Betonkunst

  • Der Arzt sah sich Irina an, konnte aber auf den ersten Blick keine schwerwiegenden Verletzungen feststellen. Sie war zwar äußerlich gezeichnet, aber es sah nicht so aus, als hätte sie irgendwelche inneren Blessuren. Auch für eine Hirnblutung oder ähnliches bestand kein Anhalt und so beschlossen Sarah und der junge Assistenzarzt, Irina erst einmal ein wenig schlafen zu lassen, denn ihr fielen schon die Augen zu und Sarah hatte vor, nun Ben Bescheid zu geben, welch merkwürdigen Besuch sie heute bekommen hatten. Als sie in ihre Tasche fasste, stellte sie fest, dass sie ihr Handy in der Wohnung beim Laden liegen hatte. Nach einem Blick auf die Uhr konstatierte sie, dass sie gerade vor der Spätschicht noch Zeit haben würde, zurück zur Wohnung zu fahren, eine Kleinigkeit zu essen, Ben Bescheid zu geben und dann zum Dienst zu erscheinen. Sie stellte Irina eine Flasche Wasser und eine Packung Kekse, die sie mal für Ben gekauft hatte, nebens Bett und legte einen Zettel mit der Telefonnummer der Intensivstation, auf der sie arbeitete, hin. Darauf schrieb sie, dass sie abends wieder nach ihr schauen würde und Irina sich melden sollte, wenn sie Hilfe brauchte.


    Dann machte sie sich auf den Weg zurück zu Ben`s Wohnung und dachte die ganze Zeit darüber nach, was das Ganze wohl zu bedeuten hatte und an welchem Fall Ben gerade arbeitete. Irgendwas hatte das mit diesem merkwürdigen Kunstwerk zu tun und sie meinte fast behaupten zu können, dass wohl Bens Verletzungen neulich auch in Zusammenhang mit dieser Geschichte standen, denn seitdem war der wie besessen vom Neumarkt, den er sonst eher beiläufig mal besucht hatte, aber jetzt ständig.
    Der Verkehr lief leider nicht so gut, wie sie erwartet hatte und so würde die Zeit gerade noch reichen, sich ein Brot zu machen und dann wieder zurück zum Krankenhaus zu fahren, dabei hatte sie doch vorgehabt, etwas zu kochen, was sich Ben abends aufwärmen konnte, denn sonst würde der wieder zur beliebten Tiefkühlpizza greifen und sie wollte doch, dass er sich gesund ernährte, damit er fit blieb und mit ihr alt werden konnte.
    Mein Gott, wie hatte der ihr den Kopf verdreht! Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, als er als Patient auf ihrer Station lag, war sie wie vom Donner gerührt gewesen. Ihre Blicke hatten sich getroffen und jeder hatte gewusst, dass das keine zufällige, beiläufige Begegnung war. Da hatte das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt und seit diesem ominösen Tag waren sie noch keinen Tag ohne einander gewesen. Anscheinend gab es sowas-Liebe auf den ersten Blick, sich sehen und wissen: Das ist er!


    Inzwischen war sie an der Wohnung angekommen. Nach einem Blick auf die Uhr stellte sie das Auto im eingeschränkten Halteverbot vor dem Haus ab, um Zeit zu sparen. Wenn sie jetzt in die Tiefgarage fahren würde, würde sie das nochmals ein paar Minuten kosten und sie wollte auf gar keinen Fall zu spät zum Dienst kommen! Sie lief die Treppen hinauf, schloss die Tür auf und blieb stehen, wie vom Donner gerührt! Was war denn da passiert? Ben´s Behausung sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, aber noch bevor sie ihre Gedanken ordnen konnte, umfassten sie zwei Arme von hinten, hielten ihr den Mund zu und zerrten sie vollends in die Wohnung. „Ja wen haben wir denn da?“, sagte eine Stimme und als sie in die Richtung sah, aus der die kam, stand dort dieser elegante Mann, der der Begleiter Irina´s auf der Eröffnung am Neumarkt gewesen war. Er trat nahe an sie heran und sagte drohend: „Ich glaube, sie können mir sagen, wo sich meinen Freundin aufhält. Ich weiß, sie hat ein kleines Problem, aber das werde ich mit ihr persönlich klären. Sagen sie mir nur, wo sie ist, dann vergessen wir die Sache!“ aber Sarah war klar, dass das so nicht laufen würde. Wenn er Irina fand, würde er sie vielleicht umbringen, also sie würde die junge Frau mit Sicherheit nicht verraten!


    „Ich habe keine Ahnung, wovon sie sprechen!“ behauptete sie tapfer, aber Sharpov lachte nur trocken auf und hielt ein kleines Täschchen hoch, das wohl Irina gehörte. „Wie merkwürdig! Wie das dann wohl in ihre Wohnung gekommen ist? Diese Tasche habe ich ihr persönlich geschenkt, versuchen sie mich nicht für dumm zu verkaufen!“ sagte er einen Ton schärfer. „Aber keine Angst, ich werde sie schon zum Reden bringen, ich habe da so meine Methoden!“ sagte er und machte eine kleine Kopfbewegung zu dem Mann, der Sarah festhielt. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, hatte der fest auf einen Punkt an ihrem Hals gedrückt und ehe sie sich versah, verlor sie langsam das Bewusstsein. Sharpov und seine zwei Begleiter packten Sarah und trugen sie die Treppe hinunter. Direkt vor der Haustür hielt Sekunden später ein dunkelblauer Kombi und Sarah wurde völlig unauffällig in den Fond gepackt. Sie wurde professionell gefesselt und geknebelt und als sie langsam wieder zu sich kam, lag sie halb auf der Rücksitzbank, rechts und links neben sich einen Schrank von Mann und das Fahrzeug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Durch die verdunkelten Scheiben konnte niemand einen Blick ins Innere werfen und so fuhr der Kombi mit unbekanntem Ziel davon.

  • Ben war gerade mit Semir auf Streife. Auf Höhe Rastplatz Eifeltor, klingelte Ben´s Handy. Eine Freundin und Kollegin Sarah´s war dran. Sie waren schon ein paarmal mit ihr und ihrem Freund weggewesen und hatten dabei auch ihre Handynummern getauscht. „Ben, weißt du, was mit Sarah los ist? Sie ist nicht zum Spätdienst erschienen und wir erreichen sie auch nicht telefonisch, weder auf Handy, noch auf Festnetz! Unsere Stationsleitung ist stocksauer, denn unentschuldigt fehlen kann dir da sofort eine Abmahnung einbringen, weil du ja den Dienstbetrieb gefährdest. Könntest du dich mal drum kümmern?“ bat sie ihn und Ben versprach völlig verdutzt, das zu tun.


    Sarah war sonst die Zuverlässigkeit in Person und wenn sie plötzlich erkrankt war, dann hätte sie doch sofort in der Arbeit angerufen, damit ein Ersatz besorgt werden konnte. Auch war sich Ben sicher, dass sie da auch ihm Bescheid gegeben hätte und außerdem war sie morgens ja noch putzmunter gewesen! Ein Unfall! Ja, sie musste einen Unfall gehabt haben! Sofort griff er zum Funkgerät und unter den besorgten Blicken Semir´s, der die Veränderung in Ben´s Gesichtsausdruck gleich bemerkt hatte, griff er zum Funkgerät. „Susanne, kannst du mal für mich herausfinden, ob ein königsblauer Polo mit der Nummer K-SB-382 in einen Unfall verwickelt war?“ sprach er ins Funkgerät und als er es wieder weglegte sah Semir ihn herausfordernd an. „Erde an Ben! Könnte ich vielleicht auch mal erfahren, was passiert ist?“ forderte er leicht verärgert. Als er allerdings die Panik in Ben´s Augen sah, lenkte er sofort ein. „Schon gut, ich bin ja auch nicht sauer, aber los, erzähl, was der Anruf zu bedeuten hatte!“


    „Sarah ist nicht zur Arbeit gegangen, aber ich mache mir deswegen große Sorgen, denn das ist einfach nicht ihre Art!“ erklärte Ben und da musste Semir ihm zustimmen. Er hatte sich für seinen Freund und Kollegen so gefreut, als er mit dieser geerdeten und noch dazu gutaussehenden Frau zusammengekommen war. Die hatte das Herz am rechten Fleck, war unkompliziert und vor allem: Sie liebte Ben über alle Maßen und soweit er das beurteilen konnte, beruhte das auf Gegenseitigkeit! Obwohl sie erst ein gutes Vierteljahr zusammen waren, hatte Semir nur positive Veränderungen bei seinem Freund wahrgenommen. Er hatte in seinen Augen die Frau gefunden, die er verdient hatte und die ihn in jeder Form unterstützte, ohne dabei ihr eigenes Leben und ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Trotzdem war es möglich, Ben zu einem Männerabend zu entführen, aber so, wie er zu Andrea zurückkehrte, war auch Ben immer freudig, auch zu später Stunde, heimgegangen, auch weil er wusste, dass ihn keine Vorwürfe erwarteten.
    Sarah hatte auch lange nicht gewusst, wie begütert Ben eigentlich war. Sie hatte sich in den Polizisten verliebt, der mit einem halbwegs normalen Einkommen vielleicht eine Familie ernähren, aber deswegen keine großen Sprünge machen konnte. Aber das war ihr egal gewesen. Sie konnte schließlich auch arbeiten und nachdem ihr Beruf ihr, bei allem Stress, anscheinend genau so viel Spaß machte, wie Ben der Seine, war sie bereit, ihr Glück durchaus lebenslang mit Arbeit zu unterstützen und als sie irgendwann von Ben, kurz vor der Vorstellung bei seinem Vater und seiner Schwester, erfahren hatte, wie sorgenfrei er eigentlich die finanzielle Seite des Lebens angehen konnte, da war es ihr egal gewesen. Auch das hatte Ben glücklich gemacht, denn er konnte sicher sein, dass er von Sarah nicht des Geldes wegen geliebt wurde!


    Während Semir, ohne dass sein Freund etwas sagen musste, in Richtung zu Ben´s Wohnung steuerte, versuchte Ben auf Sarah´s Handy anzurufen und danach auf dem Festnetz in seiner Wohnung. Aber wie die Kollegin schon gesagt hatte-Sarah ging nicht ran! Bei ihrem Handy aktivierte sich allerdings erst nach einiger Zeit die Mailbox, also war anzunehmen, dass es nicht ausgeschaltet war. Nach kurzer Zeit meldete sich Susanne wieder. „Ben, da ist kein Unfall gemeldet, weder mit einem Polo, noch sonst was!“ teilte sie ihm mit und Ben saß nun völlig unruhig auf seinem Autositz. Vielleicht war ihr in der Wohnung was passiert! So häusliche Unfälle gingen oft übel aus! Oh, Gott, hoffentlich waren sie bald da. Beinahe wollte er Semir bitten, das Blaulicht zuzuschalten, aber dann tat er es doch als übertrieben ab. Das würde Ärger geben, so eine Einsatzfahrt aus privaten Gründen und nachdem der Verkehr jetzt am frühen Nachmittag eigentlich ganz gut lief, waren sie kurze Zeit später angekommen.


    Das Erste was Semir und Ben auffiel war Sarah´s Polo, der direkt vor dem Haus im Halteverbot stand, verziert mit einem Knöllchen. Ben war mit zwei Schritten am Fahrzeug und spähte hinein, aber er konnte nichts Auffälliges erkennen. Dann raste er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, so dass Semir fast nicht nachkam. Er fingerte mit zitternden Fingern seinen Schlüssel heraus und hatte Mühe ihn ins Schloss zu stecken, das sich auch schwer öffnen ließ. Semir stand unmittelbar hinter Ben, der angstvoll:“Sarah?“ rief und dabei die Tür aufstieß.
    Wie vom Donner gerührt blickte Ben auf das Chaos in der Wohnung, die eindeutig gefilzt worden war. Dann ging er mit schleppenden Schritten durch die Räume und hoffte, dass ihn kein schlimmer Anblick irgendwo erwarten würde, aber außer Sarah´s Handy, das an seinem üblichen Platz beim Laden hing, war nichts zu entdecken. Semir hatte inzwischen sein Handy gezückt und in der KTU angerufen. „Hartmut, komm bitte sofort mit ein paar SpuSi-Leuten zu Ben´s Wohnung, die wurde durchsucht!“ bat er und rief direkt im Anschluss noch die Chefin an, die Sarah auch gleich zur Fahndung ausschrieb.
    Ben sank derweil auf das Wohnzimmersofa, verbarg das Gesicht in seinen Händen und versuchte zu begreifen, was da wohl geschehen war. Wo war Sarah?

  • Wenig später trafen Hartmut und die Spurensicherung ein. Auch die Chefin war mitgekommen. Sie setzte sich neben Ben auf die Couch und legte tröstend die Hand auf seine Schulter. „Wir werden sie schon finden, Jäger!“ sagte sie aufmunternd. Ben zermarterte sich inzwischen den Kopf, wer der Entführer seiner Freundin sein könnte, denn das war sonnenklar! Sarah war nicht freiwillig mitgegangen, irgendwer musste sie überrascht haben, als er in seine Wohnung, aus welchen Gründen auch immer, eingebrochen war. Feinde hatte er genug, aber seine Adresse stand weder im Telefonbuch, noch auf seinen Visitenkarten. In der PASt hätte die niemand rausgerückt und auch sonst war die Geschichte mehr als schleierhaft!


    Nachdem Ben da wie in Trance dagehockt war, hatte Semir inzwischen mit solider Polizeiarbeit angefangen und begonnen, die Nachbarn, soweit sie zuhause waren, zu befragen. Leider hatte niemand etwas beobachtet und so konnten sie nur hoffen, dass Hartmut irgendeinen Hinweis finden würde. Als Semir nun zu seinem Freund zurückging, der immer noch keinen klaren Gedanken fassen konnte, sagte er: „Leider hat von deinen Nachbarn niemand etwas gesehen, ich würde vorschlagen, wir schauen uns auch mal das Auto an, das ist doch merkwürdig, dass das nicht in der Tiefgarage steht! Hast du vielleicht einen Ersatzschlüssel?“ fragte er und Ben erhob sich nun, obwohl ihm noch die Knie zitterten. Natürlich hatte Semir Recht-es war das Vernünftigste, jetzt zu verfahren, wie bei jedem anderen Fall auch.


    Er ging an die Kommode im Flur, in der sie ihre Ersatzschlüssel usw. aufbewahrten und holte nach kurzem Zögern einen VW-Schlüssel heraus. Als sie gemeinsam die Treppe heruntergingen, wäre Ben beinahe gestrauchelt, wenn Semir ihn nicht rechtzeitig gestützt hätte. Verdammt, dass seinen Freund das dermaßen mitnahm! Semir verfluchte sich beinahe, dass er ihn gebeten hatte. Es wäre sicher besser, er würde da gar nicht mitermitteln, denn er war persönlich viel zu befangen und die Chefin war fast mit Sicherheit der gleichen Meinung! Als hätte er Semir´s Gedanken gelesen, sagte Ben: „Du brauchst nicht meinen, dass ich mich in diesem Fall ausbooten lasse. Ich werde alles tun, um Sarah zu finden und ich glaube auch, ich weiß, wer sie in seiner Gewalt hat!“
    Semir sah seinen Freund herausfordernd an. „Und, was denkst du?“ fragte er, obwohl er insgeheim natürlich auch eine Meinung zu diesem Fall hatte. „Sharpov, er ist der einzige, der aktuell so einen Hass auf mich hat, dass er mich verletzen möchte!“ antwortete Ben und das waren ehrlich gesagt auch Semir´s Gedankengänge gewesen. „Hilfst du mir das Schwein zu überführen und Sarah zu befreien?“ fragte er seinen Freund und Semir nickte überzeugt. „Natürlich Ben, was denn sonst!“ antwortete er und drückte seine Hand.


    Inzwischen waren sie vor Sarah´s Wagen angelangt und Ben drückte auf den Auslöser für die Zentralverriegelung. Obwohl es ja sehr unwahrscheinlich war, fasste er doch mit zitternden Händen an die Kofferraumklappe und öffnete sie vorsichtig. Fast traute er sich erst nicht hinzuschauen, aber zu seiner grenzenlosen Erleichterung war sie leer. Außer ein paar Stofftaschen für die Einkäufe befand sich nichts in dem Auto, aber als Semir und Ben es kurz durchsahen, entdeckten sie doch unter dem Beifahrersitz ein leicht blutiges Papiertaschentuch. „Hatte Sarah manchmal Nasenbluten?“ fragte Semir, aber Ben schüttelte überzeugt den Kopf. „Solange wir zusammen sind, hatte sie sowas noch nie!“ erklärte er und Semir befahl: „Pfoten weg, das soll sich Hartmut nachher auch ansehen!“ und damit traten sie den Rückweg in die Wohnung an. Ben konnte nicht feststellen, dass etwas gestohlen worden wäre und Sarah hatte auch noch dasselbe an, wie heute Morgen, als sie zusammen gefrühstückt hatten.
    Während die Spurensicherung ihre Arbeit machte und Hartmut versprach, sich anschließend Sarah´s Auto vorzunehmen, hatte sich Ben wieder ein wenig gefangen. „Jäger, sie sind raus aus dem Fall, das wird ihnen wohl klar sein?“ sagte die Chefin zu ihm, aber anstatt auszuflippen oder zu explodieren, nickte Ben bloß folgsam mit dem Kopf und Semir konnte es fast nicht glauben.
    Mit dem Versprechen, sich bei Semir zu melden, wenn es Neuigkeiten gab und der Ermahnung an Ben, ab sofort zuhause zu bleiben, machte sich die Chefin wieder auf den Weg zur Dienststelle, während Hartmut und sein Team noch eine ganze Weile weitermachten.


    „Ich möchte nur vorsichtshalber noch Sarah´s Appartement im Schwesternwohnheim aufsuchen. Der Schlüssel dazu ist zwar weg, vermutlich hat den Sarah eingesteckt, aber vielleicht finden wir dort irgendwas, was uns weiterbringt!“ hoffte Ben und als sie im Wagen saßen machte sich Semir sofort auf den Weg dorthin. „Du brauchst der Chefin ja nichts von meiner „Mithilfe“ zu sagen“ bat Ben seinen Kollegen und der nickte. Ehrensache, dass das unter ihnen blieb.


    Als sie im Wohnheim angekommen waren, läutete Ben einfach wahllos an ein paar Türglocken, bis der Summer ertönte und jemand die Haustür öffnete. Dann gingen sie gemeinsam zu Sarah´s Appartement und Ben hatte schon sein Einbruchswerkzeug gezückt, um die Tür, wenn möglich, zu öffnen, da hörten sie plötzlich Musik aus der Wohnung. Ben starrte fassungslos auf den Wohnungseingang, nur um dann heftig auf den Klingelknopf zu drücken, gleichzeitig mit der Faust an die Tür zu donnern und laut „Sarah!“ zu brüllen. Die Musik verstummte und plötzlich war alles ruhig in der Wohnung, aber Semir und Ben waren sich hundertprozentig sicher, dass sie sich nicht verhört hatten.
    Ben überlegte fieberhaft, ob er seine Freundin irgendwie verletzt hatte, dass sie ihn nicht sehen wollte. Das konnte doch nicht sein, dass sie sich jetzt vor ihm versteckte. „Sarah, ich bin´s Ben, lass uns über alles reden!“ sagte er, nun ganz sanft und plötzlich drehte sich der Schlüssel, der von innen anscheinend gesteckt hatte, im Schloss und die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. Ben meinte, seinen Augen nicht zu trauen, als er erkannte, wer vor ihm war. Brutal zwängte er den Fuß in die Tür und drängte Irina, die mit verquollenen Augen vor ihm stand in die Wohnung. Semir folgte ihm und Ben packte Irina, nicht sonderlich sanft, am Oberarm, so dass sie kurz aufschrie, da waren nämlich schon blaue Flecke drunter. „ Was geht hier vor und wo ist Sarah?“ fragte er und Semir und er warteten gespannt auf eine Antwort.

  • Sarah war inzwischen von Sharpov und seinen Handlangern in ein Haus mitten in Chorweiler gebracht worden. Dort hatte Sharpov für seine Helfershelfer mehrere Wohnungen bereitgestellt. Das Haus gehörte ihm und einer der Kellerräume, der früher vermutlich als Waschküche gedient hatte, war wie ein Gefängnis umgebaut. Die Wände waren isoliert und das winzige Fenster, das ganz oben ein wenig Tageslicht hereinließ, mündete in einem Lichtschacht, der von außen auch nicht einsehbar war. Ein Bett mit einer kratzigen Wolldecke darauf, bildete mit einem alten Tisch und einem Stuhl das Mobiliar. In der Ecke war eine Toilette und ein Waschbecken und damit war die Einrichtung schon erledigt. Sarah wurde grob hinein gestoßen, ein paar Flaschen Wasser neben das Bett gestellt und dann löste einer der Russen ihre Fesseln. Als sie den Knebel aus ihrem Mund ziehen konnte, atmete Sarah erleichtert auf, denn zusätzlich zu ihrer generellen Angst war noch die Sorge zu ersticken, dazugekommen. Ohne ein weiteres Wort wurde hinter ihr die Tür zugeschlagen und sie hörte wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Völlig fertig und verwirrt sank Sarah auf das Bett und begann zu weinen.


    Ben hatte inzwischen Irina wieder losgelassen, denn ihm war klar, dass die ihnen sonst vielleicht nichts sagen würde. Mit männlicher Brutalität hatte sie in letzter Zeit genügend Erfahrungen gemacht, so wie sie aussah! Irina rieb sich die schmerzenden Oberarme und war in Sarahs Wohn-Schlafzimmer zurückgewichen. Obwohl Ben sie am liebsten geschüttelt hätte, um von ihr zu erfahren, wo Sarah sich aufhielt, nahm er sich nach einem warnenden Blick Semir´s zurück und ließ den die junge Russin befragen.
    „Frau Bukow, wie kommen sie in dieses Appartement?“ wollte der nun ruhig wissen. Irina sah ihn mit großen Augen an und begann nun erst einmal zu schluchzen, was allerdings bei Ben völlig das Ziel verfehlte. Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu und begann unruhig auf-und abzulaufen. Irina heulte und als Semir bemerkte, dass er mit Druck aus dieser jungen Frau nichts rausbringen würde, fuhr er Ben an:“Entweder du setzt dich jetzt, oder du gehst raus. Sie kann sich ja gar nicht konzentrieren, wenn du so eine Unruhe verbreitest!“ pfiff er ihn an und nun musste Ben einsehen, dass sein Partner Recht hatte. Er setzte sich also auf die kleine, gemütliche Sitzecke, wie Semir und Irina auch und versuchte selber ein wenig runterzukommen.


    Irina war der Schlüssel zu dem Ganzen und vermutlich kamen sie nur mit ihrer Hilfe an Sharpov ran und damit zu Sarah. Deshalb sagte er nun ein wenig freundlicher: „Erzählen sie mal, was vorgefallen ist!“ und lehnte sich zurück. Irina begann nun zu berichten: „Ich habe schon seit geraumer Zeit keine Lust mehr auf Sharpov. Der hat mich aus Russland hierhergeholt und mir eine große Modelkarriere versprochen. Erst habe ich auch ein paar Modeaufnahmen gemacht und bin ein paar kleinere Schauen gelaufen, aber dann hat mich Waldemar ganz für sich beansprucht. Ich musste ihm jederzeit zur Verfügung stehen, mich die ganze Zeit nur mit ihm beschäftigen und durfte kein eigenes Leben mehr haben. Er hat mich zwar mit allem Luxus umgeben, aber das war wie ein goldener Käfig für mich. Als ich ihm gesagt habe, dass ich wieder zurück nach Russland in meine Heimat und zu meinen Freunden will-ich komme aus St. Petersburg und dort ist es wunderschön-hat er mich geschlagen und mir klargemacht, dass das nicht meine Entscheidung ist.
    Ich habe nun vor ein paar Tagen einfach meine Sachen gepackt und wollte gerade heimlich zum nächsten Goldhändler, um Schmuck, den er mir geschenkt hatte, in Bargeld zu verwandeln und dafür ein Flugticket nach Hause zu kaufen, da hat er mich abgepasst und aufs Übelste verprügelt. Seine Schergen haben lachend zugesehen und dann hat er mir alle Wertsachen und meinen Reisepass abgenommen, um mich zu disziplinieren.


    Ich habe momentan mitgespielt und mich auch entschuldigt und zu ihm gesagt, dass es mir leid tut, aber seitdem hat er mich mit Misstrauen beobachtet. Heute Morgen war er auf einem Geschäftstermin und einer der Aufpasser war ein wenig nachlässig und so konnte ich fliehen. Ich habe mich erst im Park versteckt und bin dann mit der Straßenbahn zu ihrer Wohnung gefahren, weil ich dachte, dass sie mir helfen würden!“ sagte Irina und begann nun wieder leise zu weinen. Semir gab ihr väterlich ein Papiertaschentuch und nach einer Weile hatte sie sich wieder beruhigt.
    „Woher wussten sie, wo ich wohne?“ wollte Ben nun überrascht wissen und Irina sah ihn fast ein wenig verächtlich an. „Waldemar kann alles herausfinden, was ihn interessiert. Er hat auf seinem PC sogar eine Akte über sie angelegt, da stehen Dinge drin, da wären sie überrascht, wie er da rankommt. Mit ihrer Adresse war das ganz einfach-er hat sie verfolgen lassen, als sie mal wieder mit dem Fahrrad am Neumarkt waren. Ihr Interesse für dieses Betonkunstwerk hat ihm nämlich gar nicht gefallen und deswegen sieht er sie als Feind-und über seine Feinde weiß er genauestens Bescheid!“ erklärte sie ihm und wenn Ben nun nachdachte, hatte er sich einmal sogar gewundert, dass ein Radfahrer denselben Weg wie er hatte, das aber bald wieder vergessen.


    „Das beantwortet jetzt aber nicht, wie sie hierherkommen!“ sagte Ben und Irina nickte. „Als ich an ihrer Tür geklingelt habe-ich hatte einfach gehofft, dass sie da wären, weil ich sonst nicht gewusst hätte, wohin-hat mir ihre Freundin, die übrigens sehr nett ist, geöffnet. Ich habe ihr erklärt, dass ich mich verstecken muss, weil mich Sharpov sonst vielleicht umbringt und sie war so freundlich, mich in diese Wohnung zu bringen und sie hat sogar noch einen Arzt organisiert, der mich untersucht hat. Dann bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen und Sarah ist zum Dienst ins Krankenhaus gegangen!“-„wo sie nie angekommen ist!“ vervollständigte Ben ihren Satz und sie sah ihn daraufhin ganz erschrocken an und schlug die Hand vor den Mund.
    „Oh nein, dann hat Sharpov sie und wird sie dazu benutzen, mich wiederzukriegen. Damit bin ich so gut wie tot!“ weinte sie und Semir und Ben mussten ihr Recht geben. Das war wirklich ein Dilemma!

  • „Irina!“ Semir benutzte wie selbstverständlich ihren Vornamen. „Wir werden nicht zulassen, dass er ihnen was tut. Sie haben das Richtige gemacht und sich an einen Polizisten gewandt und wir werden sie schützen, so wahr ich Semir Gerkan heiße!“ sagte er mit fester Stimme, nur Ben schwieg dazu. Er war innerlich momentan total aufgewühlt und gab immer noch Irina die Schuld an der maßgeblichen Entführung seiner Freundin. Allerdings, je näher er darüber nachdachte, war ihm Sharpov ja, anscheinend völlig unabhängig von dieser Aktion, schon auf den Fersen gewesen. Ob er über Semir auch eine Akte angelegt hatte? Wenn der so tickte, dann wäre auch Semir´s Familie vielleicht in Gefahr!


    Semir fuhr nun fort „Ich denke, das Vernünftigste was wir zu ihrem Schutz tun können, ist, sie in eine geheime Wohnung zu bringen. Bis das allerdings organisiert ist, fahren wir sie aufs Revier, denn hier sind sie nicht sicher. Wenn Sharpov so gut ist, wie sie sagen, dann wird er dieses Appartement hier in Kürze ebenfalls ausfindig gemacht haben und dann ist guter Rat teuer!“ Irina stimmte zu und sagte: „Ich müsste aber zuvor noch kurz ins Bad!“ und Semir und Ben nickten dazu.


    Als sie alleine im Zimmer zurückblieben, wanderte Ben´s Blick zu Sarah´s Bett. Bevor sie praktisch bei ihm eingezogen war, hatte er dort mit seiner neuen Liebe wundervolle Stunden verbracht. Wenn er da gewusst hätte, dass er sie mit seiner Arbeit in dermaßen große Gefahr brachte, dann hätte er vielleicht nie was mit ihr angefangen. Diese Traumfrau hatte es nicht verdient, wegen ihm zu leiden und entführt zu werden. Vielleicht wurde sie gerade gefoltert oder vergewaltigt, weil man aus ihr Informationen herauspressen wollte, die sie ja gar nicht geben konnte, zu sehr hatte er sich über seine Arbeit in Stillschweigen gehüllt! Bei Semir war das anders-dessen Frau Andrea hatte lange genug mit ihnen auf dem Revier gearbeitet und hatte gewusst, auf was sie sich einließ. Sarah dagegen war völlig unwissend in etwas gestolpert, was ihr nun das Leben kosten konnte. Ach wenn er es nur ungeschehen machen könnte.
    Semir hatte Ben´s Blick zu dem Bett mit der fröhlichen bunten Bettwäsche wandern sehen und er entdeckte nun auch, dass die Augen seines Freundes verdächtig glänzten und er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Tröstend legte er seine Hand auf dessen Schulter. „Wir werden sie finden, Ben, wir werden sie finden!“ sagte er und als kurz darauf Irina aus dem Badezimmer kam, hatte er sich wieder gefangen und wartete nun mit hocherhobenem Kopf auf das Erscheinen des russischen Models.


    Welche Veränderung war mit der vor sich gegangen! Zuvor war sie eine verhuschte, ängstliche junge Frau mit verquollenen Augen gewesen, aber jetzt war sie frisch geschminkt-mit Sarah´s Farben, wie Ben schmerzhaft feststellte, roch verführerisch nach Sarah´s Parfum und hatte die Haare kunstvoll hochgesteckt. Sie lief kerzengerade, aber als Ben einen kleinen Blick in ihre Augen warf, flüsterte er Semir ins Ohr. „Die hat wieder irgendwas eingeworfen, schau mal, die Pupillen sind erweitert!“ und Semir nickte leicht zum Zeichen, dass er es auch bemerkt hatte.
    Ben ging vorsichtig voraus und beobachtete die Umgebung, konnte aber nichts oder vielmehr niemand Gefährliches entdecken. Schnell setzten sie Irina in den Fond des BMW und Semir rauschte zügig zur PASt. Ben griff unterwegs zum Funk: „Cobra 11 an Zentrale!“ sagte er und Susanne antwortete: „Was gibt´s, Ben?“ „Wir kommen mit einer Zeugin, die Personenschutz benötigt und eine Schutzwohnung. Kannst du der Chefin Bescheid sagen und das organisieren?“ fragte er und Susanne versprach, das in die Wege zu leiten. Wenig später waren sie an ihrer gemeinsamen Arbeitsstelle und wieder sicherte Ben die Umgebung, während Semir die junge Frau schnell in die Polizeistation brachte.


    Dort wurden sie schon von der Chefin erwartet. „Was tun sie hier, Jäger?“ fragte sie ein wenig zornig. „Ich hatte doch gesagt, sie sollen in ihrer Wohnung bleiben!“ fügte sie noch hinzu, aber Semir verteidigte ihn sofort. „Ich wollte nur vorsichtshalber im Appartement seiner Freundin nachsehen, nicht dass die da selig schläft und wir hier den großen Aufstand proben. Nachdem ich aber nicht wusste, wo das ist, habe ich ihn nur gebeten, mir zu zeigen wie ich dorthin komme und wir haben dann eine überraschende Entdeckung gemacht. Es blieb keine Zeit Verstärkung zu holen, weil Irina in akuter Gefahr schwebt und von Sharpov gesucht wird!“ erklärte er und die Chefin runzelte zwar skeptisch die Stirn-zu sehr war sie gewöhnt, dass ihre beiden Starpolizisten die Wahrheit ein wenig in ihre Richtung bogen, aber jetzt konnte sie ihnen das ja schlecht beweisen.


    „Also dann erzählen sie mal!“ sagte sie auffordernd zu Irina, die inzwischen elegant auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch der Chefin Platz genommen hatte. Die schlug die schlanken Beine übereinander und erzählte dieselbe Story, wie zuvor schon in Sarah´s Wohnung. Ben war unruhig aufgestanden und hatte sich einen Kaffee geholt. Susanne kam mit Verschwörermiene näher und sagte leise zu ihm: „Hartmut ist schon wieder in der KTU und ich soll euch ausrichten, er hätte eine interessante Entdeckung gemacht!“ Ben nickte unmerklich-klar wusste Susanne, dass er zwar offiziell raus war, aber trotzdem heimlich weiterermitteln würde. „Wir werden ihn dann gleich besuchen!“ erwiderte er leise und ging mit einer zweiten Tasse Kaffee bewaffnet wieder zurück ins Büro. Als er sie Irina hinstellte, bedachte sie ihn mit einem verführerischen Lächeln und bedankte sich herzlich. Die Chefin seufzte innerlich auf. Verdammt noch mal, warum standen denn alle Weiber immer auf Ben? Aber egal, das Wichtigste war jetzt, seine Freundin zu befreien und nebenbei ihn von Dummheiten abzuhalten. „ Jäger-sie fahren jetzt wieder in ihre Wohnung, die Spusi ist fertig und ich denke, sie haben jetzt genug zum Aufräumen, Gerkan, sie bringen ihn hin und stehen danach wieder zu meiner Verfügung. Bonrath und Dorn werden die Zeugin in eine Schutzwohnung bringen und bei ihr bleiben, bis sich etwas ergeben hat!“ erteilte sie ihre Befehle und Semir und Ben erhoben sich ohne Widerrede.
    Kaum saßen sie im Wagen, sagte Ben: „Wir müssen sofort zu Hartmut in die KTU, der hat was rausgefunden!“ und Semir seufzte innerlich auf. Wie sollte er das nur der Chefin erklären! Aber dann wendete er und steuerte in Richtung Hartmut´s Reich.

  • Hartmut saß inzwischen wieder im weißen Laborantenkittel vor dem Mikroskop und starrte in die Optik. Als er ein Geräusch in der Tür hörte, drehte er sich schwungvoll auf seinem Drehhocker um. „Na da seid ihr ja-hat Susanne es euch ausgerichtet?“ fragte er und Semir und Ben nickten gleichzeitig und setzten sich. „Also Ben, in deiner Wohnung habe ich viele DNA-Proben und Fingerabdrücke genommen, bisher haben wir da aber noch keinen Datenbanktreffer-außer bei deinen und vermutlich Sarah´s Abdrücken, die ich zum Vergleich von ihrer Haarbürste im Bad abgenommen habe.


    Dein Türschloss wurde eindeutig geknackt, aber wer das gemacht hat, war ein Profi!“ teilte er mit. „Und Hartmut“ drängte Ben, „Welche echten Neuigkeiten hast du jetzt für uns, wir haben keine Zeit-Sarah muss befreit werden!“
    Hartmut drehte sich wieder zu seinem Mikroskop und teilte mit: „Das Taschentuch aus Sarah´s Wagen war eindeutig nicht von ihr. Anhand der Blutspritzer konnte ich feststellen, dass die Person, die es benutzt hat, regelmäßig Kokain konsumiert. Im Blut waren Teile von Nasenschleimhaut, das bedeutet, dass der Verwender schon ganz schön viel und regelmäßig kokst!“
    Semir und Ben warfen sich einen Blick zu. „Das haben wir uns eigentlich schon gedacht! Die Person, von der das Taschentuch vermutlich stammt, ist Irina Bukow, diese Lebensgefährtin von Sharpov. Von der müsstest du auch in der Wohnung Spuren gefunden haben, sie bestreitet das auch gar nicht! Also sagst du uns gerade gar nichts, was uns nur ein bisschen weiterbringt!“ erklärte nun Semir. „Jetzt lasst mich halt mal ausreden. Es waren auch noch Spuren von Kokain an dem Papiertaschentuch. Das weist eine Besonderheit auf. Es war-vermutlich zum Schmuggel- an Eisenchlorid gebunden, wovon man noch Reste am reextrahierten Stoff feststellen kann.“ berichtete er. Semir und Ben sahen Hartmut jetzt ein wenig verwirrt an. Was hatte das jetzt mit der Sache zu tun?
    „Seit 1998 ist bekannt, dass es möglich ist, Kokain durch die Verbindung mit Kobalt-oder Eisenchlorid so zu verändern, dass die gängigen Drogentests nicht anschlagen. Auch Drogenspürhunde können es in dieser chemischen Verbindung-man sagt übrigens Coca Negra dazu-nicht riechen. Das wird in Südamerika, das ja der Hauptanbauort für Kokain ist, teilweise im großen Stil so betrieben. Man versetzt es chemisch teils Schiffsladungenweise mit diesen Metallverbindungen und im Empfängerland können einigermaßen geschickte Chemiker dann wieder reines Kokain herstellen. Das wurde fast mit Sicherheit mit dem Kokain, das ich in dem Taschentuch gefunden habe, so gemacht.“ erklärte er.
    „Das ist ja sehr schön, Hartmut und das Drogendezernat wird sich über deine Erkenntnisse sicher freuen!“ sagte Ben. „Aber wir müssen dringend Sarah finden und können uns jetzt nicht mit dieser Rauschgiftproblematik befassen.“


    Gerade wollte er aufspringen und das Labor verlassen, da hielt Hartmut ihn auf. „Was denkst du, wo ich ebenfalls Spuren von Eisenchlorid in genau derselben Zusammensetzung gefunden habe?“ fragte er geheimnisvoll und nun war es an Semir, ungeduldig zu drängen. „Los, spucks schon aus, Einstein!“ sagte er und Hartmut sah die beiden konzentriert an. „An dem Betonbrocken von eurem Kunstwerk, das am Neumarkt steht, den ich nach dem Mord untersucht habe!“ ließ er die Bombe platzen.
    Nun sahen Semir und Ben ihn fassungslos an. „Das ist es, Hartmut-das ist die Verbindung zu Sharpov und das Motiv für den Mord an Melanie. Irgendwie dient das Kunstwerk als Drogenumschlagplatz, ich wusste, dass da irgendwas faul ist an der Sache!“ rief Ben und sprang halb auf.
    Semir dachte an seine Internetrecherchen. „Sharpov verdient einen Teil seines Geldes mit dem Import von Edelmetallen aus der ehemaligen Sowjetunion, die ja da riesige Vorkommen haben. Gesetzt den Fall er benutzt diese Handelswege auch, um Kokain und was weiß sonst noch was zu schmuggeln, dann erklärt das seinen immensen Reichtum, den er ja in eigentlich wenigen Jahren angehäuft hat.“ überlegte er laut und Ben und Hartmut nickten dazu.


    „Jetzt müssen wir ihm das nur noch beweisen und ich denke, eine gewisse Irina Bukow kann uns zu diesem Thema sicher noch so einiges erzählen. Außerdem müssen wir uns das Betonkunstwerk nochmals vornehmen, denn das ist vermutlich der Schlüssel zu dem Ganzen!“ rief Ben und sprang nun endgültig auf. Dann sank er allerdings wieder auf seinen Stuhl zurück. „Wie und wo wir allerdings Sarah finden können, das ist mir trotzdem schleierhaft, oder denkst du, er hat die in seiner Villa versteckt, Semir?“ fragte Ben leise seinen Kollegen. Der schüttelte allerdings den Kopf. „Wir brauchen auf jeden Fall noch mehr Beweise, bevor wir einen Durchsuchungsbeschluss für seine Hütte kriegen. Aber nein, ich denke nicht, dass der so unvorsichtig sein wird, deine Freundin in seinem eigenen Haus zu verstecken!“ erklärte er.
    „Dann sind wir jetzt eigentlich auch nicht weiter als vorher!“ sagte Ben niedergeschlagen und ging langsam mit schleppenden Schritten zum Ausgang der KTU.

  • Susanne hatte inzwischen fieberhaft die Liegenschaften Sharpov´s in Köln auf dem PC gesucht. Leider war da außer seiner Villa nichts im Grundbuchverzeichnis zu finden. Anscheinend hatte der sein Geld anders, als in Immobilien angelegt!


    Semir überlegte, wie er der Chefin Ben´s Teilnahme an der Suche nach seiner Freundin verklickern sollte. So sehr er wusste, dass Ben völlig voreingenommen gegen Sharpov war, genauso war ihm klar, wie er sich auf ihn bei der Suche nach Sarah und auch sonst in jeder Lebenslage, verlassen konnte. Hartmut´s Erkenntnisse hatten endlich den Zusammenhang zwischen dem Mord, Sarah´s Entführung und dem merkwürdigen Kunstwerk am Neumarkt aufgezeigt, ohne dabei nur das geringste Fitzelchen eines Beweises mitzubringen. Sie mussten Sharpov überführen, sonst würde er als der Mann mit der weißen Weste aus diesem ganzen Scharmützel hervorgehen!


    Als Semir und Ben im Auto saßen fragte Semir: „Und, zu dir nach Hause?“ woraufhin Ben empört den Kopf schüttelte. Noch bevor er sich über diese Unsensibilität bei seinem Freund beschweren konnte, winkte der schon ab. „Ben, das war nur ein gutgemeinter Vorschlag. Wir wissen beide, dass auch ich es keine Sekunde in meinem Haus bei absolut unwichtigen Aufräumarbeiten aushalten könnte, wenn mit Andrea und den Kindern irgendwas wäre. Wir müssen nur versuchen, dass die Chefin davon so wenig wie möglich mitkriegt!“ beschwor er Ben, der gerade kurz vor dem Explodieren war.


    Der beruhigte sich langsam ein wenig und als Semir ihn fragte: „Was sollen wir als Nächstes unternehmen?“ überlegte er und sagte dann entschlossen: „Zum Neumarkt! Wir werden versuchen, da Hinweise auf den Drogenhandel aufzuspüren!“ und Semir nickte dazu. Der ältere Polizist steuerte seinen BMW in Richtung des historischen Kölner Platzes und war ganz überrascht, als sich Ben plötzlich zu Wort meldete. „Semir, was denkst du? Glaubst du, dass Sarah überhaupt noch lebt? Du weißt, ich habe meinen ganzen Freundinnen bisher kein Glück gebracht. Wenn wir sie befreit haben, werde ich Schluss machen, auch wenn es mir das Herz bricht. Es ist unverantwortlich einen geliebten Menschen so einer Gefahr auszusetzen, wie ich es mit Sarah gemacht habe!“ sagte er mit zitternder Stimme.
    Semir, der gerade entlang einer Geschäftsstraße mit Parkbuchten fuhr, trat scharf auf die Bremse, so dass sich Ben´s Gurt einen kurzen Augenblick straffte. „Ich glaube, du spinnst!“ sagte er heftig. „Wenn das so wäre, dann hätte ich Andrea nie heiraten und Kinder hätten wir schon gar keine kriegen dürfen! So darfst du nicht denken, sonst frisst dich dein Beruf auf!“ erwiderte er heftig und Ben, der betreten zu Boden gesehen hatte, nickte.
    „Ich möchte das ja auch gerne so sehen, aber Tatsache ist, dass Sarah wegen mir entführt wurde und vielleicht sogar leiden muss. Wenn ihr etwas zustößt, dann kann ich mir das nie verzeihen!“ erklärte er Semir heftig und der fädelte sich langsam wieder in den fließenden Verkehr ein. „Vielleicht solltest du aber die Entscheidung ihr überlassen?“ schlug Semir vor und damit war Ben momentan sogar einverstanden.
    Wenig später trafen sie am Neumarkt ein und stellten den BMW mitten auf der Insel, von der die Straßenbahnen wegfuhren ab, um sich zu Fuß zum Kunstwerk aufzumachen.


    Sarah war inzwischen ein wenig zur Ruhe gekommen und hatte in ihrem Gefängnis zu weinen aufgehört. Sie dachte nach und kam zu dem Schluss, dass ihre Entführung zumindest mit Ben´s Fall, der mit dem Betonkunstwerk am Neumarkt zusammenhing, in Verbindung stand. Er hatte ihr dazu zwar nichts Näheres erzählt, aber dass ihn das beschäftigte, war seinem Interesse am Kunstwerk deutlich abzulesen. Sowohl Irina, als auch der elegante Russe waren schließlich bei der Einweihung dagewesen, aber um was im Detail es ging, hatte er ihr leider nicht erzählt.
    Natürlich hatte sie alle Möglichkeiten zur Flucht ausgelotet, aber da bestand für sie keine Chance. Das Kellerverließ war ausbruchssicher eingemacht und so blieb ihr nichts anderes über, als darauf zu warten, dass etwas geschah!

  • Semir und Ben waren inzwischen wieder am Kunstwerk angekommen. Zuerst umrundeten sie es und Ben sah aus den Augenwinkeln noch gerade den Kulturreferenten Weidenhiller mit hochrotem Kopf in die Straßenbahn einsteigen, die eben vom Gleis wegfuhr. Inzwischen war dort ein großes Schild angebracht worden auf dem stand:
    "Symphonie in Grau", von Ingo von Krottenthal.
    Darunter war noch ein kleiner Vermerk: gespendet vom Förderer der Kunst in Köln, Waldemar Sharpov.
    Semir und Ben schüttelten den Kopf, als sie die Tafel lasen
    „Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass das ein Koksumschlagplatz ist, brauchen wir ja eigentlich immer zwei-den Dealer und den Kunden. Wenn allerdings irgendwo etwas hinterlegt wird, dann braucht man ja nur jemanden, der das Objekt im Auge behält und zu gegebener Zeit nachlegt oder Bescheid gibt!“ überlegte Ben laut und begann schon, sich das Kunstwerk nochmals aus der Nähe anzusehen. Er befühlte nun ebenfalls-wie die ganzen reichen Schnösel, die er schon beobachtet hatte- systematisch das skurrile Bauwerk. Vielleicht konnte er so etwas herausfinden, was die Auflösung des Falles näher brachte.
    Auch Semir sah sich das Kunstwerk an, aber aus den Augenwinkeln beobachtete er die Umgebung und sah, wie ein Verkäufer an einer der Imbissbuden mitten auf dem Platz, unauffällig zum Telefon griff und begann, hektisch hineinzureden. Aha, den würden sie sich nachher einmal vorknöpfen, nahm er sich vor.


    Gerade als Ben sich dem Hohlraum in der Mitte näherte, klingelte plötzlich sein Telefon. Als er abnahm, tönte eine bekannte Stimme aus dem Hörer. „Herr Jäger, ich hätte da was, oder vielmehr jemanden, der sie vielleicht interessieren könnte. Ich würde ihnen ein kleines Tauschgeschäft vorschlagen, wenn ich dafür kriege, was mir gehört!“ sagte Sharpov. Ben hielt wie vom Donner gerührt inne und winkte hektisch Semir zu, er solle herkommen, was der auch gleich machte. Ben schaltete sein Handy auf Lautsprecher, damit Semir mithören konnte und sagte dann mit belegter Stimme: „Was wollen sie Sharpov und wovon sprechen sie?“ woraufhin ein glucksender Laut aus dem Telefon kam. „Versuchen sie nicht, mir etwas vorzuspielen, Jäger. Ich werde sonst ihrer Freundin sehr weh tun und glauben sie mir, sie werden sie schreien hören! Keine Spielchen-in zwei Stunden treffen wir uns zur Übergabe am Neumarkt und wenn sie nicht dabeihaben, was ich haben will, wird ihre Freundin vor ihren Augen sterben!“ sagte er nur noch kurz und legte dann auf.


    Semir hatte gerade zu seinem Telefon gegriffen, um Susanne zu bitten, den Anruf auf Ben´s Handy zurückzuverfolgen, aber da war das Gespräch schon beendet. „Oh Gott, was machen wir bloß?“ sagte Ben völlig panisch. Die Zeit ist viel zu kurz, um da mächtig was vorzubereiten. Außerdem wird Irina nie freiwillig mit zur Übergabe kommen, die weiß schon, warum sie geflohen ist und auch die Chefin und die Schrankmann lassen uns nie eine Zeugin in Gefahr bringen. Außerdem ist in zwei Stunden genau 17.00 Uhr, da ist am Neumarkt die Hölle los –die volle Rush Hour, da ist es fast unmöglich den Überblick zu behalten!“ sagte er und war dabei ganz blass um die Nase.
    „Jetzt ist guter Rat teuer!“ sagte Semir. „Aber mir ist da schon was eingefallen!“ und damit zog er Ben so schnell es ging zum Wagen.

  • Noch während er losfuhr, griff er zum Handy und wählte Jenni´s Nummer. „Hallo Jenni, ich bin´s Semir, du in welcher Schutzwohnung seid ihr denn?“ fragte er unschuldig. „Wir sollen die Zeugin nämlich zur Staatsanwaltschaft bringen, die haben kurzfristig noch ´nen eiligen Termin freigehabt!“ erklärte er beiläufig und Jenni nannte ihm völlig ahnungslos die Adresse. „Sag ihr aber lieber nichts davon, wir wollen sie ein bisschen überrumpeln, nicht dass sie sich irgendwelche Abwehrstrategien überlegt!“ erklärte er näher und Jenni verstand das sehr gut. Sie konnte diese Tussi, die Dieter mit gekonntem Augenaufschlag angeflirtet hatte, sowieso nicht leiden und der scharwenzelte seitdem um diese russische Schönheit herum und brachte ihr alles, was sie so wünschte. „Geht klar, wann kommt ihr denn ungefähr?“ fragte sie und als sie hörte, dass das schon in einer knappen halben Stunde der Fall sein würde, nickte sie zufrieden. Na dann hatte sie vielleicht doch bald Feierabend und durfte sich nicht wegen dieser dummen Nuss den Abend um die Ohren schlagen.


    Kaum waren sie an der Schutzwohnung angekommen und hatten an der Wohnungstür in dem unauffälligen Mehrfamilienhaus geläutet, öffnete ihnen Jenni auch schon die Tür und verdrehte die Augen. Ben, der von Semir entsprechend instruiert war, schenkte Irina einen entwaffnenden Blick und fragte: „Würden sie so nett sein, uns noch zu einem kurzen Termin zu begleiten? Wir versprechen ihnen, dass sie gleich nach dessen Erledigung wieder zurückgebracht werden und dann übernehme ich für den Rest des Abends und der Nacht ihren Schutz!“ versprach er, was Irina ein kleines Lächeln ins Gesicht zauberte. Wie Semir vorausgesehen hatte, war sie wie Wachs in Ben´s Händen und folgte den beiden bereitwillig zum Wagen. „Und euch einen schönen Feierabend noch!“ rief Semir Jenni und Dieter zu, der ein wenig eifersüchtig, Irina´s Gesichtsausdruck durchaus richtig deutete. Mann, ihm hätte diese schöne Frau auch gefallen, natürlich würde er ihr im Dienst nie zu nahe treten, aber er bedauerte fast, dass sie nun Ben wie ein zahmes Hündchen folgte und an ihn keinen Blick mehr verschwendete. Aber gegen den früheren Feierabend hatte er nun gar nichts einzuwenden und so übergab er den Wohnungsschlüssel an Semir und dann brausten Jenni und er in ihrem Zivilfahrzeug davon.


    Kaum saßen Semir, Ben und Irina im Wagen, drehte sich Ben mit ernstem Gesichtsausdruck zu dem Model, das auf dem Rücksitz saß, um. „Irina, das war jetzt nicht gelogen mit dem kurzen Termin, denn wir brauchen ganz dringend ihre Hilfe. Wie sie schon vorausgesehen haben, hat Sharpov meine Freundin entführt und möchte sie jetzt gegen sie austauschen!“ erklärte er und Irina schlug erschrocken die Hände vor den Mund. „Er wird mich auf der Stelle umbringen!“ stammelte sie panisch.
    „Dazu wird er keine Gelegenheit haben,“ mischte sich Semir ein. Wir fahren jetzt zuerst mit ihnen in die KTU, dort bekommen sie von unserem Kollegen ein spezielles Unterkleid aus sehr dünnem, aber extrem schuss-und reißfestem Sicherheitsgewebe verpasst. Das ist von außen nicht zu sehen, aber sie sind vor Körpertreffern doch geschützt. Sie werden immer hinter Ben gehen, der sie mit seinem Körper zusätzlich abdecken wird und sobald wir Sarah haben, bringen wir sie sofort in Sicherheit!


    Ich habe ein paar Rauch-und Blendgranaten dabei und während mitten in der Rush Hour am Neumarkt dann Unruhe aufkommt, sobald ich die loslasse verschwindet Ben mit ihnen und Sarah, während ich Sharpov festnehme und dann versuchen wir sie, sobald wie möglich, nach St. Petersburg in ihre Heimat zu bringen. Vielleicht haben sie auch noch ein paar Tipps für uns, wie wir Sharpov etwas außer Entführung, Körperverletzung und Anstiftung zum Mord nachweisen können. Aber glauben sie uns, alleine das genügt schon, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Außerdem wissen wir, dass das Kunstwerk am Neumarkt als Kokainumschlagplatz benutzt wird und auch das werden wir ihm nachweisen, glauben sie uns, der verbringt viele, viele Jahre im Knast und sie sind wieder frei!“ beschwor Semir sie voller Inbrunst.


    Irina, die ja auch nicht auf den Kopf gefallen war, checkte ihre Chancen ab. Ihr war klar, dass Sharpov´s Arm auch bis nach Sankt Petersburg reichte und sie letztendlich, solange der auf freiem Fuß war, nie ein unbeschwertes Leben würde führen können. Genau das hatte sie nämlich auch bewogen, sich an die Polizei zu wenden und sie hatte sowieso vorgehabt, natürlich nachdem sie ihre Vorräte nochmal aufgefüllt hatte, die wirkliche Funktion des Betonkunstwerks zu verraten, in der Hoffnung, sich so ihre Freiheit zu erkaufen. Woher auch immer, wussten nun die Polizisten schon davon und so war jetzt völlig ungewiss, ob sie den Behörden jetzt noch wichtig genug war, ihr freies Geleit und einen neuen Anfang in ihrer Heimat zu ermöglichen, was sie sich als Gegenleistung für ihre Informationen von denen hatte ausbedingen wollen. Ohne Geld und Pass war sie nämlich, ehrlich gesagt, völlig aufgeschmissen. Sie konnte das Land nicht verlassen und den Leuten in der russischen Botschaft traute sie keinen Millimeter über den Weg, da da auch einige zu Sharpov´s Kunden zählten. Es war also ihre einzige Möglichkeit für einen Neuanfang, wenn sie diesen beiden Polizisten jetzt half und die ihr als Gegenleistung die Freiheit ermöglichten.


    Kurzentschlossen nickte sie. „Ich werde ihnen helfen, wenn sie mir garantieren, dass ich dann unbehelligt zurück in meine Heimat kann und Sharpov im Gefängnis verrottet. Ich habe außerdem an einem geheimen Ort einen USB-Stick verborgen, der alle Informationen zu Sharpovs Kunden und den Wegen des Kokains enthält. Glauben sie mir, sie werden sich wundern, welche honorigen Kölner Bürger da alle auf seiner Kundenliste stehen! Außerdem weiss ich, wo sein Labor ist und noch viele andere Internas, die der Polizei weiterhelfen können! Das gibt’s aber erst als Gegenleistung, wenn mir Sharpov nicht mehr gefährlich werden kann, am liebsten natürlich für immer!“ deutete sie an, woraufhin Semir allerdings den Kopf schüttelte. „Wir stellen uns mit diesem Verbrecher nicht auf eine Stufe und glauben sie uns, der wird im Knast keine schöne Zeit haben, dafür sorgen wir!“ erklärte er und nun war Irina auch zufrieden. Semir, der nie erwartet hatte, dass es so leicht sein würde, die junge Frau zur Kooperation zu überreden, trat nun aufs Gas und machte sich auf den Weg zur KTU, wo sie Hartmut schon erwartete.


    Sie hatten auf dem Weg zur Schutzwohnung ihren Kollegen angerufen und dem ehrlich das Dilemma und die Situation geschildert, in der Hoffnung, der würde ihnen helfen. Hartmut hatte kurz überlegt und dann zugesagt, Irina mit der Schutzkleidung auszustatten und ihnen ein paar Rauch- und Blendgranaten aus seinem unerschöpflichen Fundus zur Verfügung zu stellen. So kam nun die Sache ins Rollen und Ben hoffte inständig, seine Sarah bald wieder in den Armen zu halten.

  • Wenig später kamen sie an der KTU an. Hartmut begrüßte sie ernst und nach einem Blick auf Irina, mit dem er die Größe in etwa abschätzte, gab er ihr eine Schutzweste, die so dünn war, dass sie fast nicht auftrug und auch die Bewegung kaum einschränkte. Irina verschwand mit ihr im Toilettenraum, denn sie sollte sie unter ihrem Kleid tragen. Wenig später kam sie wieder heraus, die Weste war wirklich kaum zu erkennen und auch mit Irina war wieder eine Veränderung vorgegangen. Ihre Schritte waren dynamisch, sie strahlte Energie aus und Semir und die beiden anderen wechselten einen wissenden Blick. Mann, die war einfach ein Junkie, das durfte man auch nie vergessen. Ben hoffte nur, dass sie noch ausreichend Material besaß, denn sonst wäre sie deshalb das größte Sicherheitsrisiko, weil ein Süchtiger sich immer erst um seinen Stoff kümmert.


    Hartmut hatte Semir inzwischen eine Rauch-und zwei Blendgranaten gegeben, die der in seinen Jackentaschen versenkte. Als Semir und Ben nacheinander auch noch die Toilette aufsuchten, konnten sie am Waschbecken dort noch einen feinen, weißen Reststaub erkennen und im Abfall lag ein leicht blutiges Papiertaschentuch.
    Als sie fertig waren, sahen sie auf die Uhr, atmeten tief durch und machten sich dann auf den Weg zum BMW. Sie wären zwar sicher ein wenig zu früh dort, aber dann warteten sie eben noch kurz im Wagen. Nur nicht zu spät kommen!
    Hartmut wünschte ihnen viel Glück und kaum saßen sie im Auto und fuhren vom Hof, griff er zum Telefon und tätigte einen wichtigen Anruf. Dann zog er seinen weißen Laborkittel aus, legte seine Jacke an und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Neumarkt. Er hatte im Gefühl, dass man seine Hilfe dort bald gut würde brauchen können.


    Semir fuhr zügig, aber kontrolliert und um 16.45 Uhr waren sie in der Nähe des Platzes angekommen. Wie geplant wartete Semir noch mit seinen Passagieren in einer Seitenstraße, bis der Zeiger im Zeitlupentempo Richtung der vollen Stunde rückte. Niemand sprach ein Wort und die Anspannung war fühlbar. Semir musterte Ben, der blass war und dessen Atem jetzt schon schneller ging. Hoffentlich gelang es ihnen, ohne dass irgendjemand zu Schaden kam, Sarah zu befreien und auch Irina wieder heil mit zurückzubringen.
    So positiv, wie er Ben gegenüber geklungen hatte, war er nämlich durchaus nicht gestimmt. Es war eine Aktion mit zu vielen Unwägbarkeiten! Erstens war nicht damit zu rechnen, dass Sharpov da alleine aufkreuzen würde. Er würde mit Sicherheit einige kampferprobte Männer mitbringen. So wie die alle aussahen, waren die alle früher beim russischen Militär gewesen und behandelten ihren Anführer wie einen General. Damit hatte der eine schlagkräftige Waffe in der Hand, die zudem in der Überzahl war.
    Es wimmelte um diese Zeit am Neumarkt nur so vor Menschen, so dass es jederzeit möglich war, in der Menge unterzutauchen und zwar sowohl für sie beide, als auch für Sharpov. Wenn er allerdings die Blend-und Rauchgranaten loslassen würde, was er nur im äußersten Notfall überhaupt machen würde, würde mit Sicherheit eine Panik ausbrechen und es war nicht auszudenken, was dann auch unbeteiligten Passanten geschehen könnte!
    Sie wussten nicht von welcher Seite Sharpov kommen würde, wenn er überhaupt selber erschien, daher war es sinnlos einen detaillierten Plan auszuarbeiten. Sie mussten improvisieren und sich aufeinander verlassen und dann noch hoffen, dass das Glück auf ihrer Seite war.


    Kurz hatte Semir überlegt die Chefin einzuweihen, sich aber dann dagegen entschieden. Sie würde so eine Aktion nie genehmigen und um das so vorzubereiten, wie man es lehrbuchmäßig aufziehen konnte, würde viele Stunden dauern. Da hätte man den Platz geräumt, die Passanten mit Polizeibeamten in Zivil ersetzt, die U-Bahnen und Straßenbahnen ohne Halt durchfahren lassen und auf den Dächern rundum noch Scharfschützen postiert. Aber es dauerte, bis so ein Polizeiapparat ins Rollen kam und bis alle höheren Stellen so einen Einsatz genehmigen würden, wäre es schon vorbei.


    Auch wenn es ihn und Ben ihren Job kosten konnte, wenn das schiefging, er sah keine andere Möglichkeit, als das schnell und vor allem selber durchzuziehen. Ging alles gut und niemand wurde ernsthaft verletzt, würde man zwar keine Belobigung aussprechen, aber doch den Mantel des Schweigens darüberbreiten. Mehr als einen milden Anschiss der Chefin hatten sie dann nicht zu erwarten. Ging es allerdings schief, dann würden sich vermutlich alle höheren Stellen einschalten und ihre Köpfe fordern. Man würde ihnen Eigenmächtigkeit unterstellen und dass man mit Irina´s Hilfe zwar den Kölner Drogensumpf aufräumen konnte, würde sicher positiv vermerkt werden, aber sonst mussten sie um ihre Jobs bangen. Zumindest eine Strafversetzung zu den Uniformierten und eine Degradierung, die sich ja auch finanziell auswirkte hatten sie dann mit Sicherheit zu erwarten. Ben würde das wenig kümmern, denn der konnte auf ein gutes finanzielles Polster aus dem Familienvermögen bauen, aber für ihn und Andrea wäre es eine Katastrophe. Sie würden die Raten für das Haus nicht mehr aufbringen können und auch sonst würde es sehr knapp werden. Oh Gott, auf was hatte er sich denn da wieder eingelassen!


    Als er jetzt allerdings zu Ben sah, in dessen Kopf es anscheinend genauso ratterte, in dessen Miene er aber die ganze Angst und Sorge um seine geliebte Sarah zu lesen war, schmiss Semir alle Bedenken über Kopf. Es würde schon gutgehen! Wenn sie zusammenhielten, würden sie das hinkriegen, wie sie schon so vieles hingekriegt hatten. Nach einem Blick auf die Uhr ließ Semir den Motor an und fuhr langsam in Richtung des Neumarkts. Fluchende, eilige Passanten bedachten ihn mit wütenden Blicken, als er neben der Straßenbahninsel auf einen Grünstreifen fuhr. Tief atmeten sie alle drei durch, bevor sie Punkt 17.00 Uhr aus ihrem Fahrzeug ausstiegen und sich zum Kunstwerk begaben.

  • Sarah hatte sich auf das Bett gesetzt und versuchte durch Lauschen etwas herauszufinden. Sie trank immer mal wieder einen Schluck Wasser und wurde innerlich immer unruhiger. Sie spürte, dass irgendwas im Busch war und obwohl sie keinen ihrer Entführer zu Gesicht bekam, bemerkte sie plötzlich eine gewisse Unruhe im Gebäude. Nachdem sie keine Uhr und kein Handy dabei hatte, konnte sie nur schätzen, dass es inzwischen später Nachmittag geworden war. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und einer der russischen Bodyguards stand vor ihr. Gerade hörte sie noch Sharpov´s Stimme, der befahl, seinen Lear-Jet am Köln-Bonner Flughafen startklar zu machen, da wurde sie schon grob gepackt und zum Mitkommen aufgefordert. Sie erhob sich zwar willig, aber als sie im Hof des Gebäudes angekommen war, wo Sharpov vor seiner Nobellimousine stand und Befehle erteilte, versuchte sie blitzschnell zu fliehen. Nach ein paar Metern hatte allerdings ihr Bewacher das Überraschungsmoment überwunden und setzte ihr sportlich nach. Bevor sie sich versah, hatte er sie wieder gepackt und schleifte sie, sich sträubend, zum Wagen. Dort angelangt sah Sharpov sie mit kalten blauen Augen an, schüttelte den Kopf und holte dann aus um sie mit der flachen Hand heftig ins Gesicht zu schlagen. „Wag´ es ja nicht, nochmal einen Fluchtversuch zu wagen, sonst schlag ich dich tot!“ sagte er drohend und Sarah senkte den Kopf, während Blut aus ihrer aufgeplatzten Lippe lief. Einen Versuch war es wert gewesen, aber so wie es aussah, hatte sie gegen diese Typen keine Chance! „Keine Kinkerlitzchen jetzt, setzt dich in den Wagen, wir haben einen wichtigen Termin!“ sagte er dann und Sarah, die wusste, wann sie verloren hatte, begab sich in den Fond des Fahrzeugs mit den getönten Scheiben, neben sich einen aufmerksamen Bewacher.

    Semir setzte sich am Neumarkt indessen gleich unauffällig zur Seite ab, nicht dass er hoffte, Sharpov würde ihn nicht bemerken, aber es war gut, wenn sie nicht als Dreierzielscheibe ausgeschaltet werden konnten. Bisher hatte er noch nichts entdecken können und es waren leider ziemlich viele Leute unterwegs und rempelten sie teilweise an. Semir hatte Mühe, Ben und Irina nicht aus den Augen zu verlieren. Ben versuchte, Irina mit seinem Körper abzudecken und Semir verfluchte sich, dass sie nicht daran gedacht hatten, sich ebenfalls Sicherheitswesten von Hartmut verpassen zu lassen. Ihre beiden lagen nämlich im Kofferraum von Ben´s Mercedes und sie hatten das leider erst vorher festgestellt. Gut, das musste jetzt auch ohne gehen!


    Sie waren kurz vor dem Betonkunstwerk, da sahen sie von der anderen Seite her eine Luxuslimousine mit getönten Scheiben heranfahren. Ben versuchte verzweifelt zu erkennen, ob Sarah darin saß, aber man konnte das von außen nicht sehen. Die Limousine hielt an und tatsächlich öffneten sich die beiden vorderen Türen und Sharpov und ein Begleiter stiegen aus und ließen auch gleich ihre Blicke schweifen. Ben blieb stehen und versuchte Irina mit seinem Körper Schutz zu gewähren. Inzwischen waren sie ein Stück von der Menge weg, die hinter ihnen geschäftig zu den Bahnen strebte.


    Sharpov und sein Begleiter kamen ein paar Schritte näher. Man sah, dass der Bodyguard eine Waffe dezent unter der Jacke verborgen hatte, die aber bereit war, jederzeit eingesetzt zu werden. Auch Semir, der inzwischen ein Stückchen von Ben und Irina entfernt stand, hatte die Hand in der Tasche, an der Zündvorrichtung einer Blendgranate. Während Ben vorsichtig ein paar Schritte zurückwich, denn im Augenblick wäre die Menschenmenge für Irina der beste Schutz- und die junge Russin dabei ein wenig von Sharpov wegdrängte, warf Semir einen kurzen Blick auf deren Mimik. Sie starrte Sharpov voller Entsetzen, wie ein Kaninchen die Schlange an und die blanke Panik war ihr ins Gesicht geschrieben. Zwischen den beiden mussten schlimme Dinge vorgefallen sein, anders war ihr Gesichtsausdruck nicht zu erklären.


    „Sehr schön, Jäger, auf sie kann man sich halt verlassen!“ sagte Sharpov spöttisch. Zu gerne hätte er die Schlampe einfach abgeknallt, aber zuerst musste er herausfinden, was sie den Behörden schon verraten hatte. Sie war anscheinend an seinem PC gewesen, auf dessen Festplatte er die ganzen Details seiner Drogenkunden gespeichert hatte. Wie sie zwar das Passwort hatte erraten können-den Namen und das Geburtsdatum seiner Frau Olga, zu der und den Kindern er jetzt nach dieser letzten Aktion in Deutschland endgültig nach Almaty in seine Heimat zurückkehren würde, war ihm schleierhaft, aber sie hatte es auf jeden Fall getan, wie sein Computerfachmann ihm bestätigt hatte.


    „Aber ich erwarte von ihnen eine Gegenleistung!“ sagte Ben mit kloßiger Stimme, während er mit Irina noch weiter zurückwich. Mit einer Kopfbewegung zum Fahrzeug forderte der Russe seinen dort sitzenden Begleiter auf, Sarah herzuzeigen. Der öffnete die Tür des Fahrzeugs, stieg erst selber aus und dann rutschte Sarah ans Tageslicht. Gott sei Dank, sie lebte! Ben wäre am liebsten so schnell wie möglich zu ihr geeilt und hätte sie in seine Arme gerissen. Sie sah ihn auch, gleichzeitig glücklich und in der gleichen Sekunde ängstlich an, mein Gott, war ihm nicht klar in welcher Gefahr er schwebte? Ben erkannte nun auch das blutverschmierte Kinn und die aufgeplatzte Lippe seiner Freundin und eine unbändige Wut bemächtigte sich seiner. Am liebsten würde er sich jetzt mit einem lauten Kampfschrei auf die Entführer werfen, aber das wäre vermutlich sein Todesurteil. Mit einem Seitenblick auf Semir ging er nun wieder langsam, Irina dicht hinter sich herziehend, in Richtung des Fahrzeugs und der machte sich bereit, die Blendgranate jeden Augenblick zu werfen. Ben würde, wie abgesprochen, die Augen in diesem Augenblick fest zusammenkneifen, damit er danach was sehen konnte, aber sie würden das Überraschungsmoment ausnützen müssen und dann in der, danach sicher panischen Menge, Richtung Auto verschwinden.


    Semir würde versuchen, Sharpov zu überwältigen, aber primär wäre wichtig, die beiden Frauen aus der Gefahrenzone zu bringen. Sharpov würden sie zur Not später auch noch festnehmen können, denn der hatte sich völlig aus seiner Deckung begeben und erwartete anscheinend aus irgendwelchen Gründen, dass keiner der Zeugen gegen ihn aussagen würde. Er fühlte sich anscheinend wie ein Gott, dem einfach nichts passieren konnte, aber sie würden ihm das Gegenteil schon beweisen, schwor sich Semir.
    Ben war inzwischen beinahe am Fahrzeug angekommen und stand nun etwa drei Meter von Sarah und den drei Männern entfernt. Und dann ging alles ganz schnell. Mit einer Kopfbewegung forderte Ben seinen Freund auf, die Blendgranate zu zünden und kniff in der gleichen Sekunde die Augen fest zu. Semir entfernte mit einer raschen Bewegung den Zünder und warf die Granate, selber die Augen fest zusammenkneifend und dann herrschte erst mal Chaos!

  • Ben konnte ja erst mal überhaupt nicht reagieren, da er durch die fest geschlossenen Augen, wie gefesselt, an seinem Platz stand. Erst zischte es und roch merkwürdig, aber als dann mit einem leisen Knall der Lichtball sich entfaltete, war jeder, der in dieser Sekunde seine Augen nicht geschlossen hatte, zu Untätigkeit verdammt. Aus der Menschenmenge hinter ihm erklangen panische Schreie, denn viele Passanten hatten sich die Augen verblitzt und waren nun vorrübergehend ohne Sehvermögen. Ben spürte zwar, dass Irina sich von ihm löste, aber ehrlich gesagt war ihm das gerade völlig egal.

    Die hatte ja aus den Gesprächen der beiden Polizisten eine ungefähre Vorstellung davon gehabt, was passieren würde und wollte nun die Gelegenheit der Verwirrung ausnützen und sich mit genügend Stoff versorgen, damit sie die nächsten Tage überstehen konnte. Bevor irgendeiner der Beteiligten die Augen wieder aufmachte, war Irina nirgendwo mehr zu sehen. Gerade ließ Ben, der sich als einer der ersten getraute wieder um sich zu schauen-immerhin wusste er ja im Gegensatz zu den panisch schreienden Menschen, was die Ursache für die plötzliche Helligkeit, den Knall und den Gestank ausmachte-seinen Blick kurz schweifen, da erkannte er, dass vor ihm zwar die beiden russischen Leibwächter standen, die verzweifelt blinzelnd versuchten, ihr Sehvermögen wiederzuerlangen, aber verdammt, wo war Sharpov und noch viel wichtiger-wo war Sarah?
    Mit zwei Schritten war er an der Limousine und warf einen Blick hinein-vielleicht hatte sein Widersacher sie ja dort hineingezogen, aber das Fahrzeug war leer. Gerade wollten die russischen Bodyguards ihre Waffen ziehen, da stürzte sich Semir, der genauso entsetzt wie Ben war, als er weder Sharpov noch die beiden Frauen entdecken konnte, auf sie und als Ben sich umdrehte, lösten sich gerade Jenni und Dieter aus der Menge und kamen ihm zu Hilfe.


    Kurzentschlossen erklomm Ben von außen das Kunstwerk, um einen besseren Überblick zu bekommen. Aus den Augenwinkeln sah er drinnen eine Bewegung und dann erkannte er aber auch schon ein Stück entfernt Hartmut, der gerade dabei war, ins Innere der Betonsymphonie vorzudringen. Gerade wollte er wieder herunterspringen, in der Annahme, da wäre Sharpov mit den Frauen, da kam auch schon Hartmut mit Irina wieder heraus, die damit sichtlich nicht einverstanden war.
    Also waren der Russe und Sarah irgendwo anders und so kletterte Ben noch ein Stück höher, um einen besseren Überblick zu bekommen. Da-da waren sie! Sharpov zerrte Sarah, die sich heftig wehrte, hinter sich her durch die Menge Richtung der U-Bahnen und als Sharpov Ben´s Blick in seinem Rücken bemerkte, drehte er sich um und zog mit einer fließenden Bewegung eine handliche kleine Waffe aus seiner Brusttasche. Bevor Ben reagieren und in Deckung gehen, oder seine eigene Waffe ziehen konnte, fiel ein Schuss und Sarah sah mit schreckgeweiteten Augen, wie Ben ein wenig nach hinten geschleudert wurde, reflexhaft nach seiner Seite fasste und dann im Zeitlupentempo nach unten stürzte.

  • Völlig ohne irgendeine Abwehrbewegung fiel er nach unten und leider war ein Stück des Betonkunstwerks ein wenig spitz und stand nach oben. Ben prallte mit der Körpermitte rücklings darauf und blieb dann erst mal regungslos liegen-obwohl, eigentlich konnte man nicht liegen sagen, denn wie eine knochenlose Puppe hing er über der Betonspitze, vom Boden mit Ober-und Unterkörper etwa 30 cm entfernt.
    Sarah, die den Sturz beobachtet hatte, aber den letzten Meter nicht verfolgen konnte, wurde nun zur Furie. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, dass ihr Entführer ja bewaffnet war, holte sie völlig ungerührt mit aller Kraft mit dem Fuß aus und trat Sharpov dermaßen in die Weichteile, dass er momentan mit einem Stöhnen wie ein Klappmesser zusammenklappte und schon bahnte sie sich durch die immer noch teilweise hysterisch kreischenden Menschen einen Weg zurück zum Betonkunstwerk.


    Als sie näherkam und sah, wie Ben dahing, wurde ihr beinahe schlecht vor Entsetzen. „Schnell, einen Notarzt!“ rief sie, während sie so schnell sie konnte zur Liebe ihres Lebens rannte. Auch Semir, der gemeinsam mit Dieter und Jenni die beiden Leibwächter überwältigt und mit Handschellen gefesselt hatte, hatte beim Ertönen des Schusses den Kopf gedreht und Ben´s Absturz aus nächster Nähe miterlebt. Nach einer fassungslosen Sekunde sprang er auf und wie auch Sarah, rannte er so schnell wie möglich zu seinem Freund.


    Sharpov indessen hatte abgecheckt, wie viele Möglichkeiten er hätte, wenigstens einer der Frauen habhaft zu werden, aber unter den gegebenen Umständen sah er keine Chance und deshalb verschwand er, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen und der größte Schmerz abgeklungen war, in die U-Bahn, Richtung Hauptbahnhof. So sehr ihn seine Niederlage wurmte, aber immerhin hatte er diesen Jäger ausgeschaltet und das alleine war es ihm schon wert.


    Sarah hatte inzwischen Ben erreicht, der sich nun langsam zu regen begann. Auch Semir war bei ihm angelangt und wollte ihn gerade packen und irgendwie wegziehen und zu Boden legen, da sagte Sarah scharf. „Halt, nicht bewegen!“ denn sie hatte eine entsetzliche Entdeckung gemacht. Ben lag nicht auf der Betonspitze, sondern die war sozusagen auf seiner rechten Körperseite von hinten ein Stück in ihn eingedrungen. Sarah ließ ihren Anatomieunterricht Revue passieren, welche wichtigen Organe da lagen und stellte fest, dass wohl in allererster Linie die Leber betroffen sein könnte. Gut, vielleicht ging die Verletzung auch nicht so tief und beschränkte sich auf die Muskulatur und die Weichteile, aber trotzdem durften sie Ben auf gar keinen Fall ohne einen Notarzt bewegen. Mit einem Blick hatte sie auch noch die Schussverletzung gesehen, aber das war ein Streifschuss auf Höhe der linken Hüfte, der zwar blutete, aber nicht so schlimm zu sein schien.
    Ben kam langsam wieder zu sich. Das Erste was er bemerkte war ein schrecklicher Schmerz in seinem Rücken und ein Brennen an seiner linken Hüfte. Bevor er langsam die Augen öffnete und sich zu orientieren versuchte, entrang sich ein gequältes Stöhnen seiner Kehle. Sarah war zu seinem Kopfende gekrochen und war halb unter ihn geschlüpft, um sein Körpergewicht nicht komplett auf der Betonspitze ruhen zu lassen und Semir hatte, als ihm klar war, was eigentlich passiert war, das selbe mit der unteren Körperhälfte getan. Als Ben, der nun völlig wach war, endlich die Augen aufriss. War Sarah´s Gesicht direkt vor ihm. Sie hatte sozusagen seinen Kopf in ihren Schoss gebettet und stütze mit den Beinen seinen Oberkörper. Es kostete sie zwar viel Kraft, weil sie die Knie nach oben drücken musste, aber das war ihr völlig egal. Genau wie Ben hatte sie noch so viel Adrenalin in ihren Adern, dass sie ihren eigenen Körper kaum spürte. Ben hatte zwar schreckliche Schmerzen, aber als er Sarah so nah bei sich sah, ergriff erst mal eine große Erleichterung von ihm Besitz. Sie war frei und das war erst einmal das Wichtigste.


    Während nun aus der Ferne mehrere Martinshörner zu hören waren, scharte sich eine neugierige Menge um den Verletzten und die beiden von Dieter und Jenni bewachten Bodyguards, die bäuchlings mit den Händen auf den Rücken gefesselt am Boden lagen und von Dieter mit der Waffe in Schach gehalten wurden. Jenni eilte nun zu der kleinen Gruppe um Ben und als sie sah, wie unbequem Sarahs Lage war, deren Beine von der Anstrengung Ben zu stützen, bereits zu zittern begannen, rannte sie zur Luxuslimousine, um irgendetwas zu suchen, was man zur Unterpolsterung verwenden konnte. Mit einer Decke bewaffnet kam sie zurück und riss sich gleichzeitig ihre Jacke vom Körper. Mehrere andere Umstehende taten das Gleiche und als sich endlich der Notarzt einen Weg durch die Menge bahnte, lag Ben auf einem halb menschlichen provisorischem Bett und hielt sich krampfhaft an Sarah´s Händen fest, um vor Schmerz nicht laut loszuschreien.

  • Der Notarzt und der Rettungsassistent waren kurz danach bei der Gruppe angekommen. Der Arzt hatte mit einem Blick die Situation erfasst und trat nun erst einmal zu Ben und ließ sich vor ihm auf den Knien nieder, während der Rettungsassistent sofort alles zum Zuganglegen aus seinem Koffer holte. „Wie heißen sie?“ fragte er seinen Patienten, der fast nicht antworten konnte, weil seine Stimme vor Schmerz zitterte. Sarah liefen inzwischen die Tränen aus den Augen, so leid tat ihr ihr Freund. „Ben Jäger!“ presste Ben hervor und der Notarzt nickte, während er sofort begann Ben systematisch durchzuuntersuchen. Er leuchtete kurz in seine Augen, tastete die Halswirbelsäule ab, fasste rechts und links an den Brustkorb und drückte darauf und besah sich kurz die Streifschusswunde, während er, diesmal an alle gewandt, fragte. „Wie genau ist das passiert?“


    Semir, dem inzwischen ebenfalls alles wehtat, denn auch er diente ja an Ben´s unterer Hälfte als menschlicher Diwan, antwortete: „Mein Kollege-wir sind Polizisten- ist auf der Suche nach einem flüchtigen Verbrecher auf diesem „Kunstwerk“ stehend von diesem angeschossen worden und ist ungebremst heruntergefallen und auf dieser Spitze gelandet!“ Ihm war irgendwie wichtig, dass der Notarzt wusste, dass Ben nicht aus Jux und Tollerei da oben rumgeklettert war und außerdem, dass er Polizist war. Er hatte zwar keine Ahnung, warum ihm das so wichtig war, denn vermutlich würde jemand, der da spaßeshalber geklettert war und deswegen einen so schlimmen Unfall erlitten hatte, genauso versorgt, wie jemand anderes, aber irgendwie war ihm das halt jetzt eingefallen.


    Der Notarzt nickte und betastete nun mit seinen behandschuhten Händen Ben´s Unterkörper und die Beine. „Spüren sie das?“ fragte er, als er erst das eine und dann das andere Bein befühlte. Ben nickte. Ja leider, er konnte alles genauestens spüren und wenn sie ihm jetzt nicht gleich was gegen die Schmerzen gaben, dann würde er wahnsinnig werden. Langsam erlosch seine Selbstbeherrschung, die er sich Sarah´s wegen auferlegt hatte und er begann nun bei jedem Atemzug laut zu stöhnen. Der Rettungsassistent hatte inzwischen noch eine Infusion vorbereitet und an Ben´s Arm eine Stauung angelegt. Während der Notarzt einen Teil der Decken und Jacken wegschob, und sich aufmerksam ein Bild davon zu machen versuchte, wie schwer die Verletzung durch die Betonspitze wohl war und wie tief sie eingedrungen war, desinfizierte der Assistent, nachdem er eine Hand aus Sarah´s Griff genommen hatte, Ben´s Handrücken und versuchte einen Zugang zu legen. Zunächst funktionierte das nicht, denn Ben´s Venen waren durch den Schock und die daraus resultierende Adrenalinausschüttung fast alle kollabiert, aber letztendlich gelang es ihm doch, wenigstens eine dünne Nadel in eine Handvene zu stechen, zu verkleben und die Infusion anzuschließen, die er sofort voll aufdrehte. Jenni bekam sie zum Halten in die Hand gedrückt und stand nun als lebender Infusionsständer daneben.
    „Zieh Ketanest auf!“ ordnete der Notarzt an und der Rettungsassistent nickte und holte die Ampulle aus seinem Koffer und bereitete sie vor.


    Auch Hartmut war inzwischen mit Irina im Schlepptau, die er sich nicht getraute aus dem Blickfeld zu lassen, näher getreten und als Ben, der vorrübergehend seine Augen fest zusammengekniffen hatte, dieselben wieder öffnete, waren um ihn herum unter vielen fremden, auch betroffene, bekannte Gesichter. Normalerweise wäre es ihm peinlich gewesen, so im Mittelpunkt zu stehen, aber der Schmerz war so allumfassend, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Auch Sarah dauerte das langsam zu lange, sie bemerkte, wie Ben alle Muskeln vor Qual anspannte, aber trotzdem versuchte, ihre eine Hand, an die er sich immer noch klammerte, nicht zu zerquetschen. Sie bat unter Tränen: „Bitte geben sie ihm doch endlich eine Narkose, er kann das nicht mehr aushalten!“ aber der Notarzt schüttelte den Kopf. „Er bekommt was gegen die Schmerzen, aber mit einer Narkose werde ich zurückhaltend sein, solange ich noch nicht weiß, wie ich ihn da herunterbringe!“ sagte er kurz, nahm aber dann die aufgezogene Spritze mit dem Ketanest entgegen.
    Allerdings wartete er, bis der Rettungsassistent den Blutdruck gemessen hatte, der erstaunlicherweise im Normbereich war. Falls der hoch gewesen wäre, hätte er ein anderes Medikament verlangt, denn Ketamin wirkte neben seiner starken analgetischen Wirkung blutdrucksteigernd, beschleunigte den Herzschlag und machte manchmal Halluzinationen. So, spritzte er aber zügig erst einmal eine niedrige Dosis und beobachtete dabei seinen Patienten genau, als sich der nicht merklich entspannte, spritzte er solange nach, bis Ben aufhörte zu stöhnen und nun mit weit offenen Augen dalag, aber merklich ruhiger und ein wenig neben sich war. Auch Sarah, die ihm ja so nah war, bemerkte, wie er ihre Hand lockerer ließ und auch seine völlig verkrampften Rückenmuskeln, die sie ja an ihren Beinen spürte, etwas weicher wurden. Nun versiegten auch Sarah´s Tränen und langsam verließ sie die absolute Panik, die bisher von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie befürchtet hatte, er würde in ihren Armen in den nächsten Minuten sterben. Sie erzählte dem Arzt, während sie zärtlich über Ben´s Gesicht strich, dass sie Intensivschwester in der Uniklinik war und der nickte zustimmend.

    Der Sanitäter war inzwischen als dritter Mann mit dem Rettungswagen näher herangefahren und kam nun mit einer Trage und einer Sauerstoffflasche. Ben bekam noch eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, Überwachungselektroden auf die Brust geklebt, soweit man rankam und während der Rettungsassistent und der Sanitäter nun im RTW zusammensuchten, was sie zu Ben´s Lagerung benutzen konnten, forderte der Notarzt über die Leitstelle einen Hubschrauber und die Feuerwehr an.
    Hartmut hatte ebenfalls zum Handy gegriffen und die Chefin verständigt, die sofort entsetzt versprach zu kommen und auf Hartmuts Anforderung hin auch einige Uniformierte mit Fahrzeugen schicken würde. Als sie Susanne, die ebenfalls schreckensbleich erst mal die Information über den schrecklichen Unfall verarbeiten musste, bat das zu übernehmen, erfuhr die, dass da schon ein paar Streifen vom Innenstadtrevier unterwegs waren, denn es waren schon viele Notrufe von Passanten eingegangen.


    Während man nun auf das Eintreffen weitere Rettungskräfte wartete, war Sharpov in der nächsten U-Bahn verschwunden und trat seine Flucht an.

  • Immer mehr Menschen scharten sich um die Unfallstelle. Die Neugierigen zog es aus allen Richtungen, so dass die Rettungskräfte sich fast nicht bewegen konnten. Mütter hoben ihre Kinder hoch, damit die besser sehen konnten und mittendrin versuchten der Arzt, der Rettungsassistent und der Sanitäter mithilfe der Vakuummatratze und mehrerer anderer Gerätschaften aus dem RTW, die stützenden Menschen zu ersetzen. Sarah wollte zwar eigentlich nicht weg von Ben, so tröstlich war es auch für sie, ihn auf dem Schoss zu haben, aber es war auch klar, dass es so nicht möglich war, ihn zu befreien und so rutschte sie doch widerwillig heraus, als sein Oberkörper stabilisiert war.


    Nun endlich waren die ersten Polizisten eingetroffen und mit Megaphonen versuchten sie die Menge auseinander zu treiben, doch immer mehr Menschen strömten aus den U-Bahnschächten und traten neugierig näher, inzwischen wurde schon um die besten Plätze gestritten. Semir, für den man leider noch keinen Ersatz gefunden hatte und der immer noch unter seinem Freund kauerte, erfasste eine unbändige Wut und er hätte am liebsten die Gaffer persönlich angegriffen, die nun schrittweise näher rückten.
    Es artete fast in eine Straßenschlacht aus, als die Polizeikräfte versuchten, die Menge wegzudrängen. Verstärkung wurde angefordert und es war inzwischen so eng in der Gruppe der Neugierigen, dass auch da die ersten Verletzten zu beklagen waren, denn wer stürzte, hatte kaum eine Chance mehr, hochzukommen.


    Frau Krüger, die fast gleichzeitig mit Frau Schrankmann, die sie entsetzt verständigt hatte, eintraf, musste, ebenso wie die, fast zwei Querstraßen weiter ihr Auto mitten auf der Straße stehenlassen, denn der Verkehr rund um den Neumarkt war zum Erliegen gekommen. Der Einsatzwagen der Feuerwehr stand etwa einen halben Kilometer vom Neumarkt entfernt und kam nicht durch und auch der Hubschrauber kreiste bereits über der Unfallstelle, ohne auch nur die geringste Möglichkeit zum Landen zu haben.
    Nachdem es nun noch eine Weile dauern würde, bis die Einsatzgruppe der Bereitschaftspolizei eintraf, versuchte die Chefin sich via Handy mit Hartmut in Verbindung zu setzen und sich so wenigstens ein Bild der Lage zu verschaffen. Inzwischen hatten sie noch das drohende Problem einer Massenpanik und als wenig später ein geschulter Einsatzleiter der Polizei in ihrer Nähe eintraf, ging Frau Krüger zu ihm und gab ihm ihr Handy, damit er sich mit Hartmut verständigen konnte, der ja im Zentrum des Geschehens war.
    Der lockerte kurz den Griff um Irina´s Arm und bis er sich versah, war die in der Menge verschwunden, von der sofort nachgerückt und ihr Platz eingenommen wurde. Allerdings war sich Hartmut ziemlich klar, wo er sie später finden würde, aber im Augenblick hatten sie wirklich ernsthaftere Probleme.


    Dieter blieb auch nichts anderes über, um seine Verdächtigen nicht zu gefährden, als die Waffe wegzustecken und die beiden auf die Beine zu ziehen, damit sie nicht zertrampelt wurden. Das Betonkunstwerk war inzwischen von mehreren Schaulustigen erklommen worden, die sich so einen besseren Ausblick verschafften und es war nur eine Frage der Zeit, bis da der nächste abrutschen würde. Auch die beiden Bodyguards mit ihren auf den Rücken gefesselten Händen, verschwanden in der Menge, ohne dass irgendwer sie aufhalten konnte.
    Inzwischen waren die Gaffer so nahe zu Ben und seinen Ersthelfern aufgerückt, dass man Angst haben musste, jemand würde auf ihn stürzen und ihm so eventuell den Todesstoß versetzen. Semir, dem der Schweiß auf der Stirn stand, schrie die Näherstehenden an, sie sollten sich gefälligst verpissen, aber die Sache hatte inzwischen eine schreckliche Eigendynamik entwickelt.
    Der Einsatzleiter der Polizei ließ nun als erstes die U-Bahnen durch den Neumarkt durchfahren, ohne anzuhalten, damit wenigstens nicht noch mehr Menschen dazu strömten. Die Türen der inzwischen in langen Reihen wartenden Straßenbahnen blieben geschlossen und als endlich die mobile Einsatztruppe der Polizei eintraf, begann die systematisch von außen her, die Passanten vom Neumarkt wegzutreiben.


    Die Chefin, die eng bei Frau Schrankmann stand, bat den Einsatzleiter, ihr nur kurz Hartmut zu geben- er würde das Handy sofort zurückerhalten-aber sie musste jetzt einfach wissen, wie es Ben ging. „Hartmut, wie geht es ihm?“ fragte sie angstvoll und der sagte ernst: „Er ist immer noch aufgespießt wie ein Käfer, aber um ihn herum ist alles so eng, dass niemand im Augenblick an ihm was machen kann. Semir stützt ihn immer noch von unten, aber ich komme auch nicht ran, um ihn abzulösen. Es sieht nicht gut aus!“ erklärte er und gerade begann Ben sich wieder zu regen und die Augen, die er momentan geschlossen hatte, aufzumachen. Entsetzt sah er die ganzen Menschen an, die sich um ihn geschart hatten und als er schmerzhaft husten musste, lief danach ein kleiner Blutfaden aus seinem Mundwinkel.

  • Auch Hundeführer der Polizei wurden eingesetzt und systematisch begannen die Einsatzkräfte von außen nach innen, von allen Seiten her, die Menschen wegzuschicken. Wer sich zierte, dem wurde mit einer Anzeige gedroht und wenn dann so ein Schutzhund drohend vor einem stand, überlegte sich doch so mancher, dass er doch noch woanders Besseres zu tun hätte. Die Menge lichtete sich und allmählich konnte die Feuerwehr mit ihrem Fahrzeug immer näher fahren. Der Einsatzleiter der Polizei koordinierte und forderte auch mit Lautsprechereinsatz immer wieder die Menschen zum Verlassen des Neumarkts auf, um die Rettungskräfte nicht zu behindern. Sobald die Menschen weniger wurden, überlegte, ohne den Schutz der Menge, so mancher ein wenig schuldbewusst, was jetzt eigentlich so interessant sein sollte und als immer wieder mitgeteilt wurde, dass jedem eine Anzeige drohte, der jetzt nicht sofort ruhig den Neumarkt verließ, löste sich der Spuk schneller als erwartet auf. Die Kinder wurden wieder von den Schultern gehoben und endlich konnte das Feuerwehrfahrzeug mit blinkendem Blaulicht näher heranfahren, verfolgt vom enttäuschten Blick so manches Jungen, der zu gerne einen Einsatz beobachtet hätte.
    Hartmut und Dieter waren, sobald der Druck der Menge nachließ, zu Ben geeilt und hatten vorsichtig Semir unterstützt, der inzwischen völlig verkrampft, selber mit schmerzverzerrtem Gesicht, unter Ben kauerte. Alle, einschließlich der RTW-Besatzung atmeten auf, als sie endlich Luft bekamen und das rote Fahrzeug im Zeitlupentempo näherrollen sahen. Jeder einzelne hatte eine Massenpanik befürchtet und um sein eigenes Leben Angst bekommen, so im Zentrum eines Pulks, der plötzlich nicht mehr aus einzelnen Menschen zu bestehen, sondern eine eigene, angsteinflößende Kreatur zu sein schien, die nur ihren eigenen Gesetzen folgte.


    Semir kroch nun vorsichtig unter seinem Freund heraus, er hätte keine Sekunde länger ausgehalten und streckte die schmerzenden Glieder. Die Feuerwehrleute sprangen aus dem Fahrzeug und nach einer kurzen Orientierung brachten sie aufblasbare Spezialkissen mit, die normalerweise bei der Bergung mit der Rettungsschere zum Einsatz kamen und unterbauten damit Ben´s untere Hälfte, so dass jetzt auch Hartmut und Dieter wieder frei waren.
    Die Chefin und die Staatsanwältin waren ebenfalls näher getreten und sahen völlig schockiert auf den schrecklichen Anblick, der sich ihnen bot. Sarah hatte wieder Ben´s Kopf auf ihrem Schoss, nur musste sie nicht mehr sein Körpergewicht stützen, das übernahm die Vakuummatratze. Sie hatte die Ohiomaske etwas angehoben und den Blutfaden, der aus Ben´s Mund gelaufen war, mit einem Papiertaschentuch abgewischt. Sie hatte die Umwelt völlig ausgeblendet und war nur auf ihren Freund konzentriert, der die Augen wieder geschlossen hatte.


    Der Autoverkehr am Neumarkt war immer noch abgeriegelt und während die Polizisten nun eine großräumige Absperrung errichteten, durften die Straßenbahnen weiterfahren und endlich war auch genügend Platz für den Hubschrauber zum Landen gegeben, der während der Aktion über dem Gebiet gekreist war.
    Als Semir sah, dass nun genügend professionelle Helfer bei seinem Freund waren und er ja Sarah zum Beistand hatte, konnte er an das Nächstliegende denken: Wo war Sharpov? Gemeinsam mit Dieter trat er zur Chefin und schilderte kurz, was passiert war. Die verkniff sich in Anblick der Situation jegliche Kritik, das hätte Ben jetzt auch nichts geholfen und dass Semir sich sowieso die allergrößten Vorwürfe machte, wegen dieses eigenmächtigen Einsatzes mit Folgen, war ihm deutlich anzusehen. Er wirkte in der kurzen Zeit um Jahre gealtert und die bange Sorge um seinen Freund und Kollegen war ihm stark anzumerken. Sie gab sofort eine Fahndung nach Sharpov und seinen beiden Bodyguards heraus und gleichzeitig wurde eine Hausdurchsuchung in dessen Villa von der Schrankmann angeleiert. Die Spurensicherung wurde noch angefordert, um die Luxuslimousine näher zu untersuchen und gerade als Semir begann sich nach Hartmut umzusehen, kam der mit einer sich heftig sträubenden Irina aus dem Betonkunstwerk, die noch eine Spur weißes Pulver unter der Nase kleben hatte.


    Zielsicher war er dort hineingegangen, als seine Hilfe bei Ben nicht mehr vonnöten war und hatte sie gerade dabei ertappt, wie sie sich auf einem kleinen Handspiegel, mithilfe eines 5€-Scheins, eine Linie gezogen hatte. Ihm war klar gewesen, dass die nicht ohne Stoff abhauen würde und so waren wenigstens die beiden Frauen in Sicherheit. Hartmut würde sich die interessante Konstruktion im Inneren der Betonsymphonie später näher anschauen, aber jetzt musste erst einmal Ben geborgen werden.

  • Inzwischen war die Besatzung des Hubschraubers ebenfalls bei ihrem Patienten angekommen und der eine Notarzt erzählte dem anderen den Unfallhergang, wie er ihn von Sarah inzwischen genauestens erfahren hatte. „Herr Jäger ist aus etwa drei Meter Höhe abgestürzt und auf diesem Betonvorsprung gelandet. Er ist Polizist und wurde zuvor von einem Verbrecher an der Hüfte angeschossen!“ erklärte er und hob die Kompressen, die sie momentan nur lose über den Streifschuss gelegt hatten, ein wenig an, was Ben ein Stirnrunzeln entlockte. Der Hubschraubernotarzt besah sich ebenfalls die Schusswunde und stellte fest, dass sie relativ oberflächlich war. Natürlich blutete sie und musste zu einem späteren Zeitpunkt auch operativ versorgt werden, aber momentan war sie zu vernachlässigen und so wurden die Kompressen wieder draufgelegt und mit einem Pflaster lose befestigt. Man hatte an Ben´s Jeans dazu nur den Reissverschluss geöffnet und die Hose ein wenig zur Seite geschoben, sonst hatte man ihn wegen der Wärmeisolierung völlig angezogen gelassen.


    Inzwischen hatten die Einsatzkräfte aus Tüchern einen Sichtschutz hergestellt und Ben war zwischen den weißen Tüchern, die von Polizisten, die ihn mitleidig ansahen, hochgehalten wurden, wenigstens vor den Blicken Schaulustiger geschützt. Außer von denjenigen, die in den umliegenden Häusern, die allerdings schon ein Stück entfernt waren, an den Fenstern hingen, wurde Ben nun von niemandem mehr aus Sensationslust begafft und gerade Sarah empfand das als sehr wohltuend.
    „Ich habe ihm Ketanest bis zur Schmerzfreiheit hochtitriert, der Kreislauf ist momentan stabil-anscheinend komprimiert der Fremdkörper die Gefäße-und ich konnte keine Motorik-oder Sensibilitätsstörungen in den Beinen feststellen, also ist vermutlich die Wirbelsäule nicht betroffen.“ erklärte der Notarzt und der Hubschrauberarzt nickte. In diesem Moment musste Ben wieder husten und außer, dass er dabei wieder schmerzvoll das Gesicht verzog, kam wieder ein wenig Blut aus seinem Mund, das von Sarah sofort fürsorglich abgewischt wurde. Der Hubschrauberarzt nahm sein Stethoskop aus der Tasche und begann Ben´s Lunge gründlich abzuhören. Er schob dazu Ben´s Shirt nach oben und unten und betastete dann noch vorsichtig den Bauch. Ihm lief es kalt den Rücken herunter, als er die etwas stumpfe Spitze des Betonteils vorne, direkt unter der Haut, spüren konnte. Verdammt, das hatte die Leber mit Sicherheit durchdrungen und er wollte sich das gar nicht vorstellen, welche Schäden es dabei angerichtet hatte. Eines war klar. Die Leber war ein dermaßen blutgefülltes Organ, wenn das Teil entfernt wurde, würde es zu massiven Blutungen kommen, also musste man zumindest versuchen, es solange drinzulassen, bis er im OP in Narkose unter kontrollierten Bedingungen revidiert werden konnte.


    „Ich vermute eine Lungenkontusion, das würde den blutigen Auswurf erklären!“ sagte er zu seinem Kollegen, der bestätigend nickte. „Es hört sich aber nicht nach einem Pneu an, dazu ist die Sättigung auch zu gut!“ sagte er nach einem Blick auf den Monitor. Inzwischen war der Feuerwehrkommandant hinzugetreten und sah die beiden Ärzte fragend an. „Können wir versuchen, diesen Betonkonus abzusägen oder flexen und ihn mit ins Krankenhaus zu nehmen?“ fragte der Notarzt und der Kommandant ließ sich nun ebenfalls auf den Knien nieder und besah sich das aus der Nähe. „Das wird sehr schwer werden, weil wir eine große Fläche haben, aber wir können´s versuchen!“ sagte er und ging dann zum Einsatzfahrzeug, um das zu koordinieren. Natürlich hatte routinemäßig das Fahrzeug kein Steinschneidewerkzeug dabei, aber wenig später war aus einem Gerätefundus das passende Werkzeug angefordert und wurde dann auch von einem Feuerwehr-PKW mit Blaulicht geliefert.


    Zusätzlich wurde, während man wartete, vom nächsten Hydranten eine Schlauchleitung hergelegt und als Sarah die Männer fragend ansah, wurde ihr erklärt, dass man beim Stein-oder Betonsägen immer mit Wasser kühlen musste, da sonst die Schneidescheiben zu heiß würden. Bei Ben hatte inzwischen die Ketanestwirkung wieder ein wenig nachgelassen und er sah jetzt um sich und versuchte sich ein wenig zu orientieren. „Herr Jäger, wir versuchen jetzt das Betonstück, das in ihnen steckt, abzuschneiden, das könnte ein wenig unangenehm werden. Auf jeden Fall wird es feucht, weil wir immer mit Wasser kühlen müssen!“ erklärte der Feuerwehrkommandant, der inzwischen mit einem für dieses Gerät eingewiesenen Mann nähergekommen war. Die beiden Ärzte wechselten einen Blick. Unangenehm war vermutlich etwas untertrieben, sie mussten ihm natürlich wieder eine Dosis Schmerzmittel geben, allerdings waren die lauten Geräusche, die es jetzt geben würde, sehr schlecht mit der Ketanestwirkung zu vereinbaren, da das schwere Halluzinationen hervorrufen konnte. Normalerweise versuchte man beim Einsatz dieses Mittels eine ruhige Atmosphäre herzustellen, aber das war wohl jetzt nicht mehr möglich. Also bekam Ben nochmals eine Ration gespritzt, der Hubschraubernotarzt legte an seinem Hals in die vena jugularis externa eine weitere dicke Venenverweilkanüle, damit man ihm forciert Volumen zukommen lassen konnte, wenn es nötig wurde, man setzte ihm einen Gehörschutz und einen Helm auf, schickte Sarah zur Seite und dann wurde das große Gerät angelassen.

  • Der Maschinenführer setzte vorsichtig etwa 20cm von Ben´s Rücken entfernt seine Flex an. Ein zweiter Mann, ebenfalls mit Helm und Gehörschutz hatte den Schlauch in der Hand und während sich unter Getöse die riesige, diamantenbesetze Steinscheibe in den Beton fraß, kühlte er kontinuierlich mit Wasser, das in alle Richtungen spritzte, die Arbeitsumgebung. Binnen kurzem war Ben am Rücken tropfnass und zusammen mit dem Schmerz und dem Lärm brachte es ihn dazu, weit und verständnislos die Augen aufzureißen. Gerade war er nach der Injektion des Arztes wieder in einen wohltuenden, schmerzfreien Schlaf gefallen, als er unsanft durch die Manipulationen geweckt wurde. Er wusste überhaupt nicht, was los war, nur war es furchtbar laut und nass und sein verwirrter Verstand befahl ihm, sofort aufzuspringen und wegzurennen. Semir und Sarah die wenige Meter neben den arbeitenden Männern standen, sahen als Erstes, dass Ben alle Muskeln anspannte und wie auf Kommando stürzten sie beide nach vorne und warfen sich auf ihren Freund.


    Die beiden Ärzte hätten nicht schnell genug reagiert und so war Ben zwar ein wenig hochgegangen, aber immerhin war er nicht komplett aufgesprungen und hatte sich das Betonstück so aus den Eingeweiden gerissen. Während Sarah und Semir den, sich nun wehrenden Ben niederdrückten, der überhaupt nicht wusste, was los war und meinte in einen Kampf verwickelt zu sein, überlegten die Notärzte fieberhaft, was sie ihm zum Sedieren geben sollten. „Ich denke Tavor!“ sagte der eine Notarzt und während der andere zustimmend nickte, holte der Rettungsassistent schon eine Ampulle aus der kleinen batteriegetriebenen Ampullenkühltasche seines Notfallkoffers. Die 2mg wurden in Windeseile aufgezogen und dann gab man ihm erst einmal die Hälfte und als er sich nicht merklich beruhigte, auch noch den Rest.
    Semir und Sarah hatten inzwischen alle Hände voll zu tun, um Ben niederzuringen, der nun auch noch begonnen hatte, um sich zu schlagen und zu treten. Zwei der Sanitäter sprangen jetzt noch hinzu und halfen ihn festzuhalten, bis seine Bewegungen langsam erlahmten. Er blieb mit weitgeöffneten Augen liegen und nahm gezielt nun überhaupt nichts mehr wahr, während Sarah nun vor Schreck und Aufregung das Herz bis zum Hals schlug. Als er einigermaßen ruhig war, beschloss man, seine Freunde, die ihn vielleicht am ehesten beruhigen konnten, nahe bei ihm zu lassen, vielleicht hatte es ja einen Wert. Während Semir nun weiter Ben´s Hände hielt und Sarah sein Gesicht streichelte, was ganz schön eng wurde, weil ja die Feuerwehrleute auch Platz zum Arbeiten brauchten, begann die laute Maschine wieder zu laufen und fraß sich ein kleines Stück weiter in den Beton.


    Plötzlich wurde eines der weißen Tücher beiseite gerissen und ein völlig empörter Mann mit wallendem grauen Langhaar schrie: „Stop! Sofort aufhören!“ und stürzte sich nun seinerseits auf die Männer mit der Maschine, die sich gerade weiter in das Mauerwerk gefressen hatte. Direkt hinter ihm schlüpfte der Kulturreferent Weidenhiller durch die Lücke und begehrte ebenfalls zu wissen, warum man gerade dabei war, das wertvolle Kunstwerk zu zerstören. Semir ließ in dem Tumult Ben´s Hände los, der Gott sei Dank nun Sarah wahrgenommen hatte und die nun unverwandt ansah und dabei ruhig blieb und packte nun grob im Polizeigriff den empörten Künstler und zog ihn ein Stück zur Seite, woraufhin die Chefin und Frau Schrankmann gleich näherkamen und wissen wollten, was denn los sei. Sie waren ein ganzes Stück weggegangen, um die Rettungsarbeiten nicht zu behindern und hatten sich telefonisch bei Susanne gerade über den Stand der Hausdurchsuchung und der Fahndung nach Sharpov erkundigt.


    Der Künstler tobte in Semir´s Griff und schrie empört: „Waldemar Sharpov wird ihnen schon zeigen, was es bedeutet, ein von mir geschaffenes und von ihm gesponsertes Kunstwerk zu zerstören! Sie, sie werden schon sehen, was passiert, wenn er böse wird! Es ist eine Unverschämtheit, da einfach Hand anzulegen, die ganze Symphonie wird dadurch verunstaltet, ich verlange, dass sie sofort mit der Verstümmelung aufhören!“ kreischte er und wurde erst ruhiger, als die Chefin und die Staatsanwältin ihn mit kühlem Blick musterten. „Im Moment ist das kein Kunstwerk, sondern ein Tatort. Hier hat ein Mordversuch stattgefunden und wenn sie weiter die Rettungsarbeiten behindern, lasse ich sie vorrübergehend in Haft nehmen. Außerdem ist ihr tolles Kunstwerk ein Drogenumschlagplatz und deshalb so wie es ist, im Moment beschlagnahmt!“ erklärte die Staatsanwältin und nun blieb sogar Ingo von Krottenthal der Mund offenstehen. Semir konnte nun den Polizeigriff lockern und als der Mann ruhig blieb, ließ er ihn sogar ganz los. Der war nun ganz blass geworden und im Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen.


    Semir sah aus dem Augenwinkel den Kulturreferenten, der ebenfalls blass geworden war und nun unauffällig versuchte, das Weite zu suchen. Ben hatte ihm aber erzählt, dass er den auffällig oft am Neumarkt getroffen hatte und jetzt benahm er sich ebenfalls nicht normal. „Dieter, würdest du bitte den Herrn Kulturreferenten zu einem Fahrzeug bringen? Die sollen ihn in die PASt zum Verhör bringen, ich denke, Herr Weidenhiller kann uns vielleicht etwas zur Sache erzählen!“ forderte er seinen Kollegen auf, der das auch sofort ausführte.
    Aufatmend wandte er nun seinen Blick zu Ben, bei dem die Steinscheibe wieder ihr Werk aufgenommen hatte. Allerdings blieb ihm fast das Herz stehen-am Kustwerk herunter lief jetzt nicht nur Spülwasser, sondern eindeutig Blut-und zwar viel Blut!

  • Auch die beiden Ärzte hatten gesehen, was Semir fast das Herz zu Eis gefrieren ließ. „Verdammter Mist!“ fluchte der eine und befahl den Feuerwehrleuten, die Arbeit einzustellen, damit man erstens sehen konnte, wie stark es blutete und zweitens auch die Situation überhaupt einschätzen konnte. Während der Rettungsassistent eine weitere Infusion vorbereitete, die man im Schuss über den relativ großen Zugang am Hals verabreichen konnte, begann auch schon Ben´s Blutdruck zu sinken und der Herzschlag sich zu beschleunigen, was ein Zeichen für einen beginnenden Schock war. Ben begann kalt zu schwitzen und während man zusehen konnte, wie er immer blasser wurde, floss das Blut in Strömen aus seinem Rücken und beschmutzte das Betonkunstwerk. Allerdings getraute sich der Künstler, der zwar auch noch in der Nähe stand, sich aber dann ruhig verhalten hatte, keinen Ton zu sagen-zu sehr hatten ihn die Eröffnungen der Staatsanwältin erschüttert.


    Der eine Notarzt fragte die Feuerwehrleute: „Wie lange brauchen sie noch, um das Betonstück abzuschneiden?“ und der eine Feuerwehrmann schätzte in Anbetracht des bisherigen Fortschritts: „Schon noch etwa 15 Minuten!“ woraufhin der Hubschraubernotarzt den Kopf schüttelte. „Die Zeit haben wir leider nicht mehr! Vermutlich ist jetzt ein großes Gefäß eröffnet, er verblutet uns unter den Händen, wenn wir jetzt nicht schnell eine Entscheidung treffen!“
    Kurz beratschlagten sich die beiden erfahrenen Ärzte im Flüsterton, um sich dann knapp an ihre Assistenten zu wenden. „Den Hubschrauber in Stand by!“ befahlen sie und der Pilot, der auch bei den Rettungskräften gestanden hatte, setzte seinen Helm auf und machte sich sofort auf den Weg zu seinem Fluggerät, um den Rotor anzulassen und den Abflug vorzubereiten. Man holte aus dem RTW eine große Menge steril verpackter grüner Bauchtücher aus Baumwolle, bereitete nebenbei alles zum Intubieren vor und die beiden Ärzte zogen dann sterile Handschuhe an. Der Rettungsassistent legte noch einige steril einzeln eingeschweißte Instrumente bereit, die Trage vom Hubschrauber wurde direkt neben Ben auf den Boden gestellt und mit wenigen Worten erklärte der Hubschraubernotarzt, was sie vorhatten.
    „Wir nehmen ihn jetzt trotzdem von der Spitze runter und versuchen dann vor Ort eine Blutstillung, oder zumindest ein Packing vorzunehmen. Sobald wir das haben, intubieren wir ihn und bringen wir ihn dann so schnell wie möglich in die Uniklinik. Wir können dort auf dem Dach landen und werden organisieren, dass ein OP-Team gewaschen bereitsteht, sobald wir ihn dort haben!“


    Sarah streichelte immer noch liebevoll Ben´s Gesicht, der zwar nicht so richtig bei sich war, aber trotzdem die Unruhe um sich herum spürte und außerdem wohl merkte, wie es ihm von Sekunde zu Sekunde schlechter ging. Er hatte die Augen wieder weit geöffnet und fixierte Sarah, der ein schrecklicher Kloß im Hals steckte. „Kann er zuvor nochmals ein wenig Ketanest haben?“ fragte sie, ohne ihren Freund dabei aus den Augen zu lassen, aber eigentlich wusste sie die Antwort schon vorher. „Nein, das würde sein Kreislauf nicht packen! Wir hätten ihn ja schon lange intubiert und voll absediert, aber wir brauchten bis jetzt eine gewisse Menge körpereigenes Adrenalin, um die Körperspannung nicht absinken zu lassen. Allerdings ist jetzt das passiert, was wir von Anfang an befürchtet haben-die Tamponade, die das Betonstück bisher auf die Blutgefäße ausgeübt hat, ist nicht mehr wirksam, vermutlich durch seinen Aufstehversuch vorhin. Jetzt zählt die Zeit, bis wir ihn im OP haben!“ sagte der zweite Notarzt und nickte seinen Helfern zu, die wussten, was sie zu tun hatten. Man hatte Ben nun auch den Helm und den Gehörschutz abgenommen, den brauchte er jetzt nicht mehr.


    Auch Semir war voller Entsetzen einen Schritt nähergetreten. Oh Gott! Hoffentlich ging das gut raus, er würde es nicht verkraften können, wenn sein Freund jetzt vor seinen Augen sterben würde! Bis er sich versah, lief die abgesprochene Aktion der Rettungskräfte an und würde Semir vermutlich noch lange in seine Träume verfolgen!

  • Langsam begann die Dunkelheit über den Neumarkt zu fallen, aber einige Feuerwehrleute hatten eine Lichtgiraffe vorbereitet, die den Unfallort jetzt mit gleißendem Licht ausleuchtete. „Herr Jäger, wir heben sie jetzt hoch, das wird wahrscheinlich etwas weh tun!“ sagte einer der Notärzte zu seinem Patienten. Die Sanitäter und die beiden Feuerwehrleute fassten Ben an der Hose und unter den Armen. Auf das Kommando des Notarztes hoben sie ihn gerade in die Höhe, damit nicht zusätzlich noch Scherkräfte in der Wunde wirkten. Ben, der zuvor irgendwie noch nicht so richtig mitgekriegt hatte, was man jetzt mit ihm vorhatte, wurde von dem gnadenlosen Schmerz in seinem Bauch völlig überrascht. Er begann zu schreien, denn obwohl das Ketamin schon noch wirkte, war dieser Schmerz einfach viel stärker, als er aushalten konnte. Alle Umstehenden wurden von Mitleid überwältigt und bei Sarah begannen die Tränen ungebremst zu fließen. Ben versuchte verzweifelt die Hände wegzuschieben, die ihm so viel Pein bereiteten, aber er blieb ohne Erfolg und als der Betonkonus plötzlich spitz in die Luft ragte und Ben zwar frei war, aber das Blut dafür nun regelrecht aus der Wunde an seinem Rücken schoss, hielten die Umstehenden vor Entsetzen den Atem an.


    Beherzt packten ihn die Helfer, drehten ihn um und legten ihn bäuchlings auf die Trage. Man zog ihm die Arme nach oben und seine Schreie hallten immer noch in die laue Nachtluft. Sarah, die während der Bergung nur zwei Schritte zurückgegangen war, stürzte sich regelrecht auf ihren Freund und auch Semir trat näher, während zwei Feuerwehrleute Ben´s Beine festhielten und übernahm dessen eiskalte Hände. Sarah beugte sich über ihn und flüsterte ihm immer wieder ins Ohr, dass es gleich vorbei sein würde und er schlafen dürfe. Während Ben nun vor sich hinschluchzte und versuchte, sich irgendwie zurechtzufinden, fasste einer der beiden Notärzte beherzt in die Wunde und versuchte die blutenden Hauptgefäße zu orten. Mit einer angereichten Klemme fasste er eine spritzende Arterie und klemmte sie ab, während der zweite Arzt die Wunde mit zwei vom Rettungsassistenten angereichten Wundhaken auseinanderzog. Ben jammerte nur noch und der Schmerz raubte ihm beinahe den Verstand. Noch eine zweite Klemme wurde gesetzt und liegengelassen und nun stopften die beiden Ärzte neben den Klemmen so viele Bauchtücher in die Wunde, bis die stärkste Blutung aufhörte. „Jetzt umdrehen!“ befahl der Hubschraubernotarzt und alle fassten wieder mit an, den Schwerverletzten auf den Rücken zu drehen, so dass er mit seinem Körpergewicht zusätzlich noch Druck auf die Wunde ausübte.


    Jenni stand immer noch mit ihrer Infusion da-inzwischen die dritte Literflasche- und beobachtete schreckensbleich das gespenstische Szenario. Alle Umstehenden, Semir und Sarah eingeschlossen, waren mit Ben´s Blut bespritzt und als nun der eine Arzt das Laryngoskop zur Hand nahm, während der zweite in den Zugang am Hals die vorbereiteten Narkose-und Muskelrelaxierungsmittel spritzte, konnten sie noch gar nicht fassen, dass Ben´s Qualen nun bald ein Ende haben würden. Mit einem letzten Blick erfasste er noch Sarah und Semir und dann begannen seine Schreie zu verstummen und seine Augenlider zu flattern. Als er weit genug weg war, intubierte der Notarzt ihn routiniert, die Tubuslage wurde kontrolliert, der Atemschlauch sicher verklebt und dann das transportable Beatmungsgerät angeschlossen.


    Währenddessen hatten die Sanitäter ihn auf der Trage festgeschnallt, zogen die jetzt hoch, damit das Fahrgestell ausfuhr und so zügig wie möglich schoben sie ihre kostbare Fracht zum Hubschrauber, wo Ben dann auch kurz danach eingeladen wurde. Der Rettungsassistent und der Hubschraubernotarzt stiegen dazu und bis sie sich versahen, war das Fluggerät in der Luft und steuerte die nahe Uniklinik an. Der zurückbleibende Notarzt zog seine blutigen Handschuhe aus und griff dann zum Handy um direkt den übernehmenden Notaufnahmearzt, der schon auf dem Dach des Krankenhauses bereitstand, zu informieren.
    Das OP-Team erwartete bereits steril gewaschen seinen kritischen Patienten und Sarah brach nun erst mal zusammen. Sie konnte zunächst überhaupt nicht mehr aufhören zu weinen und Semir, der selber feuchte Augen hatte, nahm sie einfach in die Arme und hielt sie fest, bis sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. „Warum nur Ben? Warum muss gerade ihm sowas passieren?“ flüsterte Sarah, aber auch Semir konnte nur fassungslos den Kopf schütteln.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!