hoch. Die Pflaster in seinem Gesicht wurden gelöst und während Sarah den Tubus entblockte, zog ihn der Arzt nun vorsichtig heraus und warf ihn weg, was bei Ben noch einen letzten Hustenstoß provozierte, ihn aber dann erleichtert aufatmen ließ. Mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht sog er gierig die Luft auf normalem Wege ein und war glücklich, als Sarah nun noch seine Handfesseln löste. Der Arzt blieb noch kurze Zeit neben dem Bett stehen und betrachtete prüfend Ben´s Sauerstoffsättigung, aber die blieb im Normbereich und so verabschiedete er sich kurz danach und ging zu seinem nächsten Patienten. Ben wollte was sagen und dazu die Maske von seinem Gesicht ziehen, aber Sarah legte den Zeigefinger auf ihren Mund und sagte liebevoll „Pscht, jetzt erhol dich erst und gewöhn dich wieder ans normale Atmen, später nehme ich die Maske weg!“ und Ben schloss tatsächlich noch ein wenig die Augen und tat, was Sarah ihm befohlen hatte, obwohl seine ganzen Verletzungen brannten, wie das Höllenfeuer.

  • Hartmut hatte nach einer kurzen Nacht morgens ganz begeistert den ersten Safe geöffnet und stellte fest, dass da ein elektronisches Verschlusssystem vorlag, das mit einer Hochleistungsbatterie gespeist wurde. Jetzt kam er der Sache schon näher und außerdem beschloss er, sich später auch noch mit der Chefin im Betonwerk umzusehen. Irgendwie mussten die Safes ja in das Kunstwerk gekommen sein und es war sicher auch interessant zu erfahren, ob der Künstler eingeweiht war. Wenn er seinem Gefühl trauen durfte, dann war das nicht der Fall, denn dann hätte er nach Ben´s Unfall die Klappe gehalten. Wer Dreck am Stecken hatte, verhielt sich in so einem Fall eher ruhig und hoffte, dass sich niemand das Kunstwerk näher anschauen würde.


    So ging er ins Büro der Chefin und teilte ihr seine Erkenntnisse mit. „Ich würde jetzt erst gerne im Krankenhaus vorbeischauen, vielleicht kann mich Frau Bukow ja in die Geheimnisse dieses Verschlusssytems einweihen. Sie konnte auf jeden Fall eines der Kästchen öffnen, allerdings weiß ich nicht, ob sie schon wieder so fit ist, um mir das erklären zu können!“ sagte er und die Chefin nickte. „Danach habe ich Andrea versprochen, mir ihre Schienen anzusehen-vielleicht kann ich ihr irgendwelche Alltagshelfer bauen. Ich denke es wird Nachmittag werden, aber würden sie dann vielleicht mit mir ins Betonwerk fahren, damit wir evtl. rausfinden können, wie die Safes in den Beton gekommen sind?“ fragte er noch und die Chefin nickte lächelnd. Wie selbstverständlich übernahm Hartmut die Tätigkeiten, die normalerweise Semir und Ben machen würden. Sie war stolz auf ihre Truppe, die einfach zusammenhielt und den Krankheitsausfall kompensierte.
    Susanne, die nach einem erholsamen Schlaf wieder genesen war und wie gewohnt an ihrem Arbeitsplatz saß, hatte vor, sobald Andrea daheim war, mit ihr kurz zu telefonieren und nach Dienstschluss zu den Gerkan´s nach Hause zu fahren, um ihre Freundin dort zu besuchen und eventuell irgendwelche Hilfestellungen zu leisten.


    So war alles gut organisiert und Hartmut machte sich auf den Weg in die Klinik. Nach kurzer Überlegung kaufte er im Kiosk eine Süßigkeit für Irina. Sie war eh so schlank, die konnte das vertragen und dann stand er auch schon vor der inneren Intensiv. Die Schwester ließ ihn auch gleich herein und als er vor Irina´s Bett stand, war er positiv überrascht. Sie hatte zwar noch dicke Augenringe, war aber nicht mehr fixiert und Herrin ihrer Sinne. Sie lächelte gerührt, als er ihr die Süßigkeit überreichte, ach war das nett, dass sich dieser rothaarige Polizist so um sie kümmerte. Er redete dann auch nicht lange um den heißen Brei herum, sondern fragte: „Irina, ich habe die Safes in dem Betonkunstwerk entdeckt und ausgebaut. Ich weiß im Prinzip, wie die funktionieren, allerdings würde mich interessieren, mit welchem elektronischen Schlüssel du an den Stoff rangekommen bist-und wie das Vertriebssystem überhaupt funktioniert hat?“


    Irina seufzte. Nachdem sie nicht vorhatte, noch einmal mit Koks in Berührung zu kommen-zu schlimm waren die letzten Tage gewesen- konnte sie durchaus offen sein. Vielleicht würde das die deutsche Justiz mit Wohlwollen betrachten und sie konnte dann bald in ihre Heimat zurück. Deshalb fragte sie: „Wo sind meine Sachen?“ und Hartmut lief schnell auf den Flur und fragte die Schwester. Die brachte aus einem verschlossenen Schrank auf dem Gang eine Plastiktüte mit den Dingen, die Irina am Leib getragen hatte, als sie aufgenommen worden war. Irina kramte ein wenig darin herum und hielt dann triumphierend ihren Schlüsselbund hervor, an dem ein unscheinbarer schwarzer Einkaufschip in einer Halterung hing. „Da drin ist das elektronische Bauteil versteckt, mit dem man die Safes öffnen kann!“ erklärte sie ihm und machte dann, mit immer noch zitternden Fingern, den Einkaufschip mit der Mehrfachfunktion von ihrem Schlüsselbund ab. „ Der den ich habe, ist ein Universalöffner, der alle vier Fächer öffnet. Sowohl zum Bestücken, als auch zum Abrechnen haben Sharpov´s Mitarbeiter diese schwarzen Chips. Die Kunden haben Chips in verschiedenen Farben, mit denen man jeweils nur ein Fach öffnen kann. Nach einem genau ausgearbeiteten Plan wurden die Fächer bestückt und so auch das Geld deponiert. Der Kiosk neben den Straßenbahnen wird auch von Sharpov´s Leuten betrieben, die so unauffällig immer ein Auge auf die Sache haben konnten. Es hat wunderbar funktioniert-die Kunden mussten nie persönlich mit den Drogenverkäufern in Kontakt treten, das lief anonym und hat die Übergabe immens erleichtert!“ erklärte Irina und Hartmut nahm fast ehrfürchtig den unscheinbaren Chip in Empfang. Das war eine geniale Strategie und wenn es um elektronische Spielchen ging, dann war er dafür sowieso zu haben. „Ich danke dir für deine Offenheit!“ sagte er in vertrautem du und verabschiedete sich dann von Irina, mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen. „Das wäre schön!“ sagte sie dankbar und hielt seine Hand ein wenig länger fest, als nötig gewesen wäre.

  • Hartmut ging danach auf die Station, auf der Andrea gelegen hatte, erfuhr aber, dass sie schon entlassen war und machte sich dann noch auf den Weg zur Intensivstation. Als er draußen läutete, erkundigte sich die Schwester, die an der Sprechanlage war, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu Semir und Ben stünde. Als er gestand, nur ein Kollege zu sein, bekam er zur Antwort: „Es tut uns leid, aber sie müssen mit ihrem Besuch leider so lange warten, bis ihre Kollegen wieder auf Normalstation sind. Auf der Intensivstation haben nur die nächsten Angehörigen Zutritt!“ und so machte Hartmut sich schulterzuckend auf den Weg zu den Gerkan´s nach Hause.


    Ben hatte inzwischen wieder vor Schmerzen und Stress zu schwitzen begonnen. Irgendwie war Sarah nun beunruhigt und zog doch kurz die Ohiomaske zur Seite. „Schatz, was ist los?“ fragte sie besorgt und Ben stöhnte nun leise: „Es tut so weh!“ und Sarah erschrak. Oh nein, das wollte sie doch nicht, dass ihr Freund so starke Schmerzen hatte. Manchen genügte die Dosierung von 0,01mg Sufenta in der Stunde, aber natürlich-Ben hatte so viele verschiedene, hochschmerzhafte und vor allem noch frische Verletzungen, das war ja nur naheliegend, dass die Dosierung da nicht ausreichte. Sie stellte den Perfusor höher, so dass nun 0,02 mg pro Stunde laufen würden, aber das würde doch eine Weile dauern, bis der Wirkspiegel im Blut sich erhöht hatte. So lange müsste ihr Schatz dann noch schlimme Schmerzen aushalten-nein das durfte nicht sein! Kurzentschlossen gab sie ihm einen Bolus von zwei Millilitern, Ben lächelte sie glücklich an, weil er merkte, wie plötzlich seine Schmerzen komplett verschwanden-und hörte dann auf zu atmen!


    Oh nein, auch das noch! Während Semir, der immer noch apathisch vor sich hin fieberte, beunruhigt zu seinem Freund sah, dem die Augen zufielen und dessen Monitor plötzlich Alarm schlug, begann Sarah Ben zu kneifen und zu schütteln, ohne dass die Atmung wieder einsetzte. Wenig später standen auf den Alarm hin Ben´s betreuender Pfleger und der Stationsarzt vor Sarah, die inzwischen hektisch nach dem Ambubeutel und der Maske gegriffen hatte. „Was war los?“ fragte der Stationsarzt, der sich schon denken konnte, was geschehen war. Jedem Arzt und jeder Schwester war es schon mehr als einmal passiert, dass er sich in der Medikamentendosierung verschätzt hatte und es sah so aus, als hätte Ben zu viel Opiat bekommen-oder die Extubation wäre zu früh gewesen, was aber keiner der beiden in Erwägung zog, so wach, wie Ben zuvor gewesen war.
    „Ich habe ihm einen Bolus von zwei Millilitern Sufenta gegeben-das war anscheinend zu viel auf einmal!“ sagte Sarah kleinlaut. Der Stationsarzt hatte inzwischen das Bett heruntergefahren, so dass Ben nun flach auf dem Rücken lag, hatte die Beatmungsmaske und den Ambubeutel aus Sarah´s Händen genommen, überstreckte dessen Kopf und begann ihn nun mit der Maske zu beatmen. Das alles war so schnell gegangen, dass Ben´s Sauerstoffsättigung zu keiner Sekunde in den kritischen Bereich abgerutscht war. Jens hatte für alle Fälle gleich den Notfallwagen mitgebracht, aber der Stationsarzt sagte, bevor der Pfleger alles zur Reintubation herrichtete. „Gib mir mal bloss ´nen Güdeltubus!“ Das war ein starrer, kurzer gebogener Tubus, der nur verhinderte, dass die Zunge nach hinten fiel, aber weit vor dem Kehlkopf lag. Es dauerte auch nicht lange, da kam Ben wieder und begann gegen die Beatmung zu arbeiten. Er schlug die Augen auf, schaute verständnislos in das Gesicht des Stationsarztes, der über ihn gebeugt war und hustete. Er akzeptierte zwar den Güdeltubus noch, was bedeutete, dass er noch nicht ganz wach war, aber immerhin, der Atemantrieb war wieder da und die Schutzreflexe funktionierten.


    Der Stationsarzt sah Sarah an. „Glück gehabt!“ sagte er ungerührt. „Ich habe mir gerade überlegt, ob ich ihn mit Larynxmaske weiterbeatmen soll, oder ihm Naloxon geben!“
    Sarah erschauerte. Wenn man Ben das Antidot gegeben hätte, wäre er völlig ohne Analgesie dagestanden und hätte entsetzliche Schmerzen aushalten müssen. So hatte er nun ausreichend Schmerzmittel, also war es die bessere Lösung. Der Stationsarzt fuhr das Bett wieder hoch, stülpte Ben die Ohiomaske über und legte sein Handwerkszeug wieder weg. „So Sarah! Du wirst deine Tätigkeit hier auf die Grundpflege beschränken und jede Medikamentengabe von uns vornehmen lassen. Du bist persönlich befangen und kannst leider nicht so rationell wie sonst entscheiden, was richtig und was falsch ist, wie man ja gerade gesehen hat. Es ist ja jetzt noch mal gut gegangen-du wirst jetzt aber die nächste Stunde nicht von diesem Bett weggehen und sofort Alarm schlagen, wenn sich etwas Auffälliges ereignet, ohne selber aktiv zu werden!“ befahl er, allerdings in mildem Ton. Er hatte durchaus Verständnis für die Situation. Höchstpersönlich reduzierte er die Dosierung des Sufentaperfusors dann wieder auf 0,01mg pro Stunde und ordnete an, dass Jens einen Novalginperfusor bringen sollte, der kontinuierlich ein Schmerzmittel, das nicht auf Opiatbasis wirkte, zuführen sollte und zusätzlich sollte Ben nun noch alle sechs Stunden eine Kurzinfusion mit Paracetamol kriegen. Damit müssten die Schmerzen erträglich sein, ohne irgendwelche Bewusstseinstrübungen zu riskieren. Während Sarah sich nun zitternd auf den Stuhl neben Ben´s Bett setzte, um sich zu beruhigen und nach dessen Hand griff, verließen die beiden Männer das Zimmer und gingen ihrer weiteren Arbeit nach. Sie waren sicher, dass Sarah auf diesen Schreck hin nicht mehr eigenmächtig handeln würde!

  • Nachdem Irina ihren körperlichen Entzug nun in groben Zügen hinter sich gebracht hatte, nicht mehr zitterte, delirierte, oder Kreislaufprobleme hatte, wurde sie zügig auf Normalstation verlegt, da man das Intensivbett für einen kränkeren Patienten brauchte. Eine Dame des Sozialdienstes war auch schon bei ihr gewesen und hatte ihr Bilder einer wunderschönen Entzugsklinik mitten in der Eifel gezeigt. „Die körperliche Seite haben sie hinter sich gebracht!“ erklärte ihr die Dame. „Nun kommt der nächste Schritt-der psychische Entzug. Sie müssen nun lernen, ihren Alltag ohne Drogen zu bewältigen und das wird ihnen in dieser Klinik beigebracht. Sie lernen Strategien kennen, wie man ohne Rauschmittel ein erfülltes Leben führen kann. Allerdings wird es noch ein paar Tage dauern, bis ein Platz frei wird, solange bleiben sie hier im Krankenhaus. Ich gebe ihnen aber schon mal eine Packliste, was sie mitnehmen sollten. Es besteht dort natürlich die Möglichkeit zu waschen, aber sie sollten sich auf einen mehrwöchigen Aufenthalt einstellen!“ sagte sie und Irina überlegte angestrengt, wie sie an ihre Sachen kommen könnte, die ja wohl noch in Sharpov´s Haus waren. Wie es dem wohl ging? Sie hatte noch gesehen, wie er beatmet abtransportiert worden war, aber seitdem nichts mehr von ihm gehört. Hoffentlich bewachten sie ihn gut, denn sonst würde seine Rache an ihr fürchterlich sein.


    Kurzentschlossen griff sie zu Hartmut´s Karte, die bei ihren persönlichen Sachen war, die man ihr ausgehändigt hatte. Er war so nett, er würde ihr sicher erst mal was ins Krankenhaus bringen, damit sie da nicht im Flügelhemdchen rumlaufen musste und später, wenn sie nicht mehr so wacklig auf den Beinen war, mit ihr packen fahren. Sie bat um ein Telefon und rief ihn an. Er war zwar überrascht, dass sie schon auf Normalstation war, versprach ihr aber, ihren Wunsch zu erfüllen und zunächst einmal ein paar bequeme Anziehsachen und Waschzeug ins Krankenhaus zu bringen. „Allerdings komme ich erst gegen Abend, Irina, ich muss nämlich zuvor noch arbeiten!“ teilte er ihr mit und sie versicherte ihm, dass sie sich freuen würde, ihn überhaupt zu sehen, egal wann. Mit einem kleinen Lächeln legte Hartmut den Hörer auf. Er kam gerade von Andrea, deren Schienen er sich angesehen und mit einem kleinen Gerät in sein I-Pad eingescannt hatte. Da hatte er schon Ideen, was er ihr für Hilfsmittel anbauen würde, aber erst mal ging´s jetzt mit der Chefin, wie besprochen, ins Betonwerk !


    Die Sharpova war inzwischen mit dem russischen Internisten im Krankenhaus angekommen. Unterwegs hatte sie ihm aufgeregt in ihrer Muttersprache ihren Verdacht geschildert, dass ihr Mann in der deutschen Klinik nicht ordnungsgemäß versorgt würde. „Wir haben in Kasachstan hervorragende Kliniken, die werden ihn dort schon wieder hinbringen. Er sieht aus, als ob ihm nichts fehlen würde, nur halten sie ihn Narkose und versuchen uns einzureden, er würde bald sterben, aber sie werden sehen, Herr Doktor, es bestehen durchaus noch Chancen, dass er wieder ganz gesund wird!“ beschwor sie ihn. Der Arzt hörte sich ihren Vortrag an und war gespannt, was ihn im Krankenhaus erwarten würde. Das versprochene Honorar war auf jeden Fall nicht zu verachten und seine Arzthelferinnen würden seine Patienten schon so lange beschwichtigen, oder neue Termine vergeben. Wenn ein Arzt zu einem Notfall aus der Praxis gerufen wurde, hatte wohl jeder Verständnis !


    Zuerst sprach er mit dem Stationsarzt der Intensivstation, der ihm bereitwillig alle Befunde und die CCT-Bilder vom Morgen zeigte. Die Sharpova war inzwischen wieder zu ihrem Mann geeilt, hielt seine Hand, bis der russische Arzt, auf den sie alle Hoffnungen setzte, zu ihm kam und beschwor ihn in ihrer Heimatsprache für sie und die Kinder zu kämpfen. Sie hatten jahrelang eine Fernbeziehung geführt und es durfte einfach nicht sein, dass gerade jetzt, wenn sie endlich eine glückliche, normale Familie sein würden, etwas dazwischen kam.
    Die Miene des russischen Arztes war sehr ernst, als er dann ins Zimmer trat. Wenn das die Befunde des Patienten Sharpov waren, dann war er sozusagen schon so gut wie tot und wurde nur noch von Maschinen am Leben gehalten. Nur wenn da eine Vertauschung von Akten vorliegen würde, wäre da noch ein kleiner Rest Hoffnung. Als er allerdings mit geübtem Blick sah, dass Sharpov ohne jegliche Sedierung, nicht fixiert an der Beatmungsmaschine hing, war die Diagnose schon fast bestätigt. Er zog eine kleine Lampe aus seiner Tasche und leuchtete-gespannt beobachtet von der Sharpova und ihrem Sekretär- in Waldemar´s Augen. Die Pupillen waren entrundet und reagierten überhaupt nicht und das war etwas, was man auch medikamentös nicht hervorrufen konnte. Er holte die Ehefrau näher und zeigte ihr seinen Befund, um es für sie verständlicher zu machen. „So leid es mir tut, aber die deutschen Ärzte hier in der Klinik haben mit ihrer Diagnose recht. Ihr Mann liegt im Sterben und es gibt für ihn keine Rettung mehr!“ erklärte er ihr und nun brach die Sharpova erst einmal zusammen. Sie hatte alle Hoffnungen auf diesen Arzt gesetzt und der bestätigte ihr nur die grausame Wahrheit, die sie doch nicht glauben wollte. Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte-die Schwester hatte ihr einen dampfenden Kaffee gebracht und alle versucht sie zu trösten-straffte sie ihren Rücken und sagte auf Russisch. „Wer für den Zustand meines Waldemar verantwortlich ist, wird dafür büßen. Ich werde ihn rächen-Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie es schon in der Bibel steht !“


    Während der russische Arzt, dem angesichts der Racheschwüre gar nicht wohl in seiner Haut war, mit dem Taxi in seine Praxis zurückfuhr, beauftragte die Sharpova ihren Sekretär: „Sie werden mir sofort herausfinden, was da abgelaufen ist. Ich will alles wissen und werde dann meine Maßnahmen ergreifen. Dem Sekretär lief es kalt den Rücken herunter. Seine Chefin wollte er nicht zum Feind haben und natürlich würde er sich bemühen, möglichst genaue Details über die vorgestrige Nacht herauszufinden. Dank Internet hatte er eigentlich schon recht detaillierte Vorstellungen davon, was da abgelaufen war, aber er würde auftragsgemäß die Namen der Verantwortlichen herausfinden und ihr weitermelden, sonst würde sich vielleicht der Zorn gegen ihn richten! Die Sharpova blieb am Bett ihres Mannes sitzen und der Sekretär fuhr ins Hotel zurück, um erstens seine Recherchen zu vervollständigen und zweitens die Kinder dann zu ihrem Vater zu bringen, wie die Sharpova das wollte.


    Im Nebenzimmer hatte Ben seine letzte völlig schmerzfreie Stunde, ängstlich bewacht von Sarah und Semir atmete in sein Beatmungsgerät und hoffte, dass seine Lungenentzündung bald besser war und er wieder nach Hause zu seiner Familie durfte.

  • Hartmut war mit der Chefin inzwischen in der Betonfabrik angekommen. Normalerweise wurden da Betonfertigteile gegossen, wie Schachtringe für Zisternen und andere derartige Serien. Mit ihrem Polizeiausweis wurde ihnen auch sofort das Tor geöffnet und so konnten sie mit dem Dienstwagen der Krüger aufs Firmengelände fahren. Der Betriebsleiter, ein Mann mit leicht russischem Akzent, kam beflissen zu ihnen und fragte, wie er ihnen helfen könnte. „Wir würden gerne sehen, wo der Künstler diese Betonfertigteile für das Kunstwerk, das bei ihnen im Werk hergestellt wurde, gegossen hat. Wir haben da gewisse Auffälligkeiten festgestellt!“ sagte die Krüger. Hatten sie sich das jetzt eingebildet, oder war tatsächlich der Mann ein wenig blass geworden. Schulterzuckend führte er sie in eine große Halle, in deren Ecke noch mehrere leere Gießformen gestapelt waren. „Hier hat er das gemacht, er war ewig damit beschäftigt und hat meinen Männern und mir teils die Hölle heiß gemacht, mit seinen Sonderwünschen!“ erklärte der Mann und Hartmut und die Chefin sahen ein wenig herum, konnten aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Allerdings überlegte Hartmut dann auch, dass die Kokainschmuggler wohl nicht so blöd sein würden, irgendwelche Beweisstücke offen herumliegen zu lassen, da musste man das Werk wohl mit einem Durchsuchungsbeschluß näher anschauen. Den mussten sie allerdings zuerst von einem Richter ausstellen lassen.


    Gerade wollten sie wieder gehen, da hatte Hartmut einen Geistesblitz. „Könnten wir bitte auch noch das Labor sehen, in dem die Testwürfel hergestellt werden?“ fragte er und die Chefin sah ihn verständnislos an-von welchen Würfeln sprach er? Hartmut hatte seine Hausaufgaben gut gemacht und recherchiert, dass bei der Betonherstellung, um bei späteren Regressansprüchen einen Beweis für die Betonqualität zu haben, von jeder Mischung ein Testwürfel gegossen werden musste, der gekennzeichnet und mehrere Jahre aufbewahrt werden musste. Da gab es sogar eine Verordnung und das Bauamt machte auch Stichproben.
    Der Betriebsleiter schüttelte den Kopf. „Das ist leider im Augenblick nicht möglich, da wir gerade Renovierungsarbeiten durchführen!“ sagte er möglichst beiläufig, aber die Anspannung war in seinem Gesicht zu lesen. Aus den Augenwinkeln sah Hartmut einen Mann um die Ecke verschwinden, den er auf den ersten Blick erkannte. Die Chefin hatte ihn auch gesehen und Hartmut spurtete auch schon los, um den Anzugträger zu verfolgen. Noch bevor er bei seinem Auto, einem großen Mercedes angelangt war, hatte Hartmut ihn eingeholt und die Hand der Chefin war wie selbstverständlich zu ihrer Waffe gewandert. Während der Betriebsleiter sofort die Hände hob und sagte: „Ich mache hier nur meinen Job als Betonmischverantwortlicher. Was der alte und der neue Chef hier so treiben, geht mich und meine Männer nichts an!“ stammelte er und die Chefin war sogar geneigt, ihm zu glauben.


    Hartmut begrüßte den ihm bekannten Mann: „Guten Tag Herr Weidenhiller. Na als Kulturreferent verdient man anscheinend ja nicht schlecht, wenn man sich solch einen Wagen leisten kann!“ sagte er und der Politiker blieb vor seinem Fahrzeug stehen. Während die Chefin mit immer noch gezückter Waffe näher trat, sagte er kühl. „Ich habe geerbt und muss mein Geld auch irgendwo investieren. Dieses Betonwerk habe ich erst kürzlich von Herrn Sharpov erworben, der ja seine Geschäfte in Europa deutlich reduziert hat. Das ist ein gesundes Unternehmen und natürlich muss ich da von Zeit zu Zeit nach dem Rechten sehen!“ erklärte er ohne irgendeine Gegenwehr. Lediglich ein verstohlener Blick wanderte hoch zu einem Fenster im ersten Stock und Hartmut konnte dahinter eine hektische Aktivität erkennen. Bevor die Chefin oder sonst jemand reagieren konnte, rannte Hartmut los, erklomm zwei Stufen auf einmal und riss die Tür zu dem Raum auf. Drinnen waren zwei Laboranten heftig damit beschäftigt, die Rückstände ihrer Drogenküche verschwinden zu lassen. „Chefin, wir brauchen Verstärkung!“ schrie Hartmut und die griff auch gleich zum Funkgerät. Weidenhiller allerdings nutzte die Sekunde Unaufmerksamkeit, sprang in seinen Wagen und raste mit quietschenden Reifen davon.


    „Susanne, ich habe eine Fahndung nach einem anthrazitfarbenen Mercedes SLK mit dem Kennzeichen K-HB-413!“gab die Chefin durch und forderte auch gleich eine Einsatzgruppe uniformierter Beamter an. Währenddessen hatte Hartmut, der wie üblich mal wieder keine Waffe dabei hatte, begonnen, mit einem der Laboranten in ihren weißen Kitteln zu rangeln, denn auch die hatten versucht mit einigen Paketen, das Weite zu suchen. Die Chefin rannte ebenfalls die Treppe hoch und als sie nun einen Warnschuss abgab, ergaben sich die beiden Männer. Der Betriebsleiter und die anderen Arbeiter, die auf dem Firmengelände waren, machten keine Anstalten sich einzumischen und so gelang es der Chefin und Hartmut die Männer in Schach zu halten, bis Verstärkung eintraf. Auch die Staatsanwältin fuhr kurz darauf im Betonwerk vor und wurde, während die Drogenköche abgeführt wurden, von Hartmut und Frau Krüger über den Sachverhalt informiert.


    „Anscheinend haben wir den Ort gefunden, an dem das Kokain aus dem Coca Negra wieder in die Reinform gebracht wird. Eigentlich ein genialer Zug-Sharpov hat vermutlich mit Materialien fürs Betonwerk den Koks hier reingeschmuggelt, er wurde im Labor extrahiert und ging dann gleich in den Vertrieb. Ich bin mir sicher, wir werden hier alles finden, was man dazu braucht.“ erklärte der rothaarige Krimimaltechniker.
    Der Betriebsleiter, der ängstlich, nun bewacht von Dieter Bonrath, in der Ecke stand, wurde befragt, aber er wirkte nicht so, als ob er an der Drogensache persönlich beteiligt wäre, er hatte nur Anordnungen befolgt und die Augen zugemacht und während die Spurensicherung vom Dienst unter Hartmuts Anleitung die Beweismittel im Labor sicherstellte, begann die Staatsanwältin damit, die Akten zu beschlagnahmen, die dort gelagert waren.


    „Gut gemacht, Herr Freund!“ lobten die Chefin und die Staatsanwältin Hartmut gemeinsam und ein Lächeln zog über sein Gesicht. Als er allerdings dann auf die Uhr sah, erschrak er beinahe, denn es war schon nach sechs. „Chefin, ich muss unbedingt in Sharpov´s Haus, da müssten doch noch die persönlichen Sachen von Frau Bukow sein, ich habe ihr versprochen, ihr eine Grundausstattung ins Krankenhaus zu bringen und sie müsste dann in den nächsten Tagen auch noch für ihre Entziehungskur dort packen, wäre das möglich?“ fragte er und Frau Krüger und die Schrankmann bejahten das. „ Die Spurensicherung dort ist abgeschlossen und sehr viel ist auch nicht mehr in dem Haus, außer den privaten Dingen von Frau Bukow. Holen sie sich den Schlüssel in der PASt und dann machen sie Feierabend!“ ordnete die Chefin an und Hartmut verabschiedete sich mit einem Lächeln. Gemeinsam mit Dieter und Jenni fuhr er in die PASt zurück und ließ sich den Schlüssel gegen Unterschrift aushändigen.
    Die Fahndung nach Weidenhiller und seinem Fahrzeug war momentan noch erfolglos, aber sie würden ihn schon kriegen-sein Haus in Lindenthal wurde auf jeden Fall auch schon unter die Lupe genommen und während sich Hartmut mit gepackter Reisetasche auf den Weg in die Klinik machte, hatten die ermittelnden Beamten eine lange Nacht vor sich.

  • Der Sekretär der Sharpov´s hatte inzwischen erst einige Telefonate geführt, Leute hatten ihm Bilder geschickt, ihm die Lücken gefüllt, die ihm aus den Beschreibungen im Internet noch fehlten und binnen kurzem hatte er alle Informationen beieinander, die die Sharpova verlangt hatte. Er holte die Kinder, die sich im Hotel mit fernsehen und Computerspielen die Zeit vertrieben hatten ins Krankenhaus.


    Zögernd blieben sie in der Tür des Patientenzimmers stehen. Der Sekretär, dem sie sehr vertrauten, weil er im Gegensatz zu ihrem Vater, eine männliche Konstante in ihrem Leben gewesen war, hatte ihnen auf dem Herweg erklärt. „Kinder, eurem Vater geht es so schlecht, dass er innerhalb der nächsten Tage sterben wird, es gibt keine Rettung mehr für ihn. Eure Mutter möchte jetzt, dass ihr ihn noch einmal seht und euch verabschieden könnt. Ihr müsst keine Angst haben, er schaut gar nicht schlimm aus und ich bleibe die ganze Zeit bei euch!“ sagte er und Sharpov´s Tochter wandte verzagt ein: „Ich will ihn aber gar nicht mehr sehen, was ist, wenn ich dann später immer von diesem Anblick träume?“ aber der Sekretär beruhigte sie, dass sie das schon packen würde.
    Insgeheim dachte er bei sich, dass er es den Kindern, jedem einzelnen für sich, freigestellt hätte, ob sie ihren Vater nochmal sehen wollten, wenn er etwas zu sagen hätte. Aber so war er Befehlsempfänger und Angestellter und sich gegen die Sharpova stellen, würde ungerechte Konsequenzen für ihn herausfordern. So beschloss er, diese Mission noch zu Ende zu bringen und sobald sie wieder zu Hause waren, die Kündigung einzureichen. Er hatte sowieso viel zu viele Eindrücke in Sharpov´s illegale Geschäfte bekommen, im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit für diese Familie und obwohl in Kasachstan manches anders lief und man sich mit viel Geld auch viele Freiheiten dort kaufen konnte, letztendlich hatte er auch noch ein Gewissen und eigentlich hatte er vor seine langjährige Freundin zu heiraten und selber Kinder zu kriegen, anstatt wegen Mitwisserschaft irgendwann im Knast zu landen. Außerdem war jetzt der Mann im Haus, der Sharpov trotz langer Abwesenheitszeiten immer gewesen war, bald tot und dann würde die Sharpova alleine das Regiment führen und das war kein erfreulicher Ausblick.


    So begleitete er die Kinder, die ja eigentlich schon beinahe erwachsen waren, aber in dieser schlimmen Situation trotzdem viel Unterstützung brauchten, auf die Intensivstation und erzählte ihnen auch vorher schon im Detail, was sie erwarten würde. So hielt sich der Schock in Grenzen, als sie ihren Vater sahen.
    Langsam traten sie näher, berührten ihn auch kurz, weil ihre Mutter das so wollte, aber eigentlich lag da ein fast fremder Mann vor ihnen. Nach kurzer Zeit sagte der Fünfzehnjährige: „Ich möchte jetzt wieder gehen!“ und als die Sharpova ihren Sekretär fragte, ob er alle verlangten Informationen bekommen hatte, erhob sie sich und verließ mit dem Rest ihrer Familie die Intensivstation. „Ich muss kurz was erledigen und dann komme ich wieder!“ sagte sie zu der Schwester, die zustimmend nickte. Wenn jemand im Sterben lag, durften die Angehörigen immer zu den Patienten und außerdem war jetzt dann die Zeit für eine wichtige Entscheidung gekommen, die man aber nur im Beisein der Ehefrau treffen würde.


    Gerade traten sie auf den Flur, da rief eine Schwester einer Kollegin zu: „Kann gerade Besuch zu Gerkan und Jäger?“, woraufhin die von weiter weg zurückrief: „Ja, geht!“ Der Sekretär horchte auf-das waren doch die beiden Namen, die er herausgefunden hatte. Aufmerksam betrachtete er, in welches Zimmer die beiden Frauen gingen, die eine davon hatte zwei eingebundene Hände und er erinnerte sich dunkel, die heute Morgen und auch im Internet auch schon gesehen zu haben.
    So folgte er aber der Sharpova und ihrem Anhang und weil sie alle, trotz der aufreibenden Situation Hunger hatten, ließen sie sich mit dem Taxi in ein nahe gelegenes, ausgezeichnetes Lokal bringen, das durchgehend warme Küche bot und nahmen ein sehr verspätetes, aber excellentes Mittagessen ein. Nachdem das Lokal nahe der Innenstadt lag, drückte die Sharpova ihren Kindern einige 50€-Scheine in die Hand und sagte: „Lasst uns bitte für eine Stunde alleine und kauft euch was Schönes!“ woraufhin die Geschwister sofort aufstanden und verschwanden. Shoppen, das war etwas, was sie kannten und was ihnen Spaß machte. Vielleicht würden sie hier etwas finden, was sie noch nicht besaßen! Und so machten sie sich erfreut auf den Weg in die Einkaufsstraße direkt hinter dem Lokal.


    Die Sharpova und ihr Sekretär saßen sowieso schon in einer Nische und so holte der Angestellte sein I-Pad hervor und begann der Sharpova Ausschnitte aus den Nachrichtensendungen des verhängnisvollen Abends zu zeigen. Auch von der Vorgeschichte am Betonkunstwerk hatte er Filmaufnahmen und er schilderte ihr den groben Ablauf des verhängnisvollen Abends.
    Eines war der Sharpova nach kurzer Zeit klar. Die Hauptverantwortlichen für das Desaster waren diese beiden Polizisten, Gerkan und Jäger, von denen der Sekretär ihr auch Bilder zeigte. Nun fiel auch ihr auf, dass sie die beiden Namen kurz zuvor erst gehört hatte, was ihr der Sekretär auch bestätigte. „Anscheinend liegen die auf derselben Intensivstation, sogar im Nebenzimmer ihres Mannes!“ vermutete der Sekretär und die Sharpova nickte. Das einzige, was ihr ein wenig zu schaffen machte, war die Frau. Sie hatte auf dem Filmmaterial, das ihr Sekretär ihr gezeigt hatte, gesehen, wie die über das Flugfeld gerannt war, um ihren Mann zu retten, was ihr anscheinend ja auch gelungen war. Dann allerdings atmete sie tief durch. Das durfte sie nicht belasten. Sie musste an sich selbst und ihre Kinder denken und sie war sich sicher, dass Waldemar gerächt werden wollte. Diese beiden Polizisten mussten für dessen Tod sterben.


    Als sie bei ihrem ergebenen Sekretär vorsichtig vorfühlte, ob er ihr nicht diese Tat abnehmen würde, schüttelte der entschieden den Kopf. „Frau Sharpova, das können sie von mir nicht verlangen. Ich habe ihnen alle Informationen besorgt, die sie haben wollten und möchte gar nicht wissen, was sie nun vorhaben. Ich möchte hiermit auch kündigen, denn meine Freundin und ich wollen heiraten und uns ein neues Leben aufbauen. Natürlich werde ich sie zuvor noch in die Heimat zurückbegleiten und auch alle Formalitäten für die Beerdigung und den Rücktransport ihres Mannes noch erledigen, aber damit hat meine Tätigkeit für ihre Familie dann ein Ende!“ erklärte er ihr und sie verzog daraufhin das Gesicht zu einer teuflischen Fratze und zischte ein russisches Schimpfwort, so dass der Sekretär, der ja viel gewohnt war, trotzdem blass wurde. Nein das war die richtige Entscheidung-bei dieser Furie konnte er keinen Tag länger arbeiten. Die wollte ihn sogar zum Mord anstiften und wenn er erwischt würde, würde sie ihn kaltlächelnd in einem deutschen Gefängnis verrotten lassen, aber nicht mit ihm. Er rückte einen Meter von der Frau ab, deren eigentlicher Charakter nun deutlich zutage trat. Erst als wenige Minuten später die Kinder vollbepackt und glücklich eintrafen, veränderte sich die Miene der Russin wieder und sie sah aus, wie immer.
    „Unser Sekretär wird mit euch ins Hotel zurückfahren, ich gehe wieder zu Papa!“ sagte die Sharpova und schon organisierte der Angestellte ein Taxi. Die Kinder nickten abgelenkt-sie hatten tolle Sachen gefunden und freuten sich darauf, die jetzt im Hotel auszupacken und sich damit zu beschäftigen. Sollte ihre Mutter doch hingehen, wo sie wollte!

  • Ben wurde immer wacher, aber mit der Wachheit kam leider auch der Schmerz. Es war nicht so unerträglich wie vorhin, aber doch so unangenehm, dass er es tunlichst vermied, sich allzu viel zu bewegen. Als Sarah merkte, dass er sie mit klaren Augen ansah, tauschte sie die Atemmaske gegen eine Sauerstoffbrille aus. „Geht´s einigermaßen?“ fragte sie zögernd und Ben nickte. Er hatte irgendwie am Rande schon mitgekriegt, dass Sarah wegen ihm Ärger gekriegt hatte und würde das nun einfach aushalten. Solange er ganz still lag, ging es auch wirklich, aber sobald er auch nur eine minimale Bewegung machte, zog und zwickte es überall. Darum blieb er einfach erst mal ruhig liegen und machte auch dankbar den Mund auf, als Sarah ihn mit einem Schaumstoffstäbchen und Wasser auswischte. Zu gerne hätte er etwas getrunken, aber da traute er sich im Augenblick noch gar nicht zu fragen deswegen.


    Undeutlich wurde ihm wieder bewusst, dass ja Semir im Bett neben ihm lag. Was war wohl mit dem geschehen. Als er im Zeitlupentempo den Kopf wandte-ah, so ging es einigermaßen- konnte er ihn genau betrachten. Außer einer Atemmaske auf dem Gesicht konnte man keine Verbände, oder irgendwas erkennen. „Semir, was ist mit dir?“ fragte er angstvoll mit rauer Stimme. Semir, der ein wenig vor sich hingedöst hatte, erkannte sofort Ben´s Stimme, machte die Augen auf und lächelte ihn unter der Maske an. Er hob den Daumen und machte Sarah mit Gesten verständlich, dass sie doch Ben erzählen sollte, was geschehen war. Sarah überlegte kurz, ob Ben wohl schon fit genug war, um die ganze Geschichte zu hören, aber anscheinend war er vom Kopf her völlig klar und sein körperlicher Zustand brauchte einfach nur Zeit, um besser zu werden. Sie beschloss, nur in Kürze die Geschehnisse zu umreißen, aber doch Ben die Wahrheit nicht zu verschweigen.


    „Während du hier im Krankenhaus operiert wurdest, hat Semir die Information bekommen, dass Sharpov am Köln-Bonner Flughafen mit einem Lear-Jet fliehen wollte. Er ist mit seinem Auto ins Fahrwerk des Flugzeugs gebrettert und hat so den Start verhindert. Allerdings wurde er daraufhin als Geisel mit ins Flugzeug genommen.
    Das SEK hat daraufhin Fentanylgas ins Flugzeug geleitet, um alle Insassen bewusstlos zu machen und so die Geiselnehmer festnehmen zu können. Leider hatte der Pilot eine seperate Sauerstoffversorgung im Cockpit, wurde daraufhin als einziger nicht bewusstlos und hat mit einem Maschinengewehr erst mal verhindert, dass Hilfe ins Flugzeug kam. Andrea ist dann losgerannt, um Semir zu retten und dann konnte ein SEK-Mann den Piloten doch noch kampfunfähig machen. Semir wurde erst von Andrea beatmet, die sich bei der Rettung auch noch schwer an den Händen verletzt hat und dann zu uns gebracht. Man konnte die Fentanylwirkung mit einem Medikament aufheben, aber leider war die Wirkung des Gegenmittels kürzer, als die vom Fentanyl. So wurde Semir nochmal bewusstlos, musste erbrechen und hat den scharfen Magensaft eingeatmet, was zu einer schweren, sogenannten Aspirationspneumonie geführt hat. Er ist ebenfalls in kritischem Zustand, aber wenn er es noch weiterhin schafft, mit dieser Maske zu atmen, können wir vielleicht eine Intubation verhindern. Er bekommt natürlich Medikamente gegen die Lungenentzündung, aber sonst müssen wir einfach abwarten. Ach, ihr beide seid schon so Helden!“ sagte Sarah vorwurfsvoll. Nun musste Ben ein wenig grinsen, vor allem, weil Semir das unter seinem Elefantenrüssel ebenfalls tat und nochmals den Daumen hochreckte. „Aber das wusstest du doch von Anfang an!“ sagte er dann, nun schon ein bisschen weniger rau.
    Sarah küsste ihn sanft auf den Mund. „Ja, leider und ich werde dir immer zu Dank verpflichtet sein, weil du mich versucht hast, gegen Irina auszutauschen und dabei so schwer verletzt wurdest!“


    Ben war eine Weile still, weil ihm nun auch sein Sturz und die unsäglichen Schmerzen danach einfielen. Dagegen ging es ihm im Augenblick ja golden. Er sah an sich herunter, aber vorne war eigentlich gar nichts zu sehen und tat auch nichts weh. Allerdings schmerzte sein Rücken und beide Seiten, so dass er zögernd fragte: „Und, was war bei mir kaputt?“ „Diese Betonspitze, auf die du gefallen bist, hat deine Leber schwer verletzt, so dass man einen Leberlappen entfernen musste.“ erklärte Sarah. Als sie allerdings Ben´s erschrockenen Gesichtsausdruck sah, beeilte sie sich zu versichern: „Davon wirst du später nichts mehr merken, der Rest der Leber, der noch drin ist, reicht völlig aus, um ein normales Leben zu führen. Allerdings hast du sehr viel Blut verloren und man hat dir Unmengen von Blutkonserven geben müssen. Außerdem hast du noch eine Nierenquetschung und eine Lungenkontusion, die ebenfalls minimalinvasiv operativ versorgt wurde!“ Ben konnte sich darunter jetzt zwar überhaupt nichts vorstellen, aber er beschloss, da später nachzufragen, denn im Moment überforderten ihn diese ganzen medizinischen Sachen.
    Nur eine Sache interessierte ihn noch: „Ist Sharpov verhaftet?“ fragte er und Sarah nickte. „Der wird nie mehr Unheil anrichten. Er liegt im Nebenzimmer und ist hirntot!“ sagte sie kurz und nun musste Ben wirklich die Augen schließen, sich ausruhen und diese ganzen Informationen erst mal verdauen.

  • Wenig später kam die Schwester, die die Spätschicht hatte, um mit Sarah gemeinsam Ben und Semir frisch zu machen und anders hinzulegen. Sie begannen mit Semir, weil da der Aufwand nicht so groß war. Man nahm ihm kurz die Atemmaske ab, wusch sein Gesicht und ließ ihn einen Schluck trinken. Mehr gab´s leider nicht, weil man ja immer noch nicht wusste, ob Semir nicht doch noch intubiert werden musste und da wollte man vermeiden, dass sein Magen voll war. Allerdings bekam er genügend Infusionen, damit er nicht allzu durstig war. Sein Rücken wurde noch mit Franzbranntwein abgefrischt, die verschwitzte Unterlage erneuert und dann ließ man ihn wieder in Ruhe. Er hatte zwar eine ganze Weile zu kämpfen, um danach wieder zu Atem zu kommen-fast wie nach einem heftigen Spurt- aber bald ging die Sauerstoffsättigung wieder in den Normbereich und während Sarah und die Schwester sich die Hände desinfizierten, dachte Sarah voller Bangen, wie weh sie jetzt wohl Ben tun mussten.


    Die beiden richteten auch für Ben ein Lagerungskissen und eine frische Unterlage her. Der war momentan ganz relaxed, was sich aber schnell änderte, als ihn die beiden Frauen stark zur Seite drehten. Oh mein Gott, tat das weh! Überrascht schrie er auf, denn nun merkte er jeden einzelnen Schlauch und jede Wunde überdeutlich. Sarah redete ihm die ganze Zeit beruhigend zu, aber trotzdem war die nachfolgende Drehung auf die andere Seite eine erneute Tortur für ihren Freund. Als er endlich umgelagert war und das Lagerungskissen in seinem Rücken steckte, die Schläuche wieder abgepolstert und sortiert waren, war er vor Stress schon wieder schweißüberströmt und Sarah hatte Tränen in den Augen.
    „Herr Jäger, so leid uns das tut, aber das Umlagern ist wegen ihrer Lunge dringend notwendig, damit die gleichmäßig belüftet wird und so heilen kann. Außerdem beugt es auch dem Wundliegen vor. Bitte bewegen sie sich aber trotzdem immer selber ein bisschen, damit sie mobil bleiben!“ erklärte die Schwester. Ben nickte, allerdings war es so schön, als der Schmerz endlich nachließ, dass er beschloss, die nächsten paar Minuten nicht einmal den kleinen Finger zu bewegen. Sarah, die selber ganz fertig davon war, dass ihr Ben solche Schmerzen aushalten musste, wurde von ihrer Kollegin mit ins Stationszimmer auf einen Kaffee geschleppt. Jemand hatte Kuchen mitgebracht und Sarah wurde regelrecht gezwungen, sich ein wenig zu stärken. Ben und auch Semir schliefen beide ein wenig ein, bis wenig später Besuch vor ihnen stand.


    Susanne hatte, nachdem sie als letzten Akt die Fahndung nach Weidenhiller und seinem Fahrzeug herausgegeben hatte, ihren wohlverdienten Feierabend angetreten und war schnurstracks zu ihrer Freundin Andrea gefahren. Margot öffnete auf ihr Läuten die Tür und Susanne schloss ihre Freundin danach gleich mal liebevoll in die Arme. „Wie geht´s so daheim und hast du schlimme Schmerzen?“ wollte sie wissen, aber Andrea schüttelte den Kopf. „Es geht ganz gut, meine Mama ist ein Goldstück und hat die Sache wunderbar im Griff. Ich war auch schon die paar Meter beim Hausarzt und der hat mir gleich die Krankmeldung und Schmerztabletten mitgegeben. Ich bin ausgerüstet!“ sagte sie scherzhaft. Inzwischen hatten auch die beiden Mädels Susanne entdeckt und mit Indianergeheul begrüßt. Sie hatten sich unter dem Esstisch einen Wigwam gebaut und spielten hingebungsvoll Indianer. Sogar zwei Puppen waren mit Kriegsbemalung versehen worden.
    „Sag mal, könnten wir vielleicht noch zu Semir und Ben fahren, ich möchte die beiden vor der Nacht gerne nochmal sehen und schauen, wie es ihnen geht!“ fragte Andrea und kurz danach waren die beiden Frauen schon auf dem Weg ins Krankenhaus. „Ich hoffe nur, dass die ganze Geschichte für alle Beteiligten gut rausgeht!“ sagte Susanne nachdenklich. „Hartmut und die Chefin sind in dem Fall auch schon wieder ein Stück weitergekommen, bald wird diese Rauschgiftsache komplett aufgeklärt sein, aber das muss ich jetzt dann gleich Semir und Ben erzählen- wenn sie denn fit genug sind, um sich dafür zu interessieren!“ sagte sie nachdenklich, während sie das Auto am Krankenhausparkplatz abstellte und ihre Freundin zur Intensivstation begleitete.

  • Sarah kam wenig später ins Patientenzimmer zurück, begleitet von zwei etwas unsicheren Besuchern. „Papa, Julia!“ sagte Ben überrascht, als er die Augen aufmachte. „Wir haben gestern gehört, was passiert ist und nachdem der Arzt am Telefon gesagt hat, du würdest noch schlafen, sind wir erst heute gekommen!“ erklärte Ben´s Schwester. Sarah verkniff sich eine Bemerkung. Mann, wenn einem jemand wichtig war, dann schaute man nach ihm, egal ob beatmet oder nicht, aber das Verhältnis zwischen Ben und seiner Familie war noch nie so normal gewesen. Allerdings hatte sie, ehrlich gesagt, auch nicht daran gedacht, Ben´s Familie anzurufen, denn die Menschen, die ihm wichtig waren, waren in seiner Nähe und da gehörten sein Vater und seine Schwester nur bedingt dazu.


    „Wie geht´s dir?“ fragte Konrad Jäger und Ben zuckte mit den Schultern, was er in derselben Sekunde bereute, denn wieder zog eine Schmerzwelle durch seinen Körper. „Geht so!“ stieß er ein wenig gepresst hervor und Sarah beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Sie musste nachher dringend nochmal mit dem Arzt sprechen, der musste sich zur Schmerztherapie noch was einfallen lassen. Nach wenigen Worten Smalltalk fiel Konrad und Julia nichts mehr ein und so verabschiedeten sie sich von Ben-sie hatten ihre Pflicht getan und ihn besucht. Seine Freundin kümmerte sich um ihn, also war er bestens versorgt und wenn er schon wieder sprechen konnte, war das Schlimmste sicher überstanden. Außerdem war Julia bei den ganzen blutigen „Anhängseln“, die aus Ben ragten schon wieder ganz anders geworden, so dass sie froh war, als sie wieder an die frische Luft kam.


    Schweigend und nachdenklich sah Ben eine Weile auf die Tür, durch die gerade seine Familie verschwunden war und dann überzog plötzlich ein Strahlen sein Gesicht. Jetzt standen nämlich Andrea und Susanne in der Schiebetür und kamen zu ihm und Semir. Auch Semir lächelte unter seiner Atemmaske. Das war schon anderer Besuch! „Hallo Liebling!“ sagte Andrea weich zu ihrem Mann. „Wie geht´s dir denn?“ wollte sie dann wissen und wieder streckte Semir den Daumen hoch. Sarah beschloss, ihm die Maske wieder kurz abzunehmen, damit er sich mit seiner Frau wenigstens ein wenig unterhalten konnte. Susanne war derweil zu Ben getreten und hatte ihm die Hand gedrückt. „Mensch Ben, schön dass du wieder da bist!“ sagte sie herzlich und Ben fühlte sich jetzt ganz anders als vorhin. Das war seine Familie! Diese Menschen um ihn herum waren ihm näher und wertvoller, als seine Blutsverwandten und er war froh, in ihrer Mitte zu sein. Sarah hatte Semir befreit und Andrea war inzwischen kurz zu Ben getreten und hatte ihm einen sanften Begrüßungskuss auf die Wange gehaucht. „Hände schütteln geht gerade nicht!“ sagte sie scherzhaft und wies auf ihre Schienen und Ben sagte vergnügt: „Ist auch viel besser so!“ Da meldete sich Semir aus dem Nebenbett: „Hört ihr gleich auf, sonst werde ich eifersüchtig!“ und so herrschte, obwohl es den beiden Helden immer noch nicht gut ging, trotzdem eine heitere, gelöste Stimmung in dem Raum.


    Semir hatte von Sarah wieder etwas zu trinken gekriegt und seine Frau ebenfalls mit einem Kuss begrüßt. „Wie geht´s dir und was machen die Kinder?“ wollte er wissen und Andrea erzählte kurz von ihrem Tag. Semir brauchte zwar bald seine Maske wieder, aber trotzdem hatte ihm der Besuch seiner Frau sehr gutgetan. Nun wollte Ben auch noch Details wissen. „Andrea, nachdem ich den spannendsten Teil anscheinend verschlafen habe, möchte ich nun doch noch genau wissen, wie du dir deine Handverletzungen zugezogen hast. Sarah hat da vorhin zwar was angedeutet, aber ehrlich gesagt, bin ich noch nicht so völlig auf dem Laufenden!“ erklärte er und Andrea sagte nur kurz: „Nachdem das SEK am Flughafen Narkosegas ins Flugzeug geleitet hatte, standen alle parat, um die Opfer aus der Maschine zu holen. Leider wurde ja einer der Verbrecher nicht bewusstlos und so bin ich halt losgerannt, um Semir da rauszuholen, die anderen haben ja nichts getan!“ „Ja-und du hast mit deinem Leben gespielt, um deinen Mann zu retten!“ warf Susanne heftig ein, aber Andrea drehte sich nur breit lächelnd zu ihr herum. „Hat ja geklappt, oder?“ sagte sie einfach und nun schwiegen alle eine Weile.


    „Und wie schlimm sind deine Verletzungen und wie bist du zu denen überhaupt gekommen?“ fragte nun Ben. „Als ich in das Flugzeugwrack geklettert bin, waren da ein paar scharfe Metallkanten, an denen ich mir die Hände aufgeschnitten habe. Es wurden ein paar Sehnen und Nerven verletzt, aber der Handchirurg hat die wieder repariert und hat gemeint, ich würde meine Hände schon wieder normal gebrauchen, wenn das alles verheilt ist. In der Zwischenzeit bleibt meine Mutter so lange bei uns, bis ich wieder fit bin und Hartmut macht sich auch schon Gedanken, welche technischen Lösungen und Hilfsmittel er mir anbieten kann!“ erklärte sie einfach und Ben schwieg nun voller Bewunderung. „Das ist wahre Liebe!“ sagte er dann beeindruckt und Semir kullerten unter seiner Maske gleich ein paar Tränen der Rührung aus den Augen.


    „Ach ja, übrigens-ich habe auch Neuigkeiten zu eurem Fall!“ mischte sich nun Susanne ein und nun wandten sich alle Köpfe ihr zu. „Stellt euch vor-Hartmut und die Chefin haben das Drogenlabor entdeckt und ausgehoben-es war in der Betonfirma von Sharpov, die inzwischen an Weidenhiller verkauft wurde, versteckt. Dieser Kulturreferent hat Dreck am Stecken und konnte zwar fliehen, aber die Fahndung läuft-wir werden ihn schon kriegen!“ sagte Susanne optimistisch.
    „Wusst´ ich´s doch, dass der in diesen Fall involviert ist!“ stieß Ben glücklich hervor. „ Aber wie ich das so sehe, brauchen wir gar nicht mehr zu kommen, ihr löst die Fälle auch ohne uns!“ sagte er dann ein wenig traurig, aber als Susanne nun beteuerte, dass das nun gar nicht anginge und die PASt ganz schrecklich leer wäre, ohne sie beide, wanderten seine Mundwinkel bald wieder nach oben.


    Als sich die beiden willkommenen Besucher dann verabschiedeten, merkten die beiden Polizisten erst, wie sehr sie die letzte halbe Stunde angestrengt hatte und fielen beide in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Sarah machte sich auf den Weg, um den Stationsarzt zu suchen, wegen Ben´s Schmerztherapie. Der verwies sie allerdings auf den Oberarzt und jetzt war Sarah erst mal eine Weile im Haus unterwegs, um den zu suchen und die weitere Behandlung mit ihm abzusprechen.

  • Die Sharpova kochte innerlich immer noch vor Wut. Wie konnte dieser elende Wicht von einem Sekretär es wagen, sich ihr zu widersetzen! Schließlich war sie hier diejenige, die anschaffte, war es immer schon gewesen!
    Als sie allerdings am Krankenhaus hocherhobenen Kopfes ausstieg, war ihr durchaus bewusst, dass der Sekretär ihre einzige Verbindung zu ihrem russischen Netzwerk in Köln darstellte, von dem sie zwar wusste, dass es bestand, das sie aber bisher nie interessiert hatte. Sie hatte in ihrem Handy keine einzige Telefonnummer, die ihr im Augenblick weitergeholfen hätte und so musste sie wohl oder übel ihre Rache selber in die Hand nehmen.
    Aber sie würde ihren Waldemar rächen, dem seine besten Jahre genommen wurden. Er hatte die letzten Jahre nur gearbeitet, um ihren Wohlstand zu vermehren und jetzt, wo er endlich so weit gewesen wäre, dass er ernten konnte, was er über die Jahre gesät hatte, wurde er von diesen schrecklichen Polizisten Semir Gerkan und Ben Jäger daran gehindert! Er hatte auf Sex und Liebe verzichtet, nur behelfsmäßig alle paar Wochen ihre Zweisamkeit genossen, um die Firma zu etablieren, die er jetzt endlich mit Gewinn verkauft hatte. Ein wundervolles Leben in Reichtum wäre vor ihnen gelegen. Sie hätten ihren Kindern gemeinsam jeden Wunsch von den Augen abgelesen, herrliche Reisen an die schönsten Plätze der Erde unternommen und das alles war nun hinfällig, weil diese deutschen Polizisten ihn umgebracht hatten. Wenn dieser Gerkan den Jet nicht mit seiner Kamikazeaktion aufgehalten hätte, würde ihr Mann jetzt in Kasachstan im Liegestuhl sitzen und mit einem Glas Wodka in der Hand die Berge betrachten. Stattdessen lag er nun in einem deutschen Krankenhaus an der Beatmungsmaschine und verbrachte so elend seine letzten Stunden!

    Je näher die Sharpova der Intensivstation kam, desto mehr kochte sie innerlich. Sie brauchte auch niemanden, um ihre Rache zu vollenden, das würde sie schon selber erledigen! Sie hatte in ihrer Jugend einmal einen Sanitätskurs besucht-ihr war klar, dass sie die Polizisten in einem Augenblick erwischen musste, in dem die beiden alleine waren-alles weitere würde sie dem Zufall überlassen-ihr Waldemar würde ihr schon telepathisch mitteilen, was sie tun musste.
    Während sie im Aufzug nach oben fuhr, hatte sie wie selbstverständlich die dicke goldene Kette in der Hand, die Waldemar ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte. Das war ihre letzte Verbindung-vielleicht konnte sie die für ihre Rache verwenden!


    Hartmut war inzwischen bei Irina eingetroffen. Lächelnd stellte er ihr die Reisetasche hin. „Oh, vielen Dank!“ sagte die junge Russin erfreut und sah kurz in die Tasche, was er ihr gebracht hatte. Genau richtig, die Sachen! Eine feine Röte überzog zwar ihre Wangen, als sie sich vorstellte, wie er ihre Unterwäsche eingepackt hatte, aber dann fasste sie sich gleich wieder und fragte: „Wo genau ist eigentlich Sharpov jetzt?“ und Hartmut, der sich mit der Chefin auf der Fahrt zum Betonwerk erst darüber unterhalten hatte, sagte ernst: „Irina, der liegt hier in der Uniklinik, aber man wollte heute, soweit mir bekannt ist, den Hirntod feststellen. Seine Frau und seine Kinder sind noch aus Kasachstan angereist, um sich zu verabschieden, aber er wird nicht mehr lange unter uns sein!“ erklärte er ihr.


    Irina war blass geworden. So sehr sie Sharpov fürchtete, aber es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie ihn sowas wie geliebt. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft, überallhin mitgenommen und sie hatte doch eine lange Zeit Tisch und Bett mit ihm geteilt. „Meinst du, ich könnte ihn noch einmal sehen?“ fragte sie leise. Hartmut zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber wir könnten nachher einfach mal zur Intensivstation gehen und nachfragen, ob es machbar ist!“ sagte er ein wenig zweifelnd. Allerdings konnte er Irina schon verstehen-wahrscheinlich musste sie Sharpov noch ein letztes Mal mit eigenen Augen sehen, um mit diesem Kapitel ihres Lebens abschließen zu können. Ein wenig unterhielten sie sich noch, aber dann verschwand Irina im Badezimmer, um etwas Bequemes, aber nichtsdestotrotz Schickes anzuziehen. Als sie wenig später in einer Art Jogginganzug aus der Nasszelle kam, ruhten Hartmuts Augen bewundernd auf ihr. Diese Frau würde sogar in Lumpen wunderhübsch aussehen, aber so, in diesem edlen Sportdress, war sie einfach eine Augenweide. „Von mir aus können wir aufbrechen!“ sagte Irina und Hartmut bot ihr zögernd seinen Arm.

  • Die Sharpova läutete außen an der Intensivstation. Die betreuende Schwester ihres Mannes ließ sie herein und merkte dann an: „Frau Sharpova, der Arzt würde ein wenig später gerne etwas Wichtiges mit ihnen besprechen. Sind sie jetzt eine Weile da? Er muss nämlich gerade einen Neuzugang versorgen, das dauert noch ein bisschen, aber danach würde er dann zu ihnen kommen?“ Sharpov´s Frau nickte. „Ich bin jetzt da und ich bleibe auch!“ sagte sie mit fester Stimme und die Schwester verschwand mit einem Nicken wieder in einem Patientenzimmer. Die Sharpova trat zu ihrem Mann. „Waldemar, ich werde dein Leiden und deinen sinnlosen Tod rächen. Wir hätten den schönsten Teil unseres Lebens noch vor uns gehabt, wenn diese Polizisten uns nicht daran gehindert hätten. Aber die beiden werden mit ihrem Leben dafür büßen, ich schwöre es!“ sagte sie und hauchte ihrem Mann noch einen zarten Kuss auf die Wange. Dann straffte sie ihren Rücken und ging zur Tür.

    Sie ließ verstohlen ihren Blick schweifen aber im Augenblick war auf dem Intensivflur niemand zu sehen. Wie ein Schatten huschte sie in das Zimmer, in dem Ben und Semir lagen. Zufrieden konstatierte sie, dass die beiden tief und fest schliefen. Leise schob sie die Schiebetüre hinter sich zu und nahm dann ihre dicke, lange goldene Kette fest in die Hand. Welchen von beiden sollte sie zuerst drannehmen? Als sie die Lage abgewägt hatte, entschied sie, dass der Türke der Erste sein sollte. Dieser Jäger war sehr blass und an seinem Bett hingen so viele Schläuche und Beutel mit blutigem Inhalt, der würde keinen ernsthaften Gegner darstellen und würde brav warten, bis er dran war. Wie krank dieser Gerkan war, konnte sie nicht so genau ermessen-vielleicht war der schon wieder relativ fit und würde sich einen Kampf mit ihr zu liefern versuchen. Auch wenn sie dank Privattrainer und täglichem Fitnessprogramm durchtrainiert war und auch Wert auf ihre Kondition legte, war es besser, sie brachte das jetzt schnell zu Ende, bevor noch einer der Männer erwachte und Alarm schlug. Vorsichtig hängte sie die beiden Patientenrufe weit weg, so dass sie nicht mehr zu erreichen waren und dann schaltete sie die Monitore aus.
    Dank ihres Praktikums im Krankenhaus, wusste sie, dass diese Maschinen mit einer Zentrale vernetzt waren, aber wenn die aus waren, würde niemand den Tod der beiden Polizisten bemerken und bis die nächste Schwester ins Zimmer kam und Alarm schlug, würde sie schon lange wieder bei ihrem Waldemar am Bett sitzen und beteuern, dass sie nichts gehört und gesehen hatte.


    Mit einem teuflischen Grinsen schlich sie sich an Semir heran, legte mit einer raschen Bewegung die goldene, mehrfach geflochtene stabile Kette um seinen Hals und zog mit aller Kraft zu. Semir war plötzlich hellwach, aber ohne auch nur den Hauch einer Chance noch um Hilfe zu rufen, wurde ihm plötzlich der Hals zugeschnürt. Mit weitaufgerissenen Augen begann er zu zappeln und um sich zu schlagen, er erkannte auch, wer ihn da gerade dabei war, umzubringen, das war doch die Ehefrau von Sharpov, deren Foto er im Internet schon angeschaut hatte- mit der hatte keiner gerechnet! Er versuchte vergeblich einen Finger zwischen seinen Hals und die Kette zu bringen und die völlige Panik ergriff nun von ihm Besitz. Die Augen begannen aus den Höhlen zu treten, er lief blau an und dann begann sein Lebensfilm vor ihm abzulaufen. Mit Bedauern dachte er an Andrea und die Kinder, die er nun nicht mehr aufwachsen sehen würde, seine Arbeit die Kollegen, Ben....


    Währenddessen war Hartmut mit Irina langsam zum Aufzug gelaufen. Er konnte ihr ansehen, wie schwer der Weg auch für sie war. Trotzdem war sie entschlossen, ihn zu gehen, es wäre ein erster Schritt der Heilung, sich von Sharpov zu verabschieden und ihm zu verzeihen. Sie wollte nicht voller Groll in ihr neues Leben gehen, sondern einen klaren Schnitt und dann einen neuen Anfang wagen, darum war dieser letzte Besuch für sie so immens wichtig. Während sie gemeinsam auf den Aufzug warteten, drückte Hartmut ihre Hand: „Du schaffst das, denn du bist eine wunderschöne starke Frau und ich werde dich unterstützen so gut ich kann!“ sagte er weich und Irina erwiderte nur leise: „Danke!“

  • Ben wurde langsam wach. Er hatte so tief geschlafen, dass er momentan erst mal gar nicht wusste, wo er war. Als er zögernd die Augen öffnete, sah er um sich herum medizinische Geräte. Ach so, ja, er war ja auf der Intensivstation! Irgendwas hatte ihn geweckt, obwohl er noch hundemüde war. Er ließ seinen Blick zu Semir schweifen, der ja im Bett neben ihm schlummerte und da stockte ihm der Atem. Eine Frau war über den gebeugt und strangulierte ihn mit irgendetwas! Ben wollte nach der Glocke greifen, aber die hing weit weg, so dass er sie nicht erreichen konnte. Nun sah er auch, dass die Monitore dunkel waren-seiner und Semir´s auch. Gerade wollte er laut zu rufen anfangen, da sah er aus dem Augenwinkel, dass die Schiebetüre fest geschlossen war. Ob man ihn da überhaupt hören würde?


    Semir wurde zwar durch den Körper der Frau ein wenig verdeckt, aber als Ben nun trotzdem einen Blick auf dessen Gesicht erhaschen konnte, das immer noch teilweise von der Atemmaske bedeckt war, war das tiefblau, die Augen waren beinahe aus den Höhlen getreten und gerade hatte er noch eine verzweifelte Bewegung zu seinem Hals gemacht, als er plötzlich erschlaffte und aufgab. Ben konnte es sehen, ein letzter hilfesuchender Blick Semir´s traf ihn und dann begann der bewusstlos zu werden. Er hatte keine Zeit mehr! Auch wenn er jetzt laut Rabbatz schlug, es würde sicher eine Weile dauern, bis die Pflegekräfte herausgefunden hatten, wo der Lärm herkam und bis dahin war es um Semir geschehen! Nein das durfte einfach nicht sein! Er konnte nicht zusehen, wie sein bester Freund vor seinen Augen erstickte und keinen Finger dabei rühren.


    Ohne an sich selber zu denken-ihm war schon klar, dass es jetzt eine Tortur werden würde, aber das war er seinem Freund einfach schuldig-schwang Ben die Beine aus dem Bett. Er meinte vor Schmerzen beinahe ohnmächtig zu werden, aber als er statt auf den Boden dann auf seinen sterbenden Freund sah, verdrängte er den Schmerz und ein gnädiger Adrenalinschub ließ ihn momentan sein eigenes Befinden vergessen. Es ging zu Ende mit Semir und es lag nur in seiner Hand, ob der leben oder tot sein würde! Semir würde dasselbe auch für ihn tun, da war er völlig sicher und so richtete er sich auf, machte zwei unsichere Schritte und warf sich dann mit einem Hechtsprung auf die Mörderin.
    Völlig überrascht von dem Angriff von hinten lockerte die den Griff um die Kette und begann sich gegen Ben zu wehren. Der hatte sich im Sprung so ziemlich alle Schläuche, die irgendwo befestigt waren, herausgerissen, aber mit dem Mute der Verzweiflung mobilisierte er alle seine Kräfte, verdrängte die unsäglichen Schmerzen, packte die Hände der Sharpova und wand sie von der Kette weg. Semir war frei und ein klitzekleines bisschen Luft sog er halb bewusstlos in seine Lungen, ohne aber irgendetwas für Ben tun zu können. Auch er kämpfte, nicht gegen die Russin, sondern um jedes noch so kleine Quentchen Atemluft!


    Die Sharpova brauchte nicht lange, um sich zu fassen und kaum war der Überraschungseffekt verraucht, war sie eine schreckliche Gegnerin für Ben. Die beiden wanden sich auf dem Boden, wohin Ben sie mit seiner ganzen Kraft-weg von Semir-gezogen hatte. Alles war voll Blut-Ben´s Blut- und das zähe Ringen wurde für Ben immer mühsamer, weil nun auch er begann, immer weniger Luft zu kriegen. Die Sharpova merkte, dass sein Griff sich mehr und mehr lockerte, drehte sich irgendwie um und war auch schon über ihm. Nun schlang sich die Kette um Ben´s Hals und wurde unbarmherzig zugezogen. Das Blut rauschte in seinen Adern und er begann Sternchen zu sehen, im Unterbewusstsein nahm er wahr, dass nun doch wenigstens Semir´s Beatmungsmaschine zu alarmieren begann, weil die Maske verrutscht war, aber dann focht auch er einen verzweifelten Kampf gegen das Ersticken.


    Sarah hatte inzwischen den Oberarzt, der Hintergrunddienst hatte, erwischt. Er hatte sich in der Ambulanz um einen neu aufgenommenen Patienten kümmern müssen und sie hatte eine ganze Weile warten müssen, bis er ein wenig Zeit für sie aufbrachte. „Der Stationsarzt hat gemeint, ich solle mit ihnen wegen der Schmerztherapie meines Freundes sprechen!“ fing sie an und der Arzt hörte ihr intensiv zu, was sie ihm zu berichten hatte. Natürlich hatte er von Sarah´s Alleingang mit dem Sufentaperfusor erfahren und das zwar nicht gut geheißen, aber doch verstehen können. Es war schrecklich, einen Menschen, der einem etwas bedeutete, Schmerzen leiden zu sehen. Auch war das nicht das Ziel eines Anästhesisten, seine Patienten zu quälen, sondern jedem eine angepasste Schmerztherapie zukommen zu lassen. „Wenn ihr Partner noch bei jeder Bewegung Schmerzen hat, müssen wir natürlich etwas unternehmen. Ich schaue mir nachher gleich noch die Kurve an und dann überlege ich mir, was wir noch für ihn tun können, denn sonst bringen wir den nie aus dem Bett. Er hat das Schlimmste überstanden und soll jetzt ja mobiler werden, kommen sie, gehen wir gleich gemeinsam auf die Station zurück und schauen, was sich machen lässt!“ sagte er freundlich und die beiden machten sich auf den Weg zu den Helden.

  • Hartmut und Irina waren inzwischen an der Intensivstation angekommen. Irina sagte stockend: „Hartmut, ich weiß nicht, was ich zu der Schwester an der Sprechanlage sagen soll, könntest du das für mich übernehmen?“ und sie sah ihn dabei mit einem derart treuherzigen Blick an, dass Hartmut ohne weiter nachzudenken auf den Klingelknopf drückte. Als die Schwester dann allerdings fragte, zu wem sie denn wollten, erwiderte er: „Zu Waldemar Sharpov!“ und auf die Frage, ob sie Angehörige seien, antwortete er wahrheitsgemäß: „Nicht so ganz!“ woraufhin die Schwester zu ihrem Sprüchlein anhob, dass leider nur den nächsten Angehörigen auf der Intensivstation ein Besuch gestattet werden könnte. Hartmut war zu höflich, sie zu unterbrechen, aber als sie geendet hatte, sagte er umständlich: „In gewissem Sinne ist meine Begleiterin eben schon angehörig!“ und nun beschloss die Schwester, kurz rauszukommen und die anscheinend komplizierte Sachlage persönlich zu klären, sowas ging schlecht an der Rufanlage.


    Gerade als Hartmut angesichts der Schwester zu einer weitschweifigen Erklärung anhob, mischte sich Irina ein und sagte kurz: „Ich habe drei Jahre mit ihm zusammengelebt, ich weiß, dass er im Sterben liegt und möchte mich verabschieden.“ Nun schwieg die Schwester kurz. Oh das war jetzt eine schwierige Situation. Vor ihr stand sozusagen die Geliebte ihres Patienten, während sie vorher erst dessen Ehefrau hereingelassen hatte, die jetzt an seinem Bett saß. „Einen Moment bitte, ich versuche das zu klären!“ vertröstete sie Hartmut und Irina und verschwand wieder in der Station. Als sie ins Zimmer ihres Patienten kam, der immer noch leidlich stabil und äußerlich unversehrt in seinem Bett lag, sah sie überrascht um sich. Von der Ehefrau war keine Spur zu sehen, anscheinend war die doch, entgegen ihrer Beteuerungen, schon wieder gegangen. Das war zwar blöd, weil der Arzt nachher dringend mit ihr sprechen wollte, war jetzt aber nicht zu ändern. Gut, unter diesen Umständen würde sie die junge Frau und ihren Begleiter eben kurz hereinlassen. Sharpov tat das nicht mehr weh, aber sie konnte verstehen, wie wichtig so ein Abschied nehmen vielleicht für die junge Frau wäre. Sie trat deshalb wieder vor die Intensivtür und bat die Wartenden ihr zu folgen.


    In dem Moment kam gerade Sarah mit dem Oberarzt um die Ecke gebogen. „Hallo Hartmut, was tust du denn da-möchtest du Ben und Semir besuchen?“ fragte Sarah überrascht und Hartmut druckste ein wenig herum. „Eigentlich nicht genau, ich meine ich habe das schon versucht, durfte das dann aber nicht, aber jetzt bin ich mit Irina da, um nach Sharpov zu sehen,“ sagte er. Jetzt fiel Sarah´s Blick erst auf Hartmut´s Begleiterin. Tatsache, das war ja die junge Frau, die die ganze Sache mit den schrecklichen Folgen ins Laufen gebracht hatte. Sarah war der gegenüber jetzt doch reserviert-wäre sie nicht gewesen, läge ihr Ben jetzt vermutlich nicht mit starken Schmerzen auf der Intensivstation und auch Semir wäre vermutlich gerade mit seinem Kollegen auf Streife, anstatt mit einer Maske auf dem Gesicht gegen seine Lungenentzündung zu kämpfen. Sie wäre nicht gekidnapped worden und die letzten Tage wären sicher anders verlaufen. Als ob Irina das gespürt hätte, wandte sie sich Sarah zu und streckte die Hand aus: „Sarah, es tut mir leid! Sie waren so wahnsinnig nett zu mir und jetzt ist aus dieser Sache etwas ganz Schlimmes entstanden. Glauben sie mir, wenn ich es ungeschehen machen könnte, dann würde ich es tun!“ sagte sie einfach und nun war Sarah gleich wieder versöhnt.


    Gemeinsam mit dem Oberarzt gingen sie zu den Patientenzimmern und während Sarah stirnrunzelnd konstatierte, dass ja die Schiebetür an Semir´s und Ben´s Zimmer geschlossen war, was wegen der sonst schlecht hörbaren, akustischen Alarme bei kritischen Patienten ein absolutes No-Go war, bogen Irina und Hartmut auch schon in Sharpov´s Zimmer ein, geführt von ihrer Kollegin, die ihnen ein wenig beistehen würde. Man konnte, wenn man genau hinhörte, nun auch Semir´s Beatmungsmaschinenalarm wahrnehmen. Wer auf diese Schnapsidee mit dem Schließen der Zimmertüre gekommen war, würde aber von Sarah später was zu hören kriegen!
    Sarah öffnete schwungvoll die Tür, doch angesichts des Anblicks, der sich ihr nun bot, gefror ihr beinahe das Blut in den Adern!

  • Ben lag auf dem Bauch auf dem Boden, um ihn herum war alles voller Blut und auf seinem Rücken kniete eine Frau und zog mit aller Kraft an einer Kette, die um seinen Hals geschlungen war.


    Die beiden Patientenmonitore waren ausgeschaltet, mehrere Schläuche, die zuvor in Ben gesteckt hatten, lagen am Boden und obwohl Sarah´s Fokus durchaus auf Ben gerichtet war, sah sie auch aus den Augenwinkeln Semir, der tiefblau und reglos in seinem Bett lag und nun stürzte sie sich mit dem Mute der Verzweiflung auf die Frau, die gerade versuchte, Ben zu ermorden-wenn es ihr nicht schon gelungen war. Sarah packte deren Arme von hinten und versuchte den Griff um die Kette zu lösen, aber die Mordlust und der Blutrausch, der die Russin ergriffen hatte, verliehen ihr ungeahnte Kräfte. Der Oberarzt, der ja nur zwei Schritte hinter Sarah gestanden hatte, brauchte auch eine kurze Schrecksekunde, um das Bild, das sich ihm bot, zu realisieren. Er schloss kurz die Augen-war das wirklich real, was er da sah?- um sich aber dann ebenfalls auf die Frau zu stürzen, die gerade dabei war, einen der Polizisten zu erdrosseln. Mit dem anderen war es ihr schon gelungen, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Zugleich schrie der Oberarzt aber auch laut um Hilfe und nun rannten aus allen Ecken der Intensivstation die Pflegekräfte zusammen, um die Ursache für den Hilferuf herauszufinden. Auch der Stationsarzt, der gerade mit seiner Patientenversorgung fertig geworden war und sich nun begann, die Worte zurechtzulegen, mit denen er die Frau des hirntoten Russen überzeugen wollte, etwas Sinnvolles zu tun, kam aus dem Aufenthaltsraum, wo er sich schnell einen Kaffee gegönnt hatte.


    Mit vereinten Kräften gelang es Sarah und dem Oberarzt, die Hände der Sharpova von der Kette zu lösen und mit Erleichterung vernahm Sarah den tiefen, keuchenden Atemzug, den Ben nun machte. Immerhin er lebte! Gemeinsam zogen sie die immer noch tobende Russin, deren Gesicht nun zur Fratze mutiert war, vollends von Ben herunter. Sie schrie russische Schimpfwörter in den Raum und Irina und Hartmut, die im Nebenzimmer ebenfalls die Schreie gehört hatten sahen sich entsetzt an und eilten nun gemeinsam mit der Schwester, die natürlich auch ihren Kollegen zu Hilfe kam, zur Tür. „Das ist die Sharpova!“ sagte Irina erschüttert, die ja die Schimpfworte verstehen konnte, die die wahnsinnige Frau in den Raum brüllte und Hartmut, der sich so etwas schon gedacht hatte, nickte und verschwand mit ein paar Schritten im Nebenzimmer, wo er der Frau mit Polizeigriff den Arm auf den Rücken drehte und sie so professionell festhielt, damit der Arzt und Sarah sich um Ben und Semir kümmern konnten. Er bedauerte es nun, keine Handschellen und keine Waffe dabei zu haben, wie das viele seiner Kollegen sicher gehabt hätten, aber da war er einfach nicht der Typ dazu.


    Das Zimmer sah aus, wie ein Schlachtfeld und um Platz zu schaffen, zerrte Hartmut die Russin auf den Intensivflur, während nun schon der Notfallwagen ins Zimmer gefahren wurde und das Pflegepersonal routiniert in Handschuhe schlüpfte. Er hatte aus den Augenwinkeln Semir gesehen, der reglos im Bett und Ben, der blutüberströmt am Boden lag. Um Himmels willen, was war da geschehen und was versprach sich die Sharpova davon, Semir und Ben umzubringen-davon wurde doch ihr Mann nicht mehr lebendig? Aber die Rache einer Frau war schrecklich, wie man nun sehen konnte und während die Rettungsmaßnahmen für seine beiden Kollegen anliefen, konzentrierte Hartmut sich darauf, die Sharpova mit aller Kraft festzuhalten. Das war im Augenblick das Sinnvollste, was er tun konnte.

  • Das Intensivpersonal teilte sich in zwei Gruppen auf. Der Stationsarzt und zwei Schwestern kümmerten sich um Semir, der Oberarzt, Sarah und ein Pfleger um Ben. Der wurde auch gleich auf den Rücken gedreht, damit man seine Vitalfunktionen prüfen konnte. Seine Augen waren voller Schock weit aufgerissen und er schnappte mühsam mit blauen Lippen nach Luft. „Auf drei!“ sagte der Oberarzt und bis sich Ben versah, wurde er wieder in sein Bett gehoben. Man konnte nun sehen, dass bis auf einen einzigen Drainageschlauch alle anderen Zugänge und was am Schlimmsten war, die Thoraxdrainage draußen waren. Auch der Blasenkatheter war geblockt herausgezogen. Wenigstens der Atemantrieb funktionierte noch und während Sarah mit zitternden Fingern die Sauerstoffmaske, die noch neben dem Bett lag auf Ben´s Gesicht drückte und den Sauerstoff voll aufdrehte, befestigte der Pfleger neue EKG-Kleber auf Ben´s Oberkörper, clipste den Sättigungsfühler an dessen Zeigefinger und schlang die Blutdruckmanschette um seinen Oberarm, nachdem das Arteriensystem inclusive Schläuchlein auch irgendwo in der Landschaft baumelte. Man griff zu Kompressen und Sarah drückte am Hals, wo aus dem ZVK-Einstich das Blut tröpfelte und übernahm den einen Arm, wo aus dem Arterieneinstich das Blut regelrecht schoss. Mit viel Druck schaffte sie es, die Blutungen dort momentan zum Stehen zu bringen.

    Der Oberarzt hatte inzwischen nach einem Blick auf den Monitor, wo man sehen konnte, dass die Herzfrequenz im Schock viel zu hoch und dafür der Blutdruck und die Sättigung zu niedrig waren, zu seinem Stethoskop gegriffen und Ben´s Thorax abgehört. „Wir haben rechts überhaupt kein Atemgeräusch, er braucht dringend eine neue Thoraxdrainage!“ sagte er zu seinen Helfern und während der Pfleger auch erst mal mit sterilen Kompressen Druck auf den Thoraxdrainageneinstich ausübte, aus dem das Blut nur so strömte, holte sich der Doktor selber ein paar Dinge zum Zuganglegen und Röhrchen zum Blutabnehmen aus dem Notfallwagen, der gerade bei Semir im Einsatz war.
    Die eine Intensivschwester die noch übrig war, arbeitete von draußen zu, zog Medikamente und Perfusoren auf, bediente das Telefon und versorgte rudimentär die übrigen Patienten auf der Station. Sie hatte den Eingriffswagen ebenfalls näher gefahren und warf nun auf den Boden, auf dem Ben´s Blut inzwischen durch das Hin-und Herlaufen flächig verteilt war, einige große Handtücher. „Was für eine Sauerei!“ bemerkte sie kopfschüttelnd.
    Die Stationsassistentin wurde in die Blutbank geschickt, um erst einmal zwei Konserven für Ben zu holen, die dort ja schon vorsichtshalber eingekreuzt bereitlagen und Hartmut, der draußen vor der Tür immer noch die Sharpova mit eisenhartem Griff festhielt, bat nun auch die Schwester darum, die Einsatzzentrale zu verständigen, damit sich Spurensicherung und Kripo zur Tatortsicherung auf den Weg machten und auch die Sharpova endlich abgeholt wurde.


    Bei Semir musste man nur den Monitor einschalten, da bei ihm ja alle Kabel noch dran waren. Seine Herzfrequenz war nur noch bei 30, die Sättigung bei 50% und der Blutdruck im Augenblick nicht messbar. Sein Hauptproblem war die unzureichende Atmung, wobei er trotzdem immer noch ein wenig nach Luft schnappte, obwohl er schon tief bewusstlos war. Vermutlich war zusätzlich noch eine Schwellung im Kehlkopfbereich durch die Strangulation aufgetreten. Die eine Schwester hatte aus dem Notfallwagen den Ambubeutel gegriffen, eine Maske auf sein Gesicht gesetzt und versuchte ihn mühevoll zu beatmen, während die zweite Schwester alles zur Intubation herrichtete. Man nahm gleich mal einen dünneren Tubus und falls das nicht klappte, würde man Semir notfallmäßig tracheotomieren. Der Arzt hatte die Pupillen kontrolliert, wovon man auf den Grad der Asphyxie schließen konnte, aber die reagierten noch prompt, waren rund und seitengleich, was gedämpften Anlass zur Hoffnung gab. Falls man die Sauerstoffversorgung des Gehirns und der übrigen Organe nun schnell wieder herstellen konnte, bestand die Aussicht, dass Semir das ohne Hirnschaden überleben konnte.


    Er bekam erst einmal 250 mg Prednisolon gespritzt, was gegen die Schwellung wirken sollte und dann ging der Arzt ans Kopfende des Bettes und übernahm den Ambubeutel von der Schwester. Auch er hatte Mühe, auch nur ein wenig Luft in Semir zu pumpen, der trotzdem auch immer noch selber versuchte, Atemluft einzuziehen. Die zuarbeitende Schwester hatte das Glidescope inzwischen hergebracht, weil ja eine extrem schwierige Intubation zu erwarten war. Dann wurde Semir´s Kopf nach hinten überstreckt und ohne jegliche Sedierung-das war bei dem Grad der Bewusstlosigkeit, den Semir erreicht hatte, nicht mehr nötig- versuchte der Stationsarzt den Tubus durch die verschwollene Stimmritze zu schieben. Der Oberarzt, der gerade die Sachen zum Zuganglegen geholt hatte, zog seine blutigen Handschuhe, mit denen er an Ben gewesen war, aus, schlüpfte in ein Paar neue und er schaffte es dann, mit seiner langjährigen Erfahrung, den dünnen Tubus durch die Stimmritze zu schieben und damit Semir´s Sauerstoffversorgung sicherzustellen. Während der Stationsarzt nun noch mit dem Stethoskop die Tubuslage prüfte, eine Magensonde legte und das Beatmungsgerät einstellte, sprang der Oberarzt wieder zu Ben und versuchte nun, auch dessen Leben zu retten.

  • Obwohl Ben´s Venen bereits wieder kurz vorm Kollabieren waren, schaffte es der Oberarzt, eine am Unterarm zu punktieren. Sofort nahm er Blut ab und dann hängte man eine Infusion im Schuss an, damit man ihm nun wenigstens Medikamente und Flüssigkeit zukommen lassen konnte. Während der Pfleger den Zugang noch kurz verklebte, versuchte Sarah mit zitternder Stimme ihren Freund zu beruhigen. „Ben, alles wird wieder gut!“ sagte sie und sah ihm dabei fest in die Augen. Ben fixierte sie erst, aber dann drehte er den Kopf in die Richtung des zweiten Bettes, konnte da allerdings nichts erkennen, weil in seinem Blickfeld der Arzt und eine Schwester standen. Obwohl seine Lippen immer noch, trotz Sauerstoff, kitzeblau waren, versuchte er unter der Maske ein Wort zu formen. Sarah bemühte sich, ihn zu verstehen und konnte nun ein schwaches „Semir?“ erahnen. Jetzt war ihr klar, was Ben da wichtiger als seine eigene Befindlichkeit war. „Ben, mach´ dir keine Sorgen wegen Semir, er ist intubiert und wird gerade stabilisiert, auf jeden Fall lebt er!“ sagte sie im Brustton der Überzeugung, obwohl sie nicht so sicher war, ob das wirklich so rosig aussah im Nebenbett. Nur würde es Ben nicht helfen, wenn er sich zusätzlich noch Sorgen um seinen Freund und Kollegen machte, er musste seine Kräfte für die eigene Genesung bündeln. Nun flog ein kleines Lächeln, wie ein Hauch über Ben´s Gesicht und Sarah konnte das Wort, dass er daraufhin mit den Lippen formte, mehr erahnen, als verstehen, aber es könnte: „Gut!“ geheißen haben. Ben schloss nun die Augen und begann erst langsam, als der Schock ein wenig nachließ, seine eigenen Schmerzen zu spüren.


    Eigentlich gab es gerade keinen Körperteil, der ihm nicht weh tat. Außerdem war seine Atemluft verdammt knapp, er sog gierig den Sauerstoff aus der Maske, aber trotzdem genügte er bei weitem nicht. Er bemerkte, wie sein Herz in seiner Brust raste und eine große Schwäche hatte zusätzlich von ihm Besitz ergriffen. Eigentlich würde er am liebsten die Augen geschlossen halten und friedlich einschlafen, nie mehr Schmerzen spüren, einfach aufgeben…aber genau in diesem Moment wurde er unsanft in die Wange gekniffen. „Herr Jäger, nicht schlappmachen!“ befahl der Oberarzt ihm streng. „Sie schaffen dass-wir helfen ihnen, so gut wir können, aber sie müssen jetzt mitmachen und kämpfen!“ sagte er und als Ben die Augen erschrocken wieder aufriss, sah er Sarah über sich gebeugt, deren Tränen heiß auf sein Gesicht tropften.


    Semir war inzwischen gut beatmet und das erste Blutgas, das man nach der Intubation machte, war gar nicht einmal so schlecht. Gut, der ph-Wert war noch etwas niedrig, was ein Zeichen dafür war, wie viel Stress und Sauerstoffunterversorgung sein Organismus ausgehalten hatte, aber immerhin lag er über der magischen 7. Ein Wert darunter bedeutete eine schlechte Prognose, ein Wert darüber gab immer Anlass zur Hoffnung und der Semir´s war bei 7,08-der Normwert läge bei 7,4, aber mit einer optimalen Beatmungseinstellung und zusätzlich 100 ml Bicarbonat versuchte man der Übersäuerung entgegenzuwirken. Man hatte inzwischen seine Hände festgebunden und ihm einen Sedierungsperfusor angehängt, damit er sich gut beatmen ließ. So sehr schnell würde man ihn sowieso nicht extubieren, denn auch wenn er den Mordversuch soweit kompensiert hatte, war sein Hauptproblem, die Aspirationspneumonie, deswegen ja noch immer nicht überstanden. Allerdings wurde nun eine leichte Decke über ihn gebreitet, man ließ ihn in Ruhe und während die eine Schwester begann, das Zimmer ein wenig aufzuräumen, widmeten sich die zweite Schwester und der Stationsarzt nun ebenfalls Ben, denn da wurde gerade jede Hand gebraucht.


    Die Sharpova auf dem Flur hatte sich, festgehalten von Hartmut, ein wenig beruhigt und begann nun über ihre Lage nachzudenken. Damit die Rettungsmaßnahmen im Polizistenzimmer nicht behindert wurden, hatte Hartmut sie ein Stück zur Seite gezogen, so dass sie und Hartmut nun direkt vor der geöffneten Schiebetür zum Zimmer ihres Mannes standen. Irina war inzwischen leise zu Waldemar getreten und hatte ihn lange angesehen. Die letzten Jahre liefen vor ihrem inneren Auge wie ein Film ab. Sie hatte mit diesem Mann wunderschöne, aber auch schreckliche Dinge erlebt. Eine lange Zeit hatte sie geglaubt, ihn sehr zu lieben und war auch der Meinung gewesen, das beruhe auf Gegenseitigkeit. Er hatte sie kokainsüchtig gemacht, um sie an sich zu binden, aber er war eben auch sehr liebevoll und nett gewesen-je nach Laune. Es war auch für Irina schwer vorstellbar, dass dieser so kraftvolle und gut aussehende Mann nun tot sein solle, er war doch warm und wirkte, als wenn er schlafen würde!
    Sie gab ihm zum Abschied einen vorsichtigen Kuss auf die Wange, nun konnte sie irgendwie mit diesem Kapitel ihres Lebens abschließen. „Leb wohl, Waldemar!“ flüsterte sie und drehte sich dann abrupt um, um das Zimmer zu verlassen.


    Die Sharpova keifte sie in dieser Sekunde an: „Was fällt ihnen ein, meinen Mann zu küssen, das ist mein Waldemar und was wollen sie überhaupt bei ihm?“ fragte sie außer sich und Hartmut verstärkte in dieser Sekunde den Griff, mit der er ihr den Arm, auf dem Rücken verdreht, festhielt, so dass die Sharpova augenblicklich wieder verstummte.
    Irina blieb stehen und musterte die Frau, die ebenfalls voller Blut war-Ben´s Blut, wie sie wusste. „Ich habe mit Waldemar die letzten drei Jahre Tisch und Bett geteilt, wie vor mir schon mehrere, gut aussehende junge Frauen. Er hat uns beide betrogen, ob sie es glauben, oder nicht!“ sagte sie ruhig und beherrscht auf Russisch und nun starrte die Sharpova sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Sie lügen!“ stammelte sie tonlos, aber Irina schüttelte nur den Kopf, um sich dann abrupt umzudrehen und Richtung Intensivausgang zu gehen. Sie musste weg von hier! Sie würde in ihr Zimmer zurückgehen und dort auf Hartmut warten. Zu viel war in der letzten halben Stunde auf sie eingestürmt und helfen konnte sie hier doch nicht. Während sie den Knopf der Schiebetür bediente, sah ihr Hartmut nach. Er merkte, dass sie der Sharpova geradezu den Todesstoß versetzt hatte mit ihrer Mitteilung, was immer sie ihr auch gesagt hatte, denn die war in seinem Griff augenblicklich erschlafft und hatte nun haltlos zu weinen begonnen.

  • Die vordergründig wichtigste Sache bei Ben, die man sofort erledigen musste, war die neue Thoraxdrainage. Im Augenblick war die rechte Lunge komplett zusammengefallen, er atmete deshalb mühsam und die Sauerstoffsättigung war schlecht. Außerdem musste man sogar befürchten, dass ein sogenannter Spannungspneu entstehen könnte, also dass die Luft, die durch das natürliche Vakuum im Brustkorb nun durch das Löchlein, in dem die vorige Thoraxdrainage gesteckt hatte, bei jedem Atemzug gezogen wurde, das Herz zur Seite schieben und die andere, gesunde Lunge noch mehr zusammendrücken würde. Leider war der Zugang der ersten Thoraxdrainage so zerfetzt, dass man das nie mehr dichtbringen würde. Deshalb musste im nächsten Zwischenrippenspalt eine neue Drainage gelegt werden und das vorige Löchlein sorgfältig und dicht vernäht werden.


    Die Schwester, die von Semir herübergekommen war, hatte routiniert begonnen, die benötigten Materialien vorzubereiten. Der Oberarzt gab Ben persönlich einen kleinen Sufentabolus, allerdings konnte man ihn jetzt nicht komplett abschießen, weil das seinen Kreislauf unnötig belasten würde und das körpereigene Adrenalin gerade gar nicht so schlecht für ihn war. Er würde eine örtliche Betäubung kriegen, wie das beim Legen einer Thoraxdrainage üblich war und sonst musste er das einfach aushalten. Ein paar helfende Hände drehten ihn auf die linke Seite, was ihn zu einem schmerzerfüllten Stöhnen veranlasste. Der Arzt steckte noch ein zusammengerolltes Handtuch unter Ben´s Taille, damit der rechte Rippenbogen besser hervortrat und die Zwischenrippenräume ein wenig auseinander gezogen wurden. Sein rechter Arm wurde von Sarah nach oben über seinen Kopf gelegt und da festgehalten. Sie hatte sich dazu über ihn gebeugt und versuchte ihm durch ihren Körperkontakt Trost und Nähe zu spenden.


    Man hatte über die blutenden Einstichstellen momentan Druckverbände angelegt, um den Blutverlust in Grenzen zu halten, aber Ben begann nun langsam doch zu zittern, ihm war auf einmal furchtbar kalt. Egal, ob alles blutig wurde, der Pfleger deckte ihn mit seiner warmen Decke wenigstens unten herum zu und später würde man ihn mit dem Thermacair aufwärmen, nur war das während eines Eingriffs verboten, weil durch die Luftverwirbelung Keime in die Wunde geblasen werden konnten.


    Der Oberarzt hatte sich inzwischen eine Haube und Mundschutz aufgesetzt, die Hände mehrmals desinfiziert und schlüpfte nun in den von der Schwester bereitgehaltenen sterilen Mantel und die Handschuhe. Er schlug steril das Abdeckset auseinander und begann nun Ben´s rechte Thoraxseite, die eigentlich von der vorigen Drainagenanlage noch grellorange leuchtete, erneut mit gefärbtem Desinfektionsmittel abzustreichen. Als er die offene Wunde der ersten Drainage berührte, zog Ben scharf die Luft ein, aua, das brannte, wie das Höllenfeuer. Nach dem Abstreichen wurde Ben mit einem großen, gefensterten Tuch komplett abgedeckt und nun zog der Arzt das Lokalanästhetikum in eine sterile Spritze auf, das die Schwester ihm anreichte. Zunächst infiltrierte er mit einer kurzen Nadel die Haut, aber dann ließ er sich eine lange Nadel geben und ging damit zwischen den Rippen durch in die Tiefe, weil die Pleura, also das Rippenfell sehr schmerzempfindlich war. Als er da das Betäubungsmittel einspritzte hielt Ben die Luft an, so schmerzhaft war das, allerdings auch schnell vorbei. Sarah redete ihm die ganze Zeit beruhigend zu und so konnte er es aushalten. Die letzte Lokalanästhesie erfolgt nun noch direkt in die zerfetzte Wunde der ersten Drainage und auch die verbliebenen Fäden entfernte der Oberarzt. Mit einem Skalpell begradigte er dann zunächst die Wundränder der ersten Drainage, ließ sich Nadelhalter und Faden geben und vernähte sauber das Löchlein, damit das dicht blieb. Davon spürte Ben nun gar nichts, außer einem gewissen Druck. Inzwischen hatte die Betäubung ganz gut gewirkt und als nun der Arzt erst mit dem Skalpell ein neues Schnittchen machte, dann mit dem Finger und einer stumpfen Schere die Gewebeschichten auseinanderdrängte, hörte sich das zwar komisch an, aber es war nicht schmerzhaft. Erst als der Arzt in die Pleura ein kleines Loch schnitt und den neuen, fingerdicken, recht starren Drainageschlauch da hindurch schob, schrie Ben überrascht auf. Trotz Betäubung tat das sehr weh und Sarah flüsterte ihm wieder zu: „Ben, es ist gleich vorbei, du hast es in ein paar Minuten geschafft!“ So war es auch, der Schlauch wurde noch gut festgenäht und als nun der Pfleger das neue Pleur-Evac-System anschloss, wurden innerhalb von Minuten Ben´s blaue Lippen rosig, seine Sättigung stieg, die Herzfrequenz sank und er fühlte sich schlagartig viel wohler. Man entfernte das Abdecktuch, klebte noch einen dicken Verband auf seinen Thorax und dann machte sich der Arzt gleich daran, den Wundverband am Rücken zu entfernen, um sich die Wunde und die einzelne verbliebene Drainage anzuschauen.


    Inzwischen war ein großes Polizeiaufgebot auf der Intensivstation erschienen. Hartmut erklärte den Kollegen im Groben, was vorgefallen war und als sich nun die Handschellen um die Gelenke der Sharpova schlossen, seufzte Hartmut erleichtert auf und streckte seine schmerzenden Glieder. „Wir müssen zur Spurensicherung in das Zimmer, in dem der Überfall stattgefunden hat!“ forderten die Kripobeamten, aber der Stationsarzt, der kurz herausgekommen war, schüttelte den Kopf. „Das geht im Augenblick noch nicht, denn erst müssen unsere Patienten stabilisiert werden, das kann auch noch eine Weile dauern!“ sagte er und schulterzuckend begann der Beamte nun erst einmal ein paar Formulare auszufüllen. „Dann werden wir eben warten!“ beschloss er und begann schon mal mit den Zeugenbefragungen.


    Die Sharpova hatte sich nun wieder gefasst und zu weinen aufgehört. Aus ihrem Kummer war ein unbändiger Hass auf ihren Mann geworden und bevor sie abgeführt wurde, sagte sie laut und vernehmlich: „Waldemar, meinetwegen kannst du verrecken für das, was du mir und deinen Kindern angetan hast!“ und dem Stationsarzt fiel nun siedend heiß ein, was er mit der Frau des hirntoten Russen eigentlich hatte besprechen wollen. „Einen Moment noch!“ bat er die beiden uniformierten Beamten, die gerade mit ihrer Gefangenen loslaufen wollten. „Frau Sharpova, wären sie denn damit einverstanden, dass ihr Mann als Organspender dient? Er würde so mit seinem Tod noch vielen Menschen das Leben schenken?“ fragte er sie und die Sharpova nickte. „Weiden sie ihn aus-er hat es nicht anders verdient!“ sagte sie kalt und drehte sich, ohne einen Blick zurück, zum Ausgang, während ihr die Anwesenden mit offenem Mund nachstarrten.

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