Betonkunst

  • Die Überwachungsmonitore im Hubschrauber zeigten bei Ben einen sehr niedrigen Blutdruck und einen rasend schnellen Herzschlag an, als Zeichen eines Volumenmangelschocks. Der Transport im Hubschrauber ging zwar schnell, aber trotzdem atmete der Notarzt erleichtert auf, als sie sich im Landeanflug auf das hellerleuchtete Klinikdach befanden. Die Problematik im Hubschrauber war ja immer, dass man außer mit Medikamenten durch die Enge an den Patienten eigentlich nicht rankam. Wenn es ein Problem gab und der Transportierte zum Beispiel reanimationspflichtig wurde, dann musste man sofort landen, weil eine mechanische Reanimation während des Flugs nicht möglich war. Außerdem besagten die Vorschriften eigentlich, dass für den Nachtflug zwei Piloten notwendig waren-da hatte der Fluggeräteführer für diesen Einsatz nochmal so getan, als wäre es noch dämmrig gewesen, aber jetzt mussten sie nach der Übergabe sofort zurück in den Hangar.


    Während der Rotor langsam zum Stillstand kam, öffnete der Rettungsassistent schon die Tür und sprang hinaus, um die Trage von außen herauszuziehen. Das Team aus der Notaufnahme, das ja telefonisch instruiert war, stand schon mit behandschuhten Händen bereit. Man schob die Trage zügig in den Fahrstuhl und fuhr in die OP-Abteilung, wo die Schleuse extra freigehalten worden war. Nebenbei machte der Hubschraubernotarzt noch direkt die Übergabe an den Notaufnahmearzt, der währenddessen den leichenblassen Patienten, dessen Kleidung voller Blut war, besorgt musterte. Es würde nicht mehr lange dauern und er wäre reanimationspflichtig, so wie er aussah. Der brauchte dringend Konserven und man musste jetzt noch schnell versuchen, ihm Blut abzunehmen, damit man wusste, wo man eigentlich stand und Kreuzblut gewinnen konnte.


    In der Schleuse angekommen machte man die Transportfixierungen auf und begann, Ben komplett auszuziehen, vielmehr, ihm die blutigen Kleider vom Leib zu schneiden. Als das geschehen war, sah man, dass sein ganzer Körper mit einem feinen kalten Schweißfilm überzogen war. Die peripheren Venen waren alle durch den Volumenmangel kollabiert und der Notarzt dankte Gott, dass wenigstens der Zugang am Hals lief, durch den man weiterhin die Infusion im Schuss hineinlaufen ließ. Noch auf der Trage desinfizierte der Notaufnahmearzt die Leiste und stach mit einer Nadel direkt in die Femoralarterie und entnahm dort routiniert einige Röhrchen Blut, die von einer Hilfskraft sofort ins Labor gebracht wurde. 10 Konserven wurden nach der Blutgruppenbestimmung zum Einkreuzen angefordert, aber so lange würde man nicht mehr warten können, da augenscheinlich die Sauerstoffträger so gering waren, dass man sofort Fremdblut geben musste, um Ben´s Leben zu retten. Einige Konserven null negativ, also Universalspenderblut standen schon bereit. Allerdings hatte nun der Notaufnahmearzt die relativ frisch verheilte OP-Wunde auf Ben´s Bauch entdeckt und bat die Schleusenschwester doch mal Ben´s Namen und Geburtsdatum, das der Rettungsassistent auf dem Notarztprotokoll notiert hatte, in den PC einzugeben. Vielleicht hatten sie ja Glück und er war in diesem Krankenhaus operiert worden und es gab damit eine Akte über ihn.


    Während Ben nun vorsichtig auf das Schleusenfließband gedreht wurde, meldete die Schwester einen Treffer und innerhalb kürzester Zeit hatte man seine Vordiagnosen und vor allem die Blutgruppe eruiert. Man forderte, während Ben nun weiter auf den OP-Tisch gefahren wurde, bereits Konserven in seiner Blutgruppe A Positiv an und der leitende Chirurg stand mit verschränkten Händen, damit er sich nicht unsteril machte, ein paar Meter daneben und ließ sich nochmals persönlich vom Notarzt die Form und die Eindringtiefe des Betonstücks schildern. „Das war ein konisches Stück Beton, dass von einer eigentlich relativ scharfen Spitze dann bis auf etwa 30 cm Durchmesser breit wurde, zumindest steckte es so weit im Patienten. Ich konnte unmittelbar unter der Haut vorne die Spitze tasten!“ erzählte der Notarzt. „Wir haben an zwei spritzende Lebergefäße zwei Klemmen gesetzt und dann ein Packing gemacht.“ Beim Herüberfahren hatte man erkennen können, dass die vormals grünen Bauchtücher schon wieder völlig durchweicht waren und auch auf der Trage war die Unterlage voller Blut. Der Hubschraubernotarzt mochte gar nicht daran denken, wieviel Prozent seines Eigenbluts sein Patient wohl schon verloren hatte.


    Der diensthabende Anästhesist hatte nun das Beatmungsgerät des Hubschraubers inzwischen gegen sein eigenes Transportbeatmungsgerät getauscht und es auch gleich auf 100% Sauerstoff gestellt. Man musste den wenigen Sauerstoffträgern, die dem jungen Mann noch verblieben waren, soviel wie möglich anbieten, damit wenigstens das Gehirn versorgt wurde. Alle anderen Organe waren zwar auch hochgradig gefährdet, aber da hatte man wenigstens einen kleinen zeitlichen Puffer. Er erfuhr nun, welche Medikamente sein Patient bisher erhalten hatte und bei der Schilderung der Rettungsaktion ohne ausreichende Analgesie, zog sich auch sein Herz vor Mitleid zusammen. Da hatte der Polizist ordentlich was mitgemacht, aber jetzt war er zwar nur schwach sediert, weil das ja immer auf den Blutdruck ging, aber immerhin hatte er ausreichend Opiate erhalten, so dass er keine Schmerzen mehr spüren dürfte. Bevor man ihn umdrehte, sprang noch schnell ein OP-Pfleger hinzu und legte in Windeseile einen Blasendauerkatheter, um wenigstens das erledigt zu haben und auch da lief nun leicht blutiger Urin in den Beutel. Allerdings würde man sich zuerst der vordringlichsten Blutstillung widmen und sich später um die Ursache dafür kümmern.


    „Beim Absaugen kam auch Blut aus den Bronchien und direkt nach dem Sturz hat Herr Jäger auch mehrmals ein wenig Blut hochgehustet. Ich tippe auf eine Lungenkontusion!“ teilte der Hubschraubernotarzt mit und der Anästhesist, der daraufhin noch kurz die Lunge abhörte, stöhnte innerlich auf. Noch eine weitere Baustelle! Das würde schwer werden, den jungen Mann wieder hinzukriegen. Gut, er sah eigentlich ziemlich fit aus, vielleicht hatte er ja eine Chance, aber sie konnten einfach nicht mehr tun, als ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen und alles Weitere würde nicht in ihrer Hand liegen.


    Inzwischen hatte man Ben gleich von der Schleuse bäuchlings auf den mit einer warmen Gelauflage bedeckten OP-Tisch gedreht und dort mit einem ringförmigen Polster unter dem Kopf, damit der Tubus freiblieb, die Arme nach oben, festgemacht. Auch eine angewärmte OP-Decke hatte man über ihn gebreitet. Während der Anästhesist und der Rest des OP-Teams mit dem Tisch auf einer Lafette in den Saal fuhr, blieb der Hubschraubernotarzt mit seinem Rettungsassistenten, der die Trage von den blutigen Auflagen befreite und alles mit Desinfektionslösung abwischte, noch einen kurzen Moment in der Schleuse stehen. Er wünschte dem jungen Mann alles Gute, aber er hatte starke Zweifel, ob der das überleben würde und wenn ja, mit welchen Folgeschäden. Er ließ sein eigenes Tun nochmals vor seinem inneren Auge Revue passieren, aber er konnte keinen Fehler entdecken. Er hatte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und nun konnte man nur noch hoffen und beten. Während der Notarzt und der Sanitäter nun langsam zum Hubschrauber gingen, um den letzten Einsatz des heutigen Tages abzuschließen, hing jeder seinen Gedanken nach. Als sie in den Aufzug stiegen, begann nun im OP der weitere Kampf um Ben´s Leben-mit ungewissem Ausgang.

  • Sarah und Semir, die sich inzwischen wieder ein wenig gefangen hatten, wurden von der Chefin zur Seite geführt. „Sind sie in noch irgendeiner Weise von den Entführern verletzt worden? Soll der Arzt sich das mal ansehen?“ fragte Frau Krüger und wies auf Sarah´s blutunterlaufene Lippe, aber die schüttelte den Kopf. „Weiter haben die mir nichts getan, ich muss jetzt so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu Ben!“ sagte sie entschlossen und Semir nickte zustimmend. „Genau da muss ich jetzt auch hin!“ und schon machte er sich gefolgt von Sarah auf den Weg zu seinem BMW, während die Chefin den beiden kopfschüttelnd nachblickte.


    Als sie in der Uniklinik ankamen, erfuhren sie, dass Ben bereits im OP war. Sarah schleppte Semir zunächst mit auf „ihre“ Intensivstation, wo sie die Kollegen freundlich und überrascht über ihr Aussehen begrüßten. „Wie geht´s dir denn-wir haben uns schon gewundert, warum du dich nicht krank gemeldet hast!“ sagte die Kollegin, die Ben angerufen hatte. Man hatte Gott sei Dank kurzfristig einen Ersatz bekommen und so lief der Dienstbetrieb seinen gewohnten Gang und bald würde die Nachtschicht übernehmen. Nun war es wieder mal soweit, dass Sarah die Tränen kamen. „Ich wurde heute Mittag entführt und jetzt liegt mein Freund, der mich befreien wollte, schwerverletzt im OP und wir wissen nicht, ob er überlebt!“ schluchzte sie und jetzt sahen die Kollegen sie völlig entsetzt an. Sie wurde in den Arm genommen und getröstet und bis sie und Semir sich versahen, saßen sie im Stationszimmer mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand und eine Kollegin holte für Sarah, die ja immer noch am meisten Blutspritzer von sich und Ben auf der Kleidung hatte, Stationskleidung aus dem Schrank, die sie auf der Toilette gleich anzog.


    Der diensthabende Arzt hatte sich Sarah´s aufgeplatzte Lippe angesehen, aber gemeint, das würde so heilen und hatte danach gleich zum Telefon gegriffen und sich im OP nach der Lage erkundigt. „Sie haben gerade erst angefangen-sie halten uns auf dem Laufenden, Sarah. Bleibt einfach hier und wartet-die geben Bescheid, wenn die OP beendet ist, oder sich sonst irgendwelche Neuigkeiten ergeben!“ sagte er. Was er allerdings verschwieg war, dass sein Gegenüber am Telefon mit der Einschätzung der Situation sehr zurückhaltend gewesen war und Ben nur geringe Überlebenschancen eingeräumt hatte. Sarah würde das noch früh genug erfahren, jetzt musste sie erst einmal ein wenig runterkommen. Versorgt mit Schokolade und Keksen blieben Sarah und Semir im Stationszimmer sitzen, während die Kollegen die letzte Versorgungsrunde der Spätschicht machten und Semir dachte endlich daran, auch Andrea Bescheid zu sagen, die sich schon gewundert hatte, warum er, ohne sie zu informieren, noch nicht zuhause erschienen war. Auch sie war völlig entsetzt, als sie hörte, was geschehen war und wenn sie gekonnt hätte, wäre sie ebenfalls sofort ins Krankenhaus geeilt. Aber die Kinder schliefen und momentan machte es ja keinen Sinn, jetzt einen Babysitter zu organisieren-sie konnte für Semir und Sarah und am Allerwenigsten für Ben gerade irgendetwas tun, außer fest die Daumen zu drücken und so verblieben sie, dass Semir sie anrufen würde, wenn er etwas Neues wüsste.


    Im OP hatte man Ben inzwischen ans Narkosegerät gehängt und die ersten ungekreuzten Konserven seiner Blutgruppe in einem Druckbeutel angehängt und in ihn gepresst. Die ersten Blutwerte aus dem Labor, die telefonisch gemeldet wurden, waren katastrophal und eigentlich mit dem Leben nicht vereinbar. Man musste sich wundern, dass Ben den Transport in die Klinik überhaupt geschafft hatte und nachdem der Springer nur einmal grob Ben´s Rücken mit farbiger Desinfektionslösung abgestrichen und noch eine Erdungselektrode auf den Oberschenkel geklebt hatte, kam ein großes, steriles Abdecktuch über ihn und die drei Operateure begannen ihre schwierige Arbeit.

  • Zunächst blickte der leitende Chirurg fragend zum Anästhesisten. „ Meinst du, er verkraftet es, wenn wir jetzt anfangen und die Tücher beginnen rauszunehmen? Es könnte durchaus passieren, dass es wieder stark blutet!“ sagte er zum Narkosearzt, der sich inzwischen einen Assistenzarzt geschnappt hatte, der die Bedsidetests der Blutkonserven machen sollte und ihm zur Hand gehen. Die Anästhesieschwester hatte nämlich genug damit zu tun, verschiedene Medikamente aufzuziehen und Perfusoren vorzubereiten. Außerdem versuchte man trotzdem, zumindest einen weiteren Zugang zu legen, denn wenn das Schläuchlein an Ben´s Hals verrutschte, dann war es vorbei und nachdem das ja kein zentraler Venenkatheter war, den er eigentlich dringend brauchte, der aber in Bauchlage nicht zu legen war, bestand jederzeit die Gefahr.

    Der Narkosearzt warf einen Blick auf den Monitor des Narkosegeräts. „Der Blutdruck ist zwar nur bei 70/40, aber wir versuchen ihm weiter Konserven und Volumen anzubieten, in der Hoffnung, das bessert sich noch. Ich denke, wenn du jetzt nicht anfängst, dann kippt die Situation in Kürze und dann brauchst du gar nichts mehr machen, also los!“ sagte er und der Operateur, der genau auf diesen Startschuss gewartet hatte, begann nun vorsichtig das erste Tuch herauszuziehen. Wider Erwarten passierte erst einmal gar nichts und erst als das dritte Tuch aus der Wunde entfernt wurde, begann es plötzlich heftig zu bluten. Einer der Assistenten saugte das austretende Blut ab. Leider konnte man es nicht im Cellsaver waschen und Ben wieder zuführen, denn die Wunde war ja durch Betonstaub und Straßenschmutz verunreinigt, so dass man da eine Sepsis riskiert hätte.


    Der Operateur fasste blitzschnell das Gefäß, das so geblutet hatte mit einer Klemme und schon hörte an dieser Stelle die Blutung auf. Nachdem es ein größeres Blutgefäß war, setzte man eine Ligatur, also eine Unterbindung mit einem auflösbaren Kunststofffaden darum, der allerdings schon einige Tage stabil blieb, bevor er vom Körper resorbiert wurde. Kleinere Hautgefäße wurden elektrisch verschorft und so arbeitete man sich Zentimeter für Zentimeter weiter vor. Nach wie vor presste der Anästhesist zusammen mit seinen beiden Helfern eine Blutkonserve nach der anderen in seinen Patienten und langsam stieg der Blutdruck und als man aus der neuen Nadel, die inzwischen der Anästhesieschwester beim zehnten Versuch gelungen war in Ben´s Ellenbeuge zu legen, eine Blutprobe entnahm, war das Hämoglobin, dessen Normwert bei 12-18 mg/dl war und das initial bei der ersten Messung im Krankenhaus nur bei 3,1 gelegen hatte, inzwischen wieder bei 7.9 angelangt, einem Wert der durchaus mit dem Leben vereinbar war.


    Man stoppte nun momentan die Massentransfusion mit ungekreuztem Fremdblut, da man wusste, dass die Gefahr einer Transfusionsreaktion ja immer bestand und die hätte Ben mit Sicherheit nicht überlebt. Beim Bedsidetest wurde nur am Bett des Patienten die Blutgruppe der Konserve mittels Testseren aus Antikörpern auf einem vorgefertigten Serenkärtchen AB0 bestimmt, aber beim sogenannten Kreuzen verrührte man im Labor einen Tropfen Blut des Spenders und des Empfängers und schaute sich unterm Mikroskop an, ob es dabei zu Verklumpungen kam, da ja noch andere Blutbestandteile, als rein die Blutgruppe, zu Unverträglichkeiten führen konnte. Allerdings dauerte das Einkreuzen etwa 30 Minuten und das war eine Zeit, die man primär nicht gehabt hatte. Jetzt allerdings standen gekreuzte Konserven zur Verfügung und auch die ersten Gefrierplasmen seiner Blutgruppe waren aufgetaut. In den Erythrozytenkonzentraten waren nämlich schwerpunktmäßig rote und weiße Blutkörperchen vorhanden, während in den tiefgefrorenen Plasmabeuteln die flüssigen Blutbestandteile, in denen ja auch die Gerinnungsfaktoren waren, zur Verfügung standen. Die wurden nach dem Trennen in kleinen Plastikbeuteln tiefgefroren und standen im Krankenhaus in größeren Mengen zur Verfügung, da man sie problemlos 1,5 Jahre bei Minus 40° C aufbewahren konnte. Die ersten beiden lauwarmen Gefrierplasmen tropften nun in Ben und nun sagte der Springer, also der unsterile, zuarbeitende OP-Pfleger, der Sarah sehr gut kannte und dem Intensivarzt ja versprochen hatte, sie auf dem Laufenden zu halten, kurz telefonisch auf der kardiologischen Intensiv Bescheid, wo Sarah und Semir gespannt auf jedes Telefonklingeln lauschten. Der Intensivarzt war rangegangen und sagte lächelnd zu Sarah und Semir: „Sie sind zwar noch mitten in der Operation, aber momentan haben sie ihn leidlich stabil, was sie vorhin nicht zu hoffen gewagt hatten!“ Sarah schluchzte erleichtert auf und sie und Semir saßen weiterhin aneinandergeklammert da und warteten auf das Ende der Operation.

  • Der Operateur arbeitete sich nun zügig vor. Bald hatten sie die zerfetzte Haut-und Muskelschicht hinter sich gelassen und dabei alle Blutungen gestillt, so dass man große, breite Wundhaken einsetzen konnten, mit denen der zweite Assistent nun die Wunde auseinanderzog. Als Ben´s Herzfrequenz sich wieder beschleunigte und ein erhöhter Muskeltonus merkbar wurde, erhöhte der Anästhesist das Narkosegas und gab ein längerwirkendes Muskelrelaxans, damit die Operateure ungestört arbeiten konnten, denn es war nicht damit zu rechnen, dass die Operation in kurzer Zeit beendet werden konnte.


    Als man das nächste durchweichte Bauchtuch entfernte, zog der Chirurg scharf die Luft ein, denn nun war erst das ganze Ausmaß der Leberverletzung sichtbar. Auch waren jetzt die Klemmen zu sehen, die die beiden Notärzte an die großen Lebergefäße gesetzt hatten. Wenn sie das nicht getan hätten, würde ihr Patient nicht hier liegen, sondern wäre an Ort und Stelle verblutet! Schon wieder begann es diffus an verschiedenen Stellen zu sickern und als man nochmals ein Bauchtuch herauszog-das letzte, stieg plötzlich eine Blutfontäne nach oben, die die Schutzbrillen der Operateure, obwohl sie die Köpfe wegdrehten, mit feinen roten Spritzern überzog. „Saugen!“ befahl der leitende Chirurg und während der zweite Assistent sich bemühte die Wundränder weit auseinanderzuziehen, um eine Übersicht zu bekommen, schlürfte der Sauger wieder große Mengen Blut, während der Chirurg verzweifelt versuchte, das spritzende, arterielle Gefäß mit einer Klemme zu packen. Auch die OP-Schwester stand angespannt daneben und reichte verschieden lange und unterschiedlich geformte Klemmen an, die der Chirurg vergeblich versuchte anzusetzen. Der sehr erfahrene Chefchirurg blieb äußerlich völlig ruhig, obwohl er zu fürchten begann, hier eine unstillbare Blutung vorzufinden. Das Lebergewebe war im Bereich dieses Lappens vom Betonfremdkörper völlig zerfetzt und gequetscht und vermutlich würde es auch nicht aufhören zu bluten, wenn er dieses eine Gefäß unterbunden hatte.


    Ben´s Blutdruck begann wieder zu sinken und als die Blutsäule im Sauger weiter und weiter anstieg, begann der Anästhesist, der kurz aufgestanden war und über das Abdecktuch einen Blick in das Operationsgebiet geworfen hatte, wieder damit Blutkonserven mit Druck in Ben zu pressen. Zusätzlich bekam er nun verschiedene Gerinnungsfaktoren gespritzt, man hängte Kurzinfusionen mit Vitamin K und C an, denn auch die hatten einen Part in der sogenannten Gerinnungskaskade und wurden in der Leber, die die Faktoren normalerweise herstellte, benötigt. Die diffusen Blutungen wurden daraufhin auch weniger , aber das Gefäß, das in dem zerfetzten Gewebe nicht greifbar war, sprudelte munter vor sich hin, so dass der Chirurg gezwungen war, wieder ein frisches Bauchtuch daraufzudrücken, um durch den Druck die Blutung wenigstens teilweise zum Stehen zu bringen.


    „Ich werde eine Leberlappenresektion vornehmen. Ich habe das zwar noch nie von hinten gemacht, aber wenn wir ihn jetzt umdrehen und von vorne aufmachen, vergeht zu viel kostbare Zeit!“ beschloss der Chirurg. Der zweite Assistent, ein junger Assistenzarzt, hatte sowas noch nie gesehen und einerseits war er sehr gespannt, wie das ablaufen würde, aber andererseits hatte er auch richtig Angst davor, dass zum ersten Mal in seinem Leben ein Patient unter seinen Händen, während der OP, wegsterben könnte.
    „Blutdruck fällt, jetzt musst du anfangen, sonst macht das alles keinen Sinn mehr!“ befahl der Narkosearzt und der Chirurg straffte seinen Rücken, atmete tief durch und ließ sich dann das elektrische Messer geben. Hoffentlich funktionierte das, sonst war es um ihren Patienten geschehen!

  • Um sich ein wenig abzulenken fragte Semir Sarah: „Weißt du eigentlich, wo du gefangen gehalten worden bist?“ und war sehr erstaunt, als die nickte. „Doch, ich war in Chorweiler in einem Block. Da hatten sie den Keller wie ein Gefängnis umgebaut. Auf dem Hinweg hatten sie mir zwar die Augen verbunden, aber am Rückweg konnte ich alles sehen-ich weiß zwar die genaue Adresse nicht, aber ich würde das sofort wiederfinden!“ sagte sie. Nun grübelte Semir, was das wohl zu bedeuten hatte. Sharpov hatte seine Deckung völlig fallengelassen und so dumm würde er vermutlich nicht sein, dass er dachte, mit seinem Einfluss könnte er diese schwerwiegenden Verbrechen wie Mordversuch, Anstiftung zum Mord, Entführung und Körperverletzung unter den Tisch kehren. Das funktionierte vielleicht in seiner Heimat, aber die Bundesrepublik Deutschland war ein Rechtsstaat und keine Bananenrepublik. Also blieb als logische Schlussfolgerung, dass er bereits im Vorhinein seine Flucht geplant hatte.


    Er griff zum Telefon und rief als erstes die Chefin an. „Frau Krüger, wie steht´s mit der Hausdurchsuchung und wurde Sharpov schon geschnappt!“ wollte er von ihr wissen. Die stellte erst einmal die Gegenfrage: „Wie geht´s Ben?“ „Der wird immer noch operiert. Vor etwa 15 Minuten haben wir die Mitteilung gekriegt, dass er einigermaßen stabil ist und jetzt warten wir, bis er aus dem OP kommt!“ erklärte nun Semir. „Wir sind gerade in der Villa, aber das sieht so aus, als wäre der Vogel ausgeflogen. Die ganzen PC´s und Geschäftsunterlagen fehlen, die Einrichtung ist zwar noch da, aber viele persönliche Gegenstände sind verschwunden, ein Teil von Sharpov´s Kleidung und so manches andere. Wir haben Irina hergeholt, die hat uns sogar ein Geheimzimmer gezeigt, in dem er anscheinend den Drogenhandel organisiert hat, aber nicht einmal da ist etwas Verwertbares zurückgeblieben. Wenn wir nur einen Hinweis hätten, wo wir nach ihm suchen sollten-so wie es aussieht ist er einfach untergetaucht und hat das auch von langer Hand vorbereitet! Wir haben sein offizielles Handy geortet, aber das hatte ein Obdachloser in der U-Bahnstation in einem Mülleimer gefunden-der Kerl ist schlau, ich hoffe nur, dass wir ihn schnappen können!“ sagte die Krüger.


    „Sarah kann uns auch genau zeigen, wo sie gefangengehalten wurde. Das ist sehr merkwürdig, denn ich hätte auch nicht gedacht, dass sich der so aus der Deckung begibt-ihm muss doch klar sein, dass er für viele Jahre in den Knast wandert, wenn wir ihn geschnappt haben und da kann er sicher sein-ich werde nicht aufhören, ihn zu suchen und ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen, was er Ben angetan hat!“ schwor Semir.
    Nun sagte Sarah auf einmal: „Der Flughafen-Sharpov ist am Flughafen! Ich habe gehört, wie er es gesagt hat, als wir in Chorweiler weggefahren sind! Er hat zu seinen Bodyguards etwas von Lear-Jet und Köln-Bonner Flughafen gesagt!“ Nun starrte Semir sie fassungslos an. Mann, da hatte Sarah so eine wichtige Information und hatte einfach vergessen, ihnen das mitzuteilen. Andererseits konnte er es auch wieder verstehen-die war so auf Ben fokussiert, dass ihr momentan alles andere unwichtig erschien. „Chefin haben sie gehört!“ schrie Semir fast ins Telefon, das ja immer noch mit Frau Krüger verbunden war. „Wir fahren sofort dahin und ich versuche auch zu erreichen, dass sein Jet keine Starterlaubnis bekommt, wenn er nicht schon weg ist, ich hoffe, wir schnappen ihn!“ sagte die Dienststellenleiterin und legte auf.

    Semir zögerte kurz. Was sollte er tun? Sollte er bei Sarah dableiben und warten, bis sein Freund aus dem OP kam. Gut, sie hatten gesagt, dass er stabil sei und er würde sicher danach noch eine Weile schlafen. Außerdem war ja Sarah bei ihm, er würde also nicht alleine sein, wenn er aufwachte. Sollte er-oder sollte er nicht? Was würde Ben in seiner Situation tun? Vor seinem inneren Auge erschien Ben, der sagte: „Los Semir-schnapp dir das Schwein! Das geht nicht an, dass der ungeschoren davonkommt-ich will den in Ossendorf versauern sehen und nicht in Russland im Luxus untertauchen!“ und Semir sprang kurzentschlossen auf. Sharpov´s Villa lag auch genau am entgegengesetzten Ende von Köln-er hatte Luftlinie viel näher zum Flughafen und nachdem es jetzt Nacht war, würde der Verkehr durch die Innenstadt auch keine allzu große Rolle mehr spielen. Vielleicht ging es genau um diese paar Minuten, die er eher dort sein könnte, als die Chefin und ihr Gefolge.


    „Sarah-ich fahre zum Flughafen und versuche Sharpov festzunehmen. Ich komme sobald wie möglich wieder zurück. Ruf mich an, wenn du etwas Neues erfährst!“ rief er noch und packte schon seine Jeansjacke und rannte aus dem Stationszimmer. Sarah´s Kollegen, die den letzten Durchgang der Spätschicht beendet hatten, sahen ihm verwundert nach, setzten sich aber dann zu ihrer Freundin und versuchten sie ein wenig zu trösten und abzulenken. Während Ben im OP um sein Leben kämpfte, machte sich Semir, verbissen wie ein Terrier, auf, seinen Freund zu rächen.

  • Der Chirurg hatte inzwischen das elektrische Messer angesetzt, das nun zischend durch das Lebergewebe fuhr. Der Vorteil daran war, dass so gleichzeitig das zerstörte Organteil abgetrennt wurde und die kleinen Blutgefäße dabei in einem Aufwasch verschweißt wurden. Trotzdem standen die Blutungen nicht sofort, sondern es lief an mehreren Stellen immer noch in kontinuierlichem Strom der rote Saft aus dem Organ, um dann abgesaugt im Sauger zu landen. Der Anästhesist war inzwischen bei der insgesamt 15. Blutkonserve angekommen und hatte im Labor gleich nochmals 5 nachkreuzen lassen. Allerdings gelang es nun die großen Gefäße so zu verschließen, dass sie Ruhe gaben und als der Chirurg nun vorsichtig nach weiteren Verletzungen und Blutungen sah, konnte er nichts mehr feststellen.

    „Bitte den Fibrinkleber vorbereiten!“ bat er die instrumentierende Schwester, die sich das Gewünschte auch gleich vom Springer anreichen ließ. Dieser Kleber bestand aus körpereigenem Material, also Fibrin, musste auch als Fremdeiweiß dokumentiert werden, aber er hatte fast dieselben Eigenschaften wie Pattex. Man konnte damit Körpergewebe kleben und eben auch Blutgefäße verschließen, die sich wegen der Schwammigkeit des Organs sonst weder unterbinden noch umstechen ließen. Der Operateur trug den nun flächig auf und es gelang ihm so auch, die kleinen Blutungen weitgehend zum Stehen zu bringen. Danach musste er zwar die Handschuhe wechseln, weil auch die klebrig waren, aber der Spezialkleber hatte seinen Dienst getan.


    Auch der Anästhesist drängte nun zur Eile. Obwohl Ben ja auf einer warmen Gelunterlage lag und gut zugedeckt war, zeigte die Temperatursonde, dass er ziemlich ausgekühlt war, was wiederum zu Herzrythmusstörungen führen konnte. Die Anästhesieschwester hatte zwar versucht mittels eines Spezialgebläses um die Schultern des Patienten ein wenig Wärme in ihn zu bringen und die laufenden Infusionen kamen alle aus dem Wärmeschrank, aber die kalten Blutkonserven senkten seine Temperatur immer weiter. Wenn man Blut langsam verabreichte, wie es normalerweise üblich war, bestand die Möglichkeit den Schlauch , durch den es in den Patienten floss, zu wärmen, so dass es mit 37°C ankam, aber leider versagte diese Methode bei der sogenannten Massentransfusion, die Ben erhalten hatte. „Es wird langsam Zeit, dass wir ihn in ein Bett und auf die Intensiv bringen, viele Reserven hat er nicht mehr!“ erklärte der Narkosearzt und der Operateur nickte folgsam. Er hatte eigentlich nicht gedacht, dass es klappen würde und wenn er das zerfetzte Leberstück ansah, das inzwischen bei der OP-Schwester in einer Edelstahlschale auf dem Instrumententisch lag, dann war er froh, sich für diese Vorgehensweise entschieden zu haben. „Hat der Patient nun Nachteile zu befürchten, weil ein Teil seiner Leber entfernt wurde?“ wollte der junge Assistenzarzt, der immer noch gewissenhaft und gefühlvoll die Haken hielt, wissen. Das würde einen Muskelkater geben! Fast eine Stunde in einer äußerst unphysiologischen Haltung am Tisch zu stehen und teilweise auch mit Kraft die stumpfen Roux-Haken auseinanderzuziehen war eine Leistung für sich. Allerdings hatte er so einen Adrenalinausstoß gehabt, dass er seine körperliche Erschöpfung gar nicht so richtig gespürt hatte. Bei einer Baucheröffnung von vorne hätte man einen Rahmen verwenden können, an dem die Haken eingehängt wurden, aber bei diesem Zugang war das leider nicht möglich.


    Der Operateur antwortete nun dem jungen angehenden Chirurgen. „Ich denke nicht, dass da von der Leber her Spätschäden auftreten. Wenn man eine Leberlappentransplantation vornimmt haben die Spender auch keine Nachteile zu befürchten, aber die nächsten Stunden und Tage werden jetzt zeigen müssen, ob unser Patient dieses große Trauma überleben kann. Auch wenn die Blutung jetzt momentan steht, ist er noch nicht überm Berg. Da kann noch so viel kommen, aber das werden unsere Anästhesisten und Intensivmediziner schon im Griff haben!“ sagte er mit einem Lächeln und begann nun schichtweise den Wundverschluss, beginnend mit einer Naht am Zwerchfell. Auch die gut ausgeprägten, aber teilweise eben auch zerfetzten Rückenmuskeln wurden sorgfältig vernäht. „Da wird er noch viel Rückengymnastik und Massagen brauchen, bis das ganze System wieder problemlos funktioniert, aber das ist erst mal Zukunftsmusik!“ sagte der Operateur und machte zügig fertig. Einige Drainagen wurden noch eingelegt und der Narkosearzt, der mehrmals einen Blick auf den Urinbeutel geworfen hatte, atmete auf. „Der wenige Urin, der während der Operation gekommen ist, ist nur leicht blutig, also gehen wir momentan nur von einer Nierenkontusion aus. Wir werden da mit Ultraschall auf Station gründlich nachschauen, aber anscheinend blutet er zumindest nicht akut ins Nierenbecken!“ informierte er den Operateur, der nun ebenfalls aufatmete. Eine weitere Operation durch den Urologen hätte sein Patient fast mit Sicherheit nicht mehr überstanden!
    Endlich wurde ein dicker Verband angelegt, mehrere Drainagebeutel angeschlossen und nun rief man die chirurgische Intensivstation zur Abholung ihres beatmeten Polytraumapatienten an.


    Semir war inzwischen mit Vollgas und Blaulicht die 18 Kilometer zum Flughafen gerast. Hoffentlich war er noch nicht zu spät!

  • Von unterwegs hatte Semir mit der Chefin über sein bluetooth-System konferiert. „Was sagen die am Flughafen? Ist Sharpov´s Maschine noch am Boden?“ wollte er wissen. „Semir, anscheinend im Augenblick schon noch, leider wurde die Starterlaubnis schon erteilt und die Maschine befindet sich gerade auf dem Weg zur Startbahn Nr.2!“ erklärte ihm die Chefin. „ Ich habe schon versucht, die Flughafenbetreiber vor Ort zu einem Eingreifen zu bewegen, aber bis da eine offizielle Anordnung ergeht, kann das Stunden dauern und bis dahin ist Sharpov schon lange in der Luft. Wir werden natürlich sofort versuchen, in Almaty ein Auslieferungsgesuch zu stellen, aber ob das klappt, wissen wir leider nicht!“ informierte ihn die Chefin. Semir, der inzwischen am nächtlichen Flughafen angekommen war, sah den Learjet langsam zur Startbahn 2 rollen. Wenn er jetzt versuchte, mit offiziellen Mitteln eine Zufahrtserlaubnis zum Flughafen zu erreichen, dann wäre Sharpov weg und Semir war sich sicher, dass dem in Kasachstan nichts passieren würde-zu reich und einflussreich war er geworden. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, ihn für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und das war, jetzt den Start des Jet´s zu verhindern. Nachdem er sich kurz orientiert hatte, setzte Semir ein wenig zurück, um dann mit Vollgas auf einen Lieferweg zum Flughafen zuzuhalten, der von einem nicht sehr massiven Maschendrahttor verschlossen wurde. Es knallte, als er mit Vollgas das Tor mitnahm und damit auch schon auf dem Flughafengelände war. Hinter ihm begannen Sirenen zu heulen, aber Semir war schon auf dem Weg zum nächsten Tor, das die Start-und Landebahnen vom Rest des Flughafens abtrennte. Draußen sprangen aufgeregt gestikulierende Sicherheitsleute in ihre bereitstehenden Fahrzeuge, der Fluglotse versuchte den bereits begonnenen Start des Learjets und aller anderen Flugzeuge, die für einen vormitternächtlichen Nachtflug vorgesehen waren, abzubrechen, aber der russische Pilot tat so, als hätte er nicht gehört und begann gerade, das Flugzeug zu beschleunigen.


    Semir presste die Kiefer zusammen, schaltete auf den dritten Gang herunter und drückte, parallel zum Jet fahrend, das Gaspedal voll durch. Der Pilot sah überrascht, wie unter, bzw. neben ihm ein silberner BMW Fahrt aufnahm und bei der Beschleunigung sogar mithielt. Bevor er weiter reagieren konnte, rummste es plötzlich und der BMW war voll in das Fahrwerk des Jets gefahren. Es quietschte und ruckelte, die Passagiere des Jets wurden ordentlich durchgeschüttelt, aber dem Piloten blieb nichts anderes übrig, als nun voll auf die Bremse zu steigen und den Start abzubrechen. Sharpov hatte aus dem Fenster gesehen und erkannt, wer ihn da verfolgte. „Schnell, zieht den BMW aus dem Fahrwerk, erledigt den Fahrer, wenn das noch nötig ist und macht dann den Jet wieder starttüchtig!“ brüllte er seine Bodyguards an, die sich wieder abschnallten und nun ungeduldig warteten, dass der Pilot ihnen die Türen des Jets öffnete und sie das Flugzeug verlassen konnten.


    Während der Anästhesist, sein helfender Assistenzarzt und die Narkoseschwester Ben vorsichtig zur Schleuse rollten, griff der Springer, der danach den OP aufräumen und für die nächste Operation, eine Appendektomie, vorbereiten musste, noch kurz zum Telefon. „Die OP ist beendet, Herr Jäger wird jetzt auf die Intensivstation gebracht und ist gerade leidlich stabil!“ teilte er dem Intensivarzt der Inneren mit, der das auch gleich an Sarah weitergab. Die sprang, wie von der Tarantel gestochen, auf und raste zur Schleuse um ihren Freund mit in Empfang zu nehmen.


    Ihre Kollegen von der chirurgischen Intensivstation, die mittels Krankenhausbuschtrommel schon gehört hatten, dass Sarah´s Freund bei einem Polizeieinsatz schwer verletzt worden war und nun zu ihnen kommen sollte, begrüßten sie freundlich. Gespannt wartete Sarah mit ihren Kollegen darauf, dass der Schleusentisch herüberfuhr und ihr den wichtigsten Menschen in ihrem Leben näher brachte. Die abholenden Kollegen hatten einen Transportmonitor, ein tragbares Beatmungsgerät und mehrere Perfusoren mitgebracht. Während die Gurte gelöst wurden, die Ben bisher in Bauchlage auf dem Tisch festgehalten hatten und dann das Fließband unter ihn fuhr, machte der Anästhesist die ärztliche Übergabe an seinen abholenden Kollegen. „33jähriger Patient, wurde bei einem Sturz von einem Betonkonus gepfählt, dabei kam es zu schweren Leberverletzungen, so dass eine Leberlappenresektion nötig wurde. Er ist kreislaufinstabil, hat eine Massentransfusion mit insgesamt 16 Erythrocytenkonzentraten gebraucht, 6 FFP´s, 2000 Einheiten PPSB, AT3 und die ganze Latte an Vitaminen hat er schon bekommen. Initial war das Hb nur bei 3,1, bei der letzten Kontrolle waren wir bei 7,2. Er hat zusätzlich noch eine Nierenkontusion, so wie es aussieht eine Lungenquetschung und wird momentan mit 50% Sauerstoff kontrolliert beatmet.
    Einen Streifschuss an der Hüfte haben wir nur verbunden, den müsste man beobachten, der ist aber nicht tief und ich muss mich entschuldigen, ich konnte leider durch die Bauchlage weder eine Arterie noch einen ZVK legen, wir haben Gott sei Dank einen großen peripheren Zugang vom Notarzt in der vena carotis externa liegen und haben es noch geschafft in der Ellenbeuge einen zweiten zu legen, aber jetzt müsst ihr ihn erst mal aufwärmen, die letzte gemessene Temperatur war nur bei 33,6°C!“ informierte er den Kollegen.


    „Wir werden ihn schon noch vollständig verkabeln, keine Sorge, aber jetzt muss er sich erst einmal ein wenig stabilisieren!“ sagte der aufnehmende Intensivarzt und übernahm mit behandschuhten Händen Ben´s Kopf zur Stabilisierung und hielt dabei den Tubus eisern fest, damit der beim Umlagern nicht herausrutschte. Dann steckte sein eigenes Beatmungsgerät darauf und die Schwester der chirurgischen Intensiv wechselte noch schnell die Überwachungskabel auf das stationseigene Gerät. Sehr vorsichtig hatte man Ben nun in Seitenlage ins vorgewärmte Bett gleiten lassen und steckte gleich ein Lagerungskissen in seinen Rücken, damit er in Seitenlage transportiert werden konnte. Sarah, die einerseits entsetzt war, als sie das furchtbar niedrige Hb gehört hatte, aber andererseits heilfroh war, dass ihr Schatz noch lebte, deckte ihn schnell zu und schon ging die Fahrt zur Intensivstation los.

  • Semir öffnete benommen die Augen. Das Erste, was er sah war, dass sein neuer, silberner BMW, den er erst wenige Wochen zuvor nach einem Totalcrash bekommen hatte, nur noch ein Haufen verbeultes Blech war. Er war mit vollem Tempo schräg in das Fahrwerk des Lear-Jets gefahren und hatte dieses geschrottet. Befriedigt konstatierte er, dass Sharpov mit diesem Flugzeug wohl im Augenblick nirgendwohin mehr fliegen würde. Der Motor des BMW war ausgegangen, aber weil alle Airbags sich geöffnet hatten und er sich auch beim Aufprall bewusst steif gemacht hatte, war ihm außer Prellungen anscheinend nichts passiert, wie er nach einem kurzen Check seinerseits feststellen konnte. Hoffentlich würde die Chefin das verstehen, dass er keine andere Möglichkeit gehabt hatte, Sharpov aufzuhalten-und was war schon ein geschrottetes Auto gegen die Festnahme eines Drogendealers und Mörders?


    Konzentriert versuchte er sich abzuschnallen, denn der Gurt saß noch straff an ihm und hatte ihn zuverlässig im Sitz gehalten. Nur gab er jetzt keinen Millimeter nach und das Gurtschloss war anscheinend auch verbogen. Während er noch am Verschluss rüttelte, sah er plötzlich, wie über ihm die ausklappbare Gangway herunterfuhr und nun verstärkte er seine Bemühungen, frei zu kommen. Vermutlich würde Sharpov wissen, dass er verloren hatte und nun seine Anwälte ans Werk lassen, aber so hundertprozentig traute er ihm nicht. Vier paar Beine, gekleidet in Jeans, kamen eilig die Gangway herunter und was Semir nun den Schweiß auf die Stirn trieb, war der Anblick der Waffen, die sie alle vier in den Händen hielten. Verdammter Mist, anscheinend war Sharpov doch nicht bereit, sich kampflos zu ergeben! Verzweifelt rüttelte er an seinem Gurtschloss, aber gerade als er merkte, dass es nachgab, hörte er, wie eine Waffe entsichert wurde und erstarrte in seinem Sitz zur Salzsäule.


    Ben war inzwischen auf der chirurgischen Intensiv angelangt. Der behandelnde Arzt überlegte kurz, ob es eine gute Idee war, seine Freundin bei der Versorgung mithelfen zu lassen, aber aufseufzend konstatierte er, dass er bei einem Verbot seinerseits vermutlich das komplette Pflegepersonal gegen sich haben würde und darum hoffte er, dass Sarah´s Professionalität Oberhand vor ihren Emotionen behalten würde.


    Das Bett wurde auf seinen Bettplatz gefahren und erst einmal hängte man den Patienten an das stationäre Beatmungsgerät um, das einfach viel feiner eingestellt werden konnte, als das transportable. Der Transportmonitor wurde in die Halterung am Kopfende des Bettes gesteckt und meldete sich selbstständig am Hauptgerät an, so dass alle Daten aufgezeichnet und gespeichert wurden. Um Ben´s Oberarm war eine Blutdruckmanschette geschlungen, die alle 5 Minuten den Blutdruck maß, allerdings begannen wegen der jedesmal unterbrochenen Durchblutung nun seine Finger auf dieser Seite schon blau zu werden. Er brauchte auf jeden Fall bald eine Arterie und einen ZVK, aber als der Arzt nun auf dem Monitor die aktuelle Körpertemperatur sah, die über ein Datenkabel am Blasenkatheter aus dem Körperinneren übermittelt wurde, zeigte die nur noch 33°C an und solange sein Patient nicht mindestens 35°C Körpertemperatur erreicht hatte, würde er gar nichts machen! Die Pflegekräfte hatten an die verschiedenen Drainageklebebeutel auf Ben´s Rücken schnell sterile Ablaufbeutel angebracht und in Halterungen unten ans Bett gehängt, damit man die Wundsekretion beurteilen konnte und dann wurde Ben nur noch warm zugedeckt und das sogenannte Thermacair, ein Warm-oder Kaltluftgebläse, das stufenweise von 25°C bis 42°C eingestellt werden konnte, unter seine Decke gesteckt. Während die 42°C warme Luft nun von unten die Zudecke bauschte, hatten die Pflegekräfte einen Stuhl für Sarah neben das Bett gestellt und bedeuteten ihr, sich jetzt dorthin zu setzen und Ben´s Hand zu halten.


    Der hatte sich kurz geregt und sogar die Augen einen kleinen Spalt geöffnet, ohne aber bewusst irgendetwas um sich herum wahrzunehmen. Eine Pflegekraft hatte draußen inzwischen die Sedierungsperfusoren hergerichtet und nachdem der Blutdruck grenzwertig niedrig war, hatte man an die Nadel in der Ellenbeuge nun noch Arterenol, ein kreislaufstützendes Medikament, angehängt. Wenig später flossen das starke Schmerz-und Schlafmittel in Ben´s Venen und er schlief nun wieder ganz ruhig vor sich hin und ließ sich problemlos beatmen. Sarah saß angespannt neben ihm und hielt ganz fest seine eiskalte Hand. Auch wenn er sediert war, er würde ihre Anwesenheit spüren, sie wusste es! Der Arzt nahm aus einer Vene an der Hand noch Blut ab, damit man die aktuellen Laborwerte bestimmen konnte und dann löschte man erst einmal das grelle Licht und sorgte für eine angenehmere Beleuchtung, bis Ben soweit aufgewärmt war, dass man ihn weiter behandeln und verkabeln konnte.

  • Während er die Hand vom Gurtschloss nahm und blitzschnell nach seiner Waffe griff, die ja im Holster direkt daneben steckte, sagte der russische Bodyguard mit slawischem Akzent: „Das würde ich nicht tun!“ und hielt seinerseits seine entsicherte Waffe an Semir´s Schläfe. Der nahm beide Hände hoch und hoffte, dass er in einer Minute noch einen Kopf haben würde, da fuhren mit Blaulicht zwei Fahrzeuge der Flughafensicherheit an, blendeten ihre Scheinwerfer auf und fokussierten so die gespenstische Szene. Die Beleuchtung des Jets tauchte ebenfalls die Flugbahn und das geschrottete Fahrzeug in eine gespenstische Beleuchtung und als die Sicherheitsleute nun aus ihren Fahrzeugen sprangen und hinter denen in Deckung gingen, hörte Semir, wie einer hektisch ins Funkgerät rief: „Wir haben eine Geiselnahme!“ und dann wurde es gespenstisch still.


    Immer noch mit der Waffe am Kopf wurde Semir von den anderen drei grob aus dem Fahrzeug gezerrt und dann die Gangway nach oben geschleppt, ohne dass einer der Flughafensicherheitsleute zum Schuss kommen, oder sonst etwas unternehmen konnte. Semir hatte die vier Männer erkannt, die gerade dabei waren, ihn zu entführen. Es waren die Schützen, die Melanie erschossen hatten-nach ihren Fahndungsbildern waren sie für ihn klar zu erkennen. Da hatte er nicht mit Gnade zu rechnen, denn die hatten nichts zu verlieren.
    Kaum war er im Flugzeug angekommen, in dem sich außer Sharpov noch drei weitere russische Männer mit Verbrechervisagen und der Pilot befanden, wurde die Gangway wieder hochgefahren und die Tür zu seinem Gefängnis geschlossen. Sharpov baute sich drohend vor ihm auf und sagte mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme: „Guten Abend Herr Gerkan, lange nicht mehr gesehen!“ und schenkte ihm ein Haifischlächeln.


    Semir sah zu Boden und sagte gar nichts. Mann dass seine Aktion solche Folgen für ihn haben würde, hätte er sich in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen können! Während die Bodyguards ihn professionell an Händen und Füßen mit Kabelbindern fesselten und zusätzlich noch an einem Sitz festmachten, sagte Sharpov, der zunächst auf russisch mit seinen Männern ein paar Worte gewechselt hatte- vermutlich hatten sie ihm erklärt, dass mit diesem defekten Fahrwerk keiner mehr starten würde-nun zu ihm: „Jetzt werden wir mal sehen, was dem deutschen Staat einer seiner Beamten wert ist-ich würde sagen, sie sind mein Schlüssel zur Freiheit, willkommen an Bord!“ und setzte sich dann Semir gegenüber, der nun hilflos durch die Scheiben nach draußen sehen konnte, wie die Chefin mit weiteren Polizei- und Zivilfahrzeugen am Entführungsort eintraf und mit einigem Abstand zum Flugzeug mit Schutzweste gesichert aus dem Wagen sprang, erst mal dahinter in Deckung ging und sich versuchte, einen Überblick über die Situation zu verschaffen.


    Die ersten Fernsehkameras liefen an und berichteten im Liveticker auf allen Nachrichtenkanälen, mit Bild der gespenstischen Szene aus der Entfernung, von der Geiselnahme am Köln-Bonner Flughafen. Andrea, die um sich abzulenken bis ihr Semir über Ben´s Zustand Bescheid geben würde, den Fernseher eingeschaltet hatte, starrte fassungslos auf das Wrack von Semir´s BMW, an dem man noch das Kennzeichen erkennen konnte. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen, als sie im Hintergrund Frau Krüger, Bonrath und Jenni erkannte und sie wählte mit zitternden Händen Semir´s Handynummer. Im Fahrzeug begann der bekannte Klingelton zu ertönen,so dass die Sicherheitsleute verwundert hinsahen, aber Semir, dessen Handy da in der Halterung lag, ging natürlich nicht ran-wie sollte er auch-und Andrea wählte nun die Nummer der Chefin und sah im Fernsehen, wie die nach ihrem Telefon griff und kurz darauf am Apparat war. „Frau Krüger, sagen sie mir, dass es nicht wahr ist!“ rief Andrea mit zitternder Stimme ins Telefon, aber die Chefin sagte nur leise: „Leider doch, Andrea, leider doch!“


    Im Krankenhaus hatte Sarah ganz fest Ben´s Hand gehalten, als plötzlich ein roter Alarm an Ben´s Monitor losging. Immer langsamer schlug dessen Herz und während Sarah erschrocken aufsprang rollten ihre Kollegen schon den Notfallwagen herein und machten die helle Deckenbeleuchtung an. „Lieber Gott, bitte lass ihn nicht sterben!“ flehte Sarah, die vernünftigerweise nun einen Schritt zurückging und den Arzt und ihre Kollegen ihre Arbeit machen ließ.

  • Die nahmen als allererstes die Decke aus Ben`s Bett und drehten ihn auf den Rücken, damit man ihn notfalls reanimieren konnte. „0,5 mg Atropin!“ ordnete der Arzt an und eine der Schwestern zog es sofort auf und spritzte es in den Zugang an Ben´s Hals. Die Herzfrequenz betrug nur noch knappe 10 Schläge pro Minute und nun hob man den Patienten kurz an, um ein Reanimationsbrett unter seinen Rücken zu schieben. Sarah konnte nur denken: Gut, dass er es wenigstens nicht spürt-wie hätte das sonst wehgetan mit der harten Unterlage direkt an der frischen OP-Wunde. Als der Pulsschlag nochmals langsamer wurde, schlug der Arzt mit der Faust einmal mit voller Wucht mitten auf das Brustbein in den Solarplexus, das dort liegende Nervenbündel. Manchmal half so ein sogenannter präkardialer Faustschlag das Reizleitungssystem des Herzens wieder zu stimulieren und tatsächlich-war es dieser Schlag, oder wirkte das Atropin? Auf jeden Fall stieg die Herzfrequenz langsam wieder an. Erst bei 20, dann 30 Schläge pro Minute und dann pendelte sich die Frequenz so um die 80 ein.


    „Das war eine Sinusbradykardie, vermutlich wegen der Hypothermie!“ diagnostizierte der Arzt. „Bitte noch schnell ein EKG schreiben und dann wieder weitererwärmen!“ befahl er und nachdem eine Schwester das 12-Kanal-EKG geschrieben hatte, wurde das Brett wieder unter Ben herausgezogen, er selber auf die diesmal andere Seite gedreht und das Gebläse wieder unter die Zudecke gesteckt. Sarah, die immer noch zitternd in der Ecke stand und fix und fertig war, wurde wieder auf einen bequemen Stuhl neben ihren Freund gesetzt und das grelle Licht gelöscht. Als die Anspannung bei ihr nachließ, begann die Tränen zu fließen und während sie sich krampfhaft an Ben´s Hand festhielt , sagte sie leise zu ihm: „Du darfst mich nicht verlassen, hörst du, ich brauche dich doch!“ und immer wieder entrang sich ein Schluchzen ihrer Kehle. Ihre Kollegen brachten ihr eine Tasse heißen, gut gesüßten Tee und zwangen sie regelrecht, den zu trinken. Bei Ben blieb nun alles ruhig und langsam begann die Körpertemperatur zu steigen.


    Als sie bei 34°C angelangt war, beschloss Sarah es zu wagen und kurz zur Toilette zu gehen. Außerdem war ihr siedendheiß eingefallen, dass sie ja versprochen hatte, Semir Bescheid zu sagen, wenn Ben aus dem OP kam. Sie wählte seine Nummer, aber an sein Telefon ging nur die Mailbox ran. Ohne irgendetwas darauf zu sprechen, legte Sarah, ein wenig verwundert, wieder auf. Gut-Semir würde sicher zurückrufen, wenn er ihren Anruf im Speicher entdeckte. Nachdem sie sich kurz frischgemacht hatte, ging sie wieder zu ihrem Freund zurück, um ihm in diesen schweren Stunden nahe zu sein, egal, ob er es wahrnahm, oder nicht. Sie setzte sich wieder an sein Bett, legte den Kopf neben Ben auf die Decke und als wenig später ihre Kollegin ins Zimmer kam, musste sie fast lächeln, denn Sarah war in dieser, sicher sehr unbequemen Lage, einfach eingeschlafen. Leise verließ sie das Zimmer wieder. Die Überwachungsparameter waren soweit in Ordnung und jetzt konnte man sowieso nur warten, bis die 35°C erreicht waren, um dann die Verkabelung zu beginnen.


    Semir saß inzwischen weiter fest verschnürt auf seinem Sitz im Flugzeug und wartete voller Bangen, was als Nächstes geschehen würde. Während eilig der psychologisch geschulte Verhandlungsführer der Polizei herbeigerufen wurde, das SEK anrückte und nun der Flughafen gesperrt und weiträumig abgeriegelt wurde, überlegte Sharpov, wie er seine Verhandlungen am besten beginnen sollte. Er saß mit dem Polizisten als Geisel am längeren Hebel, aber nun musste bald etwas geschehen, bevor die Müdigkeit von ihnen allen Besitz ergriff. Außer für den Piloten, der ja vorgeschlafen hatte, war es für alle ein langer Tag gewesen. Aber er würde sich nicht kampflos ergeben, sondern noch diese Nacht nach Almaty zu seiner Frau und den Kindern fliegen-und er wusste auch schon, wen er noch mitnehmen würde!

  • Wenig später wurde er mit einem Megaphon aufgefordert, sich zu ergeben. Er reagierte nicht, sondern ließ sich von Semir die Handynummer der Chefin sagen, die der erstaunlicherweise sogar auswendig wusste. „Frau Krüger, ich spreche ausschließlich mit ihnen- sie können ihren Polizeipsychologen gerne wieder nach Hause schicken, ich falle auf so Psychogesülze nicht herein!“ teilte er ihr mit-er hatte sich das Handy eines seiner Mitarbeiter dafür geben lassen. Nach einer kurzen Pause, in der sie vermutlich das Handy auf Lautsprecher gestellt hatte, ertönte die Stimme der Chefin wieder. „Sharpov, wie geht es Herrn Gerkan? Ich will sofort mit ihm sprechen und ihn sehen, sonst können wir das Gespräch gleich abbrechen!“ sagte sie und der Polizeipsychologe verdrehte die Augen. Um Himmels Willen, das war doch keine psychologische Gesprächsführung!
    „Ich denke nicht, dass sie in der Position sind, Forderungen zu stellen, Frau Krüger, aber ich will mal nicht so sein!“ sagte er spöttisch und dann ertönte ein kleiner Schmerzensschrei, dessen Absender sie an der Stimme sofort erkennen konnte. „Lassen sie ihn sofort in Ruhe, Sharpov-wir können reden, aber wenn sie meinem Polizisten etwas antun, werden sie diesen Flughafen nicht lebend verlassen!“ rief die Chefin und der Psychologe raufte sich die Haare neben ihr. Du liebe Güte, diese Frau würde nie zu einem Verhandlungserfolg kommen, wenn sie so weitermachte und den Geiselnehmer provozierte!


    „Jetzt reden wir nicht mehr um den heißen Brei herum, ich verlange im Austausch für einen lebenden Mitarbeiter im Ganzen, ein Ersatzflugzeug, voll aufgetankt und ich hätte zusätzlich noch gerne meine liebe Irina, die sich sicher irgendwo da draußen bei ihnen rumtreibt. Sie wollte doch sowieso zurück in die Heimat, nun hat sie die einmalige Gelegenheit dazu! Und ich warne sie-versuchen sie nicht, mich hinzuhalten, oder zu veräppeln, ich beginne in einer halben Stunde damit, ihnen alle 10 Minuten, in denen nichts passiert ein Stück von Herrn Gerkan herauszuwerfen-wir werden mal mit seinen Fingern beginnen und uns dann langsam vorarbeiten!“ sagte er und Semir stellten sich die Nackenhaare auf. Das war keine leere Drohung, das war ihm klar. Du liebe Güte, ob er diese Situation irgendwie überleben konnte, ohne danach verstümmelt zu sein? Einer der Bodyguards holte in aller Ruhe ein großes Messer heraus und begann so zu tun, als würde er es schärfen, während er Semir mit sadistischem Grinsen beobachtete. „Wollen sie noch etwas sagen, Gerkan?“ fragte Sharpov und hielt Semir das Telefon an den Mund. „Chefin, bitte tun sie was er sagt, der macht neunmal ernst!“ teilte Semir verzweifelt mit und fing sich eine Ohrfeige von Sharpov ein. „Hier werden keine Informationen ausgetauscht! In Zukunft hältst du die Klappe!“ fauchte Sharpov und legte dann einfach auf.


    Andrea hatte in ihrer Verzweiflung Susanne daheim angerufen, die versprach, sofort zu kommen und auf die schlafenden Kinder aufzupassen. Die hatte bisher noch gar nicht mitgekriegt, was für ein Drama sich am Flughafen gerade abspielte. Als sie wenig später bei den Gerkan´s zuhause eintraf, setzte sich Andrea ins Auto und fuhr, alle Geschwindigkeitsregeln missachtend, durchs nächtliche Köln zum Flughafen. Hoffentlich war Semir noch nichts passiert!


    Im Krankenhaus hatte Ben´s Körpertemperatur inzwischen die 35°C Marke überschritten. Als der Arzt und eine Schwester nun mit dem Eingriffswagen zur Tür hereinkamen und das große Licht anmachten, erwachte Sarah völlig verwirrt und musste sich erst kurz orientieren. Als sie allerdings ihren immer noch geisterhaft blassen Freund beatmet vor sich liegen sah, war sie leider Gottes sofort wieder im Geschehen und streckte nach dem Aufstehen erst mal ihre schmerzenden Glieder.
    „So, als Erstes legen wir eine Arterie in die Radialis und danach einen ZVK!“ kündigte der Arzt an und die Schwester hatte schon Ben´s Arm ein wenig nach vorne gezogen und so gedreht, dass der Arzt an die typische Stelle kurz oberhalb des Daumengrundgelenks herankam. Sarah trat ein wenig zur Seite und nahm wie selbstverständlich die Hand und hielt sie ein wenig überstreckt fest, damit der Arzt gut rankam. Der nickte ihr lächelnd zu und begann sich nun erst einmal die Hände zu desinfizieren, bevor er sich steril anzog. „Wenn sie lieber rausgehen möchten, Sarah…?“ fragte er, aber die schüttelte entschlossen den Kopf. Sie würde bei Ben bleiben und alles mit ihm gemeinsam durchstehen, auch diese Routineeingriffe, deren Assistenz bei ihr zum täglichen Brot gehörte. „Mir wird schon nicht schlecht!“ teilte sie dem Arzt deshalb mit und der begann nun, seinen sterilen Tisch vorzubereiten und die Hautdesinfektion durchzuführen. Wenig später lag der arterielle Zugang in der Arterie, wurde noch gut von Sarah und ihrer Kollegin verklebt und Sarah stellte fest, dass dieser Arzt eine wahnsinnige Routine hatte. Obwohl das nicht ihre eigene Intensivstation war und sie die Mitarbeiter dort auch teilweise nur vom Sehen her kannte, fühlte sie, dass Ben dort hervorragend aufgehoben war. Gemeinsam würden sie es schon schaffen, den wieder auf die Beine zu bringen!

  • Nach dem arteriellen Zugang erhielt Ben noch einen zentralen Venenkatheter. Dazu musste er wieder auf den Rücken gedreht werden und als man ihn anfasste, schlug er kurz die Augen auf, sah verständnislos um sich und presste gegen die Beatmungsmaschine. Sofort gab ihm die Intensivschwester einen Bolus des Opiats und des Schlafmittels. Man sedierte die Patienten nur so tief wie nötig, denn diese ganzen Medikamente gingen auf den Kreislauf. Aber bald ließ er sich wieder problemlos beatmen und Sarah, die entsetzt ihren Atem angehalten hatte, ließ ihn nun ebenfalls wieder fließen. Ihr Verstand sagte ihr freilich, dass Ben gar nicht richtig wach gewesen war, aber insgeheim musste sie schon feststellen, dass es etwas anderes war, wenn da irgendein Patient lag, oder der Lebenspartner! Nichtsdestotrotz legte der routinierte Intensivmediziner in Windeseile einen fünflumigen Venenkatheter über Ben´s Schlüsselbeinvene in die große Hohlvene und nun konnte man endlich die Infusionen und Medikamente in den Perfusoren in den richtigen Geschwindigkeiten und Konzentrationen laufen lassen. In die peripheren Gefäße konnte man scharfe Lösungen z.B. gar nicht fließen lassen, da das die Venenwände gereizt, oder zerstört hätte. Beim Fünflumenkatheter kontrollierte man im Anschluss die korrekte Lage kurz vor dem Herzen noch mit einer Röntgenaufnahme. Das dicke Rohr hätte sonst leicht Herzrythmusstörungen hervorgerufen und nachdem Ben da ja eh schon gefährdet war, wollte man das nicht riskieren.


    Außerdem war eine Röntgenaufnahme des Thorax auch im Hinblick auf die vermutete Lungenkontusion sinnvoll und so hoben Sarah und ihre Kollegin den schlaffen Patienten auf die Röntgenplatte und verließen dann alle kurz den Raum, bis die Röntgenassistentin den Auslöseknopf des Röntgengeräts wegen der Strahlenbelastung für die Mitarbeiter von außerhalb des Zimmers gedrückt hatte. Ben hatte man einen Unterleibsschutz aufgelegt und als Sarah und die anderen die Platte und die Bleischürze entfernten, ging ein Drainagebeutel ab und das Bett war voller Blut und Spülflüssigkeit. Allerdings war Ben´s Kreislauf gerade wieder ziemlich instabil durch die Flüssigkeitsverschiebungen bei der Lageänderung und so wurde nur schnell ein frischer Ablaufbeutel aufgeklebt, eine provisorische Unterlage eingelegt, damit Ben nicht in seinem Blut lag und dann ließ man ihn sich erst ein wenig erholen. Als die Intensivschwester ihn nun noch endotracheal absaugte, kam eine Menge älteres Blut aus der Lunge und auch im Urinbeutel war die Farbe eher rot als gelb.


    „Sarah, du weißt doch, dass er mit Sicherheit nochmal was verlieren würde. Durch die Massentransfusion ist halt seine Gerinnung auch völlig durcheinander. Wir kontrollieren das jetzt und gleichen aus, was er braucht und wenn das halt noch die eine oder andere Konserve ist, dann bekommt er die eben. Reg dich nicht auf, das kriegen wir schon!“ sagte ihre Kollegin tröstend, die das Entsetzen Sarah´s bemerkt hatte. „Wenn er sich wieder ein wenig stabilisiert hat, machen wir ihn gemeinsam sauber, aber so lange setzt du dich jetzt wieder zu ihm und hältst seine Hand. Das war jetzt auch für ihn sehr anstrengend, jetzt müsst ihr beide erst wieder zur Ruhe kommen!“
    Sarah nickte-sie wusste ja, dass die erfahrene Intensivschwester Recht hatte. Sie deckten ihn zu und weil die Temperatur erneut auf 34.5°C gefallen war, kam auch das Gebläse wieder zum Einsatz und langsam kam auch Sarah ein wenig runter. Still saß sie neben dem Bett und betrachtete die Gesichtszüge ihres Freundes. Wie lange es wohl dauern würde, bis er sie wieder bewusst wahrnahm?


    Am Flughafen war inzwischen hektische Aktivität zu verzeichnen. Der Leiter des SEK besprach mit Frau Krüger die weitere Vorgehensweise. „Wir können unmöglich das Leben Semir´s gefährden, aber wir können die Verbrecher auch nicht entkommen lassen. Es steht auch völlig außer Frage, dass wir Frau Bukow da in Gefahr bringen und uns auf irgendwelche Tauschgeschäfte einlassen!“ sagte der SEK-Einsatzleiter eindringlich. „Was wir leider auch nicht haben ist Zeit und für eine Hinhaltetaktik sind diese Verbrecher viel zu professionell aufgestellt. Die werden nicht lange fackeln und Semir ein Körperteil nach dem anderen abschneiden, wenn wir auf Zeit spielen. Ich würde vorschlagen, wir gehen zum Schein auf die Forderungen ein, besorgen eine kleine Geschäftsmaschine, die sich für die Flucht eignen würden, benutzen eine Ablenkungsstrategie und stürmen irgendwie das Flugzeug!“ schlug er vor. „Aber wie soll das funktionieren-wie uns Semir mitgeteilt hat, wird er von neun, vermutlich bis an die Zähne bewaffneten Männern, festgehalten!“ sagte Frau Krüger verzweifelt, aber der SEK-Mann lächelte sie an: „Ich habe schon so eine Idee, wie das klappen könnte!“ sagte er beruhigend und ging zu seinen schwarz gekleideten, vermummten Männern, um sich wegen seines Plans mit ihnen zu beratschlagen.


    Andrea kam fast gleichzeitig mit Frau Schrankmann, dem Innenminister und dem Bürgermeister der Stadt Köln am Flughafen an. Während draußen ein Rettungs-und Feuerwehrwagen nach dem anderen auffuhr, versuchte Andrea verzweifelt, den uniformierten Polizisten an der Absperrung davon zu überzeugen, sie reinzulassen. Während die Prominenz schon lange in Richtung Einsatzleitung unterwegs war, diskutierte sie unter Tränen, bis zufällig Dieter Bonrath in ihre Richtung sah und sich sofort aufmachte, sie näherzuholen. „Andrea nicht weinen, wir holen ihn da raus!“ sagte er tröstend und legte beschützend den Arm um sie, während sie langsam näher an den Ort des Geschehens gingen.

  • Der Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz wurde gemeinsam mit der Staatsanwältin und der restlichen Politprominenz in Kürze über die Situation informiert. Der Leiter des SEK-Teams war wieder zu ihnen getreten und wartete darauf, seinen Rettungsplan vorlegen zu können. Sie hatten noch die Pläne des Lear-Jets am Laptop studiert und waren nun zu einer Lösung gekommen, die eventuell funktionieren könnte. Allerdings brauchte man noch ein wenig Zeit für die Vorbereitungen. „Auch wenn wir sie nicht wirklich fliegen lassen würden-trotzdem brauchen wir eine Maschine für etwa 10 Personen, die wir ihnen in Aussicht stellen könnten.“ erklärte der SEK-Mann. „Ich könnte ihnen da ein kleines Geschäftsflugzeug anbieten. Ich werde morgen mit einer Delegation nach China reisen und das Land hat uns diese Maschine dafür zur Verfügung gestellt, da mit Linienmaschinen unser Pensum in den fünf Tagen, in denen wir unterwegs sind, nicht zu bewältigen ist. Sie steht schon abflugbereit hier am Flughafen-wenn wir die den Geiselnehmern avisieren, könnte die Geiselbefreiung vielleicht klappen, wenn sie einen guten Plan haben!“ überlegte der Innenminister und nun erklärte der SEK-Leiter, was er vorhatte.


    Klar war auch, dass sie Irina brauchten, damit ihr Ablenkungsmanöver funktionieren konnte. Die saß völlig geschockt hinten in einem Polizeiwagen, bewacht von Hartmut, der ihr immer noch nicht traute. Er glaubte nicht, dass sie ihnen freiwillig helfen würde und deshalb hatte er ihr ihr restliches Kokain, das sie am Körper in einem flachen Täschchen trug, einfach abgenommen-das Versteck war ihm bei ihrer Festnahme im Betonkunstwerk aufgefallen. So saß sie nun ohne Stoff da und das war so ungefähr das Schlimmste, was man einem Junkie antun konnte, denn ihr letzter Konsum lag nun doch schon wieder eine Weile zurück. Die Chefin ließ nun auch Hartmut zum Gespräch dazu holen und Irina inzwischen von einem uniformierten Polizisten bewachen, damit sie keinen Blödsinn machte. Dieter stand mit Andrea im Arm ein wenig abseits und sprach mit ihr-vielleicht war es auch nicht so gut, wenn die Bescheid wusste-zu emotional würde sie vielleicht reagieren, oder Semir würde unkontrollierte Dinge tun, wenn er sie entdeckte.


    „Wir werden jetzt zunächst einmal die Maschine näherholen-einer meiner Männer kann fliegen- und wird sie hier auf dieses Flugfeld rollen lassen. Dabei wird er „versehentlich“ ein Kabel mitreißen und für kurze Zeit werden hier alle Lichter ausgehen. In diesem Moment klettert einer meiner Männer-ich verspreche ihnen, der kann das-auf die Maschine und wir haben anhand der Pläne festgestellt, wo wir am besten ein Löchlein bohren können, um danach verdampftes Fentanyl in das Flugzeug zu leiten. Wenn alle bewusstlos sind, stürmen wir die Maschine!“ erklärte der SEK´ler seinen Plan.


    „Aber der Akkubohrer wird zu hören sein!“ warf Hartmut ein. „Deshalb brauchen wir in dieser Minute eine Ablenkung. Ich schlage vor, wir tun so, als hätten wir Irina gerade mit einem lauten Motorrad hergeholt-ich habe eine Maschine dabei, da werden wir noch ganz schnell was manipulieren, dass die eine furchtbar laute Dezibelzahl hat, außerdem lassen wir auch das andere Flugzeug noch laufen, so dass eine gewisse Geräuschkulisse gegeben ist, bis die Bohrung beendet ist. Danach wirkt das Gas sehr rasch und wir müssen uns nur beeilen, damit wir Semir und die Geiselnehmer dann schnell rausbringen, denn das Opiat führt zum Atemstillstand und ohne medizinische Hilfe dadurch in Kürze zum Tod!“ erklärte er.
    Die Chefin schaute zweifelnd, aber nachdem sonst keiner einen besseren Vorschlag hatte, begannen sie die Vorbereitungen. Frau Krüger sah auf die Uhr. 20 Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen. Hartmut ging zum Wagen zurück und erklärte Irina kurz ihren Part. „Sie müssen mit dem Motorrad als Beifahrerin zum Flugzeug fahren. Dann lassen sie sich ein wenig Zeit beim Absteigen, aber damit haben sie ihre Rolle dann erfüllt und ich lasse wegen einer ordentlichen Belohnung mit mir reden!“sagte er und klopfte sich demonstrativ an die Brusttasche, in der er das Kokain verwahrt hatte. Zwar zähneknirschend und auch ein wenig ängstlich wegen Sharpov, stimmte Irina dennoch zu- sie brauchte unbedingt ihre nächste Ration Stoff!


    Ben und Sarah im Krankenhaus hatten sich beide nun ein wenig erholt. Man hatte erneut das Blutbild und die Elektrolyte kontrolliert und wie Sarah schon vermutet hatte, war das Hb wieder gesunken. Neben mehreren Perfusoren mit Calcium und Magnesium hängte der Intensivarzt wieder eine Konserve an und Sarah sah versonnen zu, wie die lebensrettende rote Flüssigkeit langsam in Ben tropfte, während sie ihn zärtlich streichelte.

  • Als die Blutkonserve eingelaufen war, hatte Ben sich soweit stabilisiert, dass man daran denken konnte, ihn sauberzumachen und das Bett frisch zu beziehen. Die zuständige Intensivschwester brachte eine Waschschüssel und wollte sich gerade eine Schürze anziehen, da legte ihr Sarah die Hand auf den Unterarm. „Lass-ich mach das schon! Wenn du mir später beim Drehen und Bettbeziehen hilfst, würde es mir genügen.“ sagte sie und ihre Kollegin verließ schulterzuckend wieder das Zimmer. Ihr konnte es nur Recht sein, denn sie hatte genügend andere Arbeit! Sarah holte am Waschbecken schön warmes Wasser, gab eine rückfettende Waschlotion hinein und fing nun an, beginnend mit dem Gesicht, langsam und vorsichtig Ben den Schweiß, das Blut und den Schmutz vom Körper zu waschen. Sie reinigte ihn mit sanften, langsamen Berührungen und man sah an der Herzfrequenz, dass Ben es durchaus wahrnahm und vermutlich auch als wohltuend empfand. Mehrmals wechselte Sarah die Waschlappen, Handtücher und das Waschwasser. Fast wie ein meditativer Liebesdienst war das für Sarah und ihre Kollegin hatte mehrmals schon lächelnd durch den Türspalt der halboffenen Schiebetür gesehen und war dann leise wieder weggegangen. Normalerweise hatte man im Krankenhaus nie viel Zeit für die Ganzkörperpflege, aber Sarah cremte Ben auch noch mit wohlriechender Hautlotion ein und versuchte ihm, durch ihre pflegerische Zuwendung seinen momentanen Zustand ein wenig erträglicher zu machen. Zuletzt brauchte sie zum Drehen und Lakenwechsel zwar doch noch die Hilfe der Nachtschwester, aber sie war irgendwie sehr befriedigt, dass sie endlich etwas anderes für Ben tun konnte, als an seinem Bett zu sitzen und seine Hand zu halten.


    Als ihre Kollegin ihn anschließend allerdings wieder endotracheal und im Mund absaugte, wo immer noch frisches und altes Blut von der Lungenquetschung kam, konnte sie das fast nicht ertragen, obwohl sie sowas doch täglich selber machte und ging deswegen kurz hinaus, um sich frischzumachen und nochmals zu versuchen, Semir anzurufen. Langsam begann sie sich doch Sorgen zu machen, weil der weder ans Handy ging, noch probiert hatte, zurückzurufen. Allerdings fiel ihr auch nicht ein, was sie sonst tun sollte und so ging sie nach einer Weile wieder zu Ben zurück und musste sich dabei ein Gähnen verkneifen. Es war ein langer, schrecklicher Tag gewesen und fast entzückt stellte sie fest, dass ihre Kollegen der chirurgischen Intensiv mitgedacht hatten. Die hatten ihr nämlich in ihrer Abwesenheit einen Mobilisationsstuhl, den man komplett flachstellen und wie eine Liege benutzen konnte, ins Zimmer gestellt-bezogen mit Laken, Kopfkissen und Zudecke. „Leg dich ein wenig nebenhin, es wird dir guttun!“ sagte ihre Kollegin und Sarah befolgte erleichtert ihren Rat. Obwohl die Kontrolllampen flackerten und das EKG und viele andere Meßkurven in bunten Lichtern vor sich hinschimmerten, fielen Sarah binnen kurzem die Augen zu und sie fiel in einen Erschöpfungsschlaf-denn immerhin war sie ganz nahe bei Ben und das war gut!


    Semir saß inzwischen im Flugzeug und dachte fieberhaft nach, was er wohl noch tun konnte, um seine Situation zu verbessern. Heimlich versuchte er seine Hände oder Füße zu befreien, oder wenigstens die Fesseln zu lockern, aber es war vergebens, denn diejenigen, die die Kabelbinder angezogen hatten, waren Profis im Geschäft und hatten nicht vor, mit ihm irgendwelche Überraschungen zu erleben. Er konnte, wenn er sich ein wenig reckte, durch eines der kleinen Fenster hinaussehen, was da auf dem Flugfeld so los war. Er sah schwarz vermummte Gestalten-also war das SEK schon eingetroffen. In der Ferne kreisten Blaulichter, vermutlich von Feuerwehr und Rettungsdienst, sonst konnte er nicht viel erkennen. Im Jet war an der Wand eine Uhr und einerseits viel zu langsam, aber dann doch wieder rasend schnell, rückte der Zeiger vor und machte die halbe Stunde voll.


    Semir´s Entführer unterhielten sich auf russisch-anscheinend waren auch sie recht aufgeregt und wagten nicht zu hoffen, dass ihr Plan klappen könnte. Einer der Männer-anscheinend ihr Anführer nach Sharpov- hatte den relativ unwirsch angesprochen und Semir konnte mehrmals den Namen Irina hören. Aha, anscheinend fanden die Leibwächter die Idee des Geiseltausches auch nicht so gelungen, aber als Sharpov dann laut und energisch etwas sagte, waren sie plötzlich wieder stumm und beobachteten durch die Fenster, ohne sich aus der Deckung zu begeben, was sich auf dem hell erleuchteten Flugfeld so abspielte. Semir´s Blick wurde nun von der Uhr magisch angezogen, denn der Zeiger rückte der halben Stunde immer näher und er versuchte auszublenden, dass ihm nun Schreckliches bevorstand.


    Hoffentlich hatten sie wenigstens Andrea nicht verständigt! Die würde vor Angst um ihn wahnsinnig werden! Wie es Ben wohl ging? Er versuchte, auch um sich ein wenig abzulenken, ihm mental aus der Ferne Kraft zu spenden, aber als nun der Mann, der vorhin schon das Messer geschärft hatte, aufstand und sich ihm grinsend näherte, begann Semir der Schweiß auszubrechen und er begann stoßweise zu atmen. Jetzt war es soweit-hoffentlich waren die Schmerzen auszuhalten, denn er wollte doch den Russen kein Schauspiel bieten und schreiend um Gnade flehen!

  • Gerade setzte der anscheinend sadistische Russe, seinem Grinsen nach zu urteilen, sein Messer an und schnitt den Kabelbinder durch, der Semir´s Hände aneinander gefesselt hatte, um sich dann einer Aufgabe zu widmen, die ihm sichtliche Vorfreude bereitete, angefeuert von den anderen Russen, da klingelte das Telefon, mit dem Sharpov vorhin mit der Chefin konferiert hatte. „Sharpov, wir haben ein Flugzeug für sie, es ist gerade im Anrollen, aber sie müssen uns noch kurz Zeit geben, Irina herzuholen! Einer meiner Leute ist mit dem Motorrad unterwegs, um sie abzuholen, aber die brauchen noch ein paar Minuten, bis sie da sind. Seien sie aber versichert, die Sache läuft und sie werden in Kürze auf dem Weg in ihre Heimat sein!“ erklärte die Krüger.


    Sharpov hob die Hand und stoppte so vorerst die Verstümmelungsaktion des Russen an Semir, dem der kalte Schweiß ausgebrochen war. Er hatte verzweifelt abgecheckt, wie hoch seine Chancen standen, sich zu befreien, aber das Unterfangen als aussichtslos eingestuft, zu viele bewaffnete Widersacher waren um ihn herum, aber trotzdem hätte er sich den Finger nicht kampflos abschneiden lassen. „Wenn sich in fünf Minuten noch nichts getan hat, bekommen sie gleich zwei Finger ihres Mitarbeiters serviert-wir lassen uns nämlich nicht zum Narren halten!“ antwortete Sharpov drohend, unterbrach die Verbindung und Semir atmete erst mal auf. Puh, das war knapp gewesen, er hatte die Schärfe des Messers schon an seinem Handgelenk gespürt, von dem nun ein dünner Blutfaden herunterlief, weil die Schneide seine Haut ein wenig verletzt hatte.
    Einige von Sharpovs Mitarbeitern hatten nach der anderen Seite aus dem Lear-Jet gesehen und wiesen nun aufgeregt gestikulierend hinaus. Sharpov drehte sich um und tatsächlich rollte von einem anderen Teil des Flughafens eine kleine Geschäftsmaschine, wie der Lear-Jet anscheinend für 10-15 Passagiere, heran. Ein triumphierendes Grinsen überzog Sharpov´s Gesicht. Na also, ging doch!


    Semir überlegte indessen krampfhaft, wie wohl der Plan aussah, den die Chefin und das SEK ausgeheckt hatten. Ihm war klar, dass man nicht einen solchen Verbrecher und seine Helfershelfer so einfach abziehen lassen würde. Außerdem hatte Irina ja bei der Polizei um Hilfe gebeten und man würde nicht eine unschuldige Frau den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Semir konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass die wohlbehalten in Russland ankommen würde. Sharpov´s Frau würde sich bedanken, wenn der seine Geliebte gleich mitbrächte, also wollte sich der vermutlich nur an ihr rächen und wie das aussehen könnte, wollte sich Semir lieber nicht vorstellen!
    Noch während er nachdachte, wann und wie seine Befreiungsaktion wohl starten würde und wie die Kollegen das angehen würden, gingen auf einmal auf dem Rollfeld alle Lichter aus. Weil das Innere der Maschine ja hell erleuchtet war, konnte man im Moment draußen gar nichts mehr erkennen. Semir konnte zwar nicht verstehen, was sie sagten, denn die Gespräche wurden alle auf russisch geführt, aber anscheinend waren seine Entführer hoch aufgeregt, denn sie wiesen gestikulierend zum Fenster hinaus, wohin Semir nicht sehen konnte, weil es auf der anderen Seite war. Man hatte erkennen können, wie das neue Flugzeug irgendwie an einem Kabel hängengeblieben war, das vermutlich für die Stromversorgung der Rollfeldbeleuchtung zuständig war und das ein Stück mitgerissen hatte. Das Handy klingelte wieder und als Sharpov erzürnt ranging, schrie er erst einmal hinein: „Keine Spielchen und Verzögerungsaktionen! Wenn nun das nächste Flugzeug nicht mehr flugfähig ist, weil irgend so ein blöder Pilot zu dumm ist, es am Boden zu bewegen, dann werden sie Herrn Gerkan in wenigen Minuten in Scheiben serviert kriegen!“


    In dem Moment gingen die Lichter wieder an und man konnte erkennen, wie mehrere Menschen sich das neue Flugzeug aus der Nähe betrachteten und dann alle miteinander den Daumen hoben. „Wie mir meine Mitarbeiter gerade mitgeteilt haben, wurde das Flugzeug nicht beschädigt und wir können uns in Kürze darüber unterhalten, wie wir den Geiselaustausch und ihre Umsteigeaktion im Detail vornehmen. Irina wird in wenigen Minuten eintreffen und dann hoffen wir, diese Aktion ohne Verletzte hinter uns zu bringen!“ sagte die Chefin beruhigend und nun war sogar der Polizeipsychologe zufrieden.


    Im Krankenhaus lagen Ben und Sarah inzwischen in tiefem Erschöpfungsschlaf. Sarah bekam es gar nicht richtig mit, wie ihre Kollegen Ben, dessen Sauerstoffsättigung wieder beängstigend absank, weil sich zu viel Blut in seinen Bronchien ansammelte, absaugten und anders hinlegten. Dieser Tag war einfach zu viel gewesen und sie hielt einfach die Augen geschlossen, bis das Schlürfen des Saugers verstummte und der Alarm am Monitor und der Beatmungsmaschine stummgeschaltet wurde. Bald kehrte wieder Ruhe ein und beide dämmerten dem nächsten Morgen entgegen.

  • Als die Lichter ausgegangen waren, was natürlich überhaupt nichts mit dem herumliegenden Kabel zu tun hatte, war flink wie eine Katze, ein schwarzgekleideter SEK-Mann über das Autowrack und das Fahrgestell an dem Jet hochgeklettert. Auf dem Dach legte er sich dann flach und wartete still, ob ihn jemand bemerkt hatte, was aber nicht der Fall zu sein schien. Er hatte ein spezielles Headset auf, mit dem er von seinem Einsatzleiter auf dem Laufenden gehalten wurde, der sagte aber nur : „Gut gemacht!“


    Andrea war kurz bei Frau Krüger gewesen und die hatte sie gebeten, sich doch ein wenig entfernt aufzuhalten, damit Semir sie nicht sehen konnte und so eventuell eine unüberlegte Handlung beging. Das war Gott sei Dank gerade in der Zeit geschehen, als der sich in seinem Sitz ein wenig zusammensacken hatte lassen, um eine bequemere Lage zu haben, denn ihm begann langsam alles einzuschlafen. Also stand Andrea, flankiert von Dieter und inzwischen auch Jenni, danach in einiger Entfernung und beobachtete gespannt, wie alle anderen, wie der SEK-Mann, nachdem das Licht ausgegangen war, wie ein Schatten das Flugzeug enterte. Alarmiert fragte sie: „Was macht der da?“ aber da sagte Jenni, die zwar von dem Plan, wie Dieter auch, wusste, sich aber lieber die Zunge abgebissen hätte, als den Andrea mitzuteilen: „Der versucht auszuspionieren, wie die Lage im Flugzeug so ist!“ Sie war sich nämlich relativ sicher, dass Andrea sonst Einwände erhoben hätte. Allerdings war es genauso gefährlich, Semir zu einem anderen Zeitpunkt rauszuholen-so kam wenigstens Irina nicht in Gefahr und wenn alles so lief, wie sie geplant hatten, konnte die Geiselbefreiung ohne Blutvergießen durchgeführt werden.


    Nachdem die Chefin nun mit Sharpov telefoniert und versucht hatte, ihn ein wenig zu beruhigen, konnte man aus der Ferne ein lautes Motorradgeräusch hören. Die Krüger griff wieder zum Handy und wählte Sharpov´s Nummer. „Herr Sharpov, also wie mir gerade mitgeteilt wurde, ist Frau Bukow in Kürze da. Ich hätte gerne ein Lebenszeichen von Herrn Gerkan, sonst wird sie gar nicht in die Nähe des Flugzeugs kommen!“ forderte sie. Nach kurzer Überlegung stimmte Sharpov zu, hielt das Handy in Richtung Semir, der beinahe reflexhaft danach gegriffen hätte, aber von einer drohenden Bewegung des messertragenden Russen wieder davon abgehalten wurde. „Sagen sie was, damit die da draußen sehen können, wie gastfreundlich wir mit ihnen umgehen!“ befahl Sharpov und Semir sagte nach kurzer Überlegung: „Mir geht´s gut-bis jetzt wenigstens!“ und gleich nahm Sharpov das Handy wieder an sich. Der Mann auf dem Flugzeugdach hatte die, nach den Konstruktionsplänen günstigste Stelle für seine Bohrung ausfindig gemacht und wartete, den Akkubohrer in Position, dass das Motorrad näherkam.


    Hartmut hatte in einiger Entfernung Irina zu dem SEK-Mann auf die laute Maschine gesetzt. Man hatte die so manipuliert, dass sie wirklich ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich gab und deshalb hatten sowohl der Fahrer, als auch Irina einen kleinen Kunststoffgehörschutz verpasst gekriegt. Hartmut verfluchte sich, dass er nicht auch einen verwendet hatte, denn das laute Geräusch war fast schmerzhaft zu empfinden. „Also los Irina, in ein paar Minuten dürfen sie sich stärken!“ schrie er und klopfte an seine Brusttasche. Mit hasserfülltem Blick kletterte Irina auf das Motorrad, bekam noch einen Helm, um die Geschichte mit dem von Weiter herholen glaubwürdiger zu machen und schon starteten die beiden in Richtung Rollfeld.


    Im Krankenhaus war Sarah inzwischen wieder wach geworden und von ihrem Schlafstuhl gesprungen, weil Ben hustete und gegen die Beatmungsmaschine presste, die daraufhin laut zu pfeifen begann. Die Nachtschwester holte den diensthabenden Arzt dazu, um festzulegen, ob man Ben wach werden lassen wollte, oder wieder stärker sedieren. Das blutdrucksteigernde Medikament konnte wegen dem Eigenadrenalinschub im Moment sogar ausgeschaltet werden, aber nachdem der Arzt gesehen hatte, wie viel Blut da beim Absaugen immer noch aus der Lunge kam, traf er die Entscheidung, ihn erst mal weiter zu beatmen. So wurde die Sedierung erhöht, der Beatmungsmodus ein wenig angepasst und Ben dadurch wieder zum Schlafen gebracht. Er war so weit wach geworden, dass er Sarah angesehen hatte und sie hätte schwören können, dass er sie erkannt hatte. Sie hielt seine gefesselte Hand, die zum Eigenschutz, damit er den Tubus nicht herauszog, am Bett fixiert war und redete ihm gut zu, bis er die Waffen streckte und die Augen wieder schloss.


    Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, versuchte Sarah nochmals Semir zu erreichen und diesmal rief sie, als sie ihn wieder nicht erwischte, in der PASt an. Der diensthabende Telefonist war der Überzeugung, dass alle Welt von der Geiselnahme wusste, nachdem das ja auch durch die Medien ging und die Fernsehkameras aus der Entfernung einen Livestream eingerichtet hatten. Deshalb sagte er zu Sarah, die ihm durchaus als Ben´s Freundin bekannt war: „Wie geht es denn unserem Ben, ich habe schon von seinem schweren Unfall gehört! Unser Dreamteam ist heute ja auf der ganzen Linie in Lebensgefahr!“ und jetzt verlangte Sarah natürlich zu wissen, was denn mit Semir, der ja die zweite Hälfte des erfolgreichen Ermittlerduos darstellte, los sei. „Ja wissen sie denn nicht, dass er von einigen bewaffneten Russen am Flughafen als Geisel genommen wurde und man gerade versucht, ihn zu befreien?“ fragte der Telefonist erstaunt und nun musste Sarah sich setzen, weil ihre Knie nachgaben. Oh nein, das durfte doch nicht wahr sein, hörte dieser Alptraum denn nie auf?

  • Sharpov und die übrigen Flugzeuginsassen sahen gespannt aus dem Fenster, wie das Motorrad näherkam. Das Getöse der Maschine wurde noch untermalt durch die laufenden Triebwerke des neuen Flugzeugs, das von dem etwas ungeschickten Piloten daneben mit viel Mühe in Position gebracht wurde.
    Semir hörte etwas, aber er hoffte, dass es außer ihm niemandem auffiel. Da lief ganz in der Nähe ein Bohrer und nun konnte Semir sich in etwa vorstellen, wie die Befreiung vielleicht aussehen könnte. Um etwas zur Ablenkung dazuzutun rief er laut. „Jetzt machen sie mich endlich komplett los, sie sehen doch, dass meine Leute ihre ganzen Wünsche erfüllen, also können sie mich langsam mal freilassen!“ Auch die Chefin sagte am Telefon: „Sharpov, wie schauen jetzt die technischen Details der Übergabe aus?“ Sharpov, der wegen der lauten Geräusche sein eigenes Wort nicht mehr verstand, schrie jetzt: „Ruhe, alle miteinander, ich sage euch, wie wir vorgehen werden!“ und dann verstummte er. Semir, der das Zischen gehört und versucht hatte, die Luft anzuhalten, sah noch, wie Sharpov zu schwanken begann, bevor er zusammenbrach, ehe ihm selber mit einem Glücksgefühl die Sinne schwanden.


    Der Polizist auf dem Dach hatte, sobald er die harte Außenhaut durchbohrt hatte, mit einem zweiten Gerät die Isolierung durchdrungen und das Ventil der Verdampferkartusche geschickt in die entstehende Öffnung geschoben. Bevor er startete, zog er selber noch seine mitgebrachte Gasmaske über und dann betätigte er den Auslöser, so dass zischend das geruchlose Fentanylgas in die Passagierkabine strömte. Nun meldete er mit dem Headset kurz den Code für die erfolgreiche Durchführung seiner Aktion und wartete dann mit gespanntem Blick auf die Uhr, bis die Opiatwirkung eintrat.
    Die Chefin hatte ebenfalls gespannt in den Hörer des Telefons gelauscht, aber da waren jetzt nach einem lauten Schlag, wie wenn das Handy zu Boden gefallen wäre, keine Geräusche mehr zu hören. Mit einem Handzeichen wurde der Motorradfahrer angewiesen, mit seiner Maschine und Irina wieder wegzufahren und als der Polizist auf dem Dach nun vorsichtig von außen in die Passagierkabine sah, lagen da alle Anwesenden in tiefer Bewusstlosigkeit. Die Gangway der neuen Maschine wurde ausgeklappt und nun strömten eine Menge schwarz gekleideter SEK-Männer mit Gasmasken daraus, die sich sofort daranmachten den Lear-Jet zu entern.


    Wie abgesprochen, machte sich eine ganze Karawane Rettungswagen mit blinkenden Lichtern auf den Weg, um die Erstversorgung der Gasopfer zu übernehmen. Jeder Notarzt und Rettungsassistent hatte eine Beatmungsmaske mit Sauerstoff bereitliegen, alles zum Zuganglegen vorbereitet und das passende Antidot bereits aufgezogen in der Spritze bereit. Mit einer kleinen Sprengladung öffnete man von außen die Tür des Jets und wollte gerade eindringen, da wurde auf einmal das Feuer auf die Retter mit einer Maschinengewehrsalve eröffnet. Zwei SEK-Männer fielen blutend zu Boden und die anderen brachten sich nun erst einmal schnell in Sicherheit, ihre Verletzten hinter sich herziehend. Einzig der Mann auf dem Dach war noch an der Maschine und hoffte, nun nicht gleich von der nächsten Salve durchschlagen zu werden. Die flüchtenden SEK-Leute hatten noch einen Blick auf einen anscheinend zu allem entschlossenen Piloten mit einer kompletten Sauerstoffmaske über dem Kopf und einer tragbaren Druckluftflasche auf dem Rücken erhascht, der sie mit dem Maschinengewehr im Anschlag hinter der Tür begrüßt hatte. Jetzt war guter Rat teuer!


    Im Krankenhaus hatte Sarah, die sich inzwischen wieder ein wenig gefangen hatte, den Fernseher in Ben´s Zimmer angemacht und durch Zappen den passenden Nachrichtenkanal mit Livestream zum Flughafen erwischt. Gebannt starrte sie auf den Bildschirm und versuchte etwas zu erkennen, denn die Kamera war in einiger Entfernung zum Geschehen installiert und brachte die Bilder nur dank eines hervorragenden Teleobjektivs in die heimischen Wohnzimmer. Der Kommentator sagte gerade: „Jetzt tut sich was!“ und während ein Motorrad mit zwei Passagieren, wovon einer eindeutig Irina war, wieder vom Flugzeug weg fuhr, öffnete sich gerade, wie beim trojanischen Pferd, die Tür des zweiten Fluggerätes und schwarz gekleidete Männer mit deutlich sichtbaren Gasmasken strömten heraus.
    Wie auch der Kommentator bemerkte, war anscheinend ein Betäubungsgas eingesetzt worden und Sarah fragte sich, was man da wohl für einen Wirkstoff verwendete, denn Semir war ja auch in der Maschine und den durfte man ja nicht gemeinsam mit seinen Entführern umbringen. Entsetzt sah sie dann aber, wie zwei der SEK-Männer anscheinend angeschossen wurden und wie reife Pflaumen vom Flugzeug auf das Rollfeld fielen. Die anderen Polizisten brachten sich und die Verletzten hinter einen der herannahenden Rettungswagen in Sicherheit, wo die Erstversorgung der verwundeten Beamten auch sofort begann. Außer den Worten des Kommentators, der ebenfalls versuchte sein Entsetzen über die Eskalation in Worte zu fassen, herrschte gespenstische Stille im Fernsehen, denn die Entfernung zum Ort des Geschehens war einfach zu groß, als dass man da trotz Richtmikrophon etwas hören konnte.


    Nun bemerkte der Kommentator: „Wir fragen nun den Innenminister von Rheinland-Pfalz, der dankenswerterweise sein Flugzeug für die Befreiungsaktion zur Verfügung gestellt hat, wie er uns mitgeteilt hat, zu seiner Einschätzung der Situation!“ und nun schwenkte eine zweite Kamera auf den Anzugträger, der gerade die Krawatte zurechtrückte und sich räusperte, um dann medienwirksam ein Statement abzugeben. Du liebe Güte! Wen interessierte das und was war mit Semir? Sarah hatte gar nicht gemerkt, dass sie das laut gedacht hatte, aber als Ben sie jetzt mit weit aufgerissenen Augen panisch ansah, merkte sie, dass die Sedierung doch noch nicht hoch genug lief und er auf jeden Fall ihre Besorgnis und den Namen seines Freundes wahrgenommen hatte.

  • Bevor sie überhaupt bemerkte, wie lose seine rechte Hand angebunden war, das war in Seitenlage sowieso schwer, hatte Ben reflexhaft nach dem Tubus gegriffen und sich sogar noch ein wenig nach vorne gebeugt, um ihn besser zu erwischen. Bis Sarah aufgesprungen und zu ihm geeilt war, war es schon geschehen. Er hatte fest angerissen und den Tubus samt Blockung herausgezogen. Du lieber Himmel! Sarah rief laut um Hilfe, während sie fast panisch nach dem Ambubeutel und einer Maske griff, die an jedem Beatmungsplatz immer bereitliegen mussten. Denn wie sie schon befürchtet hatte, begann Ben nun nach Luft zu japsen, denn erstens hatte er wegen der Sedierung weder Kraft noch logisches Denkvermögen und zweitens schwoll sicher gerade die Stimmritze an, die durch den geblockten Ballon ja stark überdehnt worden war.


    Bis ihre Kollegen mit dem Notfallwagen eingetroffen waren, hatte Sarah schon die Maske auf Ben´s Gesicht gedrückt und begann ihn, obwohl er sich immer noch schwach wehrte, mit der Maske und dem Beutel zu beatmen. Trotz ihrer Bemühungen war seine Gesichtsfarbe schon tiefblau, sie bekam einfach keine Luft rein! Hektisch drückte Sarah auf den Beutel, die Tränen liefen ihr übers Gesicht-nein, das durfte nicht sein, sie durfte ihn einfach nicht verlieren! Der Arzt, der gerade am anderen Ende der Station mit der Verkabelung eines neuen Patienten beschäftigt gewesen war, traf eine Minute später ein und schob Sarah einfach zur Seite, um sich ein Bild zu machen und die Situation reell einzuschätzen. Ben lag nun auf dem Rücken-die Kollegen hatten die stützende Decke herausgezogen- und rang mit einem Rest Bewusstsein verzweifelt nach Luft, aber er hatte weder Kraft noch die Möglichkeit, genügend Sauerstoff zu erhaschen. Der geblockte Tubus hing immer noch an der Beatmungsmaschine, die schrille Alarmtöne von sich gab und der Monitor alarmierte auch hektisch. Ben´s Herzfrequenz war bei 180 Schlägen pro Minute, der Blutdruck bei fast 200 und die Sauerstoffsättigung trotz Beutelbeatmung nur noch bei 72%, dabei wären 95 % -100 % normal gewesen.


    Das würde nicht klappen, ohne Reintubation! „Bitte sofort das Glidescope holen und 250mg Prednisolon i.v.!“ ordnete der Arzt an und versuchte nun selber, bis alles vorbereitet war, Ben mit dem Ambubeutel und der Maske zu beatmen. Das Glidescope war ein spezielles Videolaryngoskop, mit dem man unter wesentlich besseren Sichtverhältnissen als mit dem mechanischen Laryngoskop intubieren konnte. Es wurde für schwierige Intubationen verwendet und nach seiner Einschätzung würde das eine werden!


    Die eine Nachtschwester hatte inzwischen die Alarme stummgeschaltet-die kosteten nur Nerven und schließlich wusste jeder, was er zu tun hatte. Während die eine Schwester die Medikamente aufzog und den neuen Tubus aus der Verpackung nahm und testete, war die andere inzwischen mit dem Videolaryngoskop zurück und steckte es an der Steckdose ein. Ein spezieller zugehöriger Führungsstab wurde mit Gleitgel bestrichen und der Tubus darauf aufgefädelt. Dem Arzt war es inzwischen gelungen, indem er Ben´s Kopf stark überstreckte und mit eisenhartem Griff die Maske festhielt, wenigstens ein bisschen Sauerstoff in ihn zu bringen. Trotzdem ähnelte seine Gesichtsfarbe langsam einer Aubergine und Sarah war ganz schlecht vor Angst. Wenn die Intubation jetzt nicht gelang, dann war Ben´s Tod, oder zumindest ein Hirnschaden wegen Asphyxie vorprogrammiert.


    Das Cortison war inzwischen gespritzt, man hoffte dadurch den Kehlkopf zum Abschwellen zu bringen, nun bat der Arzt darum, dass man aus den beiden Perfusoren einen größeren Bolus Propofol und Sufenta gab und gleich darauf spritzte man noch ein kurzwirkendes Muskelrelaxans. Der Arzt wartete, bis sein Patient völlig schlaff wurde und öffnete dann seinen Mund und führte das Videolaryngoskop ein. Viel Schleim und Blut waren in der Mundhöhle zu sehen, so dass momentan der Blick auf die Anatomie völlig verdeckt war. Der Sauger wurde eingeschaltet und mit einem Kunststoffschläuchlein das Sekret aus Ben´s Nasen-Rachenraum entfernt, so dass nun der Blick auf die Stimmritze, die bereits ziemlich zugeschwollen war, frei wurde. Der Arzt schob nun unter Sicht auf den Monitor, der auf einem fahrbaren Gestell montiert war und mittels Kabel hinten am Laryngoskop mit diesem verbunden war, den Tubus fast ein wenig mit Gewalt in seinen Patienten. Wenn das jetzt nicht funktionieren würde, musste man eine Notfallkoniotomie vornehmen, also einen Luftröhrenschnitt, allerding war dann mit Spätschäden zu rechnen, denn das Zeitfenster wäre zu groß, währenddessen Ben dann sauerstoffunterversorgt war. Alle Anwesenden atmeten erleichtert auf, als es dem routinierten Arzt gelang, geschickt den Tubus durch das winzige Löchlein, das momentan noch die Stimmritze darstellte, durchzuschieben. Die Schwester blockte ihn und dann wurde sofort die Beatmungsmaschine mit 100% Sauerstoff angehängt und das Videolaryngoskop herausgezogen. Der Arzt hörte noch ab, aber die Lungenhälften waren beidseitig belüftet. Man verklebte den Tubus und Sarah, die angespannt die Luft angehalten hatte, traute sich nun langsam auch wieder durchzuatmen. Beim endotrachealen Absaugen kam nun wieder eine Menge frisches Blut aus der Lunge, was auch kein Wunder war, bei einem Blutdruck von 200 begannen die Gefäße natürlich zu bluten und Sarah traute sich fast nicht, auf die Drainagebeutel zu schauen. Natürlich lief auch in die wieder frisches Blut, allerdings nicht in allzu großer Menge-sie konnten nur hoffen und beten, dass die Blutstillung im Bauch hielt!


    Ben war inzwischen vom Blutdruck her völlig eingebrochen, weil nun der Stressfaktor wegfiel und außerdem die Narkosemittel auch noch blutdrucksenkend wirkten. Man brachte das Bett darum in Kopftieflage, drehte Ben ein wenig zur Seite und stellte das Arterenol wieder an. Obwohl die Herzfrequenz immer noch erhöht war, pendelte sich mit der Katecholaminunterstützung der Blutdruck wieder bei 120/80 ein. Ben wurde zugedeckt, gut angebunden und das Zimmer wieder aufgeräumt.


    Sarah´s Blick fiel nun auf den Fernseher, der die ganze Zeit gelaufen war und jetzt blieb ihr beinahe das Herz stehen. Eine Frau, die sie eindeutig als Andrea identifizierte, rannte gerade über das Rollfeld auf den Lear-Jet zu. Ach du liebe Güte-was war denn inzwischen am Flughafen los?

  • Andrea hatte wie die anderen gebannt die Vorgänge auf dem Rollfeld beobachtet. Sie hatte sich noch gewundert, dass die SEK-Leute nicht sofort aus dem Flugzeug beschossen wurden, als sie die Ersatzmaschine verließen. Sie hatte ein total ungutes Gefühl. Warum war auch das Motorrad wieder weggefahren-sie hatte das so verstanden, als ob die junge Frau als Geisel im Austausch für Semir dienen sollte, was sie ehrlich gesagt sehr gewundert hatte. Das war normalerweise nicht üblich, dass man Zivilisten gegen Polizeibeamte tauschte. Auch wagte sie zu bezweifeln, dass Semir da mitspielen würde-er hatte sich im Gegenteil ja schon mehrmals als Geisel angeboten, um irgendwelche Opfer freizubekommen und die Geiselnehmer so selbst zu überwältigen. Die hatten ihn wahrscheinlich gefesselt, sonst hätte er mit Sicherheit schon etwas unternommen. Sie hatte so schreckliche Angst um ihn! Was ging wohl in der Maschine gerade vor sich? Die Chefin hatte auch aufgehört zu telefonieren und spätestens, als an der Flugzeugtür die Sprengladung angebracht wurde, war ihr klar, dass man ihr irgendwas verschwiegen hatte. Sonst würden das die Flugzeuginsassen mit Sicherheit schon lange unterbunden haben!


    „Jenni, was ist da im Flugzeug los?“ wollte sie wissen. „Warum kommt da kein Lebenszeichen?“ fragte sie nochmals eindringlicher und beobachtete auch die Karawane an Rettungswagen, die nun alle mit Blaulicht näherfuhren. Jenni, die genauso angespannt wie alle anderen war, verriet ihr nun den Plan. „Andrea, die haben ein Narkosegas in das Flugzeug geleitet, die schlafen jetzt alle!“ sagte sie, aber kaum hatte sie ausgesprochen, da zerriss eine Maschinengewehrsalve die Luft und man sah kurz den Schützen mit der Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. Die beiden SEK-Leute, die vor der Tür gewesen waren, fielen zu Boden und in einem einzigen Kuddelmuddel sprangen die anderen unter weiterem Beschuss vom Flugzeug, zogen ihre Verletzten hinter dem vordersten Rettungswagen in Deckung und es kehrte wieder gespenstische Stille ein, nur unterbrochen vom Stöhnen der verletzten Polizisten. Die hatten zwar, dank Sicherheitswesten, keinen Körpertreffer erhalten, aber Streifschüsse an den Extremitäten und schwere Prellungen und Knochenbrüche durch den Aufprall der Munition auf die High-Tech-Westen und den darauffolgenden Sturz.


    Jenni hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und Dieter, der einen Meter neben ihnen stand sagte verzweifelt:“Wenn da jetzt nicht bald ein Arzt das Gegenmittel spritzt, dann sind alle, die das Gas eingeatmet haben, tot.“ Andrea die leichenblass geworden war, überlegte nicht lange und bevor Jenni und Dieter auch nur ansatzweise reagieren konnten, war sie losgelaufen, um den Vater ihrer Kinder, die Liebe ihres Lebens, da rauszuholen, wenn es sonst keiner tat!


    Im Krankenhaus hatten alle Anwesenden in Ben´s Zimmer, die zwar keinen Zusammenhang zwischen der Geiselnahme und ihrem verletzten Patienten herstellen konnten, aber alleine von der Tatsache, dass sich so ein Ereignis im Einzugsbereich ihres Krankenhauses abspielte, dafür interessierten, nun gesehen, wie stark Sarah, die ja sowieso schon fix und fertig war, auf die Fernsehbilder reagierte. „Kennst du die Frau?“ wollte die Nachtschwester wissen. Sarah nickte und sagte tonlos: „Die Geisel im Flugzeug ist der Partner und Freund meines Freundes und die da gerade unter Lebensgefahr über das Rollfeld rennt, ist Andrea, seine Frau, eine gute Bekannte von mir!“ „Ach du liebe Güte!“ sagte ihre Kollegin erschüttert. „Dass sich mein Freund vorher extubiert hat, daran war vermutlich auch ich schuld, denn ich habe den Fernseher angemacht und ihn durch meine entsetzten Kommentare so beunruhigt, dass er sich deswegen den Schlauch rausgezogen hat!“ vermutete sie mit Tränen in den Augen.


    „Also Sarah, du weißt genau, dass wenn einer schuld daran ist, dann ich, weil ich die Hand nicht straff genug angebunden habe. Außerdem hätten wir die Sedierung gleich höher fahren sollen, er ist noch nicht so weit, dass man ihn wach werden lassen könnte. Das kommt doch immer mal wieder vor, dass sich jemand selber extubiert und es ist ja auch nichts Schlimmes passiert deswegen, er ist reintubiert und schläft jetzt wieder friedlich, also vergiss das einfach!“ sagte die Nachtschwester tröstend. „Aber wir wissen überhaupt nicht, ob die Sauerstoffunterversorgung Spätschäden hervorruft und außerdem könnten seine Stimmbänder Schaden genommen haben und er singt doch in einer Band und hat so eine wundervolle Stimme!“ erklärte Sarah verzweifelt. „Na jetzt warte doch erst mal ab, ich denke nicht, dass seinem Gehirn da was passiert ist-wir waren verdammt schnell!“ sagte die Nachtschwester „und das mit seiner Stimme, gut, das muss man abwarten, aber ich denke auch da nicht, dass da bleibende Schäden entstanden sind!“
    Sarah nickte und obwohl sie genau wusste, dass es besser gewesen wäre, den Fernseher jetzt auszuschalten, auch um Ben nicht zu beunruhigen, konnte sie den Blick nicht vom Bildschirm wenden, auf dem sich die Ereignisse nun überschlugen.

  • Andrea hatte schon das halbe Rollfeld überwunden, ehe die völlig überraschten Polizisten in irgendeiner Weise reagieren konnten. Aus dem Einsatzfahrzeug hatte man inzwischen Schutzschilde geholt und es war geplant, nun damit zum Jet vorzudringen. Der Einsatzleiter und zwei weitere Männer rannten hinter Andrea her und riefen ihr immer wieder zu: „Hinlegen, sofort hinlegen!“ aber Andrea war so in Panik um ihren Semir, dass sie nicht hören konnte, oder wollte.


    Im Flugzeug hatte der Pilot, der inzwischen sicher war, alle Angreifer momentan in die Flucht geschlagen zu haben, nun nach seinen bewusstlosen Kameraden gesehen. Die Tür des Jets war ja weggesprengt und daher floss derweil genügend frische Luft in die Passagierkabine. Langsam müssten sie ja mal aufwachen, damit sie gemeinsam einen neuen Fluchtplan aushecken konnten.


    Er hatte erst zufrieden aus dem Fenster des Cockpits gesehen und festgestellt, dass er den Flugzeugtyp, der heran rollte, kannte und auch fliegen konnte, was in der heutigen Zeit mit den verschiedenen Modellen nicht selbstverständlich war. Als der andere Pilot dann das Kabel dermaßen ungeschickt abgerissen hatte, hatte er nur den Kopf über so viel Dilettantismus geschüttelt, aber gleich gesehen, dass der Maschine dabei nichts passiert war. Dann kam auch noch Irina auf einem laut knatternden Motorrad, aber gerade als er gedacht hatte, es wäre jetzt mal an der Zeit mit Sharpov und den anderen in die neue Maschine umzusteigen, hatten sich die Ereignisse überschlagen.


    Das Motorrad drehte wieder ab und nahm Irina mit und dann hatte sich auch schon die Tür des anderen Flugzeugs geöffnet. Er hatte nun einen Verdacht gehabt und mit angehaltenem Atem einen kurzen Blick in die Passagierkabine geworfen und Gott gedankt, dass sein Cockpit eine seperate Luftversorgung hatte. Außerdem war für die Piloten immer eine Überdruckmaske und eine Sauerstoffflasche bereit, denn wenn sie einmal in schwere Turbulenzen kamen, durften die nicht bewusstlos werden, weil das ja zum Absturz führen würde. Deshalb zog er sich die Maske, die dieselbe wie in den Kampfjets war, darüber, packte sich die Sauerstoffflasche mit einem Tragegurt auf den Rücken, ging in die Kabine und nahm das Maschinengewehr, das für alle Fälle dort bereitlag. Als nun von der Sprengladung die Tür aus den Angeln flog, empfing er mit der ersten Salve die überraschten Polizisten. Die zogen sich daraufhin zurück und bargen ihre Verletzten.


    Er stellte fest, dass alle in der Kabine-auch die Geisel-tief bewusstlos waren. Nachdem die Deutschen ja wohl nicht ihre eigenen Leute umbringen würden, war er sich relativ sicher, dass das Gas, das alle ausgeknockt hatte, harmlos war und er jetzt nur solange warten musste, bis die Wirkung abflaute und die Kabine genügend gelüftet war. Gerade ging er wieder mit dem entsicherten MG auf seinen Beobachtungsposten neben der Tür zurück, da sah er eine Bewegung auf dem Rollfeld. Eine Frau rannte völlig ungeschützt auf den Jet zu, in großem Abstand hinter ihr ein paar schwarzgekleidete Polizisten mit Schutzschilden. So leid es ihm tat, aber er konnte nicht zulassen, dass die Frau oder sonst irgendwer sich dem Flugzeug näherte und darum legte er gerade auf Andrea an, als ihn plötzlich ein scharfer Schmerz durchfuhr und ihm beinahe das Bewusstsein raubte. Die Waffe fiel aus seiner Hand und schon war der SEK-Mann, der sich in dieser Sekunde vom Dach gebeugt und ihn in die Schulter geschossen hatte, über ihm und kickte das Gewehr weg. Dann versicherte er sich mit einem Blick, dass in der Kabine keinerlei Bewegung war und fesselte daraufhin sofort den blutenden Piloten und hielt ihn fest, bis ihm seine Kollegen zu Hilfe kamen.


    Andrea hatte inzwischen das Flugzeug erreicht und kletterte durch die Trümmer des BMW und des Fahrwerks nach oben und zur Kabinentür hinein. Wenn ihr zuvor jemand befohlen hätte, dass sie das tun sollte, hätte sie es sicher nicht gekonnt, aber sie hatte so viel Adrenalin in sich, dass sie über sich hinauswuchs. Sie drückte sich an dem SEK-Mann und dem Schützen vorbei und sah sich suchend nach Semir um. Während die anderen alle am Boden lagen, war er in seinem Sitz in sich zusammengesunken, weil er ja dort noch angebunden war. Andrea stellte fest, dass seine Gesichtsfarbe blass, mit einem Stich ins bläuliche war. Sie sprach ihn an, aber er gab kein Lebenszeichen von sich. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen und als sie den Puls suchte, war sie nicht sicher, ob sie da tatsächlich etwas gefühlt hatte, oder ob das nicht ihr eigener, vor Aufregung rasender Herzschlag war. Verzweifelt presste sie ihre Lippen auf seinen Mund und seine Nase und blies ihm ihren Atem ein. Nebenbei drückte sie irgendwie an seinem Brustkorb herum, was in dieser Position fast nicht möglich war und die Tränen der Verzweiflung flossen dabei aus ihren Augen. „Bitte lieber Gott, lass ihn nicht tot sein!“ flehte sie innerlich und versuchte eine verzweifelte Reanimation, soweit es ihre Möglichkeiten zuließen.


    Im Krankenhaus hatten Sarah und die Nachtschwester ebenfalls entsetzt auf den Bildschirm gesehen. Sarah hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und merkte gar nicht, dass sie sich die Handflächen mit ihren eigenen Nägeln verletzte. Sie wartete jeden Augenblick darauf, dass Andrea von einer Maschinengewehrsalve niedergestreckt wurde, man sah auch kurz den Schützen, der gerade auf sie anlegte, aber dann war der SEK-Mann auf dem Dach wie ein Schatten dagewesen, man hatte einen einzelnen Schuss gehört und dann hatte sich der in das Flugzeug geschwungen. Andrea war ebenfalls wie eine Wahnsinnige durch das Wrack und die Trümmer nach oben geklettert und in dem Jet verschwunden. Nun kamen aus allen Ecken schwarzgekleidete Polizisten gelaufen und stürmten auf das Flugzeug zu, während aus einer entfernten Ecke eine fahrbare Gangway herangeschafft wurde. Sarah atmete ein wenig auf und sank dann auf den Stuhl, den ihr ihre Kollegin in die Kniekehlen schob. „Es wird schon alles gut werden!“ sagte sie tröstend und Sarah legte nun den Kopf auf Ben´s Bett und begann leise zu weinen. „Hoffen wir´s !“ sagte sie tonlos, „hoffen wir´s !“

    Einmal editiert, zuletzt von susan () aus folgendem Grund: Rechtschreibfehler

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