Freunde fürs Leben - und dann?

  • Wenig später kam die Schwester mit dem Frühstück für Semir und Ben stellte sie die Frage: „Welche Geschmacksrichtung wollen sie denn bei der Astronautenkost? Ich habe Cappuchino, Schoko, Vanille, Waldbeere und Multivitamin im Angebot. Nach kurzer Überlegung entschied sich Ben für Cappuchino, das kam seinem sonst unabdingbaren morgendlichen Kaffee am nächsten. Aber zunächst zog die Schwester noch die Magensonde heraus. Dazu löste sie nur mit behandschuhten Händen das Pflaster auf seiner Nase und zog einfach an, bis sie draußen war, begleitet von Ben´s Würgen. Semir verging beinahe der Appetit an seinem Frühstück, aber als Ben´s Gesicht jetzt noch mit einem feuchten Waschlappen abgewischt war, sah der schon wieder recht munter aus der Wäsche.


    Vorsichtig trank er erst einen Schluck Wasser und als das klappte, widmete er sich der Packung, die ein wenig wie ein Milchshake schmeckte. Sie war gekühlt und Ben genoss in langsamen Schlucken die 200ml hochkalorischer Flüssignahrung, während auch Semir sein Frühstück beendete.
    Nach einer kurzen Pause kam die Schwester wieder zum Waschen und den ersten Drainagenentfernungen. Ben war ziemlich aufgeregt, als sie nach dem Lösen der Pflaster erst die Fäden abschnitt und dann erst den Sog abliess, um danach die Redons nacheinander herauszuziehen, aber es ziepte eigentlich nur kurz und dann war es vorbei. Ben hatte sich aber wohlweislich vorher noch einen Schmerzmittelbolus verpasst-sicher ist sicher!
    Heute half er schon ein wenig beim Waschen mit, drehte sich alleine zur Seite und als man das Leintuch wechselte, stand er, gestützt von einer zweiten Schwester, schon kurz vor dem Bett. Mann, so wie ihm die Knie zitterten, hätte man meinen können, er habe schon einen Halbmarathon hinter sich, aber trotzdem war er ein wenig stolz auf sich, dass er es geschafft hatte, ohne dass ihm schwindlig wurde. Danach putzte er im Sitzen noch selber seine Zähne und als man ihm einen Spiegel reichte, war er mit der Bartlänge gar nicht so unzufrieden. Irgendwann musste ihn in den letzten Tagen mal jemand rasiert haben, aber es war ein merkwürdiges Gefühl, sich daran überhaupt nicht erinnern zu können. Man war da so ausgeliefert und musste darauf vertrauen, dass die Ärzte und Schwestern alles richtig machten, ohne selber eingreifen zu können, das war schon komisch, gerade wenn man sonst gewohnt war, alles selber zu machen.
    Als die Körperpflege beendet war, alle Verbände erneuert und Ben mit einem frischen Flügelhemd bekleidet wieder auf dem Rücken lag, atmete er befreit auf und schloss ein kleines Vormittagsschläfchen an, liebevoll betrachtet von Semir, der die rasanten Fortschritte seines Freundes mit wohlwollendem Erstaunen beobachtete.


    Zu Semir kam wenig später noch die Logopädin und obwohl man schon kaum mehr eine Sprachauffälligkeit feststellen konnte, zog sie ihr Übungsprogramm mit ihm durch und Semir kam sich vor, wie ein Opernsänger bei der Stimmbildung, denn heute sollte er sogar singen. Als er einen kleinen Seitenblick zu Ben warf, sah er, dass der in sich hinein grinste. Na warte! Das würde Konsequenzen haben! Kaum war die Therapeutin verschwunden, erkundigte er sich: „Was gibt’s da zu lachen?“ und als Ben unauffällig betonte: „Ach, gar nichts!“, flog eine Packung Tempotaschentücher auf dessen Bett, was er sofort zurückwarf. Sie alberten noch eine Weile herum, aber als Ben sich nun wieder ein Schmerzmittel verpasste, wurde er extrem müde und so kehrte wieder für eine kurze Zeit Ruhe ein. Semir war erleichtert, dass es war, wie es war-sie beide hatten harte Zeiten hinter sich, aber es würde weitergehen, da war er sich nun hundertprozentig sicher!

  • Später bekamen beide Mittagessen. Semir ganz normal und Ben entschied sich für die Waldfruchtvariante. An das Zeug könnte er sich echt gewöhnen! Die Schwester stellte ihm danach einen Triflow hin, das war ein eigentlich einfaches Plastikeinmalgerät zur Atemgymnastik. Drei Kugeln lagen da in drei miteinander verbundenen Plastikabteilen, vorne ging ein kleines Schläuchlein mit Mundstück weg, das Ben nun zwischen die Lippen nehmen sollte. „Nun die Luft ansaugen und dann etwa 3 Sekunden halten!“ befahl die Schwester und als Ben das machte, hob sich die erste Kugel. Ben stach es im Bauch und überrascht ließ er die Luft wieder ab. Die Schwester schüttelte den Kopf und drückte nun ihrerseits auf den Knopf der PCA-Pumpe. „Wenn es weh tut, bitte holen sie sich ausreichend Schmerzmittel! Sie müssen keine Angst haben, süchtig zu werden, solange sie aufhören, wenn der Schmerz erträglich ist. Opiate sind Medikamente, die auch in ähnlicher Form im Körper selbst gebildet werden, nur heißen sie da Endorphine. Nach so großen Eingriffen schafft der Körper es natürlich nicht, die in ausreichender Menge nachzufahren und so würde ihr Körper sie zu einer schmerzbedingten Schonhaltung verdammen, wenn sie keine Schmerzmittel bekämen. Das hätte aber wieder zur Folge, dass sie nicht durchatmen, sich nicht bewegen und eine Lungenentzündung bekommen, die ihnen dann vielleicht das Leben kostet. Also müssen wir ihren Organismus überlisten und ihm etwas zuführen, was er im Augenblick zu wenig hat. Diese Schmerzrezeptoren im Gehirn schreien sozusagen nach dem Opiat und wir besetzen sie synthetisch, damit sie sich wieder rühren können. Würde ein Gesunder diese Mengen Opiate bekommen, müsste man Angst vor einer Sucht haben, aber in ihrem Fall nicht.“


    Ben nickte-die Schwester hatte seine unausgesprochenen Ängste erkannt und in Worte gefasst. Als er es jetzt, nachdem das Opiat wirkte, nochmals versuchte, stiegen alle drei Kugeln nach oben und es gelang ihm mit ein bisschen Übung, sie oben zu halten. „Wenn sie das selbstständig jede Stunde 10 Mal machen, solange sie wach sind, wird ihre Lunge es ihnen danken. Später kommt dann noch die Physiotherapie und steht mit ihnen auf, aber ich bin schon mal sehr zufrieden!“ lobte ihn die Schwester.
    Semir, der fasziniert zugesehen und gehört hatte, wies mit dem Daumen nach oben und Ben strahlte ihn an. Er hatte ein gutes Gefühl!


    Noch vor der Besuchszeit kamen zwei Krankengymnasten und die mitgebrachte Schwester trennte mit vielen Stöpseln und Aufwand Ben von seinen Infusionen und Kabeln. Mann, ob die hinterher noch wusste, was wohin gehörte? Ben wagte es zu bezweifeln! Ein Schmerzmittel war ihm zuvor noch verabreicht worden und nun kam der eine Physiotherapeut mit dem Gehwagen, den Semir ja auch schon kennengelernt hatte. Er stellte die Höhe passend für Ben ein, damit der aufrecht stehen konnte und bis er sich versah, stand der, gestützt von den beiden, in dem Fahrzeug, das Semir ein wenig an die Lauflernhilfe seiner Kinder erinnerte. Vorne waren zwei Handgriffe und so konnte Ben sein Gewicht auch ein wenig auf alle vier Extremitäten verteilen. Außerdem bot das Metallgestell ihm Stütze und Sicherheit und als die Drainageablaufbeutel und der Urinbeutel noch an das Gestänge gehängt waren, begann Ben zögernd einen Schritt vor den anderen zu setzen. Es klappte besser als erwartet, obwohl der Anblick natürlich etwas lächerlich war, denn durch die ganzen Schläuche war es nicht möglich, das Hemd hinten zu schließen, so dass man Bens blanke Kehrseite bewundern konnte. Als die drei auf dem Gang verschwanden, hoffte Semir, dass nun nicht justament Frau Krüger um die Ecke biegen würde, -nicht dass die noch blind würde-grinste er in sich hinein. Wenig später hörte er einen kleinen Tumult auf dem Flur und dann wurde ein käsebleicher Ben mit wehenden Fahnen in einem flachgestellten Mobilisationsstuhl hereingefahren und ins Bett gehoben.


    „Die Infusionen wurden wieder angeschlossen und schneller gestellt, das Bett in Kopftieflage gebracht und die Blutdruckmessung an den Picco angeschlossen. Wenig später begann der Druck sich wieder zu normalisieren, der erst im Keller gewesen war und Ben, der kaltschweissig mit einem kühlen Waschlappen auf der Stirn dagelegen hatte, begann wieder Farbe zu bekommen. „War die Anstrengung doch noch etwas zu viel für sie?“ fragte die Schwester mitfühlend und Ben nickte. Plötzlich hatten seine Knie nachgegeben und ihm war schwarz vor den Augen geworden. Die Krankengymnasten hatten ihn gehalten, bis er auf dem Stuhl halb saß, halb lag und dann war es zügig ins Bett zurückgegangen. Aber sonst war weiter nichts passiert und als Ben wieder komplett verkabelt war-ohne dass die Schwester nur einmal überlegen musste, was wohin gehörte übrigens-, schloss er erschöpft die Augen und hörte nur noch aus der Ferne, wie der eine Physiotherapeut zu ihm sagte: „Und morgen gleich wieder, Herr Jäger!“, bevor er in Morpheus Armen versank.

  • Heute kam Julia zu Besuch und war überrascht und erfreut, wie schnell sich der Zustand ihres Bruders gebessert hatte. Auch Andrea zeigte sich von Bens Fortschritten beeindruckt und der Nachmittag verging mit netten Gesprächen wie im Flug. Ben saß nun selbstständig immer wieder am Bettrand und hatte nur beim Zurücklegen immer wieder das Problem, das er sich in die Kabel verhedderte und vom Pflegepersonal regelrecht befreit werden musste, was die aber klaglos erledigten. Er vertrug die Astronautenkost problemlos und hatte bald alle Geschmacksrichtungen durch. Für den nächsten Tag verringerte man schon die parenterale Ernährung und erfreulicherweise konnte man auch den Insulinperfusor reduzieren.
    Als nach einer guten Nacht für die beiden am nächsten Tag die Visite kam, wurde beschlossen, dass es für Semir nun wirklich keine Indikation mehr für einen Intensivaufenthalt gab und so wurde seine Verlegung auf Normalstation in die Wege geleitet. Ben bekam dagegen ein Abführmittel verabreicht, denn es war nun wichtig, dass auch der Darm wieder produzierte. Während es in Ben´s Bauch zuging, als würde da gekämpft und immer wieder Krämpfe seinen Körper heimsuchten, die ihn auf die Seite gedreht und mit den Händen auf die Bauchwunde gepresst daliegen ließen, wurde ein unglücklicher Semir von den Schwestern der Normalstation mit dem Bett abgeholt.


    „Ben, ich komme dich gleich heute Nachmittag besuchen und wenn du mich vorher brauchst, bitte lass auf der Station anrufen, ich komme sofort!“ kündigte er an und drückte im Vorbeifahren ganz fest die Hand seines Freundes. Der war einerseits auch traurig, aber andererseits so mit den Vorgängen in seinem Inneren beschäftigt, dass er seine Aufmerksamkeit auch nur kurz auf Semir richten konnte. „Mach dir keine Sorgen, ich komme schon zurecht!“ murmelte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. So klang das zwar in Semir´s Ohren ganz und gar nicht, aber was sollte er machen, er konnte sich ja schließlich nicht an Ben´s Bett festketten!


    Kaum war Semir um die Ecke verschwunden, läutete Ben und als man ihn zu zweit auf einen Toilettenstuhl vor´s Bett setzte, war er überaus erfolgreich und ehrlich gesagt gottfroh, dass er alleine im Zimmer war. Das hätte er niemandem zumuten wollen, da Zeuge zu sein von Dingen, die man sonst hinter verschlossenen Türen erledigte. Im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert wurde er wieder ins Bett zurückgebracht und als die Schwester, die ihn auch heute Morgen bis zum Frühstück hatte schlafen lassen, ein wenig später zu ihm kam und ihm anbot, ihn zu duschen, wäre er vor Freude fast an die Decke gesprungen. „Ja geht das denn schon, mit den ganzen Verbänden?“ wollte er wissen und sie nickte. „Sonst würde ich ihnen das nicht anbieten. Wir lassen zum Duschen die Verbände drauf und erneuern die erst hinterher. Aber normalerweise hat sich nach 24 Stunden eine Operationswunde schon soweit verschlossen, dass keine Infektionsgefahr mehr besteht!“ erklärte sie ihm.
    Wieder wurde er abgekabelt, aber diesmal mit einem Duschstuhl hinausgefahren. Die Schwester zog sich eine lange Plastikschürze an und als das warme Wasser über seinen Körper prasselte und ihm in dem abwaschbaren Plastikstuhl sitzend, die Haare gewaschen wurden, hätte er schnurren können, wie ein Kater. Die Haare waren immer noch von Blut und Schweiß verklebt gewesen und es hatte sich extrem unangenehm auf seinem Kopf angefühlt. Als er jetzt fertig geduscht war, alle Verbände erneuert waren und die Pflegerin nun noch seine Haare fönte, fühlte er sich wie neu geboren.


    Zum Mittagessen gab es heute schon Suppe und der Weg in Richtung normales Leben kam nun immer näher für ihn. Nach dem Mittagsschlaf stand plötzlich Semir vor seinem Bett, der sich große Sorgen um seinen Freund gemacht hatte, weil der doch so schmerzgeplagt gewesen war, als er ihn hatte verlassen müssen. Allerdings sah Ben jetzt nicht so aus, als ginge es ihm so schlecht und als er Semir mit strahlendem Lächeln begrüßte und ihm auch mitteilte, dass er kaum mehr Schmerzmittel brauchte, war der momentan fast ein wenig verwirrt. „Hast du mit dem Aufwärtstrend nur gewartet, bis ich weg war, oder wie lässt sich jetzt deine deutliche Besserung sonst erklären?“ wollte er wissen. Ben grinste und sagte: „Semir, mach dir doch nicht immer so Sorgen um mich. Ich bin doch kein Baby mehr und ich glaube, auch ich war die längste Zeit auf der Intensivstation!“ Ja da musste ihm sein Freund zustimmen und als dann auch noch die Chefin kam und Andrea, die Semir vergeblich auf der normalen Station gesucht hatte, verbrachten sie mit netten Gesprächen einen vergnüglichen Nachmittag.

  • Ben hatte eine ruhige Nacht verbracht. Nach der gestrigen Besuchszeit war er mit dem Physiotherapeuten noch eine ganze Weile im Gehwagen gelaufen, diesmal ohne dass ihm schwindlig geworden war. Nun kam die große Visite.


    Die Ärzte studierten die Aktenlage und sahen sich dann ihren Patienten nochmals genau an. Er wurde abgehört und abgetastet, aber diesmal brauchte er dazu kein Schmerzmittel, denn es tat einfach relativ wenig weh. Mit einem Blick in den Speicher der PCA-Pumpe konnte das auch der Arzt feststellen und war auf der ganzen Linie mit der Genesung des jungen Polizisten zufrieden. Die parenterale Ernährung wurde abgesetzt und weiterer Kostaufbau gestattet, auch weil die Verdauung wieder funktionierte. Die Pankreasdrainage förderte gut, auch wenn man sie nicht anspülte und aus den Easyflows kam so gut wie kein Wundsekret mehr.
    „Außer der Pankreasdrainage dürfen alle anderen Drainagen raus!“ ordnete der Chirurg an, der Insulinperfusor, der kontinuierlich das Medikament ins Blut abgegeben hatte, wurde pausiert und das Insulin bloß noch bolusweise gespritzt, da ja nun auch die Nahrung nicht mehr ständig in die Vene floss. „Herr Jäger, wir sind mit ihren Fortschritten sehr zufrieden und für morgen planen wir eine Verlegung auf die Normalstation, wenn sich nichts weiter verschlechtert!“ bekam er nun mitgeteilt und fragte ganz hoffnungsvoll: „Kann ich dann zu meinem Freund Herrn Gerkan aufs Zimmer?“ aber der Chirurg schüttelte den Kopf. „Leider nein, denn sie kommen auf die Bauchchirurgie, während Herr Gerkan auf der neurochirurgischen Station liegt. Aber sie können sich ja gegenseitig besuchen, da gibt es keine Einschränkungen!“ teilte er ihm mit.


    So ein Mist! Aber andererseits war es ja einfach auch nur schön, wenn wieder ein Stück Normalität einkehrte und er diese blöden Kabel loswurde. Heute bekam er zum Frühstück schon normalen Kaffee, allerdings mit Süßstoff und Milchbrei und ein Toastbrot mit Diabetikermarmelade vervollständigte sein Morgenmenü. Na ja, das mit dem Süßstoff war schon gewöhnungsbedürftig, gerade wo er doch sonst den Zucker löffelweise in seinen Kaffee schaufelte, so dass Semir, der einmal versehentlich von seiner Tasse getrunken hatte, behauptet hatte, der wäre ungenießbar. Aber er musste dankbar sein, noch zu leben und eine kleine Chance, dass sich das mit der Zuckerkrankheit wieder gab, hatte er ja noch!
    Gleich nach dem Morgenmahl kam die Schwester, um die Drainagen zu entfernen. Sein Bett wurde ein wenig abgedeckt und der Abwurf daneben gestellt. Nun gab sich Ben doch vorsichtshalber einen Schmerzmittelbolus, denn es war sicher nicht angenehm, wenn einem aus dem Bauch die Schläuche gezogen wurden. Die Redondrainagen hatten ja nur unter der Haut und in der Muskelschicht gelegen, während diese Easyflows ja tief in seinem ganzen Bauch verteilt lagen, wie ihm erklärt worden war. Darum hatte man gerade an den ersten Tagen sehr genau den Inhalt der Beutel beobachtet, weil jede Nachblutung oder sonstige Komplikation sich dort als erstes zeigte. Nun waren sie aber überflüssig geworden und boten nur eine Infektionsquelle. Das wenige Sekret, das jetzt noch im Rahmen der inneren Wundheilung produziert wurde, konnte der Körper selber resorbieren.


    Als die Schwester erst einmal alle Beutel löste und die Haut um die Drainagen mit Desinfektionsmittel absprühte, war das zwar kalt, aber bisher schmerzfrei. Nun nahm die Schwester in ihre behandschuhten Hände ein kleines Scherchen und eine Pinzette und löste damit die ersten beiden Fäden, mit denen die Drainagen jeweils an der Haut festgenäht worden waren. Immer mal wieder kam es nämlich vor, dass so eine Drainage nach innen rutschte, wenn sie nicht ordentlich festgenäht war und das bedeutete für den Patienten, dass man die im OP dann im Rahmen einer Bauchspiegelung suchen musste. Als sie das zweite Fädchen entfernt hatte, packte die Schwester auch gleich mit der Pinzette das Drainagenende und zog diese nun langsam und vorsichtig heraus.


    Na ja, angenehm war etwas anderes, aber mit einem kleinen „Aua, verdammt!“ kompensierte Ben den Schmerz und schon war der erste Teil geschafft. Insgesamt fünfmal stand ihm das bevor und die nächsten drei Drainagen ließen sich auch relativ problemlos herausziehen, auch wenn Ben das Gefühl hatte, da würde sein Innerstes nun nach außen gedreht. Als die Schwester allerdings nun die Drainage aus der Milzloge ziehen wollte, die ja auch am längsten von allen saß, war die verbacken und rührte sich keinen Zentimeter. Ben schrie auf, als die Pflegerin daran anzog und die hörte sofort auf, sah ihn mitleidig an und drückte auf den Klingelknopf, während sie mit der Pinzette eisern die Drainage festhielt. Sie hatte zuvor ihre Anwesenheit gesetzt und so kam sofort eine Kollegin zu Hilfe, denn die Glocke schlug nun Alarm. „Kannst du bitte den Doktor holen, die Drainage sitzt fest und bring den Programmierungsschlüssel für die PCA-Pumpe mit!“ bat sie die andere Schwester und wies mit dem Kopf auf Ben, der mit schmerzverzerrtem Gesicht dalag. Die Kollegin nickte und kam wenig später mit dem Arzt im Schlepptau und dem Programmierungsschlüssel der Opiatpumpe zurück. Während der Arzt sich Handschuhe anzog, lockte sich die Schwester mit dem Datenschlüssel, der sozusagen als Zugangscode diente, in die Pumpe ein und gab Ben eine Extraportion Schmerzmittel innerhalb der Sperrzeit, um dann wieder ihrer anderen Arbeit nachzugehen.


    Während nun der Arzt mit den Händen versuchte die Drainage zu lockern, indem er in alle Richtungen zog, hielt die Schwester seine Hände fest, damit er nicht im Affekt nach dem Arzt schlug, der ihm gerade solche Schmerzen bereitete. Ben jammerte und stöhnte und gerade, als der Arzt sich Gedanken wegen einer eventuellen Drainagenentfernung in Narkose machte, flutschte sie plötzlich doch heraus, quittiert von einem erleichterten Seufzer Bens. Während aus den anderen Einstichstellen nur jeweils ein wenig klares Wundsekret floss, das mit einem dickeren Verband aufgefangen wurde, kam aus dem Milzdrainagenloch nun doch einiges Blut. Auch da kam ein dicker Verband drüber und Ben wurde gebeten, jetzt eine Weile ruhig liegen zu bleiben, damit sich das beruhigen konnte. Etwas anderes hätte Ben, der schweißgebadet und fix und fertig von dieser Tortur war, auch nicht vorgehabt. „Bitte engmaschige Wund- und Blutbildkontrolle!“ ordnete der Arzt an und die Schwester entnahm auch gleich wieder ein Blutgas aus dem Picco, um einen Vergleichswert zu haben. „Jetzt ruhen sie sich erst einmal ein wenig aus!“ sagte die Schwester tröstend zu Ben und der schloss folgsam die Augen. Hoffentlich musste er sowas nie mehr erleben!

  • Ben schlief ein und hatte wieder wilde Träume. Immer wieder schrie er auf dem Dach des Parkhauses: „Nein!“ und dann brach Eva vor seinen Augen tot zusammen. Diesen letzten Blick aus ihren wunderbaren Augen würde er im Leben nicht vergessen. Alle Erinnerungen verwirrten sich in seinem Kopf mit dem aktuellen Erleben und als nach einer Weile die Schwester vor seinem Bett stand, um die Verbände zu kontrollieren, sah er sie momentan völlig verpeilt an und brauchte eine ganze Weile, um zu verstehen, wo er war und was sie jetzt von ihm wollte. Als sie die Decke beiseiteschob, sah man schon, dass der obere Verband durchgeblutet war, während die anderen unauffällig waren. Der Verband wurde erneuert, er bekam ein frisches Hemd und auch die beschmutzte Zudecke wurde ausgetauscht. Die erneute Blutbildkontrolle blieb ohne Ergebnis, bisher war der Blutverlust wenigstens nicht Hb-wirksam.

    Unauffällig räumte die Schwester die Sondenkost und das Wasser aus seiner Reichweite. „Bis wir wissen, was sich da oben entwickelt, bitte nichts mehr essen und trinken!“ bat sie ihn und Ben nickte stumm. Verdammt, jetzt hatte er doch so gehofft, dass es ab sofort nur noch steil aufwärts ging und jetzt war plötzlich wieder alles anders. Allerdings hätte man die Drainage ja auch nicht drinlassen können, also war es sinnlos, sich deshalb Gedanken zu machen. Ben machte sich den Radio ein wenig an, um sich abzulenken. Wie gerne hätte er sich jetzt mit Semir unterhalten, aber der war ja sicher mit seinen eigenen Therapien beschäftigt. Während er intensiv an seinen Freund dachte, schlief er wieder ein und als die Schwester zur nächsten Kontrolle kam, warf er sich im Bett herum und murmelte wieder und wieder Semir`s Namen. Diesmal war zwar der Verband wieder blutig, aber sonst war nichts beschmutzt und so erneuerte die Schwester nur den Verband und fragte ihn dann: „Soll ich auf der Station anrufen, dass ihr Freund ihnen ein wenig Gesellschaft leistet?“ und Ben nickte stumm. Er fand es sehr nett, dass die Schwester nicht auf die Besuchszeiten beharrte und als wenig später sein Freund besorgt vor seinem Bett stand, fühlte er sich gleich viel besser. Die Schwester brachte lächelnd einen Mobilisationsstuhl und Semir, der in Sporthose und T-Shirt gekleidet war, sagte zu ihm: „Erzähl, was ist los Ben?“


    Er war erschrocken gewesen, als die Schwester der neurochirurgischen Station in sein Zimmer gekommen war und ihm ausgerichtet hatte, dass die Intensivstation angerufen habe. „Ihr Freund würde sich über ein wenig Unterstützung freuen!“ richtete sie aus, was ihre Kollegin ihr aufgetragen hatte. Semir hatte sich sofort besorgt auf den Weg gemacht, denn er hatte ja keine Ahnung, was mit Ben los war. Der lag jetzt eigentlich wie gestern im Bett, gut, vielleicht war er ein wenig blass um die Nase, aber sonst wirkte er ganz munter.
    Ben erklärte folgsam, was passiert war. „Die haben heute die meisten Drainagen gezogen und die eine an der Milz saß ziemlich fest. Beim Herausziehen haben die mich ganz schön geschunden und jetzt blutet das nach. Ich soll nichts mehr essen und trinken und ich habe echt Schiss, dass ich nochmal operiert werden muss, deswegen!“ brachte er die Sache auf den Punkt. Semir sah einen Freund besorgt an. „Das klingt aber nicht gut, aber ich werde jetzt einfach mit dir warten, was weiter geschieht, vielleicht ist es ja halb so schlimm!“ erklärte er und Ben nickte stumm. Irgendwie war ihm jetzt viel leichter ums Herz, er war nicht mehr alleine und was jetzt passierte, würde so oder so geschehen, das sah er ganz fatalistisch. Leise begannen sie sich über vergangene Fälle zu unterhalten, um sich abzulenken, bis plötzlich der Arzt mit dem Ultraschallgerät vor ihnen stand. „Jetzt möchte ich mal schauen, was bei ihnen im Bauch so los ist!“ sagte er munter und während Semir seinen Stuhl ein wenig zur Seite zog, schob Ben nun selber sein Hemd hoch, um die Untersuchung zu ermöglichen, während Semir seine Hand fest in die seine nahm und ihm aufmunternd zunickte.

  • Der Arzt schallte gründlich zunächst den Oberbauch und dann noch das gesamte restliche Abdomen. Ben hatte noch schnell auf sein Knöpfchen für das Schmerzmittel gedrückt und so war es für ihn einigermaßen erträglich. „Also keine Aufregung, Herr Jäger, es ist alles in Ordnung. Diese Blutung ist oberflächlich und geht nicht in die Tiefe. Es kann sein, dass noch eine ganze Weile ein wenig Blut aus dem Drainageneinstichloch kommt, aber es läuft nichts nach innen und deshalb müssen wir auch nichts weiter unternehmen!“ klärte ihn der Arzt auf, während er das Ultraschallgel wieder abwischte. Ben und Semir atmeten gleichermaßen auf. Das war ja nun mal eine erfreuliche Nachricht.
    „Ich werde die Schwester noch anweisen, den Picco zu entfernen, denn das ist auch wieder so eine Gefahr für zunehmend mobile Patienten. Nachdem da in der Leistenarterie ein ziemlich dickes Schläuchlein liegt, hätte ich das gerne noch ein wenig unter Beobachtung, bis sie verlegt werden. Da gibt es gerne Blutergüsse, die sich dann infizieren, wenn man das nicht ordnungsgemäß entfernt und kontrolliert. Den Blutdruck werden wir dann konventionell mit Oberarmmanschette messen, aber insgesamt bin ich recht zufrieden!“ teilte er Ben nun noch mit, während er das Ergebnis der Sonographie gleich in den PC eingab.


    Als der Arzt das Zimmer verlassen hatte, schlug Semir seinen Freund herzhaft auf die Schulter. „Mann und mich erst mal in Angst und Schrecken versetzen! Ich habe dich schon wieder im OP gesehen und befürchtet, dann geht das Ganze wieder von vorne los, aber so ist es schon viel besser, nicht wahr?“ Ben nickte glücklich und als wenig später die Schwester ins Zimmer kam und ihm seine Getränke und einen Joghurt hinstellte, war klar, dass auch die bereits Bescheid wusste.
    „Wenn ich nachher ein wenig Zeit habe, komme ich und mache den Picco raus, aber bis dahin müssen sie sich noch ein wenig gedulden!“ erklärte sie ihm und Ben nickte und trank dann erst mal einen großen Schluck Wasser auf den Schreck hin.
    Mit munteren Gesprächen verging der restliche Vormittag und als das Mittagessen kam, wurde Semir auf seine Station zurückgeschickt, damit er auch nicht vom Fleisch fiel. Ben setzte sich an den Bettrand und bekam heute schon erst eine Suppe und dann Kartoffelbrei mit Sauce, was ihm recht gut mundete. Nach dem Essen kam die Schwester und kündigte an, jetzt den Picco zu entfernen. Sie zog sich einen Abwurf heran, schlang erst einmal eine Blutdruckmanschette um Bens Oberarm und deaktivierte dann die Piccodatenleitung, denn ansonsten hätte das ständig alarmiert, wenn der Monitor kein Signal mehr erhielt. Das war aber auch sinnvoll, denn wenn an diesem Picco mal etwas auseinanderging, dann bestand immer die Gefahr, des Verblutens für den Patienten.


    Dann lächelte sie Ben an, schlug die Decke zurück, löste das Pflaster in der Leiste und sprühte dann die Einstichstelle ein. Aus dem Pflegewagen holte sie ein Scherchen, eine Pinzette, beides steril eingeschweißt, mehrere Päckchen sterile Kompressen und ein starkes Pflaster. Dann zog sie sich Handschuhe an und entfernte erst mal die beiden Fäden, die das Schläuchlein in der Arterie gehalten hatten. „Das drückt jetzt leider ein wenig!“ sagte sie und zog auch schon den Katheter heraus, wobei sie einen Stapel Kompressen kräftig auf die Einstichstelle presste. Während sie den Katheter im Abwurf versenkte, übte sie kontinuierlich starken Druck auf die Leiste aus, was Ben dazu brachte, die Zähne zusammenzubeißen und leise aufzustöhnen. „Tut mir leid, aber wir hatten schon den Fall, wenn der Druck nicht groß genug war, dass sich da ein Liter Blut in den Oberschenkel entleert hat, Konserven nötig waren und anschließend noch eine Hämatomausräumung in Narkose und das wollen wir doch beide vermeiden, nicht?“ erzählte sie ihm und Ben nickte stumm. Die Schwester setzte ihr Körpergewicht ein, damit der Druck stark genug war und nach etwa 10 Minuten kam kein Blut mehr, als sie die Kompressen vorsichtig anhob. Mit einem Stapel frischer Kompressen machte sie noch einen Druckverband und dann atmete Ben auf, der nächste Schritt war geschafft!

  • Kaum war die Schwester draußen und Ben legte sich aufatmend zurück, da musste er plötzlich wieder hektisch auf die Glocke drücken. Er musste aufs Klo und zwar sofort und dringend. Er war schon fast aus dem Bett, als die Schwester wiederkam und kommentarlos den bereitstehenden Toilettenstuhl heran schob. Der Durchfall kam so plötzlich und war begleitet von Bauchkrämpfen, aber wenig später lag Ben wieder in seinem Bett und es war ihm furchtbar peinlich, dass er es nicht zur Toilette geschafft hatte. Mann war das eine blöde Situation, sozusagen in aller Öffentlichkeit seine intimsten Geschäfte zu verrichten! Das Zimmer wurde gelüftet und erneut war Ben froh, dass Semir gerade nicht dagewesen war und er auch noch keinen neuen Zimmerkollegen bekommen hatte.


    Es dauerte aber nicht lange und Semir stand wieder vor ihm. „Mir war langweilig und ich weiß überhaupt nicht, was ich überhaupt auf der Station anfangen soll. Irgendwie wird da gar nichts gemacht, außer, dass die Logopädin mit mir Übungen macht!“ beschwerte er sich. Ben musste grinsen. „Und, was hast du wieder Schönes gesungen? Alle meine Entchen, oder eher was Moderneres?“ neckte er seinen Freund, der erst nicht wusste, ob er jetzt lachen, oder beleidigt sein sollte. Dann gewann allerdings sein Humor Oberhand und er sagte hoheitsvoll: „Nein, ich übe gerade Opernarien, auf italienisch!“ und nun musste Ben losprusten, denn er stellte sich gerade Semir im Theater im Kostüm auf der Bühne vor. Der stimmte in das Gelächter mit ein und als die Pflegekräfte wenig später zur Übergabe am Bett erschienen, mussten sie beide mitlachen, denn der Heiterkeitsausbruch war ansteckend.
    „Na meine Herren, hier geht es ja schon lustig zu!“ sagte die eine Schwester, während sie kurz auf den Verband in der Leiste sah. „Das sieht gut aus, es hat nicht mehr nachgeblutet und erfahrungsgemäß kommt da jetzt auch nichts mehr nach!“ freute sie sich und jetzt fiel es Semir erst auf, dass Ben nun schon wieder einen Schlauch weniger hatte. „Mann das geht ja super voran bei dir, ich denke die längste Zeit wirst du hiergewesen sein!“ sagte er und nun fiel den beiden ein, dass Ben ja überhaupt nichts anzuziehen hatte, wenn er auf die normale Station kam. Semir machte sich deswegen wieder auf den Weg in sein Zimmer, um Andrea anzurufen, die vor ihrem Besuch noch in Bens Wohnung vorbeifahren sollte, um ihm einige Sachen zusammenzupacken.


    „Ich bringe heute die Kinder mit, also kann ich nicht mitkommen auf die Intensivstation, aber natürlich bringe ich was aus Bens Wohnung mit!“ erklärte die und machte sich wenig später auch, begleitet von den Kids, auf den Weg. Semir wartete in seinem Zimmer und als er kurz darauf seine Mädchen in die Arme schließen konnte, war er überglücklich. Noch wenige Tage vorher hatte er bezweifelt, dass das überhaupt nochmal möglich sein würde und so verging der Nachmittag mit innigen familiären Momenten für Semir, während Ben von seiner Schwester Julia besucht wurde. Der wurde auch nicht mehr schlecht, denn immerhin waren bei Ben nun keine blutigen „Anhängsel“ mehr zu entdecken und er war auch wieder der Alte, der sie neckte und an viele Dinge ihrer gemeinsamen Kindheit erinnerte. So verging für beide Helden der Nachmittag wie im Flug und als die Besuchszeit beendet war, brachte Semir noch schnell die Sporttasche, die Andrea gepackt hatte, zu seinem Freund, der aber gerade dabei war, im Gehwagen über die Station zu flitzen.
    „So ein Ding brauchen wir in der PASt auch, damit bist du viel schneller als normal!“ bemerkte Semir und als sie sich das vorstellten, wie Ben mit diesem Gefährt hinter einem Verbrecher herjagte, mussten sie beide schon wieder höchst albern lachen, verständnislos gemustert vom Physiotherapeuten.


    Ben brauchte inzwischen kaum mehr Schmerzmittel und als das Abendbrot kam, diesmal schon Toast mit Leberwurst mit der obligatorischen Suppe vorneweg, da sah Ben ganz euphorisch in die Zukunft. Kaum hatte er allerdings sein Mahl beendet, bekam er schon wieder Durchfall. „Oh, da genügen anscheinend die Verdauungsenzyme nicht, da müssen wir medikamentös was machen!“ erklärte die Schwester und holte damit Ben ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Auch sein Insulinbedarf war immer noch vorhanden, seine Bauchspeicheldrüse hatte sich noch nicht erholt und wie seine Zukunft aussehen würde, war ungewiss. Obwohl der Aufwärtstrend anhielt sah Ben nun ernüchtert in die Zukunft. Ob man als Diabetiker überhaupt noch im Außendienst arbeiten konnte? Er meinte mal gehört zu haben, dass man das bei der Polizei nicht durfte und begann sich nun große Sorgen um seine Zukunft zu machen.


    Als nun seine letzte Nacht auf der Intensivstation anbrach, konnte Ben vor Kummer nicht schlafen. Was sollte er bloß anfangen, wenn er nicht mehr über die Autobahn düsen durfte?

  • Ben hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Jedes Geräusch war überlaut zu hören gewesen, diese ständige Unruhe auf der Station, die Alarme, die blinkenden Infusomaten, die Schritte auf dem Flur. Ruhelos hatte er sich im Bett hin-und hergewälzt. Die Nachtschwester hatte ihm zwar eine Schlaftablette angeboten, aber da hatte er den Kopf geschüttelt. Er, der sonst pennte, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte und jetzt ein Schlafmittel? Nein, man sollte ja auch nicht übertreiben. Obwohl der Monitor dunkel war, denn die Privatbildfunktion war aktiviert, und die Türe geschlossen blieb, so hell war es doch durch den Lichtschein vom Flur und den Nachbarzimmern aus. Diese Intensivzimmer hatten nämlich nur halbhohe Wände und die obere Hälfte waren doppelte Glasscheiben, die mit innenliegenden Jalousien verdunkelt werden konnten, so war immer ein Blick aus dem Nebenzimmer möglich, was zwar vermutlich der Sicherheit der Patienten diente, aber andererseits jede Privatsphäre unmöglich machte. Vielleicht war es doch besser, wenn er auf der normalen Station war, da hatte man ja schon mehr Ruhe!


    Als der Morgen dämmerte war Ben wie gerädert, aber trotzdem froh, diese Nacht überstanden zu haben. Er durfte wieder duschen und als er sein Frühstück bekam, stellte man ihm dazu zwei große Kapseln hin. „Bitte nehmen sie dieses Medikament zu den Mahlzeiten. Das sind Verdauungsenzyme, die den Pankreassaft simulieren und das Essen aufspalten. Wenn jemand überhaupt keine Bauchspeicheldrüse mehr hat, dann kann man damit so halbwegs eine Verdauung möglich machen. Wichtig ist, dass sie die zu jeder Mahlzeit nehmen, denn sonst wird sich ihr Körper sofort mit massiven Durchfällen rächen und sie werden abnehmen. Gut, im Augenblick könnten wir sie noch mit Infusionen ernähren, aber irgendwann kommt der ZVK auch raus und deshalb fangen wir damit jetzt schon mal an.“ erklärte die Schwester.


    Ben musterte misstrauisch die großen Kapseln und nahm sie dann mit viel Wasser ein. Immerhin bekam er heute schon normalen Kaffee und Schwarzbrot mit Diabetikermarmelade und Diätmargarine. Die Schwester hatte Recht gehabt, der Durchfall nach dem Essen blieb aus und so wurden Bens Verlegungspapiere fertiggemacht und wenig später kamen zwei Schwestern der Normalstation, um die Übergabe zu erhalten und ihn abzuholen.
    Die Sporttasche, die Andrea ihm gepackt hatte, wurde ans Fußende des Bettes gestellt und die Intensivschwester erzählte den übernehmenden Pflegekräften detailliert, was er alles gehabt hatte.
    „Herr Jäger kam zu uns mit einer zweizeitigen Milzruptur, die operativ mit Bionetz versorgt wurde. Er war postoperativ eine Nacht nachbeatmet, wurde dann primär problemlos extubiert. Im Verlauf entwickelte er eine akute nekrotisierende Pankreatitis, die sich auch nach ERCP mit Entfernung eines Gallensteins nicht zurückbildete. Nachdem er sich respiratorisch erschöpft hatte, wurde er nochmals intubiert und mehrere Tage hochseptisch und katecholaminpflichtig beatmet. Eine chirurgische Revision mit Pankresdrainage wurde notwendig, die immer noch liegt und gut fördert. Falls da mal nichts mehr laufen sollte, bitte mit 2 ml Kochsalzlösung anspülen! Ein Nierenversagen hat sich Gott sei Dank von alleine limitiert und die Werte sind wieder annähernd im Normbereich.


    Die übrigen Drainagen haben wir alle entfernt und die Hautklammern sollen am 14.Tag rausgemacht werden. Die Wunde ist ansonsten reizlos, nur aus den Drainageeinstichstellen sekretiert es noch etwas. Die Milzdrainage saß ziemlich fest und hat nach Entfernung lokal nachgeblutet, da bitte noch ein Auge drauf haben!“ sagte sie, während sie den Schwestern die einzelnen Drainagen und Verbände zeigte. Ben kam sich ein wenig vor, wie ein Werkstück, das begutachtet wurde, so interessiert betrachteten alle seinen Bauch. Der DK liegt den neunten Tag und der ZVK wurde schon einmal gewechselt und liegt nun den 7. Tag, informierte die Schwester ihre Kolleginnen. Fieber hat Herr Jäger keines mehr, aber momentan läuft noch Antibiose. Der Kostaufbau führte zu massiven Durchfällen und deshalb wurde heute Morgen mit der Kreontherapie zu den Mahlzeiten begonnen. Seit zwei Tagen ist der Insulinperfusor aus, aber es besteht noch ein erheblicher Insulinbedarf, da müsst ihr gut nachkontrollieren und spritzen.“ beendete die Intensivschwester die Übergabe, die von den beiden Pflegekräften auf einem ausgedruckten Blatt gegengezeichnet wurde. Zu guter Letzt bekam Ben noch aus dem Safe, gegen Unterschrift, seine Wertsachen zurück, die da waren sein Geldbeutel, sein Handy und seine Dienstwaffe mit Holster. Von der Kleidung war nur noch die Lederjacke übrig, den Rest hatte man aufgeschnitten, wie er sich dunkel erinnern konnte.
    Nun ging die Fahrt auf Normalstation los und die Intensivschwester wünschte ihm noch herzlich weiterhin gute Besserung. Mit einem Händedruck und der Beteuerung, später mal vorbeizuschauen, verabschiedete sich Ben und sah nun gespannt dem nächsten Abschnitt seiner Genesung entgegen.

  • Er wurde in ein Einzelzimmer gebracht und die drei Infusionen, die er mitgebracht hatte, um alle drei ZVK-Schenkel offen zu halten wurden reduziert, so dass er nur noch eine Infusionsflasche hatte, die an einem fahrbaren Ständer hing. Die anderen beiden Schenkel wurden abgestöpselt und die Schwestern wollten ihm gerade beim Auspacken helfen, da stand plötzlich Semir in der Tür. „Hi, ich war gerade auf der Intensiv und die haben mir gesagt, wo ich dich finden kann!“ sagte er munter und übernahm gleich mal das Auspacken. Ben wurde noch kurz in die Bedienung der Glocke und des Fernsehers eingewiesen, ein paar Aufnahmeformalitäten für die neue Station erledigt und dann blieb er mit seinem Freund alleine.


    Semir hielt erst mal eine kurze Hose und ein T-Shirt hoch und Ben sagte sofort freudig zu. Mann, endlich mal wieder Privatklamotten und nicht diese lächerlichen Krankenhaushemden. Vorsichtig, damit sie nichts herauszogen half ihm Semir das Shirt und die Hose anzuziehen. Den Katheterbeutel pfriemelten sie gemeinsam durch das Hosenbein, die Pankreasdrainage leiteten sie zwischen Hose und Shirt heraus und nun fühlte sich Ben gleich nochmal eine Ecke gesünder. Wenig später wurde noch sein Blutdruck mit Manschette und der Blutzucker mit einem Stixgerät gemessen und der Zuckerwert war leider immer noch nicht normal. So bekam er vor dem Essen einige Einheiten Insulin mit einem sogenannten Pen, also einem Injektomaten, der Ähnlichkeit mit einem großen Kugelschreiber hatte, in den Oberschenkel gespritzt. Das Nädelchen war hauchfein und die Spritze war kaum zu spüren. „Wir werden ihnen das noch genau zeigen, wie das funktioniert mit dem Spritzen!“ erklärte die Schwester dazu und Ben dachte für sich, dass er das lieber nicht erfahren wollte!


    Auf der Intensiv hatte man das Blut zur Kontrolle immer aus der Arterie und seit deren Entfernung aus dem ZVK entnommen und das Insulin intravenös gespritzt, aber jetzt würde er ein Zuckerschema kriegen, das genau auf ihn zugeschnitten war. Das Insulin wurde subkutan, also unter die Haut gespritzt und brauchte deshalb ein wenig länger, um zu wirken-wie ihm die Schwester erklärte.
    Man stellte ihm aufs Nachtkästchen ein Fläschchen mit Novalgintropfen und ein Becherchen dazu, denn die Schmerzpumpe hatte er auf der Intensiv zurücklassen müssen, da er sie sowieso kaum noch genutzt hatte. „ Wenn sie Schmerzen bekommen, nehmen sie einfach selbsttätig 30-40 Tropfen von diesem Schmerzmittel, allerdings maximal sechsmal täglich!“ wurde er angewiesen. „Wenn das nicht reicht, bekommen sie noch etwas anderes dazu!“ und mit dieser Ansage verließ die Schwester das Zimmer wieder.
    „Ben, ich werde morgen voraussichtlich entlassen, aber du kannst mich jederzeit anrufen und natürlich komme ich dich besuchen!“ eröffnete ihm nun Semir und ein Schatten flog über Bens Gesicht. Bevor er allerdings noch viel dazu sagen konnte, bekam er sein Mittagessen, wieder zusammen mit den Kreonkapseln und Semir eilte auf seine Station zurück, damit er auch noch satt wurde.


    Ben beschloss, sich mit dem Gesundwerden jetzt zu beeilen, denn alleine in diesem Krankenhaus war ja voll langweilig! Nach dem Essen überkam ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit und die schlaflose Nacht forderte ihren Tribut.
    Nach einiger Zeit wurde er wach, weil er das Gefühl hatte, ihn würde jemand anstarren. Als er die Augen öffnete, musste er grinsen, denn vor seinem Bett standen Andrea, Semir und Ayda. Lilly war auf Papas Arm und alle sahen ihn so gespannt an, dass ihn das eher geweckt hatte, als die Geräusche des Hereinkommens. Ayda war erst noch zurückhaltend, aber als ihre Schwester die kleinen Ärmchen um Bens Hals schmiss und Onkel Ben einen feuchten Kuss verpasste, verlor sich auch ihre Schüchternheit und wenig später betrachteten die Kinder sehr interessiert die Schläuche und Beutel, die aus Ben herausragten. „Tut das aua?“ wollte Lilly wissen und Ben schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht mehr, Schätzchen!“ erklärte er und wurde sich bewusst, dass es wirklich kaum mehr schmerzte und eine große Dankbarkeit überfiel ihn deswegen. Und wenn das mit der Zuckerkrankheit nichts mehr wurde-egal, mit solchen Freunden würde er die Zukunft meistern!

  • Als seine Freunde gegangen waren, kam wenig später die Stationsärztin, die seither im OP gestanden hatte und machte nun ihre Aufnahmeuntersuchung. „Wenn sie einverstanden sind, machen wir heute Abend noch den Blasenkatheter raus und nachdem ihre Entzündungswerte gefallen sind und sie das Essen gut vertragen würde ich vorschlagen, morgen auch noch den ZVK. Dann sind sie mobiler und können besser herumlaufen, was gut für die Lunge und die Darmtätigkeit ist.“ kündigte sie an und Ben nickte dazu. Natürlich, jeder Schlauch weniger war doch gut und an ihm sollte es mit dem Aufstehen sicher nicht liegen!


    Allerdings brannte ihm jetzt doch eine Frage unter den Nägeln. „Wie lange muss diese Pankreasdrainage noch drinbleiben und wann kann man sagen, ob diese Zuckerkrankheit bleibt?“ erkundigte er sich und die Ärztin wiegte den Kopf hin-und her. „Leider kann ich ihnen da keine genaue Prognose geben. Manche Leute haben diese Pankreasdrainagen über Wochen und Monate und manchmal bilden sich da auch Fisteln, bei anderen kann man sie nach wenigen Tagen ziehen. Es kommt einfach darauf an, wie viel Pankreasgewebe durch die Entzündung zerstört wurde und ob sich der natürliche Abflussweg in den Zwölffingerdarm erhalten hat. Durch die akute Schwellung und den Gewebszerfall kann man das erst nach einer Weile sagen. In einigen Tagen werden wir mal einen großen Ultraschall machen und auch versuchsweise die Pankreasenzyme zum Essen weglassen. Wenn sie dann keinen Durchfall bekommen, bedeutet das, dass wieder etwas in den Darm fließt, aber das wird noch ein wenig dauern. Ob sich die Inselzellen erholen, steht in den Sternen. Momentan gehen wir davon aus, dass sie Diabetiker bleiben, aber endgültig kann man das noch nicht sagen!“


    Mit einem Gruß verabschiedete sich die Ärztin und kündigte an, die Pflege anzuweisen, den Blasenkatheter zu entfernen. Ben bedankte sich und verschränkte dann die Hände hinter dem Kopf und sah eine Weile zur Decke. Mann wie ungewiss das alles war! Keiner konnte ihm so richtig sagen, wie das weitergehen würde und wann er wieder arbeiten konnte. Er betrachtete das Kombigerät an seinem Bettplatz. Da konnte man fernsehen und auch ins Internet-er hatte sich schon erkundigt, wie das mit dem Zugang ablief. Eine Schwesternschülerin brachte ihm wenig später die Zugangsdaten und nun machte er sich erst mal daran, zu googeln und nachzulesen, was zu seinen Krankheitsbildern denn im Internet stand. Nach einer Weile hätte er sich deswegen ohrfeigen können, denn da standen teilweise sehr unschöne Sachen und seine Zukunftsängste wurden eher schlimmer statt besser. Mann zu viel Information taugte auch nichts!
    Aufseufzend schaltete er aufs Fernsehprogramm um, nur um festzustellen, dass da im Vorabendprogramm auch nichts Gescheites lief. OK, die Polizeiserie war nicht ganz schlecht und an der hatte er sich dann festgesehen, als wenig später das Abendessen kam.


    Als das abgeräumt war, stand wenig später ein junger Pfleger im Zimmer, der ihm schonend den Blasenkatheter entfernte. Das war schon gut, dass das ein Mann erledigte, irgendwie war er nun nicht mehr so krank, dass ihm das sonst nicht peinlich gewesen wäre. Als er zwischen Leben und Tod geschwebt hatte, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, sich vor den Ärzten und dem Pflegepersonal zu genieren, aber jetzt war das wieder anders.
    Er bekam noch eine Urinflasche ans Bett gehängt, beschloss aber, die sicher nicht zu benutzen, sondern zur Toilette, die ja innerhalb seines Zimmers nur einen Katzensprung weg war, aufzustehen. Wenig später machte er seinen ersten Ausflug alleine da hinaus und nachdem er ja auch noch den Infusionsständer zum Festhalten hatte, klappte das auch ganz gut. Na endlich, wenigstens war er jetzt nicht mehr auf fremde Hilfe zu den selbstverständlichsten Dingen angewiesen!
    Als wenig später Semir noch zu einem letzten Abendbesuch hereinschneite, war er schon wieder ein klein wenig optimistischer! Unter fröhlichem Geplauder verging die Zeit und erst als die Nachtschwester zum ersten Durchgang hereinsah, verabschiedete sich Semir und ging für seine letzte Krankenhausnacht in sein Zimmer zurück.

  • Diesmal konnte Ben sofort einschlafen. Na ja, wie zuhause hatte er noch ein wenig ferngesehen und dabei hatte es ihn dahingerafft. Als beim nächsten Durchgang die Nachtschwester ihren Patienten selig schlummernd vor dem Fernseher fand, schaltete sie den aus und löschte lächelnd das Licht, wie in so vielen anderen Patientenzimmern auch.


    Nach einer erholsamen Nacht erwachte Ben erfrischt und fühlte sich gut, wie lange nicht. Ein letztes Mal nahm die Schwester Blut aus dem ZVK ab, das im Labor auf Entzündungswerte untersucht werden sollte. Nachdem sie das Schläuchlein durchgespült hatte, stöpselte sie es ab und schickte Ben zum Duschen. „Kommen sie alleine zurecht, oder brauchen sie Hilfe?“ erkundigte sie sich, aber Ben schüttelte den Kopf. „Nein, das müsste schon alleine gehen, ich war ja schon ein paarmal draußen!“ erklärte er und die Schwester kündigte an, in etwa einer halben Stunde dann die danach durchgeweichten Verbände zu wechseln. Ben sah auf die Uhr und nickte.


    Gemütlich suchte er sich aus seinem Schrank noch Duschgel, Haarshampoo und ein großes Handtuch. Mann, Andrea hatte wirklich an alles gedacht! Ein wenig schuldbewusst erinnerte er sich daran, wie unaufgeräumt er seine Wohnung verlassen hatte. Die hatte sicher kopfschüttelnd die Unordnung betrachtet. Hoffentlich hatte sie sich nicht bemüßigt gefühlt, aufzuräumen. Einmal die Woche kam nämlich seine zuverlässige Putzfrau. Die würde schon wieder klar Schiff machen, seine Perle! Gut dass er diese ältere, verschwiegene, zuverlässige Frau gefunden hatte. Die nahm seine Unordnung kommentarlos hin und räumte und putzte, damit er sich danach wieder wohlfühlen konnte. Es war eben doch von Vorteil, wenn man nicht jeden Cent zweimal umdrehen musste, was ihm sein Anteil am Familienvermögen, das sicher auf der Bank angelegt war, ermöglichte. Andrea hätte sicher gerne auch ne Putzfrau, aber mit Semirs Gehalt, ihrem Teilzeitjob im Kinderheim und den beiden Kiddies mussten die jeden Cent zweimal umdrehen. Hey-das wäre ein Geschenk für Andrea, als Dank für ihre Bemühungen. Er würde mal seine Putzfrau fragen, ob die eine Großputzaktion im Hause Gerkan auf seine Kosten veranstalten würde, wenn es Andrea Recht war. Er beschloss, nachher Semir zu fragen, der ja sicher vor seiner Entlassung noch kurz bei ihm vorbeischauen würde.


    Mit diesen Gedanken verzog er sich unter die Dusche und genoss es, das Wasser auf seinen Körper prasseln zu lassen, mit dem vertraut riechenden Duschgel gründlich den Schweiß abzuwaschen und seine Haare mit dem gewohnten Shampoo zu pflegen. Fast bedauernd stellte er nach einiger Zeit das Wasser ab-er hätte da jetzt noch stundenlang bleiben können, aber erstens wollte er nicht allzu viel Wasser verschwenden und außerdem würde sicher gleich die Schwester zum Verbändemachen kommen. Mit um die Hüften geschlungenem Handtuch trat er wenig später ins Zimmer. Die Zähne hatte er noch geputzt, aber die Rasur musste er auf später verschieben. Zu aufgeweicht waren seine Barthaare für den Langhaarschneider, aber er hatte ja schließlich noch den ganzen Tag Zeit!


    Weil sein Bauch nun doch ziepte, nahm er 30 Tropfen vom Schmerzmittel. Er brauchte lange nicht so viel, dass er an die Tageshöchstdosis rankam, aber es war angenehm, dass er das selber steuern konnte und nicht darauf angewiesen war, dass ihm was gebracht wurde. Die Schwestern fragten bei jedem Durchgang, wie viel er genommen hatte und dokumentierten das dann in der Kurve. Auf seine erstaunte Frage, ob das so üblich war, hatten sie ihm lächelnd erklärt, dass man das natürlich nur bei jungen und fitten Patienten so handhabte, die vernünftig waren und nicht die ganze Flasche auf einmal nehmen würden. Beinahe hatte er sich geehrt gefühlt, dass sie ihm das zutrauten. „Sie glauben gar nicht, wie viele Patienten sich eigene Medikamente mit ins Krankenhaus nehmen und die heimlich dazu nehmen. Vor diesen Wechselwirkungen haben wir viel mehr Angst!“ hatte ihm eine Pflegekraft erklärt und er hatte innerlich den Kopf geschüttelt. Auf so eine Idee wäre er nie gekommen, außerdem war in seiner Hausapotheke außer ´ner Schmerztablette und ein paar Pflastern nicht viel zu finden. Er war ja immer gesund gewesen und wenn man mal was brauchte, würde einem das der Arzt wohl verschreiben!


    Noch während er seinen Gedanken nachhing, kam die Schwester mit einem Stapel Verbandsmaterial ins Zimmer. Sie bat ihn, sich aufs Bett zurückzulegen und begann dann systematisch, nachdem sie erst ihre Hände desinfiziert hatte, die feuchten Verbände zu lösen, desinfizierte dann mit Spray die Wunden und erneuerte die Pflaster am ZVK, der Drainage und den Einstichstellen der Easyflowdrainagen, die noch ein wenig sekretierten. Den geklammerten Bauchschnitt ließ sie offen. „Die Wunde ist reizlos und trocken, da brauchen wir keinen Verband mehr drüber und in einigen Tagen kommen die Klammern dann sowieso in Etappen raus!“ erklärte sie ihm. Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, erhob er sich nochmals, um sich frische Wäsche aus dem Schrank zu holen und zog sich vorsichtig das Shirt und die Hose drüber. Die Pankreasdrainage lief genau oberhalb des Hosenbundes heraus und der ZVK ragte an seinem Hals in die Höhe. Schön, dass er dieses störende Ding endlich auch loswerden würde!
    Es fühlte sich merkwürdig an, als sein weißes Shirt an den Klammern entlang kratzte, tat aber nicht weh. Beim letzten Anziehen hatte ihm Semir noch geholfen, jetzt konnte er das schon wieder alleine-es ging aufwärts!
    Als von einer aufgeregten jungen Schwesternschülerin sein Blutzucker noch gemessen und die nötige Insulindosis in den Oberschenkel injiziert war, kam wenig später das Frühstück, das er genoss, wie lange nicht.

  • Wie erwartet kam nach dem Frühstück Semir, bereits in Straßenkleidung, zu ihm. „In einer halben Stunde kommt Andrea, um mich abzuholen, jetzt wollte ich noch schauen, wie´s dir geht!“ erklärte er und setzte sich auf den Stuhl neben Ben´s Bett. Ben, der sich nach der morgendlichen Anstrengung wieder zurückgelegt hatte, erhob sich und setzte sich an den Bettrand. „Du siehst schon viel besser aus!“ sagte Semir und Ben erzählte von seiner wohltuenden Dusche und dem halbwegs normalen Frühstück. „Na siehst du, dann wirst du auch nicht mehr allzu lange bleiben müssen!“ freute sich Semir und erzählte, dass er zu seiner Verwunderung überhaupt keinen Termin zur Nachschau bekommen hatte. Der Hausarzt sollte die Fäden in einigen Tagen entfernen und sonst war keine weitere Therapie mehr erforderlich. „Sie haben gemeint, ich könnte vielleicht bei Anstrengung oder hoher Konzentration Kopfschmerzen bekommen und soll erst mal etwas langsam tun, Kraftsport und Tätigkeiten mit Kopf nach unten meiden, aber sonst habe ich keinerlei Einschränkungen. Na wenigstens muss ich dann schon im Garten nicht Unkraut jäten, oder die Fenster putzen!“ grinste er. „Und keine Hausaufgaben mit Ayda machen-du weißt schon, wegen der Konzentration!“ fügte Ben hinzu und musste dabei grinsen. Semir lachte los und gemeinsam brachen sie in ein befreites Gelächter aus.


    „Mann wir haben verdammtes Glück gehabt alle beide. Es war zwar knapp, aber wir haben´s geschafft. Ich weiß zwar nicht, wie lange ich diese blöde Drainage noch brauche und schlimmstenfalls bleibe ich Diabetiker, aber auch das wird sich irgendwie machen lassen. Ich fühle mich ziemlich gut und wenn andere mit Zuckerkrankheit leben und arbeiten können, dann schaffe ich das auch!“ erklärte Ben. „Lediglich eines macht mir Sorgen-ich weiß nicht, ob man mit Diabetes im Außendienst arbeiten darf, meinst du das könntest du für mich herausfinden?“ fragte Ben und Semir nickte zustimmend. „Das mache ich, ich suche mal im Internet, ob ich dazu was finde, oder frage Hartmut, der weiß das bestimmt-oder kann´s herausfinden.“ Nach einem Blick auf die Uhr erhob er sich. „Ich muss dann mal-Andrea hat jetzt die Kinder weggebracht und müsste bald da sein. Heute komme ich nicht mehr, außer, du brauchst mich dringend, aber wir können nachmittags ja mal telefonieren. Morgen besuche ich dich auf jeden Fall!“ sagte er und gab Ben die Hand. Der zog seinen Freund nach kurzer Überlegung heran und umarmte ihn kurz. „Danke, dass du immer für mich da warst, als es mir so mies ging, obwohl du selber so angeschlagen warst. Ich werde dir das nie vergessen!“ sagte er und beiden stiegen vor Rührung ein paar Tränen in die Augen. Semir löste sich dann aber aus Bens Griff, atmete tief durch, straffte den Rücken und sagte: „So, ab jetzt geht’s steil aufwärts-bei uns beiden!“ und Ben nickte zustimmend. Während Semir mit einem Winken das Zimmer verließ, legte sich Ben wieder ins Bett und ruhte sich aus.


    Die Laborwerte waren inzwischen fertig und nachdem sich die Entzündungsparameter weiter gesenkt hatten, stand einer Entfernung des ZVK nichts mehr im Wege. Im Gegensatz zur Intensivstation war das auf Normalstation eine ärztliche Tätigkeit und die für Ben zuständige Schwester versuchte mehrmals den jungen Assistenzarzt, der völlig gestresst durch die Gegend hetzte und von seinen vielen Aufgaben ziemlich überfordert war, dazu zu bewegen, das endlich zu machen. Nachdem sie ihn das dritte Mal daran erinnert hatte-es war inzwischen kurz vor Mittag-erklärte er sich geschlagen. Diese Schwester würde sonst sowieso keine Ruhe geben. Gemeinsam traten sie dann zu Ben ins Zimmer, der gerade im Internet schmökerte.


    Der Physiotherapeut war zuvor schon bei ihm gewesen und hatte ihm Übungen zur Atemgymnastik und welche, die den Bauch nicht belasteten, aber seine Mobilität steigerten, gezeigt. Das war schon klasse, so ein Personal Trainer, der hatte auch viel mehr Zeit für ihn speziell, als der in der Muckibude, die Ben sonst regelmäßig aufsuchte.
    Ben sah auf, als sich die Tür öffnete und die Beiden sein Zimmer betraten. Die Schwester hatte Skalpellklinge, sterile Kompressen, Scherchen, Pinzette, Desinfektionsmittel und ein Bakteriologieröhrchen dabei. Jede Katheterspitze wurde nämlich routinemässig eingesandt, um auf Bakterien und die gefährliche Kathetersepsis untersucht zu werden. Man führte Statistiken deswegen und hoffte, aus den Ergebnissen einen Vorteil für die kommenden Patienten mit ZVK ableiten zu können. Es gab nämlich viele Möglichkeiten der Auswahl der Produkte, der Technik der Anlage und der Katheterpflege. Früher hatte man z. B. die Anschlusskonen immer beim Abstöpseln abgesprüht, das machte man nicht mehr, weil das Desinfektionsmittel die Kunststoffoberfläche des Katheters anlöste und so durch die Rauigkeit erst Recht Ansatzpunkte für die Bakterien gegeben waren. Man konnte aber nur durch diese Untersuchungen feststellen, was sich bewährte und was eher nicht und so wurde jede normal entfernte Spitze eingesandt.^


    Ben hatte eigentlich keine sonderliche Angst vor dieser Sache. Als er da weggerutscht und der erste ZVK einfach so herausgeflutscht war, hatte das nur kurz geziept und dann geblutet, aber sonst hatte er davon keine Beschwerden gehabt. Er legte sich deshalb bereitwillig zurück und ließ das Bett tief stellen. Man schob sein Shirt da ein wenig am Hals zur Seite, die Schwester löste mit frisch desinfizierten Händen das Pflaster und sprühte auf die Einstichstelle. Während sie sich mit dem Bakteriologieröhrchen und einer sterilen Schere zum Abschneiden der Katheterspitze positionierte, nahm der Arzt mit behandschuhten Händen das Skalpellklingchen aus der Verpackung. „Ich schneide nur schnell die Fäden durch, mit denen der Katheter angenäht ist, damit wir ihn dann entfernen können!“ erklärte er seinem Patienten kurz und schnitt das erste Fädchen ab. Hinterher konnte er sich nicht mehr erklären, wie das passieren konnte, aber die Klinge rutschte ab und durchtrennte unmittelbar über der Haut den ZVK, dessen Spitze sofort in Ben verschwand. Fassungslos starrten der junge Arzt und die Schwester auf Ben, dem auf einmal furchtbar schummrig wurde und der heftige Herzrythmusstörungen bekam. Während Ben nach Luft rang, versuchte der Arzt vergeblich das Ende des Katheters an der Halshaut zu suchen, aber es war schon unterwegs auf seinem unheilvollen Weg in Bens Organismus.

  • Dem jungen Arzt wurde jetzt erst bewusst, was gerade eben geschehen war. Er hatte in seiner kurzen Medizinerlaufbahn so eine Komplikation noch nie erlebt und war deshalb auch nicht darauf vorbereitet, was als Nächstes passieren würde. Ben rang immer noch nach Luft, bekam schreckliche Angst, denn sein Herz in seiner Brust führte ein beängstigendes Eigenleben, mal schlug es furchtbar schnell, dann hatte er wieder das Gefühl, es würde bald aufhören. Würde er jetzt sterben? Nach einer kurzen Schrecksekunde drückte die Schwester auf den Notfallknopf-jetzt mussten die Profis ran, sie sah deutlich, wie überfordert der junge Arzt war. Über die Zentrale wurde der Notruf zum Reateam, das auf der Intensivstation bereit war, weitergeleitet. Dort waren immer ein zusätzlicher Arzt und eine Schwester eingeteilt, die jederzeit alles liegen und stehen lassen konnten, um professionell im ganzen Haus die Erstversorgung bei Notfällen vorzunehmen.


    Die Schwester auf der Station rannte zusätzlich hinaus und rief einer Kollegin zu, den Notfallwagen zu bringen, was die auch sofort erledigte. Während der Arzt überlegt hatte, wohin der Katheter jetzt wohl verschwunden war, rang Ben immer noch angstvoll nach Luft und fragte sich, was eigentlich gerade geschehen war. Ihm ging es furchtbar schlecht, der Doktor vor ihm schien zur Salzsäule erstarrt und er war froh, als die Schwester wenigstens irgendwas machte.
    Nach einer Weile des Überlegens kam der Arzt zum Schluss, dass logischerweise die fehlenden 13 cm des ZVK jetzt ins rechte Herz gezogen worden waren und vermutlich dort noch waren-oder auch nicht? Irgendwann löste sich seine Starre und kurz bevor mit wehenden Fahnen das Reateam um die Ecke bog, drückte er wenigstens eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht seines Patienten.


    Der diensthabende Anästhesist im Reateam fragte seinen Kollegen: „Was liegt an?“ während die Intensivschwester, die Ben nicht kannte, sofort begann, ihm EKG-Elektroden auf die Brust zu kleben. Mit einer Schere schnitt sie das Shirt vorne auf und in Windeseile waren die ersten Kabel angebracht, der Blutdruck gemessen und der Sauerstoffsensor angeclippt. Das EKG, das auf dem Monitor am Defibrillator des Notfallwagens erschien, sah schrecklich aus. Die Intensivschwester, die ja auch noch keine Ahnung hatte, was geschehen war, fragte Ben: „Sind sie kardial vorerkrankt?“ woraufhin Ben nur stumm den Kopf schüttelte. Seine Luftnot war trotz Sauerstoff erklecklich und das Herz wechselte auf dem Monitor deutlich sichtbar von Tachyarrhytmien, also schnellen, unregelmäßigen Herzschlägen, zur extremen Bradykardie, also einem sehr langsamen Herzschlag.
    Während der junge chirurgische Assistent stotternd erklärte, was ihm passiert war, hörte der Anästhesist kurz mit dem Stethoskop auf Ben´s Brust und legte dann routiniert und schnell einen Zugang in Bens Unterarmvene. Die Intensivschwester hatte inzwischen ihre Kollegin von der Station angewiesen, eine Infusion vorzubereiten-auf dem Notfallwagen stand alles bereit- und kurz darauf tropfte schon die Ringerlösung in Ben´s Vene.


    „Ich, ich wollte den ZVK entfernen und ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber als ich den Faden der Annaht aufgeschnitten habe, bin ich abgerutscht und habe den ZVK erwischt, der auch nicht mehr auffindbar ist!“ erklärte nun unglücklich der junge Arzt. „Na ja, im Moment wissen wir ja, wo er sich aufhält!“ sagte trocken der Anästhesist und wies mit dem Kopf auf den Monitor. Er sitzt mit Sicherheit im Herzen und verursacht dort schwere Herzrythmusstörungen. Hoffen wir, dass wir ihn schnell rauskriegen, bevor wir noch eine echte Rea bekommen!“ sagte er. Er ließ sich von der Intensivschwester eine Ampulle Morphin geben und spritzte Ben davon einige Milligramm, damit der ruhiger wurde und nicht mehr so viel Angst hatte. Während der Chirurg kurz Ben´s Krankengeschichte wiedergab, griff der Anästhesist nach seinem Telefon und rief im Herzkatheterlabor an. „Leute, wir brauchen einen notfallmäßigen Rechtsherzkatheter, ist gerade ein Raum und ein Untersucher frei?“ fragte er an und nickte, als er die Antwort bekam.


    Die Intensivschwester hatte sich währenddessen von der Stationsschwester neben Ben´s Unterlagen eine Sauerstofflasche bringen lassen, die sie am Bett einhängte. Der Defibrillator wurde kurzerhand vom Wagen auf Bett gestellt, da man den parat haben musste, wenn es zu Kammerflimmern kam. So diente er jetzt nur als Transportmonitor, aber man konnte damit auch jederzeit eine externe Schrittmacherfunktion und noch viele andere Dinge einstellen. Das Reateam hatte einen Notfallrucksack dabei, in dem sonst alle anderen Dinge, die man unterwegs eventuell brauchte, vorhanden waren. Der Anästhesist, der sehr kompetent wirkte, sagte nun ruhig und freundlich zu Ben, nachdem er sich dessen Namen noch hatte sagen lassen: „Herr Jäger, wir bringen sie jetzt zum Herzkatheter. Leider ist ein Stück des ZVK in ihrem Herzen gelandet, das müssen wir jetzt schnellstmöglich versuchen rauszubekommen. Wir werden das primär über eine Katheterinvention versuchen, aber falls das nicht klappt, müssen wir ihre Brust öffnen und das in einer offenen Operation am Herzen erledigen. Ich kann ihnen noch nicht sagen, was möglich ist, aber wir passen auf sie auf, ja?“ Ben nickte unter seiner Sauerstoffmaske. Auf das Medikament, das man ihm vorher gespritzt hatte, war er schläfrig geworden und die Panik war auch weniger geworden. Die wussten schon, was sie taten-hatte er zumindest den Eindruck- und dann setzte sich das Bett in Bewegung.

  • Wenig später erreichte der kleine Trupp das Katheterlabor. In der Mitte war ein großer bogenförmiger Röntgenapparat mit einem elektrisch verstellbaren Behandlungstisch darunter. Der Internist, ein Kardiologe, begrüßte seinen Patienten und die Kollegen. Er hatte grüne OP-Kleidung aus Baumwolle an und es war relativ kühl im Raum. Ben fröstelte, einerseits vor der Kälte, aber ein wenig auch vor Angst vor dem Kommenden. Nach einem Blick auf den Monitor, kam noch eine Helferin dazu und gemeinsam zogen sie mit einem Rollbrett Ben vorsichtig auf den Tisch. Die ganzen Geräte sahen furchteinflößend und futuristisch aus und Ben´s Angst vor dem Kommenden stieg fast ins Unermessliche. Sein sowieso schon stolpernder und sehr schneller Herzschlag beschleunigte sich nochmals und Angstschweiß bedeckte seinen Körper. Ihm war sozusagen kalt und heiß zugleich und obwohl er sowieso schon schlecht Luft bekam, wurde seine Atmung nochmals schneller und hektischer. Die Schwester sah was mit ihm los war und versuchte ihn mit Worten und durch Anfassen zu beruhigen. Als das nicht funktionierte, bekam er nochmals Morphium und dann war es ein wenig leichter für ihn.

    Die Elektrodenkleber wurden noch durch einige weitere ergänzt, auch an Handgelenken und Füssen wurden welche angebracht, denn während des Eingriffs brauchte man ein Zwölfkanal-EKG. „Können sie eine Brücke machen?“ drang die Stimme der Schwester in seinen Kopf und schläfrig befolgte Ben die Aufforderung. Ihm wurde die Hose ausgezogen und gleich seine Leiste nachrasiert. Seit der letzten Operation waren schon wieder Stoppeln nachgewachsen und so schabte der Rasierer unangenehm über seine Haut. Mit einem Feuchttuch reinigte man noch die Leistenregion und nun schob sich das Gesicht des Kardiologen in sein Gesichtsfeld.
    „Herr Jäger, ich werde jetzt in ihrer Leiste eine sogenannte Schleuse einlegen. Das ist ein großer Gefäßzugang. Sie bekommen dafür eine örtliche Betäubung und dann versuche ich von dort aus einen Katheter ins Herz vorzuschieben und das störende Plastikschläuchlein zu bergen.“ Ben nickte müde, was sonst sollte er auch machen. Die Maschinerie war angelaufen und immerhin bestand anscheinend eine reelle Chance, dass er um eine Herzoperation herumkam. Die Intensivschwester und der Anästhesist hatten inzwischen ihre Sachen zusammengepackt, nahmen noch den Defi mit, um ihn wieder auf der Station abzugeben und verabschiedeten sich von ihrem Patienten. „Alles Gute Herr Jäger-sie sind hier in den besten Händen!“ sagte die Schwester noch tröstend und Ben nickte dankend, bevor er sich wieder auf die Dinge um ihn herum konzentrierte. Man lagerte ihn bequem, denn er musste jetzt eine ganze Weile still liegen und dann bekam er auch obenrum eine Decke gelegt.


    Der Arzt und die instrumentierende Schwester zogen Bleischürzen an, denn man legte den Katheter unter intermittierender Röntgenkontrolle. Dann nahmen die beiden eine chirurgische Händedesinfektion vor, die Springerschwester öffnete die Einmalverpackungen und bald waren die beiden steril angezogen und konnten mit der Desinfektion beginnen. Sorgsam wurde großflächig die Leiste abgestrichen und Ben erschauerte von der kalten Desinfektionslösung. Ein großes Abdecktuch wurde so über Ben gebreitet, dass er fast völlig darunter verschwand und nun zog sich der Internist, steril angereicht, das Lokalanästhetikum auf. Mehrere Stiche in die empfindliche Leiste entlockten Ben einen kurzen Seufzer, aber dann wurde das Gebiet langsam taub.


    Ein Ultraschallkopf wurde noch mit Gel steril eingetütet und nun suchte der Kardiologe die Femoralvene. Da sich der ZVK-Rest im Rechtsherz befand, wählte man einen venösen Zugang, wäre es das linke Herz gewesen, dann hätte man sich eher für einen arteriellen Zugang entschieden. Mit einer speziellen dicken Nadel punktierte der Arzt das Gefäß, erweiterte mit einem Skalpell und einem Dilatator das Loch und legte eine dicke sogenannte Schleuse ein. Nachdem man oftmals unterschiedliche Katheter nacheinander einführen musste, hatte sich das bewährt. Die Schleuse hielt das Blutgefäß weit offen und mit einer Art Ventil wurde verhindert, dass Blut herauslief.
    Bens Atemnot und die Herzrythmusstörungen wurden wieder schlimmer und die unsterile Schwester gab ihm noch ein Beruhigungsmittel und einen Betablocker, der das Herz langsamer machte, nach Arztanordnung intravenös dazu. Auch sprach der Kardiologe die ganze Zeit mit ihm und erzählte ihm, was er gerade machte. Ben hatte sich noch nie mit der Thematik des Herzkatheters auseinandergesetzt-gut, er wusste, dass seinem Vater bei so einem Eingriff mehrere Stents eingesetzt worden waren, aber über den Ablauf hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Warum auch, er hatte ja nichts am Herzen-bis jetzt! Das Beruhigungsmittel tat ihm gut und so wartete er mit geschlossenen Augen, was nun weiter mit ihm gemacht würde.

  • „Herr Jäger, ich führe jetzt die Sonde ein, es kann sein, dass sie merken, wie ich sie hochschiebe, aber es wird nicht wehtun!“ klärte ihn der Kardiologe auf und machte genau das, was er gesagt hatte. Ben merkte, dass etwas sich in seinem Körper fortbewegte, aber es tat wirklich, wie versprochen, nicht weh. Kurz vor dem Herzen injizierte der Arzt ein Kontrastmittel in den Herzkatheter und auf mehreren Röntgenschirmen die an der Wand neben den Röntgenbildern auch das EKG aufzeichneten, konnte man den Verlauf der Gefäße erkennen. „Herr Jäger, es kann sein, dass ihnen vom Kontrastmittel jetzt warm wird, das vergeht aber wieder, keine Aufregung!“ kündigte der Kardiologe an und tatsächlich bekam Ben wie eine Art Hitzewallung als Reaktion seines Organismus auf das Kontrastmittel. Sein Kopf wurde hochrot, obwohl seine Hände und Füße sich immer noch wie Eiszapfen anfühlten. Unter Sicht, mit mehrmaliger Injektion, navigierte der Kardiologe sein Schläuchlein in Bens rechten Vorhof, indem er den Führungsdraht immer mal wieder ein wenig zurückzog und so die gebogene Spitze geschickt um Kurven lenkte und dann wieder durch Vorschieben des Führungsdrahtes auf die Gerade brachte.


    Als der Herzkatheter nun im Herzen angelangt war, erfolgte wieder eine Röntgenaufnahme und man konnte erkennen, dass sich das ZVK-Stück mit einem Teil im Vorhof und mit dem Rest in der Kammer befand. Dadurch lag ein Stück davon genau auf dem Reizleitungssystem des Herzens, das zwischen Kammer und Vorhof in sensiblen, verschiedenartigen Nervenfasern verlief und durch den Fremdkörper natürlich irritiert wurde. Außerdem konnte auch die Herzklappe nicht mehr richtig schließen, wodurch ein Teil des Blutes zurückströmte und eine Minderversorgung des Organismus zur Folge hatte, daher auch die Atemnot.


    „Jetzt ganz ruhig liegenbleiben!“ befahl der Kardiologe, was Ben extrem schwerfiel, denn er hatte zu seiner Angst nun auch noch begonnen vor Kälte zu zittern, obwohl die Hitzewallung doch gerade vorbei war! Der Kardiologe hielt sein Instrument fest und bat die unsterile Schwester, Ben doch eine warme Zudecke zu geben. Aus dem Wärmeschrank entnahm sie eine vorgewärmte Decke, hob unten das Steriltuch ein wenig an und hüllte die Beine ihres Patienten in das warme grüne Tuch. Es fühlte sich gut an und wenig später hörten Bens Zähne auf, aufeinanderzuschlagen. Nervös hatte währenddessen der Kardiologe immer das EKG und den Monitor im Auge behalten. Wenn er durch seine Manipulation das ZVK-Ende mobilisiert hatte, konnte das mit dem Blutstrom entweder in die Lunge, oder auch ins Gehirn geschwemmt werden, was dann entweder eine Lungenembolie oder einen Schlaganfall zur Folge hatte. Nichtsahnend, in welcher Gefahr er gerade schwebte, beruhigte sich Ben gerade und lag still, wie es von ihm verlangt wurde.


    Der Führungsdraht blieb nun liegen, aber der Arzt zog das Schläuchlein heraus und fädelte stattdessen über den Draht eine andere Sonde, die an der Spitze ein kleines, ganz flaches Zängchen hatte. Auch ein Lumen fürs Kontrastmittel war vorhanden und nun begann für den Arzt die diffizilste Tätigkeit. Unter Röntgenkontrolle und mehrfacher Kontrastmittelinjektion versuchte er von außen mit dem Zängchen ein Ende des ZVK zu greifen. Obwohl man ja in zwei Ebenen röntgen konnte und man das Zängchen genau vor dem Katheter sah, war das in einer Ebene ja nicht zu unterscheiden, wie weit weg es in Wahrheit noch war! Er fasste oft danach, konnte es aber nicht greifen, der Schweiß brach ihm aus und immer wieder ließ er sich die Stirn von der unsterilen Schwester abtupfen. Endlich nach sicher 10 Minuten angestrengten Arbeitens hatte er das Ende erwischt. Ein Ruf der Erleichterung entfuhr ihm und er sagte zu Ben, mit dem er die letzten Minuten vor Anspannung nichts mehr gesprochen hatte: „Wir ziehen das Schläuchlein jetzt mitsamt der Sonde heraus, bald haben sie´s geschafft. Bleiben sie nur noch einen kurzen Moment ruhig liegen, dann dürfen sie sich wieder bewegen!“ erklärte er und begann langsam und gefühlvoll an seinen Schläuchen zu ziehen.


    Mit der einen Hand hielt er mit der Zange das ZVK-Ende eisern fest und als der von der Kammer über das Reizleitungssystem in den Vorhof glitt, begann Ben´s Herz plötzlich nicht mehr kontrolliert zu schlagen, sondern ging in einen wellenförmigen EKG-Ausschlag über. „Kammerflimmern! Defi vorbereiten!“ befahl der Kardiologe und zog trotzdem, obwohl Ben schon begann die Augen zu verdrehen, so schnell und gefühlvoll wie möglich das Schläuchlein heraus. Wenig später erschien der ZVK in der Schleuse und nachdem der Arzt in Windeseile sein ganzes Werkzeug weggelegt hatte, griff er zu den bereitliegenden Defipaddels, während die unsterile Schwester schon das Abdecktuch zur Seite geschoben und zwei gallertartige Defi-Pads an typischer Stelle auf Bens Brust geklebt hatte. „Zurücktreten!“ befahl der Arzt und schon jagte der erste Stromstoß durch Ben´s Körper.

  • Erst war es Ben ein wenig besser gegangen. Nachdem seine Füße wieder ein wenig wärmer waren, hatte das Zähneklappern aufgehört und es hatte auch nichts mehr wehgetan, oder sich komisch angefühlt. Er war einfach so dagelegen, hatte zwar immer noch nicht so toll Luft gekriegt, aber anscheinend hatte das medizinische Personal die Sache im Griff. Er hoffte jetzt, dass der Arzt, der ihm sehr nett erschien und ihm mit freundlicher, ruhiger Stimme immer erklärte, was er gerade machte, seine Arbeit gut machte und ihm eine weitere Operation erspart blieb. Ob das wohl ein Kunstfehler war, was ihm passiert war? Der junge Arzt, der das Schläuchlein abgeschnitten hatte, hatte sehr verwirrt gewirkt, während der ältere Anästhesist das sehr unaufgeregt kommentiert hatte. Es sah nicht so aus, als wenn der sowas das erste Mal in seiner Laufbahn erlebt hätte. Ben hatte auch null Lust, seine Kraft in einen Kunstfehlerprozess zu stecken. Finanziell hatte er es nicht nötig und wenn man mit relativ geringem Aufwand den angerichteten Schaden bereinigen konnte, dann wäre er mit einer Erklärung und evtl. einer Entschuldigung zufrieden.


    Während er über solche Dinge nachdachte-irgendwie musste er sich ja ablenken-bemerkte er, dass der Arzt anscheinend gerade sehr ins Schwitzen kam. Das Witzige war aber, dass er davon wirklich nichts mitbekam. Er lag da völlig relaxed, ein anderer arbeitete an ihm, dass es ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, aber er selber bemerkte eigentlich gar nichts von dessen Tätigkeit. Er sah auf die Monitore, denn in dieser High-Tech-Abteilung war eine ganze Wand von den verschiedenen Bildern eingenommen und beobachtete dann, wie der Arzt mit dem Zänglein versuchte den Katheter zu fangen. Es war sehr merkwürdig da einen Zusammenhang zu sich selber herzustellen. Auf einem Teil des großen Bildschirms, oder war das eine Wand und ein Beamer?-keine Ahnung-lief sein EKG. Mehrere Röntgenbilder, teils bewegt, teils unbewegt bedeckten die Wände. Gespannt verfolgte er die Bemühungen der Zange, den Strich, der in Wahrheit der Röntgenfaden des Cavakatheters war, zu erhaschen. Fast juckte es ihn in den Fingern, da mitzutun. Die Sache hatte richtige Ähnlichkeit mit einem Computerspiel.


    Endlich war es geschafft. Mit Erleichterung beobachtete er, wie die Zange das dünne Strichlein gepackt hatte und begann, es aus seinem Herzen zu ziehen. Plötzlich fühlte er sich sehr unwohl und wenig später brach er in Panik aus. Oh nein, ihm wurde schwindlig und schlecht, aus den Augenwinkeln sah er, dass sein EKG nur noch eine Wellenbewegung machte, alle Alarme ansprangen und dann begann er bewusstlos zu werden. Er fühlte noch, wie jemand etwas auf seiner Brust festklebte und dann erschien das Gesicht des vermummten Arztes über ihm. Er starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen angstvoll an und während sein Bewusstsein weiter schwand, durchzog ihn ein furchtbarer Schmerz, alle Muskeln verkrampften sich und während es ihn fast 20 cm in die Höhe hob, driftete er endgültig in die Bewusstlosigkeit ab.


    „Supra bereithalten!“ befahl der Arzt mit einem Blick auf den Monitor und die Schwester griff zur aufgezogenen Spritze verdünnten Adrenalins, die für jede Herzkatheteruntersuchung routinemässig bereitgehalten wurde. Sie setzte sie an den Konus des Zugangs an, auch ein Intubationsset lag abgedeckt auf einem Beistelltisch bereit. „Bitte zurücktreten!“ forderte der Arzt nochmals die Anwesenden auf und schockte Ben ein zweites Mal mit derselben Stromstärke und siehe da- langsam wandelte sich das EKG von einer Wellenform in ein anderes Muster und nach wenigen Sekunden war auf dem Monitor wieder ein langsamer Sinusrythmus zu erkennen. Die Schwester hatte, nach einem Blick auf den Bildschirm, nach einem Ambubeutel und einer Maske gegriffen, denn natürlich war auch Bens Sättigung besorgniserregend abgefallen. Sie schloss ein Schläuchlein unten an dem Beutel an, so dass 15l Sauerstoff pro Minute in den Ambu strömten und begann Ben mit diesem hochprozentigem Gemisch zu beatmen. Sie überstreckte dazu seinen Kopf und hielt sein Kiefer mit dem sogenannten Esmarck-Handgriff nach vorne, damit seine Zunge nicht nach hinten fallen konnte.


    Das Herz schlug immer kräftiger und regelmäßiger und dann begann Ben sich wieder zu regen. Er presste gegen die manuelle Beatmung an und als die Schwester damit aufhörte und bloß noch die blaue Silikonmaske vor sein Gesicht hielt, schlug er die Augen auf und sah verwirrt um sich. „Willkommen zurück, Herr Jäger!“ sagte der Kardiologe herzlich und machte sich nun daran, seine Instrumente wegzuräumen. Ben hatte noch gar nicht so richtig begriffen, was los war und wollte sich aufrichten, woraufhin starke Hände ihn auf den Behandlungstisch zurück drückten. „Einfach ruhig liegenbleiben-na da haben sie uns aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“ sagte die Schwester und mit einem Krächzen fragte Ben, was denn losgewesen sei.


    „Durch die Manipulation am Vorhof hat ihr Herz beschlossen, geregelt zu schlagen aufzuhören und wir mussten sie zweimal elektrisch defibrillieren, also mit Stromstößen wieder einen Rhythmus herstellen!“ erklärte der Arzt und Ben begann sich wieder zu erinnern. Aua, das hatte wehgetan! Und als er nun wieder die einfache Sauerstoffmaske angelegt bekam und merkte, wie das blutige Abdecktuch von ihm heruntergenommen wurde, wurde ihm erst bewusst, dass es nun beinahe vorbei gewesen wäre.
    Der Arzt reinigte mit frischen Handschuhen und sterilen, desinfektionsmittelgetränkten Tupfern noch die Leiste, die beim Legen der Schleuse blutig geworden war und legte einen gepolsterten Verband an.


    „Sie kommen jetzt für eine Nacht zur Überwachung auf die kardiologische Intensivstation. Die Schleuse bleibt noch für 6 Stunden liegen und wird dann erst entfernt, falls wir nochmal an ihrem Herzen aktiv werden müssten. Aber das Wichtigste ist, wir haben den Übeltäter erwischt!“ sagte der Kardiologe und hielt das entfernte ZVK-Ende in die Höhe. Es sah eigentlich ganz unscheinbar aus, dieses hellblaue Schläuchlein mit den drei Öffnungen am einen Ende.
    Während Bens Bett neben den Behandlungstisch geschoben wurde, versuchte der das eben Erlebte zu verarbeiten. Man zog ihm nach dem Umlagern noch die Reste seines durchgeschwitzten T-Shirts aus, das immer noch an seinem Rücken geklebt hatte und legte über ihn ein Krankenhaushemd. Die Unterlage war feucht, bei der Defibrillation hatte er durch die Muskelanspannung unter sich gelassen, aber bald lag er sauber und trocken in seinem Bett und die Intensiv wurde zur Abholung angerufen.

  • Als eine Schwester und ein Arzt mit einem Transportmonitor zu ihm kamen, erfolgte die Übergabe und er wurde mit Überwachung zu einer anderen Intensivstation, als beim letzten Mal gefahren. Er kam in eine Einzelbox und als er endlich alleine war, drehte er sich ein wenig zur Seite und versuchte sich auszuruhen, was aber nicht gelang. Er war innerlich so aufgewühlt und als wenig später eine Schwester nach ihm sah und den Verband um die Schleuse kontrollierte, fragte sie, ob er jemanden anrufen wolle. Ben nickte und als sie ihm das Telefon brachte, wählten seine immer noch ein wenig zitternden Finger wie von selbst Semir´s Nummer.


    Semir war nach seiner Ankunft zu Hause erst mal auf die Wohnzimmercouch gefallen und hatte seine Blicke durch sein Haus schweifen lassen. Eine große Dankbarkeit durchflutete ihn, dass er nach allem, was in letzter Zeit passiert war, noch hier sitzen durfte. Es hätte auch anders kommen können und als Andrea sich mir einer Tasse Kaffee zu ihm setzte, zog er sie fest in seine Arme und küsste sie zärtlich. „Schön, wieder daheim zu sein!“ sagte er und sie schmiegte sich an ihn und beide genossen schweigend die Zweisamkeit.
    Nach einer Weile klingelte das Telefon und Susanne war dran. „Und, hast du ihn zu Hause, deinen Helden?“ fragte sie und Andrea bejahte glücklich. Susanne ließ sich Semir ans Telefon geben und erzählte ihm, dass Jenni, Dieter und sie nach Dienstschluss vorhatten, Ben im Krankenhaus zu besuchen. Auch wie es ihm ging, wollte sie wissen und wahrheitsgemäß antwortete Semir: „Ganz gut, ich merke eigentlich kaum mehr was, aber das ist super, dass ihr zu Ben wollt, dem ist sicher schon langweilig!“ und nach ein wenig Smalltalk folgte er seiner Frau in die Küche, die inzwischen begonnen hatte das Mittagessen zuzubereiten. Er wurde gleich zum Salatwaschen herangezogen und bald war das Essen vorbereitet und Andrea brach auf, die Kinder von Schule und Kindergarten abzuholen.


    Die beiden Mädels freuten sich unheimlich, dass der Papa wieder zu Hause war und als sie miteinander gegessen hatten, machte sich Ayda gleich an die Hausaufgaben, während Semir Lilly zum Mittagsschlaf hinlegte. Als ein wenig später Andrea einen vorsichtigen Blick ins Kinderzimmer warf, lag Semir selig schlummernd mit seiner Tochter im Bett.
    Ein halbes Stündchen später erwachte er erfrischt und zog sich zum Munterwerden eine Tasse Kaffee am Automaten. Andrea hatte mit einem Auge nach Aydas Hausaufgaben gesehen und inzwischen die Küche aufgeräumt. „Und, gut geschlafen?“ fragte sie schmunzelnd und Semir nickte vergnügt. Gerade wollte er etwas sagen, da klingelte sein Telefon. Die Nummer, die darauf erschien war ihm nicht völlig bekannt, aber die ersten Ziffern waren definitiv die der Uniklinik. Sofort bekam er ein schlechtes Gefühl und ging eilig ran.
    „Ich bin´s, Ben, Semir mir geht’s nicht so gut, ich bin wieder auf der Intensivstation!“ teilte ihm Ben am anderen Ende mit schwacher Stimme mit. „Was!“ schrie er fast ins Telefon. „Ben ich komme sofort, auf welchem Zimmer liegst du?“ fragte er und dann hörte er wie Ben im Hintergrund jemanden fragte und dann antwortete. „Ich bin auf der kardiologischen Intensiv-du sollst draußen läuten, sie führen dich dann zu mir!“ Bevor Andrea noch etwas sagen konnte, griff Semir nach seiner Jacke, schlüpfte in seine Schuhe und rief ihr im Hinauslaufen nur noch zu: „Ich fahre zu Ben, der liegt wieder auf Intensiv, mehr weiß ich auch nicht!“ und schon war er weg.


    Auf der ganzen Fahrt grübelte Semir, warum Ben auf der Herzintensiv lag. Der war an der Pumpe doch kerngesund-obwohl, sein Vater hatte ja schon mal ´nen Infarkt gehabt, das war ja erblich, soweit er gehört hatte. Hoffentlich war es nichts Schlimmes. Fast unmerklich drückte sein Fuß das Gaspedal durch, aber der Kölner Stadtverkehr verhinderte ein rasches Vorankommen. Obwohl, wenn es nicht schlimm war, warum lag Ben dann auf Intensiv? Außerdem hatte seine Stimme sehr angegriffen geklungen. Allerdings-so lange Ben noch sprechen konnte, würde es schon nicht gar so schlimm sein, beruhigte er sich. Endlich kam er an und fand wie durch ein Wunder sogar einen Parkplatz.
    Beinahe im Laufschritt durchquerte er die Eingangshalle und folgte der Beschilderung zur Inneren Intensiv. An der Kardiologie drückte er auf den Klingelknopf und wartete ungeduldig, bis er hereingeholt wurde.

  • Eine Schwester brachte ihn zu Ben. Semir betrat das Zimmer und dachte erst, sein Freund würde schlafen, aber als der ein Geräusch von der Tür hörte, öffnete er die Augen und ein erleichtertes Lächeln zog über sein Gesicht. Semir erschrak. Wenn er Bens Aussehen von heute Morgen, als sie sich so herzlich voneinander verabschiedet hatten, mit seinem jetzigen verglich, dann war das der Schatten der Person, die er verlassen hatte. Seine Gesichtszüge waren grau und er sah einfach angegriffen aus. Mit wenigen Schritten war er am Bett seines Freundes und ohne sich irgendwelche Gedanken wegen der Schwester zu machen, die aber sowieso gerade wieder ging, zog er ihn einfach in eine feste Umarmung.


    Ben, der angespannt darauf gewartet hatte, dass Semir kam, konnte sich endlich ein wenig fallen lassen. Er schaffte es einfach nicht, die vergangenen Stunden aus seinem Gedächtnis zu streichen. Zu aufgewühlt und verwirrt war er. Immer wenn er die Augen schloss, meinte er wieder diesen schrecklichen Schmerz des Elektroschocks zu spüren. So mussten sich Folteropfer vorkommen-das ganze Denken wurde von diesem Erleben beherrscht und das Geschehen ließ sich einfach nicht ausblenden. Immer wieder hatte er, seit er alleine war, angstvoll zum Monitor gesehen. Wenn der wieder Alarm schlug, würden die Ärzte und Pflegekräfte wiederkommen und ihm mit diesem Gerät einen Schock versetzen, das war klar. Wenn er das logisch betrachtete, hatte es ihm vermutlich ja das Leben gerettet, aber nichtsdestotrotz war es furchtbar gewesen.


    „Ben, was war los, weshalb bist du hier?“ fragte Semir leise, der ihn immer noch ganz fest hielt. „Heute Mittag wollte ein junger Arzt diesen ZVK an meinem Hals ziehen und hat ihn dabei versehentlich abgeschnitten!“ erklärte Ben. „Ja und, was hat das damit zu tun, dass du jetzt auf der kardiologischen Intensivstation liegst?“ wollte Semir nun wissen.
    „Das Ende, das unter der Haut lag, hat sich selbstständig gemacht und ist in mein Herz geflutscht.“ erklärte nun Ben. „Und jetzt? Wie will man das wieder rausbringen?“ fragte Semir entsetzt, der meinte, eine eiskalte Hand würde nun nach seinem eigenen Herzen greifen. „Es ist schon draußen, ich habe einen Herzkatheter gekriegt und ein Arzt hat das mit einem kleinen Zängchen über die Leiste herausgeholt.“ erzählte Ben weiter. „Dabei hat mein Herz aufgehört zu schlagen, oder zumindest so etwas Ähnliches und mir ist furchtbar schummrig geworden. Es war zuvor schon so schlimm-ich hatte Atemnot, eiskalte Hände und Füße und schreckliche Angst. Aber als ich dann meinen Lebensfilm habe ablaufen sehen- Semir, es war, wie es immer beschrieben wird. Mir sind lauter Erlebnisse und Gefühle aus meiner Kindheit, Jugend, der Arbeit und Freizeit durch den Kopf geschossen. Ich habe mich in ganz kurzer Zeit an unheimlich viele Dinge erinnert, die mir wichtig waren…-sind!“ setzte er nach einer kurzen Pause nach. „Und weißt du was, du bist ständig darin vorgekommen.“ Semir der nun Tränen in den Augen hatte, zog Ben noch fester in seine Umarmung.


    Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, aber er merkte, wie es Ben erleichterte, darüber zu sprechen. Nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens begann Ben wieder zu reden. Er musste unbedingt noch loswerden, was ihn gerade am Allermeisten beschäftigte. „Und dann haben sie mir diese Defibrillationsdinger auf die Brust gesetzt und mir einen Elektroschock versetzt. Es war einfach schrecklich, ich habe gemeint ich sterbe jetzt sofort und dann weiß ich nichts mehr, bis irgendwann der Arzt etwas zu mir gesagt hat und ich wieder zu mir gekommen bin.Der Kardiologe hat es geschafft, das fehlende Stück zu greifen und herauszuziehen und mir so eine richtige Herzoperation erspart. Dann wurde ich zur Überwachung, wie sie sagen, auf diese Intensiv hier gebracht und in meiner Leiste steckt immer noch so ein Kunststoffding, über das die ihre Geräte in einen reinschieben. Das soll erst nach ein paar Stunden entfernt werde, falls noch was wäre-haben sie gesagt. Semir, ich habe so eine Scheißangst, dass die mir wieder bei vollem Bewusstsein so einen Schock verpassen, das hat einfach nur weh getan!“ erzählte er Semir von seinen Befürchtungen.


    Der ließ seinen Freund jetzt wieder in das Kissen zurückgleiten und sah ihn prüfend an. „Denkst du, sowas wird nochmal passieren?“ fragte er und Ben zuckte hilflos mit den Schultern. Semir wischte sich unauffällig die Tränen aus den Augen, erhob sich und sagte zu Ben: „Weißt du was? Ich schaue mal, ob ich einen Doktor finde, der uns sagen kann, ob an deinen Befürchtungen überhaupt etwas dran ist!“ bestimmte er und mit diesen Worten verließ er den Raum. Auf dem Intensivflur wurde er von einer Schwester angesprochen, der er sein Anliegen schilderte. Sie versprach einen Arzt ins Zimmer zu schicken, der auch kurz darauf bei ihnen erschien.


    „Und Herr Jäger, wie geht´s ihnen?“ wollte er wissen und Ben zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht genau, aber ich glaube ganz gut!“ antwortete er und der Arzt runzelte die Stirn. Man musste doch wissen, ob es einem gut oder schlecht ging! Er konnte den Ausführungen seines Patienten nicht so ganz folgen, aber nun sprang Semir in die Bresche, der genau verstand, was Ben damit sagen wollte. „Ich glaube, mein Freund will damit ausdrücken, dass es ihm zwar körperlich im Moment wieder ganz gut geht, aber er hat einfach Angst davor, wieder irgendeine Komplikation und darauffolgend einen Elektroschock zu kriegen.“ Ach so, dass war es! Die Miene des Arztes hellte sich auf.
    „Also Herr Jäger-ich kann es ihnen natürlich nicht zu 100% versprechen, dass das nicht wieder passieren wird, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Die Ursache für das Kammerflimmern, das während des Herzkatheters aufgetreten ist, war ja die Reizung der entsprechenden Nerven durch das Kunststoffschläuchlein. Nachdem das ja jetzt draußen ist, fehlt schon mal der Auslöser. Ich werde später noch einen Herzultraschall, ein UKG, machen, um zu sehen, ob die Klappe noch dicht schließt, aber sonst hat man ja auch bei der Katheteruntersuchung gesehen, dass ihr Herz völlig in Ordnung ist. Dass wir die Schleuse nach invasiven Eingriffen noch 6 Stunden liegen lassen, ist Routine. Ich denke, ihre Befürchtungen sind unbegründet und sie sollten versuchen, sich einfach auszuruhen. Wenn wir die Schleuse gezogen haben, bekommen sie noch für 12 Stunden einen Druckverband und morgen dürfen sie wieder auf die normale Station. So wie es aussieht haben sie nochmal Glück gehabt, ich habe es schon öfter erlebt, dass wir in so einem Fall die Herzchirurgen bemühen mussten.“


    Mit einem Gruß verabschiedete er sich und Ben atmete hörbar auf. „Na siehst du, alles halb so schlimm!“ munterte ihn Semir auf und Ben nickte dankbar. Semir setzte sich jetzt einfach auf einen Stuhl neben Ben´s Bett und nahm dessen Hand fest in die Seine. Sein Freund konnte sich nun endlich entspannen und döste kurz danach sogar ein wenig ein.

  • Etwa eine halbe Stunde später stand plötzlich ein sichtlich nervöser junger Mann im Arztkittel, den Semir noch nie gesehen hatte, vor ihnen. Ben hatte ein Geräusch gehört und machte nun die Augen auf. So richtig hatte er nicht geschlafen-zu aufgewühlt war er dazu gewesen. Sofort erkannte er, wer da vor ihm stand. Der scharrte unruhig mit den Füssen und sagte dann mit stockender Stimme. Man merkte, dass ihm die Worte schwer von den Lippen kamen und er sich überwinden musste, zu sprechen „Herr Jäger, ich möchte mich vielmals bei ihnen entschuldigen, dass ich den Katheter abgeschnitten und sie damit in Lebensgefahr gebracht habe. Mir ist sowas noch nie passiert und ehrlich gesagt, wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen, dass sowas passieren könnte. Sowas wird im Studium nicht unterrichtet, allerdings haben mir meine ganzen Kollegen hier jetzt erzählt, dass ich da nicht der Erste bin, der diesen Fehler gemacht hat. Nichtsdestotrotz würde ich alles tun, damit ich das ungeschehen machen könnte und ich habe mit ihnen gezittert und gebangt und als ich gehört habe, dass sie sogar defibrilliert werden mussten, wäre ich fast soweit gewesen, meinen Beruf an den Nagel zu hängen!“


    Ben überlegte eine Weile und streckte dann die Hand nach dem jungen Arzt aus. „Auch wenn ich sowas nie mehr wieder in meinem Leben mitmachen möchte und eigentlich stocksauer auf sie war und immer noch bin, nehme ich die Entschuldigung an. Ich bin mir sicher, sie haben das nicht mit Absicht gemacht und werden da in Zukunft höllisch aufpassen. Ich fände es schade, wenn sie das Medizinstudium umsonst absolviert hätten und habe ja gemerkt, wie sehr sie in Eile waren, als sie den Fehler gemacht haben. Lassen sie sich in Zukunft einfach nicht so hetzen und ach ja-es wäre mir eine Genugtuung, wenn sie mal herzhaft an den nächsten Weidezaun fassen würden, an dem sie vorbeilaufen-dann könnten sie sich in etwa vorstellen, wie angenehm das war!“ und ein kleines Lächeln überzog seine Miene.
    Der junge Assistenzart schlug erleichtert ein und beteuerte: „Das mit dem Weidezaun mache ich, wenn sie möchten, sogar in ihrem Beisein, wenn sie wieder gesund sind, versprochen!“ Mit einem Grinsen auf dem Gesicht verschwand er und Semir und Ben blieben alleine zurück.


    „Ich weiß nicht, ob ich dem so einfach verzeihen könnte?“ sagte Semir nachdenklich, aber Ben dem es, seit sein Freund bei ihm war, um einiges besser ging, erwiderte: „Weißt du, als ich gerade auf dem Tisch lag, kurz bevor mein Herz da zu flimmern angefangen hat, habe ich mir das sogar überlegt mit der Anstrengung eines Kunstfehlerprozesses. Mein Vater hätte das sofort gemacht und viel Energie und Geld in ein Verfahren mit ungewissem Ausgang gesteckt. Vielleicht hätte es die Karriere dieses jungen Arztes, dem ich ja keine Absicht, sondern höchstens Fahrlässigkeit unterstellen kann, zerstört und das dafür, dass ich Monate später ein wenig Geld von irgendeiner Versicherung kriege, mit der sich meine Anwälte dann auf einen Vergleich einigen.
    Am Geld mangelt es mir ja nicht und ich möchte meine Energie jetzt in meine Genesung stecken und nicht in Gerichtsprozesse. Außerdem klang die Entschuldigung echt und er ist ohne Krankenhausjuristen oder Chefarzt gekommen-was ich eigentlich fast erwartete hatte. Das rechne ich ihm hoch an und jetzt vergessen wir das einfach. Erzähl, wie war´s zuhause?“ fragte er dann begierig Semir, denn er wollte jetzt nur noch eines haben: Normalität.


    Semir berichtete also von seinem Einsatz beim Salatwaschen und dem anschließenden Mittagsschläfchen mit Lilly. Auch der Anruf der Kollegen fiel ihm ein und dass die wohl nicht auf die Intensivstation zu Besuch kommen konnten. „Semir geh doch kurz raus und ruf Susanne an, nicht dass die umsonst anrücken. Menschenskinder, dabei hätte ich mich so auf die gefreut! Sag ihnen, sobald ich wieder auf Normalstation bin, holen wir das nach.“ Semir nickte und erhob sich dann. Im Rausgehen fragte er Ben noch: „Soll ich deinem Vater auch Bescheid sagen?“ aber nach kurzem Überlegen schüttelte Ben den Kopf. „Der braucht das gar nicht zu erfahren, denn der fängt sonst bloß wieder mit irgendwelchen Regressansprüchen an. Da habe ich einfach keine Lust drauf!“ und Semir nickte und erledigte seinen Auftrag.

  • Nach einer Weile kam Semir wieder herein. „Susanne und die anderen wussten schon Bescheid. Andrea hatte sie angerufen. Ich habe ihnen aber gesagt, dass es dir schon wieder besser geht, ohne auf nähere Details einzugehen.“ Ben nickte zufrieden und als sie sich noch eine halbe Stunde unterhalten hatten, begann Ben zu gähnen. „Semir, ich habe mich wieder gefangen, tut mir leid, dass ich dich, kaum dass du zu Hause warst, wieder hergesprengt habe. Außerdem sollst du dich ja auch noch ausruhen. Ich komme jetzt alleine zurecht, grüß Andrea und die Mädels, ich werde ein wenig schlafen!“ erklärte er und Semir nickte. „Wenn du mich wieder brauchst-Anruf genügt, du weißt?“ sagte er und Ben nickte. „Ich weiß und es hat mir so gut getan, mit dir über alles zu sprechen, jetzt geht’s mir schon viel besser!“ und tatsächlich, als Semir seinen Freund prüfend musterte, sah der wirklich schon besser aus. Mit einer kurzen Umarmung verließ er ihn und machte sich auf den Heimweg.


    Die Schwester kam kurz darauf, nahm nochmals Blut ab und kontrollierte den Verband. Sie entsorgte auch die Urinflasche, die er inzwischen befüllt hatte und dann drehte sich Ben zur Seite und war wenig später eingeschlafen.
    Er erwachte, als eine andere Schwester vor seinem Bett stand. „Herr Jäger, ich werde jetzt die Schleuse entfernen, ich bin übrigens Schwester Sarah!“ teilte sie ihm mit und lächelte ihn an. Ben starrte dieses unirdische Wesen fasziniert an und hätte fast nicht verstanden, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie war unheimlich hübsch, ein dunkelblonder Pferdeschwanz brachte ihre sympathischen Gesichtszüge noch besser zur Geltung und er wusste nicht was es war, aber diese junge, etwa 30jährige Frau, faszinierte ihn auf den ersten Blick. Er schalt sich: Ben, erstens bist du im Krankenhaus und jetzt ist wirklich nicht die Situation für sowas und außerdem, so wie die aussieht, hat die natürlich einen Partner, aber trotzdem musste er sie einfach nur ansehen. Unbewusst strich er sich mit der Hand prüfend übers Haar. Mein Gott, wie er wohl aussah, sicher nicht sonderlich vorteilhaft.
    Als die Schwester nun die Decke zurückschlug und den Verband entfernte, überzog eine flammende Röte Bens Gesicht. Mein Gott, normalerweise würde er jetzt versuchen ein Date mit dieser Göttin zu kriegen und hätte einen lockeren Spruch auf Lager, aber so funktionierte das nicht, denn die sah jetzt gleich beim ersten Zusammentreffen alles von ihm und ehrlich gesagt, war ihm das ganz schön peinlich. Allerdings war das gar nicht nötig, denn die schob das Hemd so geschickt zur Seite und legte ein Tuch über seine edelsten Teile, dass sein Schamgefühl auch respektiert wurde. „Es tut jetzt sicher kurz weh, wenn ich die Schleuse herausziehe und danach muss ich 15 Minuten fest drücken, das ist auch nicht angenehm!“ kündigte sie an und Ben nickte. „Wenn sie zuvor ein Schmerzmittel wollen, können sie das natürlich haben, dann warten wir noch ein wenig!“ fragte sie ihn dann, aber Ben schüttelte den Kopf. „Nein, machen sie nur, ich bin nicht so empfindlich!“ erwiderte er und schalt sich, dass seine Stimme ganz komisch klang. Sie sah ihn an und ein kleines Lächeln flog über ihr Gesicht. „Na und das, obwohl sie ein Mann sind!“ neckte sie ihn und sprühte nebenbei schon Desinfektionsspray auf die Wundumgebung.


    Sie legte noch eine Einmalunterlage unter seinen Oberschenkel, stellte den Abwurf neben das Bett und legte einen großen Stapel steriler Kompressen und für danach eine breite elastische Binde und ein Kompressionspäckchen bereit. Dann legte sie noch einen frischen Kopfkissenbezug neben ihn ins Bett, damit sie sich setzen konnte, ohne ihre Kleidung zu kontaminieren und dann desinfizierte sie erst hygienisch ihre Hände und zog dann zwei Paar unsterile Einmalhandschuhe übereinander an. Mit einem Scherchen entfernte sie den Faden, mit dem die Schleuse befestigt war und zog sie dann mit einer raschen Bewegung heraus, um dann sofort fest mit einem Stapel Kompressen draufzudrücken. Ehrlich gesagt tat das einen Augenblick tatsächlich ganz schön weh, aber Ben hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als nur einen Laut von sich zu geben. Er versuchte sogar seine Gesichtszüge zu kontrollieren, damit er nicht als Memme dastand. Die Schwester drückte nun erst von oben und setzte sich dann neben ihn ins Bett und übte weiter Druck auf das doch recht große Loch im Blutgefäß aus, damit sich das zusammenzog und kein Bluterguss entstand. Irgendwie war das dasselbe wie bei der Piccoentfernung, gut es war zwar eine Vene, die da eröffnet worden war, aber die Schleuse war auch entsprechend dicker, daher hatte man mit mechanischem Druck auch die besten Erfahrungen gemacht, um einem Hämatom vorzubeugen.


    Obwohl der Druck schon unangenehm war, merkte Ben kaum etwas davon. Unbewusst sog er den feinen Duft nach einem wohlriechenden Deo, das die junge Frau benutzt hatte, ein und fragte sich sofort, ob er wohl hoffentlich nicht stank. Gut, er hatte morgens geduscht, aber er hatte danach auch geschwitzt. Schwester Sarah begann sich mit ihm zu unterhalten und fragte ihn nach seinem Beruf und wie er zu der schweren Verletzung und den nachfolgenden Komplikationen gekommen war. Sie zeigte ehrliches Interesse an ihm, beantwortete aber auch ein paar private Fragen seinerseits und die 15 Minuten vergingen wie im Flug.


    Die Schwester, die eigentlich für Ben in dieser Schicht zuständig war, sah im Vorbeilaufen ins Zimmer und musste grinsen. Sarah hatte sich, als sie gejammert hatte, dass sie jetzt eigentlich gar keine Zeit zum Schleusenziehen hatte, bereitwillig bereiterklärt, das zu übernehmen und die beiden jungen Leute unterhielten sich anscheinend sehr gut. Aber ihr sollte das egal sein. Solange der junge Polizist Patient war, ging da natürlich gar nichts, aber irgendwann würde er ja auch entlassen werden und dann sah die Sache anders aus. Sarah hatte nach einer gescheiterten Beziehung jetzt trotz ihres Aussehens, lange keinen Freund mehr gehabt und ehrlich gesagt würden die beiden ein schönes Paar abgeben, stellte die ältere Schwester für sich fest.


    Als die Wunde nicht mehr blutete, erklärte Sarah Ben noch, dass sie nun einen Druckverband anlegen musste und mit einigen sportlichen Verrenkungen wie Brücke machen, gelang das mit ein wenig Gelächter von beiden Seiten. Als Sarah das Zimmer verlassen wollte, sah Ben ihr bedauernd nach, eigentlich traute er sich nicht, aber nun musste er es einfach tun. Mehr als Nein sagen konnte sie schließlich nicht. „Schwester Sarah, ich weiß, der Augenblick ist vielleicht denkbar unpassend, aber würden sie nach meiner Entlassung einen Kaffe mit mir trinken gehen?“ fragte er sie und nun überzog sich ihr Gesicht mit einer leichten Röte. „Sehr gerne!“ sagte sie und brachte ihm kurz danach einen Zettel, auf dem ihre Telefonnummer notiert war.

    „Ich besuche sie mal, wenn sie auf Normalstation sind!“ kündigte sie an, bevor sie ihrer weiteren Arbeit nachging. „Ich denke, sie werden nämlich, wenn ich morgen zur Spätschicht komme, nicht mehr da sein.“ „Schade!“ sagte Ben mit echtem Bedauern in der Stimme. Mit so einer Betreuung würde er hier sogar einziehen!
    Als „seine“ Schwester später zur Verbandkontrolle kam und ihm einen Becher Wasser hinstellte, bemerkte sie das glückliche Lächeln, das auf seinem Gesicht war. Na da war doch was im Busch, das merkte sie genau. „Übrigens Herr Jäger-ihre Zuckerwerte waren ohne Essen jetzt völlig normal!“ teilte sie ihm mit und machte ihm damit noch eine größere Freude. Vielleicht würde er ja wirklich völlig gesund werden-obwohl, vielleicht wäre so eine Privatschwester nicht das Schlechteste!

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