Freunde fürs Leben - und dann?

  • Kaum war er halb eingeschlafen, da verfolgte ihn wieder Jan in seine Wachträume. Diesmal waren sie beide in dem Bankhaus, in dem die Aktionärsversammlung stattgefunden hatte. Ben hatte Jan gesucht und ihn mit einem Gewehr auf der Balustrade liegen sehen und auf Mc Connor zielen. Als seine Ansprache den nicht davon abgehalten hatte, durchzuladen und auf sein Opfer zu zielen, hatte er selber schweren Herzens auf Jan angelegt und abgedrückt. Er hatte gebetet, dass es funktionieren würde, Jan nur kampfunfähig zu schießen, wie sie es hundertfach im Schiesstraining übten. Seinen früheren besten Freund umzubringen, das wäre für ihn genauso schrecklich gewesen, wie wenn er Semir etwas antun würde. Er hatte erleichtert aufgeatmet, als der zwar die Waffe hatte fallen lassen, aber tatsächlich nur durch einen Schuss in die Schulter nicht mehr in der Lage gewesen war, Mc Connor etwas anzutun. Für den war die Situation sowieso ab diesem Augenblick gefahrlos, denn nach seinem Schuss hatten dessen Securitys ihn zu Boden gedrückt und in Deckung gebracht. Jans Überraschungsmoment war vorbei und gerade hatte Ben zu ihm laufen und nach seiner Verletzung sehen wollen, da war der zum Rand der Balustrade gerobbt und hatte sich vor seinen Augen in die Tiefe gestürzt. Er hatte fassungslos zugesehen. Er war zu weit weggewesen, um ihn rechtzeitig aufzuhalten, aber trotzdem war es so schrecklich gewesen, als er bemerkt hatte, was der vorhatte und ihn nicht hatte aufhalten können.


    Was war wohl im Kopf seines vormals besten Freundes vorgegangen, in den letzten Minuten, bevor er sich das Leben genommen hatte? Welche inneren Kämpfe hatte er ausgefochten? Trotz seiner Lähmung, die ihn an den Rollstuhl gefesselt hatte, hatte er auf seine Weise glücklich gewirkt, als sie den gemeinsamen Abend verbracht hatten. Sie hatten Blödsinn gemacht, getrunken und gefeiert, miteinander gesungen, wie in alten Zeiten und es war sofort wieder die Vertrautheit dagewesen, die sie so viele Jahre aneinander gekettet hatte. Er konnte sich bis heute nicht vorstellen, dass Jan diese Gefühle nur gespielt hatte, um ihn auszuhorchen. Sicher war der verbohrt gewesen und hatte die fixe Idee verfolgt, mit dem Attentat auf Mc Connor die Welt besser zu machen, aber im Grunde seines Herzens war er doch ein netter Kerl gewesen.


    Oder doch nicht? So sehr Ben hin-und her überlegte, er kam zu keiner Lösung. Als Semir ihn aus dem Hotel befreit hatte, wo Jan und Eva ihn zu zweit überwältigt und mit einem Knebel im Mund an den Waschtisch im Hotel gefesselt hatten, hatte der ihm das Ergebnis seiner Ermittlungen mitgeteilt, wie er das verlassene Elternhaus Jans aufgesucht und die finanzielle Situation abgeklopft hatte. Den Tod von Jans Eltern und die terroristischen Aktivitäten seines Jugendfreundes in den letzten Jahren hatte er durch Recherchen im Internet und dem Polizeicomputer herausfinden können-das wäre ihm auch möglich gewesen, wenn er nur bereit gewesen wäre, Semir zu glauben, der ihn von Anfang an vor Jan gewarnt hatte. Er dagegen hatte nur gedacht, Semir wäre beleidigt wegen des Fußballspiels und würde ihm ein paar schöne Abende mit einem alten Freund nicht gönnen. Er war immer der Meinung gewesen, so eine Freundschaft würde fürs Leben halten, aber das war anscheinend nur von seiner Seite her so gewesen. Jan hatte ihn hintergangen und ausgenutzt. Auch damals schon waren sie immer Nebenbuhler im Kampf um Eva gewesen und so wie es aussah hatte Jan letztendlich gewonnen.


    Seine Eva! Schon wieder traf ihn im Halbschlaf der Blick ihrer einzigartigen, faszinierenden Augen, als sie in Jans Armen tot zusammengebrochen war. Er hatte dem Tod seiner beiden Jugendfreunde beigewohnt und damit war auch ein Teil seiner selbst gestorben. Vielleicht war es ihm vorbestimmt, ihnen zu folgen?
    Gerade als er sich einfach fallenlassen und dem Schicksal seinen Lauf lassen wollte, weil er einfach nicht mehr konnte, fasste ihn eine warme Hand an und Semirs vertraute Stimme sagte zu ihm. „Keine Angst Ben, ich bin da!“

  • Semir hatte Ben beobachtet, wie er scheinbar erst einschlief, dann aber immer unruhiger wurde und sich wieder herumwarf. Er murmelte immer wieder „Jan-Eva, nein!“ Seine Gesichtszüge verzogen sich, sicher teils vor Schmerz, dann aber auch vor Kummer. Die inneren Kämpfe, die Ben mit sich selber ausfocht waren deutlich zu erkennen und Semir, der sein Essen kaum berührt hatte zurückgehen lassen, war eine Zeit lang unschlüssig, was er machen sollte. Würde Ben von selber zur Ruhe kommen und in den so dringend benötigten Schlaf finden, oder hielt ihn irgendwas davon ab?


    Es war klar, dass ihn der Fall beschäftigte und Semir nahm sich vor, Ben zuliebe, schnellstmöglich herauszufinden, was mit dessen Freunden geschehen war. Jetzt lagen sie schon eine ganze Weile zusammen, aber es war für sie noch nicht möglich gewesen, darüber zu sprechen, obwohl es Ben sichtlich sehr mitnahm.
    Eigentlich hatte Semir sich ein wenig hinlegen wollen, aber der Zustand seines Freundes versetzte ihn dermaßen in Sorge, dass er es ablehnte, als die Schwester ihm ins Bett helfen wollte. Er wies auf seinen Freund und gemeinsam betrachteten sie seine sichtlichen Kämpfe gegen irgendwelche Dämonen. „Schwester, wie schlecht geht´s ihm wirklich?“ fragte Semir angstvoll. Die sah ihn ernst an: „Sehr schlecht, Herr Gerkan, wenn die Werte sich nicht bald stabilisieren, müssen wir ihn vermutlich bald intubieren, aber so eine nekrotisierende Pankreatitis hat leider keine gute Prognose. Die Verdauungssäfte zerfressen sozusagen das Organ und das umliegende Fettgewebe und machen Nekrosen, also zerstören Gewebe, das nun seinerseits wieder zu einer Belastung für den Organismus wird, weil es den Körper von innen heraus vergiftet.


    Schon ohne die vorausgehende Milzverletzung und den Stress durch den Unfall wäre das sehr gefährlich, aber so muss sein Körper an mehreren Fronten kämpfen. Sein einziger Vorteil gegenüber anderen Patienten ist, dass er vorher gesund und fit war und auch noch jung ist, also hat er sicher einige Reserven. Wir versuchen ihm bestmöglich zu helfen, aber er muss auch kämpfen und wieder gesund werden wollen. So wie er aussieht, beschäftigt ihn irgendetwas ungemein, vielleicht wäre es hilfreich, wenn man diese psychische Belastung, die er hat, ein wenig abmildern könnte, wer sind denn dieser Jan und diese Eva, die ihn bis in seine Träume verfolgen?“ wollte sie nun wissen. „Das sind Jugendfreunde, aber ich werde herausfinden, wie ich ihm da behilflich sein kann!“ sagte Semir, nun schon besser verständlich-die Logopädiebehandlung hatte schon etwas gebracht.


    „Würden sie mich nochmal zu ihm bringen?“ fragte er die Pflegerin. Die nickte und fuhr ihn mit seinem Mobilisationsstuhl wieder an Ben´s Seite. „Aber nur ein bisschen, denn dann müssen sie sich auch mal wieder hinlegen und ein wenig ausruhen, Herr Gerkan!“ beschloss sie, schob ihn aber dennoch zu seinem Partner. Während sie taktvoll den Raum verließ, nahm nun Semir Bens schweißfeuchte Hand in die seine, hielt sie ganz fest und sagte mit aller Überzeugung, die er aufbringen konnte: „Keine Angst Ben, ich bin da!“


    Ben tauchte aus dem Tal der Verzweiflung auf, das ihn gefangen gehalten hatte und verließ diesen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem ihn seine Alpträume verfolgt hatten. Er konzentrierte sich auf die warme Hand, die ihn berührte und wusste, dass der beste Freund, den er je gehabt hatte, an seinem Bett saß und ihm beistand. Er öffnete die Augen einen kleinen Spalt und sagte: „Semir, es tut mir leid!“ Der sah ihn sorgenvoll an und fragte: „Was muss dir denn leid tun?“ Ben versuchte völlig wach zu werden und sagte dann: „Dass ich dir nicht geglaubt habe wegen Jan und vergessen habe, wer meine wirklichen Freunde sind!“


    Semir sah ihn verständnislos an. „Was beschäftigt dich denn so? Du hast einen alten Freund getroffen und dich in ihm getäuscht. Wie oft ist mir das schon passiert? Denk doch mal daran, wie oft ich den Kumpels aus meiner wilden Jugendzeit schon vertraut habe und dabei auf die Schnauze gefallen bin. Das hat doch mit unserer Freundschaft nichts zu tun!“ sagte er. Ben schluckte trocken. „Meinst du echt?“ fragte er müde. „Na klar, komm jetzt schlaf ein bisschen, ich lege mich auch ein wenig hin und wenn du wieder fit bist, dann reden wir darüber, o.k?“ erwiderte Semir und wie auf Kommando schloss Ben die Augen und war fast sofort eingeschlafen. Als fünf Minuten später die Schwester kam, um Semir in sein Bett zu bringen, ruhte er tief und fest und bemerkte gar nicht, wie Semir seine Hand langsam losließ und sich nun ebenfalls zu seinem wohlverdienten Mittagsschlaf ausstreckte.

  • Die beiden schliefen fast zwei Stunden. Dann kam der Neurochirurg und ordnete an, dass man Semirs Drainagen nun noch bis morgen ohne Sog, aber nicht abgeklemmt liegen lassen solle und die Schwester, die die Visite begleitete, steckte sofort sterile Entlüftugskanülen in die Kunststoffsaugkammer der Redondrainagen und öffnete den Schieber. Es floss nur noch minimales Wundsekret heraus und der Neurochirurg war mit der Entwicklung sehr zufrieden. Auch der Dauerkatheter durfte entfernt werden und die Mobilisation sollte zügig weitergeführt werden.
    Ab und zu brauchte Semir mal ein paar Schmerztropfen gegen den Wundschmerz, aber wenn er das mit dem gestrigen Tag verglich, als er gemeint hatte, sein Schädel würde in Kürze zerspringen, dann war das nur ein müder Abklatsch davon und gut auszuhalten.


    Auch Ben war wieder erwacht und fühlte sich leider immer noch hundeelend. Inzwischen lief ein Insulinperfusor relativ hochdosiert, denn anscheinend produzierte seine Bauchspeicheldrüse überhaupt kein Insulin mehr. Sein Blutdruck schwankte bei jedem Spritzenwechsel extrem und so bot man ihm immer mehr Volumen an, so dass langsam seine Hände ganz dick wurden und die Augenlider zuschwollen. Auch drückte das lebensrettende Wasser in seinem Gewebe, das die Undichtigkeit in der Zellmembran, die durch die Sepsis verursacht wurde, ausgleichen sollte, seinerseits wieder auf die Lunge, so dass er immer schlechter Luft bekam. Also wurde sein Elefantenrüssel wieder aufgeschnallt und mit dem CPAP-Gerät funktionierte das Atmen gleich deutlich besser. Die Schwester hatte bald eine für ihn komfortable Einstellung gefunden, aber sobald er etwas sagte, ging natürlich der positive Druck in seinen Atemwegen verloren und so wurde er angehalten, lieber zu schweigen, um seine Sauerstoffversorgung nicht zu gefährden.
    Wenig später machte der Stationsarzt eine kontrollierende Ultraschalluntersuchung und man sah zwar, dass sich wenigstens die Milz nicht verändert hatte, dafür war in der Pankreasloge eine Zyste zu sehen, die anscheinend kein Sekret mehr abfließen ließ. Der Arzt maß den Durchmesser aus und druckte die Werte mit Bild gleich aus. „Herr Jäger!“ sagte er zu Ben, der wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht und geballten Fäusten die Untersuchung über sich ergehen hatte lassen, „wir müssen das beobachten, aber wenn die Flüssigkeitsansammlung grösser wird, müssen wir sie nochmal operieren und eine Drainage einlegen.“
    Der schloss verzweifelt die Augen, kam denn jetzt eine Hiobsbotschaft nach der anderen? Er hatte doch so gehofft, dass es langsam besser werden würde, aber es sah im Augenblick nicht so aus.
    Semir hatte ihn mitleidig beobachtet-wenn er ihm irgendwas hätte abnehmen können, dann hätte er es getan, aber so konnte er nur zusehen, wie sein Freund sich quälte. Nachdem Bens Bauch wieder abgewischt war, was ihm erneut ein Stöhnen entlockte, wurde er von zwei Pflegekräften mit Franzbranntwein abgefrischt und zur Seite gedreht. Langsam ließ der Schmerz ein wenig nach und Ben entspannte sich.


    Semir hätte zu gerne mit ihm über Jan und Eva gesprochen, aber so wie das aussah, war das gerade nicht möglich. Kaum war es 15.00 stand schon Andrea im Zimmer. „Schatz wie geht’s dir?“ fragte sie liebevoll und gab Semir einen zärtlichen Kuss. „Schon viel besser!“ antwortete er wahrheitsgemäß und nun kamen Andrea vor Erleichterung fast die Tränen, denn was er sagte, war wieder einigermaßen verständlich. „Hast du noch große Schmerzen?“ fragte sie ihn besorgt, aber Semir verneinte.


    Als sie nun ihre Aufmerksamkeit auf Ben richtete, der da im Nebenbett mühsam mit Hilfe der nichtinvasiven Beatmung vor sich hin röchelte, erschrak sie über die Veränderung, die seit gestern mit ihrem Freund vorgegangen war. Er sah so aufgedunsen aus und so krank, wie sie es sich nicht hätte vorstellen können, wenn sie es nicht mit eigenen Augen sehen würde. Trotzdem sah er sie aus einem kleinen Spalt aus seinen Augenlidern an und als sie zu ihm trat und seine Hand nahm und „Hallo Ben, wie geht’s dir denn?“ sagte, da schüttelte er nur ein wenig den Kopf zum Zeichen, dass er sie zwar verstanden hatte, aber nicht antworten konnte. Erschüttert streichelte sie ihm noch ein wenig die Hand, bevor sie sich wieder ihrem Mann zuwandte.


    In diesem Augenblick kam auch Konrad zu Besuch und auch der war heillos erschrocken, als er seinen Sohn so daliegen sah. Geschockt und hilflos nahm er sich einen Klappstuhl, setzte sich an dessen Bett und hielt seine Hand, während Ben einfach die Augen wieder schloss und versuchte mit der Beatmungsmaschine zurechtzukommen.

  • Nach einer Weile fragte Semir seine Frau: „Hast du eine Ahnung, wie der Fall ausgegangen ist, den Ben bearbeitet hat, während ich im Koma lag?“ und war fast erstaunt, als Andrea nickte. „Frau Krüger hat mir das erzählt und außerdem ist es durch die Presse gegangen. Dieser Jan Behler hat versucht am Flughafen von einem Dach aus die Maschine von diesem Mc Connor abzuschießen. Das passende Waffensystem dazu hatte er, aber Ben und ein Polizeiheli sind ihm dazwischengekommen. Behlers Freundin wurde von der Besatzung des Helikopters versehentlich erschossen-die wollten wohl eigentlich Behler treffen, aber sie ist in die Schusslinie gekommen und Behler hat dann aus Rache den Helikopter abgeschossen. Vier Polizisten mit Familie tot. Behler hat dann Ben irgendwo als Geisel festgehalten und versucht, Mc Connor bei der Aktionärsversammlung zu erschießen. Ben konnte sich befreien und hat Behler mit einem Schuss in die Schulter kampfunfähig gemacht, woraufhin sich der von einer Balustrade gestürzt hat und auf der Stelle tot war!“ gab sie weiter, was sie wusste.


    Voller Mitleid sah Semir zu seinem Freund hinüber. Das war ja schrecklich, was der in diesen drei Tagen erlebt hatte, die ihm persönlich in seiner Erinnerung fehlten! Kein Wunder, dass er so erschöpft und fertig gewesen war und zudem war er ja die ganze Zeit mit dieser schweren Verletzung herumgelaufen, die man nicht erkannt hatte. Aber immerhin wusste er jetzt mal grob, was vorgefallen war und warum Ben immer diese Alpträume hatte. Seinen zwei besten Jugendfreunden beim Sterben zuzusehen, war schon hammerhart! Vielleicht konnte er ihm mit dem neuerworbenen Wissen ein wenig helfen, aber im Augenblick machte Konrad das eigentlich ganz gut. Ohne etwas zu sagen, saß er am Bett seines Sohnes und nahm sich einfach die Zeit, für ihn da zu sein und ihn durch seinen Körperkontakt zu unterstützen. Ben, der ja sonst nicht gerade das engste Verhältnis zu seinem Vater hatte, duldete die Berührung seiner Hand nicht nur, sondern war anscheinend sogar froh darüber. Wenigstens atmete er friedlich durch die Maschine und auch die anderen Werte am Monitor waren eigentlich gerade ziemlich im Normbereich, wie Semir feststellte. Mann, wenn er noch ne Weile auf der Intensivstation bliebe, dann würde er alle Werte auswendig kennen und bald selber mit der Therapie anfangen! Allerdings war er trotzdem froh, dass es ihm schon wieder verhältnismäßig gut ging und der Eingriff in seinem Kopf zufriedenstellend verlaufen war. Das hätte auch anders kommen können-stellte er mit Schaudern fest, am Vortag um die Zeit hatte es noch nicht so rosig ausgesehen!


    Nun richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Frau. „Wie geht’s den Kindern-und sind sie lieb zur Oma?“ wollte er wissen und Andrea nickte lächelnd. „Wir haben ihnen natürlich nicht alles gesagt, um sie nicht zu beunruhigen, aber gestern haben die beiden ihre Puppen mit Kopfverbänden versorgt, das hättest du sehen müssen!“ berichtete sie und Semir wurde es beim Gedanken an seine beiden Mäuse ganz warm ums Herz. Hoffentlich konnte er sie schon bald wieder in seine Arme schließen!


    Als eine halbe Stunde später der chirurgische Chefarzt ins Zimmer kam, um nach Ben zu sehen, wurden Andrea und Konrad kurz vor die Tür geschickt, damit der Doktor Ben sorgfältig untersuchen konnte. Die Schwester befreite ihn von der Beatmung und versorgte ihn wieder mit einer Sauerstoffbrille. Während der Arzt seinen Bauch abtastete, hatte Ben trotz Opiatbolus wieder ziemliche Schmerzen. Der nachfolgende Kontrollultraschall zeigte dasselbe Ergebnis, wie vorher der Stationsarzt erhoben hatte. „Herr Jäger, ich werde sie morgen operieren und ihnen eine Pankreasdrainage legen!“ bestimmte der Chefarzt und Ben nickte nur müde. Ach was sollte er sonst auch tun. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in die Hände der Mediziner zu begeben und zu hoffen, dass die ihre Sache gut machten.

  • Als der Chefarzt das Zimmer verließ, stürzte sich draußen Konrad sofort auf ihn und wollte eine detaillierte Auskunft über den Gesundheitszustand und die Prognose seines Sohnes haben. Der Chefarzt sagte allerdings zu ihm. „Dazu muss ich erst die Einwilligung ihres Sohnes einholen!“ und trat nochmals kurz ins Zimmer. Ben, dem eigentlich inzwischen alles egal war-ihm war klar, er würde sowieso sterben-nickte es ab und so wurde Konrad ins Arztzimmer geholt und ebenfalls über den Ernst der Lage aufgeklärt.


    „ihr Sohn hat eine fulminante nekrotisierende Pankreatitis, die leider insgesamt-egal in welchem Alter-keine sonderlich gute Prognose hat. Durch die Selbstverdauung der Bauchspeicheldrüse kommt es zu einer Sepsis, die häufig die Todesursache darstellt. Im Moment ist er zwar auf niedrigem Level mit Medikamenten relativ stabil, aber das kann jederzeit kippen. Wir werden morgen früh den Bauch nochmals aufmachen, alles abgestorbene Gewebe entfernen und die aggressiven Pankreassäfte, die zwar immer noch produziert werden, aber nicht abgeleitet, durch eine Drainage nach außen leiten. Wir hatten eigentlich gehofft, dass der einzelne Gallenstein, den der Internist bei der ERCP entfernen konnte, die Abflussbehinderung darstellen würde und somit die Verdauungssäfte wieder ihren gewohnten Weg in den Darm nehmen könnten, aber anscheinend ist in dem Pankreas schon zu viel kaputt, als dass die normalen Wege noch funktionieren würden. Daher hat sich jetzt eine Zyste gebildet, das ist ein Hohlraum, in dem sich die Flüssigkeit ansammelt und der drainiert werden muss. Jetzt hoffen wir, dass die Operation morgen erfolgreich verläuft und sich ihr Sohn dann stabilisieren kann, aber versprechen kann ich nichts, “ erklärte der chirurgische Chefarzt schonungslos dem geschockten Konrad, dem beinahe das Blut aus dem Gesicht gewichen war. Seine Internetrecherchen hatten sich nicht so schlimm angehört, aber nun begann er fürchterliche Angst zu kriegen, seinen Sohn zu verlieren.


    „Sind Gallensteine eigentlich erblich?“ wollte er dann wissen und der Doktor nickte. „ Ja, eine gewisse familiäre Disposition besteht, aber ihr Sohn hat eben auch verdammtes Pech gehabt, dass bei ihm mehrere Faktoren zusammengekommen sind und letztendlich weiß niemand, warum gerade er jetzt auf Leben und Tod daliegt, ob der Unfall dafür der Auslöser war, oder ob das so oder so gekommen wäre-immerhin hatte er einen vereinzelten Gallenstein, der auch den Ausführungsgang verlegt hat, aber sowas kommt ja häufig vor, ohne dass solche dramatischen Folgen eintreten!“


    „Ich hoffe nur, dass ich ihm da nichts vererbt habe, was ihm schadet, denn ich bin schon an der Galle operiert. Vor vielen Jahren schon, also kommt das vermutlich von meiner Seite!“ erzählte Konrad. „Machen sie sich deswegen keine Gedanken, gehen sie lieber zu ihrem Sohn, solange noch Besuchszeit ist und stehen sie ihm bei!“ schickte ihn der Chefarzt dann zurück und gab Ben für den folgenden Tag noch in den OP-Plan ein. Er würde diesen jungen Polizisten persönlich operieren und ihm versuchen, bestmöglichst zu helfen!


    Als Konrad in das Intensivzimmer zurückkam, saß Andrea auf seinem Platz an Bens Seite. Der war unruhig geworden und hatte im Fieberwahn leise um Hilfe gerufen. Andrea hatte nach einem kurzen Seitenblick auf Semir, der ihr auffordernd zunickte, Bens Hand genommen und einfach festgehalten, woraufhin der sich ziemlich schnell beruhigte. Als Konrad zurückkam, wechselten sie die Plätze und Bens Vater konnte eine vereinzelte Träne nicht zurückhalten. Ging es jetzt für ihn und seinen Sohn ans Abschied nehmen? Es waren doch so viele Dinge zwischen ihnen nicht geklärt, weil er gedacht hatte, sie hätten noch so viel Zeit?


    Ben war so fertig, er döste wieder ein, als er sicher war, dass jemand bei ihm war und seine fieberheiße Hand hielt-alles andere war jetzt nebensächlich.

  • Die Besuchszeit neigte sich dem Ende zu und als sich Andrea und Konrad verabschiedet hatten, wurde Ben wieder frisch gemacht, seine Blutwerte gemessen und das CPAP- Gerät wieder auf seine Nase geschnallt. Er war jetzt viel ruhiger und Semir begann schon ein wenig Hoffnung zu schöpfen, dass es ihm besser ging, aber die Schwester, die mit dem aktuellen Blutgas zurückkam, zerstörte auf einen Schlag seine Hoffnungen. Nachdem die CO2 –Werte besorgniserregend angestiegen waren, tauschte sie Bens Nasenmaske gegen eine komplette Beatmungsmaske, die Mund und Nase umschloss. Ben war heiß darunter, er hatte Platzangst und versuchte sich das Ding ständig vom Gesicht zu reißen. Durch das hohe Fieber, die Medikamente und das allmählich ansteigende Kohlendioxid im Blut wurde er immer verwirrter.


    Als Semir bat, doch zu ihm gebracht zu werden, erfüllte die Schwester liebend gerne seinen Wunsch, denn sie selber hatte nicht die Zeit, ihren Patienten so lange zu beaufsichtigen und zu beruhigen, aber aus rechtlichen Gründen durften die Hände bei einer nichtinvasiven Beatmung, wenn die Atemwege ja nicht gesichert waren, nicht fixiert werden, denn wenn der Patient unter der Maske erbrach, musste er sich die sofort vom Gesicht reißen können, damit es zu keiner Aspiration kam. Semir saß also nun auf dem Mobilisationsstuhl neben seinem Freund, versuchte ihm gut zuzureden und hielt seine beiden Hände fest. Was für ein Elend!


    Erst war er ja schrecklich unruhig gewesen, aber nun wurde Ben immer ruhiger und schlaffer und Semir begann sich langsam ein wenig zu entspannen. Er konnte eine Hand loslassen, denn Bens Abwehrbewegungen erlahmten allmählich und Semir hoffte, dass er sich im Schlaf ausreichend regenerieren konnte. Als die Schwester 45 Minuten später die nächste Blutgaskontrolle vornahm, musterte sie Ben mit gerunzelter Stirn und versuchte ihn durch Schütteln und Kneifen zu wecken, was ihr aber nicht gelang. Schnell kontrollierte sie das Gas am Gerät und kam dann sofort mit dem Stationsarzt und dem Notfallwagen zurück. Eine weitere Schwester brachte eine andere Beatmungsmaschine herein, denn das CPAP-Gerät konnte nicht so fein eingestellt werden, wie die große Evita.

    „Herr Gerkan, ich darf sie bitten sich wieder ins Bett zu legen, ihr Freund hat sich in eine CO2-Narkose geatmet und muss jetzt sofort intubiert werden. Keine Sorge, er kriegt überhaupt nichts mit von dem, was gerade vorgeht und wir werden ihn jetzt künstlich beatmen, was für morgen nach der Operation eh vorgesehen war. Er hat uns nur die Entscheidung abgenommen, wann der richtige Zeitpunkt dafür wäre!“ erklärte der Stationsarzt, der sich inzwischen Einmalhandschuhe angezogen hatte und das Bettbrett an Bens Kopfteil entfernt hatte.


    Semir setzte sich an seinen eigenen Bettrand und beobachtet besorgt, was nun mit seinem Freund gemacht wurde. Routiniert richtete die Schwester auf dem Nachttisch, auf den sie eine Einmalunterlage gebreitet hatte, steril einen weichen Blue-Line-Tubus mit Führungsstab her, der für Langzeitbeatmungen verwendet werden konnte. Sie machte eine Probeblockung des Cuffs und bestrich den Tubus noch mit Gleitgel. Ein Laryngoskop, eine Magillzange zum Vorschieben und ein Sauger wurden vorbereitet. Der Arzt hatte inzwischen den Sauerstoff an dem Gerät auf 100% gestellt, um Ben ausreichend zu oxygenieren, damit er Zeit hatte, in Ruhe zu intubieren. Bens Bett wurde flach gestellt, seine Hände mit den noch bereithängenden Fixies festgemacht und die Schwester zog nun die benötigten Medikamente auf. „Eigentlich bräuchten wir ihn nur zu relaxieren, denn er ist sozusagen in einer körpereigenen Narkose, da im Gehirn der Sauerstoff vom Kohlendioxid verdrängt wurde und er damit langsam bewusstlos geworden ist. Aber nach Standard kriegt er trotzdem Narkosemittel nicht dass doch noch ein Rest Bewusstsein da ist und er sich fürchten muss!“ erklärte der Arzt dem geschockten Semir.


    Man schob das Hemd nach unten, damit man die nackte Brust des Patienten sehen konnte und als der Arzt nickte, spritzte die Schwester schnell hintereinander die Narkosemedikamente und das Relaxierungsmittel, in der Dosierung, die ihr der Doktor angab, in den ZVK. Die CPAP-Maske wurde durch eine andere Beatmungsmaske an einem Ambubeutel ersetzt und nun blies der Arzt das Luft-Sauerstoffgemisch mechanisch in Bens Lungen. Als die Eigenatmung erlahmte, weil durch die Relaxierung alle Muskeln erschlafften, legte der Arzt die Maske beiseite, überstreckte Bens Kopf und führte das Laryngoskop in seinen Mund ein. Als er den Kehlkopf eingestellt hatte, ließ er sich den Tubus anreichen und schob ihn mit einer geübten Bewegung in Bens Luftröhre. Die Schwester blockte den Cuff hinter der Stimmritze, zog den Führungsstab heraus und nun saugte der Arzt erst noch den Schleim aus den Atemwegen ab, denn Ben hatte keinen Hustenreflex mehr gehabt. Dann schloss man nochmals kurz den Ambubeutel an und während nun die Schwester mehrmals Luft in ihren Patienten pumpte, hörte der Arzt den Brustkorb ab, ob beide Lungenflügel gleichmäßig belüftet waren. Als er zufrieden nickte, markierte man die Tubuslage mit Edding und verklebte ihn nun in Bens Mundwinkel. Die große Beatmungsmaschine wurde eingestellt und angeschlossen und als Bens Blutdruck durch die Medikamente in den Keller ging, die Dosierung des Arterenols schrittweise erhöht, bis die Werte wieder passten.
    Man räumte das Zimmer in aller Ruhe wieder auf und eine andere Schwester brachte von draußen wieder die beiden Sedierungs-und Opiatperfusoren, die Ben in einer leichten Narkose halten sollten. Mehrfach kontrollierte man die Blutgase und veränderte die Beatmungseinstellungen.

    Semir hatte man dazwischen sein Abendessen hingestellt, aber ehrlich gesagt, war ihm der Appetit vergangen. Nachdem er zweimal von seinem Brot abgebissen hatte, schob er das Tablett zur Seite und streckte sich voller Sorge in seinem Bett aus.

  • Kurz vor 20.00 wurde Semir nochmals von seinen Kabeln befreit und durfte draußen zur Toilette und sich für die Nacht noch vorbereiten. Er war redlich froh, denn dieses Flaschenpinkeln gefiel ihm gar nicht, aber was sollte man machen? Nachdem er seine Zähne geputzt und sich noch ein wenig erfrischt hatte, wurde er wieder ins Zimmer zurückgeführt, wo man inzwischen Ben nochmals abgesaugt , kühl mit Pfefferminzwasser abgewaschen und gelagert hatte. Weil das Fieber inzwischen um die 40°C lag, machte man Wadenwickel, ebenfalls mit kühlem Pfefferminzwasser und der würzige Duft überlagerte wohltuend die Krankenhausgerüche.


    Jetzt fragte Semir endlich, was ihn die ganze Zeit schon beschäftigte. „Was ist so eine CO2-Narkose, die Ben da gehabt hat und warum kriegt man sowas?“ fragte er die Schwester, die es augenscheinlich gerade nicht sonderlich eilig hatte. Die blieb stehen und strich ihrem jungen Patienten noch sorgfältig eine verschwitzte Strähne aus der Stirn, die sich vorwitzig hervorgekräuselt hatte. Semir musste an Bens typische Handbewegung denken, wenn er sich immer die Haare aus dem Gesicht strich, er war sicher, diese Aktion hätte seine Zustimmung gefunden. Eigentlich lag Ben ja jetzt ganz entspannt da und musste auch keine Schmerzen und Ängste mehr aushalten, vielleicht war diese Beatmung für ihn ja gar nicht so schlecht?


    „So eine CO2-Narkose ist normalerweise, wenn es nicht zu direkten Vergiftungen in Gärbehältern kommt, eine Folge der Erschöpfung der Atempumpe. Der Atemantrieb wird übers Gehirn gesteuert und das sagt bei einem Anstieg des CO2s normalerweise der Atmung, jetzt tiefer und schneller zu funktionieren, dann sinkt dieser Wert wieder. Bei ihrem Freund kam es durch die Milzverletzung und zugleich das hochschmerzhafte, entzündliche Geschehen im Oberbauch zu einer flachen Atmung, so dass da schon der Gasaustausch gestört war. Durch die Opiate, die wir ihm ja gegen die erheblichen Schmerzen geben mussten, wurde die Antriebssteuerung nochmals beeinflusst und so kam es eben zum gefährlichen Anstieg des nicht wahrnehmbaren Gases im Blut. Als Folge davon kommt es zu einer zunehmenden Bewusstlosigkeit, man schläft sozusagen hinüber,“ erklärte sie.
    „Hinüber?“ fragte Semir betroffen-„Bedeutet das, dass Ben gestorben wäre, wenn man ihn nicht sofort beatmet hätte?“ Die Schwester nickte und Semir wurde im Nachhinein nochmals ganz schummrig. „Deswegen ist er ja bei uns und wird engmaschig überwacht, damit wir bei solchen Vorkommnissen gegensteuern können!“ tröstete ihn die Schwester, die nun betroffen merkte, wie sehr ihre Eröffnung Semir geschockt hatte. „Jetzt ruhen sie sich mal aus und versuchen zu schlafen-ihr Kollege hat gerade keine Schmerzen und kann sich ebenfalls erholen und für die morgige Operation Kräfte sammeln. Es hilft ihm nicht, wenn sie nun auch noch auf dem Zahnfleisch daherkommen! Möchten sie vielleicht eine leichte Schlaftablette?“ fragte sie ihn und nach kurzem Zögern stimmte Semir ihr zu. Sie hatte ja Recht-es wäre niemandem geholfen, wenn er jetzt die ganze Nacht wach neben Ben läge, es war besser, er kam zur Ruhe und unterstützte ihn, wenn er wieder wach wurde.


    Er ließ sich die Tablette geben und bis er sich versah, war er tief und fest eingeschlafen und bekam nur immer im Unterbewusstsein mit, wie bei Ben Infusionen und Perfusoren erneuert wurden, er alle zwei Stunden abgesaugt und anders gelagert wurde und die Werte kontrolliert und dokumentiert wurden. Vielleicht nicht ganz so erholt, wie nach einem normalen Schlaf, aber doch ruhiger, als nach einer durchwachten Nacht, kam Semir gänzlich zu sich, als es draußen hell wurde.

  • Erst sah er eine Weile zur Decke, um dann seinen Blick zu seinem Freund zu wenden. Der lag friedlich in seinem Bett, allerdings sah er im Augenblick aus, als wäre er 10 Kilo schwerer vor lauter Gewebewasser-und das Ben, der sofort intensiv zu trainieren anfing, wenn er nur den Hauch einer Gewichtszunahme spürte. Aber das waren Nebensächlichkeiten, die eigentlich völlig egal waren.
    Gerade als Semir wieder dabei war, ein wenig einzuschlummern, kam die Schwester herein und lächelte ihm zu, als sie sah, dass er wach war. „Konnten sie ein wenig schlafen, Herr Gerkan?“ wollte sie von ihm wissen und Semir bejahte. „Eigentlich sogar erstaunlicherweise ziemlich gut!“ erzählte Semir der Nachtschwester und die nickte ihm freundlich zu, bevor sie das Patientenzimmer verließ.
    Wenig später-es war gerade kurz nach sechs-, wie Semir an der Wanduhr erkennen konnte, kamen die Pflegekräfte zur Übergabe und diesen Vormittag war ein junger Pfleger für sie beide zuständig. Er begrüßte Semir und kündigte an, in Kürze zur Körperpflege zurückzukommen. Semir bedankte sich mit einem Nicken und verfolgte gespannt, wie der junge Mann anhand der am Bildschirm hergerufenen Daten, die Übergabe verfolgte. Ab dem Zeitpunkt, wenn er sein Kürzel unter die Patientenakte setzte, gingen alle Fehler in seine Verantwortung über, egal ob er was dazukonnte, oder nicht! Wachsamkeit und rechtzeitiges Nachfragen waren unabdingbar und so war Semir der Zeuge einer kritischen Übergabe, wobei die Form immer gewahrt blieb.


    Als einige Zeit später der gutaussehende und anscheinend taffe Pfleger ins Zimmer kam, kündigte er Semir an, dass er ihn gerne zum Waschen oder Duschen ins Bad gebracht hätte, während er seinerseits vorhatte, Ben zu versorgen. Semir stimmte zu und als er im Bad unter der Dusche saß-nicht stand, denn der Kopfverband durfte nicht nass werden- war es dennoch eine Wohltat und auch ein Stück Normalität! Immer wieder sah der junge Pfleger nach ihm, während erst das Wasser auf ihn herunter prasselte und er danach in aller Ruhe sein Gesicht wusch und die Zähne putzte. Er besah dabei seine weiße Haube und versuchte sich vorzustellen, wie das darunter aussah und wo die Drainagen wohl hinführten, die man ihm als Anhängsel mitgegeben hatte. Aber das würde er bald erfahren, wenn der Neurochirurg die Drainagen zog. Einerseits war es Semir deswegen mulmig zumute, aber andererseits war ja völlig klar, dass das einmal sein musste und wenn andere das schon überlebt hatten, dann würde er das auch schaffen!
    Ben wurde inzwischen von dem Pfleger gewaschen, seine Kollegin half ihm dabei und als Semir nach einiger Zeit zurückkam, lag sein Kollege wieder wohlriechend und frisch rasiert in seinem Bett. Gut, dass er das im Augenblick nicht mitbekam, denn sein Dreitagebart war ihm eigentlich heilig! Allerdings würde der, wenn er wieder aufwachen würde, sicher schon wieder nachgewachsen sein und so grämte sich Semir deswegen kein bisschen.


    Als er das Frühstück bekam und Ben derweil mit entspanntem Gesichtsausdruck vor sich hinschlummerte, konnte Semir tatsächlich das Brötchen und den Kaffee genießen-was hätte es auch für einen Unterschied gemacht, ob er aß oder nicht? Wenig später wurde Ben in den OP abgerufen und mit den 30 Minuten Vorlauf, die zum Transport eines Beatmungspatienten vorgesehen waren, schaffte der junge Pfleger es mit Hilfe seiner Kollegen gerade so, Ben in den OP zu bringen.


    Als das Bett aus ihrem gemeinsamen Zimmer gefahren wurde, wünschte Semir seinem Freund von Herzen alles Gute und blickte der Prozession von Ärzten und Schwestern mit Bangen nach. „Bringt ihn mir gut wieder!“ rief er den Medizinern nun schon klar verständlich nach. „Wir tun unser Bestes!“ antwortete der Stationsarzt, der sich noch kurz umdrehte, bevor er um die Ecke zum Fahrstuhl verschwand. Semir blickte auf die Uhr: 9.00-hoffentlich dauerte es nicht zu lange, bis er seinen Freund wieder zurückbekam!

  • Ben wurde inzwischen in den OP gebracht. Er bekam von dem Ganzen nichts mit, denn die Sedierung und das Opiat liefen gleichmäßig weiter. In der Schleuse angekommen, machte der Stationsarzt der übernehmenden Anästhesistin eine genaue Übergabe und währenddessen wurde Ben nackt ausgezogen und über das Schleusenfließband auf den OP- Tisch gebracht. Dort schnallte man ihn sofort fest, damit er nicht herunterpurzeln konnte und dann wurde er ohne Umwege über die Einleitung, denn er war ja schon in Narkose, in den OP gefahren.


    Der Chefarzt war mit seinen beiden Assistenten bereits im Waschraum und die nahmen alle eine chirurgische Händedesinfektion vor. Während der Springer Ben sachgerecht lagerte und die Neutralelektrode am Oberschenkel anbrachte, ließ sich die OP-Schwester ihre Einmalmaterialien und Patientensiebe anreichen. Als der Springer nun noch Bens Bauch dreimal mit oranger Farbe desinfizierte-natürlich nachdem er das Pflaster und die Drainagenbeutel der vorigen OP-Wunde entfernt hatte, kamen die drei Operateure langsam aus dem Waschraum und schlüpften in ihre steril angereichten Kittel. Als sie keimfrei angezogen waren und passende Handschuhe erhalten hatten, begannen die Assistenten Ben abzudecken und bevor man sich versah, waren die Klammern, die Bens Bauch momentan verschlossen hatten, entfernt und der Chefarzt begann systematisch Schicht für Schicht das Abdomen wieder zu eröffnen.
    Als er den Rahmen eingesetzt hatte-natürlich musste er dazu etliche Verklebungen lösen, denn die Wundheilung hatte bereits begonnen-hatte man einen guten Überblick über die Verhältnisse in Bens Bauch.


    Die Narkoseärztin hatte Ben inzwischen an das Narkosegerät gehängt und derweil das transportable Beatmungsgerät zur Seite geschoben. So bekam er zusätzlich noch Narkosegase zugeführt und die Opiatdosierung hatte man ebenfalls um ein Vielfaches erhöht, für den Eingriff. Auch ein Relaxierungsmittel zur Muskelerschlaffung hatte man ihm gespritzt, damit er nicht pressen konnte und die Übersicht in seinem Bauch gewahrt blieb.
    Der Chefarzt bat seinen Assistenten zu saugen, denn man konnte nun deutlich Flüssigkeitsansammlungen erkennen, die durch die bereits liegenden Drainagen nicht abfließen konnten und nun zu einer Gewebezerstörung des Pankreas geführt hatten. Viele Fettgewebsnekrosen vervollständigten das schlimme Bild, allerdings waren durchaus noch Teile der Bauchspeicheldrüse erhalten. Systematisch begannen die Operateure nun die zerfressenen Bereiche abzutragen, dabei entstehende Blutungen zu stillen und sich langsam zu der Stelle vorzuarbeiten, an der man die Zyste vermutete, die auf dem Ultraschallbild zu sehen gewesen war. Tatsächlich lief ihnen eine große Menge Verdauungssaft, mit Gewebefetzen durchsetzt, entgegen, als sie den Hohlraum eröffneten. Das Sekret hatte keine Möglichkeit gehabt, nach außen zu fließen und so innerlich sein Zerstörungswerk angerichtet.
    Vorsichtig sah der Chefarzt nun noch nach der Milz, die aber völlig blutungsfrei von ihrem Netz gehalten wurde und dabei rosig durchblutet war. Diese Operation war wenigstens erfolgreich gewesen.
    Als die drei Chirurgen nun das OP-Gebiet nochmals gründlich mit warmer Kochsalzlösung gespült hatten, die danach immer gleich abgesaugt wurde, sahen die inneren Wundflächen nun sauber aus. Man legte neue Drainagen ein, dabei eine ziemlich dünne direkt in die Pankreasloge, wo die Zyste gewesen war, und begann nun die Wunde schichtweise zu verschließen.


    Die Anästhesistin und die Narkoseschwester hatten derweil alle Hände voll zu tun gehabt, Ben einigermaßen stabil zu halten. Ihm war Volumen im Schuss zugeführt worden und das Arterenol schrittweise erhöht worden, denn die Flüssigkeitsverschiebungen innerhalb seines Organismus und auch der Stress der Operation hatten seinem Kreislauf stark zugesetzt. Man hatte den Tisch kopfwärts gekippt, um eine Autotransfusion in Gang zu setzen und als das zwischendurch abgenommene Blut einen niedrigen Hb-Wert anzeigte, hatte man sich doch zur Transfusion entschlossen. Wenn man es hätte vermeiden können, hätte man darauf verzichtet, aber nun brauchte Bens Organismus dringend Sauerstoffträger und so beschloss man, ihm nach und nach vier Konserven zukommen zu lassen. Die erste hing bereits-vor Ort angewärmt durch die „Hotline“, ein Blutwärmegerät, in dem die Transfusionsleitung auf Körpertemperatur gebracht wurde-und tat ihm sichtlich gut. Man hatte in seinem Fall wirklich nichts mehr zu verlieren!
    Kaum 45 Minuten nach OP-Beginn war die Wunde schichtweise verschlossen und die liegenden Drainagen wurden entweder mit Ablaufbeuteln überklebt, oder an Saugvorrichtungen angeschlossen. Ein Wundverband überdeckte die große Bauchwunde und man hängte Ben nun wieder ans transportable Beatmungsgerät. Jede Bewegung setzte seinem Organismus zu und alle atmeten auf, als er wieder in seinem frisch bezogenen Bett lag. Seine Herzfrequenz war sehr schnell und der Katecholaminbedarf enorm, aber trotzdem konnte man einen kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont sehen. Vielleicht würde nun der Bauch heilen können, wenn die aggressiven Verdauungssäfte nach außen abgeleitet wurden.


    Die Intensiv war zur Abholung angerufen worden und als der Stationsarzt wiederum die Übergabe erhalten hatte, setzte sich die Prozession mit den ganzen technischen Geräten und mittendrin der blasse Ben, der Gott sei Dank von dem Ganzen nichts mitkriegte, in Bewegung und erreichte kurz darauf das Intensivzimmer, in dem Semir schon seit einer Stunde gebannt auf die Tür sah. Als Ben nun wieder an seinem Platz verkabelt wurde fragte Semir bang: „Wie ist es gelaufen?“ und der Stationsarzt antwortete: „Gar nicht so schlecht, sie haben den Bauch sauber gekriegt und jetzt hoffen wir, dass alles heilen kann. Er braucht jetzt in erster Linie viel Ruhe, aber es ist nicht aussichtslos!“
    Semir schluckte und versuchte zu verbergen, dass einige Tränen der Erleichterung über seine Wange flossen. Endlich kehrte wieder Ruhe ein und Semir drehte sich zu seinem Freund und beobachtete, wie der friedlich vor sich hin schlummerte, obwohl ein großes Aufgebot an Maschinen und Geräten um ihn herum für ihn arbeitete. „Ben, du wirst es schaffen, hörst du!“ sagte Semir laut und war selber überrascht, wie klar und zuversichtlich seine Stimme klang.

  • Wenig später standen der Neurochirurg und eine Schwester vor ihm. „Herr Gerkan, ich möchte jetzt gerne die Drainagen ziehen!“ kündigte er an, während die Schwester schon mit der Schere den Kopfverband am Kinn aufschnitt. Er wurde gebeten, sich ein wenig aufzusetzen und dann konnte man den Verband wie eine Mütze abnehmen. Semir fühlte sich wie befreit, denn es hatte langsam zu jucken begonnen.


    Der Neurochirurg hatte seine Hände desinfiziert und Einmalhandschuhe darüber gezogen. Erst kontrollierte er die feine Narbe am Haaransatz, die aber gut zu heilen schien. Natürlich war sie noch an manchen Stellen blutunterlaufen, aber insgesamt doch reizlos. Er betastete den ganzen Schädel, ob irgendwo ein Bluterguss unter der Haut wäre, der zu unschönen kosmetischen Ergebnissen führen könnte, aber alles war in bester Ordnung. Nun nahm er noch die Schlitzkompressen weg, die um die Redoneinstichstellen geschlungen waren, was schon etwas ziepte, da sie durch getrocknetes Blut ein wenig fest hingen. Die Schwester sprühte Desinfektionsmittel auf die Stellen und der Arzt wischte alles mit frischen, sterilen Kompressen sauber. Er ließ sich eine Pinzette und ein feines Scherchen geben und entfernte zunächst einmal die beiden Fäden, mit denen die Drainagen angenäht waren. Der Abwurf stand bereits neben dem Bett und der Arzt legte die beiden Flaschen schon mal hinein. Semir wurde es jetzt immer mulmiger zumute. Wenn er sich vorstellte, dass diese Schläuche direkt in sein Gehirn führten, dann konnte er nur hoffen, dass der Neurochirurg wusste, was er tat. Der sprach mit ihm, aber Semir war gerade nicht fähig, zu verstehen, was er zu ihm sagte, sondern begann stoßweise zu atmen und fühlte sich ganz schrecklich. Die Schwester nahm beruhigend seine Hand und bis er sich versah, bemerkte er ein kurzes Rupfen auf seinem Kopf und schon war die erste Redondrainage entfernt und im Mülleimer gelandet. Semir atmete er leichtert auf-er hatte sich das viel schlimmer vorgestellt! Die zweite Drainage flutschte allerdings nicht so leicht heraus, sondern der Arzt musste mit einer Kompresse gefühlvoll ziehen, aber plötzlich lockerte sich auch dieses grüne, gelochte Schläuchlein und verschwand ebenfalls im Abwurf. Die Einstichstellen wurden nochmals abgesprüht und dann mit zwei kleinen Pflastern versorgt. Die Narbe am Haaransatz ließ man offen, denn das gab erfahrungsgemäß die schöneren Narben.


    „So, Herr Gerkan, jetzt haben sie´s geschafft!“ erklärte der Neurochirurg und checkte noch kurz die Kraft, die Beweglichkeit und die Reflexe. Semirs Mundwinkel hing auch nicht mehr und als er auf Aufforderung sogar pfeifen konnte, schlich ein feines Lächeln über das Gesicht des Arztes. „Herr Gerkan, also meine Prognose ist, dass diese Verletzung völlig folgenlos ausheilen wird. In der nächsten Zeit müssen sie darauf achten, dass sie sofort Bescheid sagen, wenn sie Kopfschmerzen kriegen, oder die Sprache wieder schlechter wird. Jetzt wird ein eventuell entstehender Hirndruck nicht mehr nach außen abgeleitet, deshalb bleiben sie auch noch ein wenig auf der Intensiv, damit wir sie genauestens überwachen können!“
    Semir nickte stumm, aber der Neurochirurg stellte ihm noch ein paar kognitive Fragen, die Semir in ganzen Sätzen beantworten musste. Er beurteilte genauestens die Sprache, die dazugehörige Gestik und auch den Inhalt der Sätze, die Semir von sich gab. „Wie gesagt-ich bin sehr zufrieden, Herr Gerkan und wünsche ihnen alles Gute und einen schönen Tag!“ verabschiedete er sich dann nach einer Weile und Semir ließ sich aufseufzend wieder in sein Kissen zurückfallen. „Könnte ich mal einen Spiegel haben?“ fragte er die Schwester, die noch kurz aufräumte und die nickte und kam wenig später mit dem Verlangten wieder. Semir betrachtete seinen kahlgeschorenen Kopf und war überrascht, dass das gar nicht so schlimm aussah, wie er sich vorgestellt hatte. Seitdem seine Haarpracht ja sowieso immer weniger wurde, trug er sie seit geraumer Zeit streichholzkurz und so war der Unterschied gar nicht so gravierend. Er war zwar gespannt, wie Andrea auf sein Aussehen reagieren würde, aber er selber fand es nicht gar so schlimm und konnte sich deshalb beruhigt zurücklehnen und ein wenig erholen.


    Die Schwester kam mit dem jungen Pfleger wieder und gemeinsam versorgten sie noch Ben, bei dem inzwischen der Stationsarzt die nächste Bluttransfusion angehängt hatte. Ganz ruhig saugten sie ihn ab, lagerten ihn leicht auf die andere Seite und ließen ihn dann wieder in Ruhe. „Er soll später noch einen Picco bekommen!“ teilte die Schwester ihrem Kollegen mit, der die letzte Stunde mit einem anderen beatmeten Patienten zu einer Untersuchung im CT gewesen war. „Vielleicht schieben sie das aber auch auf die Spätschicht!“ hoffte der Pfleger, dem es heute an Zusatzarbeit reichte. Diese Fahrten durchs Haus mit beatmeten instabilen Patienten waren sehr aufwendig und die Routinearbeiten blieben dann oftmals liegen. Gemeinsam verließen die beiden Pflegekräfte wieder die Intensivbox und Semir fragte sich die ganze Zeit, was das wohl war, was Ben noch bekommen sollte. Nachdem ihm diese Frage im Augenblick aber niemand beantworten konnte, schloss er noch ein wenig die Augen und ruhte sich aus, bis das Mittagessen kam.

  • Wenig später wurde Semir das Essen gebracht und es schmeckte ihm sogar recht gut, obwohl er Ben gegenüber deswegen fast ein schlechtes Gewissen hatte. Aus den Worten des Stationsarztes hatte Hoffnung für Ben geklungen und er selber war einfach nur heilfroh, dass er die Drainagenentfernung hinter sich gebracht hatte. Der fromme Wunsch des jungen Pflegers ging in Erfüllung und das Piccolegen wurde in die Spätschicht verschoben. Im Augenblick therapierte man bei Ben nach Erfahrung und Gefühl, ohne das Ganze durch Messwerte zu untermauern, aber wie die Klinik zeigte, war das gar nicht so schlecht. Allerdings war es in der heutigen Zeit Intensivstandard, dass man Sepsispatienten mit einem Picco versorgte und dadurch feststellen konnte, ob sie noch einen Flüssigkeitsbedarf hatten, oder nicht.


    Deshalb kam kurz nach der ausführlichen Übergabe die Schwester mit dem Eingriffswagen, dicht gefolgt von einem Anästhesisten, der ebenfalls Nachmittagsschicht hatte und begann Ben zum Piccolegen vorzubereiten. Sie nahm zunächst die dünne Decke weg und der Arzt tastete erst mal in Bens Leiste nach der Femoralisarterie. Als er sich für eine Seite entschieden hatte, rasierte die Schwester alles an Haaren ab, was in dieser Gegend noch zu finden war und legte eine wasserdichte Einmalunterlage unter.
    Der Arzt zog sich Haube und Mundschutz an, desinfizierte seine Hände und bekam einen sterilen Kittel und Handschuhe verpasst. Aus dem Abdeckset entnahm er eine Klemme, Tupfer und ein Desinfektionsmittelschälchen und strich den Punktionsort dreimal ab. Ein Abdecktuch vervollständigte die Vorbereitungen und Semir beobachtete dann mit Schaudern, wie der Arzt mit einer langen, dicken Nadel gerade in Bens Leiste stach und begann das Gefäß zu suchen. Er traf es nicht gleich auf Anhieb und so sah das ganz schön martialisch aus. Endlich war die Arterie punktiert und schon schob man jetzt einen Seldingerdraht vor und fädelte, nachdem man die Punktionsnadel entfernt hatte und die Haut ein wenig eingeschnitten, einen Piccokatheter darüber. Das war eigentlich ein nicht ganz dünnes Plasikschläuchlein, das mit einem Datenträger verbunden war. Nachdem der Arzt das Schläuchlein noch durchgespült und in Bens Leiste festgenäht hatte, hängte die Schwester ein Arteriendrucksystem an. Während der Doktor die Punktionsumgebung, die recht blutig geworden war, weil das arterielle Blut mehrfach mit Druck herausgeschossen war, saubergemacht hatte, kam noch ein Klebeverband über die Punktionsstelle und das Abdecktuch wurde weggenommen.


    Semir, der gebannt zugesehen hatte, war redlich froh, dass Ben so gut sediert war, denn der hatte die Prozedur ohne Blutdruckanstieg oder eine sonstige Reaktion über sich ergehen lassen. Nun wurde die Messeinheit aufgebaut und ein Temperatursensor kam an den ZVK, während das Datenkabel in der Leiste ebenfalls angeschlossen wurde. Mehrere Geräte wurden am Bett justiert und dann begann der Arzt einige Daten einzugeben. Größe, Gewicht, zentraler Venendruck und dann wurde mehrfach 20 ml kühle Kochsalzlösung in den ZVK eingespritzt und aus der Geschwindigkeit, in der die minimale Temperaturänderung an dem Temperatursensor in der Femoralarterie ankam, errechnet der Computer erstaunlich viele Werte. Neben dem Herzzeitvolumen, dem Herzindex und dem extravasalen Lungenwasser wurden noch einige andere Werte bestimmt und angezeigt und ergaben Aufschluss, wie gut das Herz pumpte und ob ein Volumenmangel, oder eine Überwässerung bestand. Bei Ben waren die Werte alle im grünen Bereich, das bedeutete, dass das Herz kräftig war und die Flüssigkeitsmenge, die gerade in seinem Gefäßsystem zirkulierte, im Augenblick richtig war, obwohl Ben nach wie vor sehr aufgedunsen wirkte. Aber auf diese Dinge konnte man keine Rücksicht nehmen-in der Sepsisbehandlung war nur die Flüssigkeit, die innerhalb der Blutgefäße zirkulierte, maßgeblich. Das überflüssige Gewebewasser würde wieder in die Zellen aufgenommen werden und letztendlich ausgeschieden, wenn die Blutvergiftung überstanden war, nicht eher.


    Semir hatte diese ganzen Informationen erhalten, während die Messungen stattfanden und fand das eigentlich sehr raffiniert. Der arterielle Zugang in Bens Unterarm wurde herausgezogen und ein Druckverband darüber angelegt-er war nun unnötig geworden. Als der Arzt verschwunden war, holte die Schwester eine Kollegin und gemeinsam machten sie Ben noch sauber und wischten das Blut ab, das an seinem Oberschenkel entlang ins Bett gelaufen war. Nach einer erneuten Lagerung ließen sie ihren jungen Patienten wieder in Ruhe und wenig später standen Andrea und Frau Krüger gemeinsam im Zimmer, um die beiden Pechvögel zu besuchen.

  • Andrea stürzte sich, kaum dass sie das Zimmer betreten hatte, auf Semir „Schatz, du bist ja deine Schläuche los!“ rief sie glücklich und betrachtete ihn von allen Seiten. „Und, sieht´s schlimm aus?“ wollte er wissen, aber Andrea schüttelte nur den Kopf und küsste ihn zart auf die Stirn. „Überhaupt nicht, man sieht ja kaum was-niemand würde auf die Idee kommen, dass du so eine schwere Operation hinter dir hast!“ bemerkte sie glücklich. „Ich hatte befürchtet, da laufen jetzt lauter Schnitte quer über deinen Kopf, aber so-das sieht ja richtig gut aus!“ stellte sie überzeugt fest und Semir lächelte befreit. „Hat´s denn sehr weh getan?“ wollte sie nun noch wissen, aber Semir schüttelte den Kopf. „ Es war überhaupt nicht schlimm!“ erklärte er überzeugend und begrüßte dann seine Chefin.


    Auch Frau Krüger trat näher, reichte ihm die Hand und gab auch ihrem Erstaunen Ausdruck, was die moderne Medizin mit ihren raffinierten Techniken für tolle kosmetische Erfolge zu verzeichnen hatte. Aber dann wandte sie sich schnell wieder ab und trat an Ben´s Bett. Sie getraute sich zunächst überhaupt nicht, ihn anzufassen, aber als an der einen Hand keinerlei Kabel zu entdecken waren, ergriff sie sie und drückte sie leicht.
    Sowohl Andrea als auch die Chefin waren entsetzt, dass Ben wieder beatmet war und krank und aufgedunsen in seinen Kissen lag. Am Monitor waren wesentlich mehr Messwerte als am Vortag zu erkennen und eine Menge Drainagebeutel, die mit Blut, Spülflüssigkeit und noch einem gelblichen Saft gefüllt waren, hingen an seinem Bett. Andrea hatte ja schon gewusst, dass ihr Freund nochmals operiert werden sollte, aber dann fiel ihr ein, dass Frau Krüger ja am Vortag gar nicht dagewesen war und infolgedessen ja nicht darüber informiert war. Ob Ben´s Vater und Schwester überhaupt Bescheid wussten, wie schlimm es um ihn stand? Konrad hatte da zwar mit dem Chefarzt gesprochen, aber als sie Semir leise fragte, ob er heute schon dagewesen wäre, schüttelte der den Kopf.


    „Wann ist er denn drangekommen?“ fragte Andrea und nun erzählte Semir den beiden Frauen, dass Ben am Vorabend schon notfallmäßig intubiert worden war und heute Morgen um 9.00 bereits im OP gewesen war. „Eigentlich bin ich fast froh, dass er schlafen darf und keine Schmerzen spürt. Irgendwie fühle ich mich auch sicherer, wenn diese ganzen Maschinen auf ihn aufpassen!“ erklärte er den beiden Frauen, „denn gestern Abend habe ich an seinem Bett gesessen und mich gefreut, dass er endlich ruhiger wurde, bis die Schwester Blut abgenommen hat und man dann festgestellt hat, dass er schon gar nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich war glücklich, dass er endlich ein wenig schlafen kann, aber er wäre gestorben, wenn sie ihn nicht an die Beatmungsmaschine gehängt hätten!“ erklärte er betroffen.

    Erschüttert lauschten die beiden Frauen seinen Worten. Das war ja schrecklich-und Semir war auch nicht zu beneiden, mit den ganzen Sorgen, die er sich um seinen Freund machte. „Wäre es nicht besser, Semir, wenn sie sich verlegen lassen würden? Es ist doch ihrer Gesundheit sicher nicht zuträglich, wenn sie sich den ganzen Tag Sorgen um ihren Partner machen?“ fragte Frau Krüger und Semir registrierte nebenbei verwundert, dass sie ihn zwar mit „Sie“, aber dabei dem Vornamen ansprach. „Er schüttelte überzeugt den Kopf. „Nein, Chefin-wäre es nicht. Denken sie, ich würde mir weniger Sorgen um meinen besten Freund machen, wenn ich wüsste, dass es ihm drei Zimmer weiter schlecht geht? So kann ich wenigstens eines tun-bei ihm sein, mit ihm reden-egal, ob er´s hört und ihn auch gelegentlich anfassen. Glauben sie mir, es ist für uns beide das Beste, so wie es ist“ sagte er klar und mit fester Stimme-und dem war nichts mehr hinzuzufügen.

  • Nach einer Weile verabschiedete sich Frau Krüger und Semir und Andrea besprachen noch einige Dinge, die Kinder betreffend und waren ganz einfach nah beieinander und genossen die wohltuende Nähe des jeweils anderen. Als die Besuchszeit beendet war, erhob sich Andrea fast widerstrebend, aber dann schenkte sie Semir nach dem Abschiedskuss noch ein aufmunterndes Lächeln, strich dem schlafenden Ben einmal flüchtig über den Arm und ging dann nach Hause.
    Semir ließ es sich nicht nehmen, nach dem Abendessen noch eine ganze Weile an Ben´s Bett zu sitzen, ihn ein wenig anzufassen und ihm mit ruhiger Stimme etwas zu erzählen. Die Schwester, die immer mal einen kurzen Blick ins Zimmer warf, musste lächeln, denn erstens machte Semir so seine Hausaufgaben von der Logopädin und außerdem hatte man das Gefühl, die beiden Freunde profitierten einfach beide voneinander.


    Nach der Abendtoilette und bereits einem längeren Spaziergang Semir´s mit dem Gehwagen über die Station, schlief er tief und traumlos und bekam nur am Rande die pflegerische Versorgung seines Freundes mit. Einmal wurde er geweckt, bekam Fragen gestellt und in die Augen geleuchtet, aber bei ihm war wirklich alles in Ordnung und er hatte ein gutes Gefühl, seine Genesung betreffend. Auch bei Ben waren sehr wenige Alarme über Nacht gewesen und als Semir morgens wach wurde, weil die Morgensonne durch die unverdunkelten Fenster hineinschien und ihn an der Nase kitzelte, sah er auf den ersten Blick eine Veränderung bei seinem Freund. Der Urinbeutel war prall gefüllt und in das Stundenglas strömte weiterhin kontinuierlich hellgelber Harn. Als die Schwester, die gerade das Behältnis leerte, seine unausgesprochene Frage spürte, nickte sie mit dem Kopf und sagte: „Ja, es geht ihm besser und die Niere ist auch wieder angesprungen. Wir konnten über Nacht auch mit den kreislaufstützenden Medikamenten runtergehen und das Fieber ist ebenfalls gesunken!“


    Vor Freude schossen Semir gleich ein paar Tränen in die Augen und als er sich in der Dusche frischmachte, begann er vorsichtig positiv in die Zukunft zu sehen-vielleicht würde er schon bald wieder mit seinem Freund über die Autobahn düsen. Als er-diesmal schon ohne Gehwagen- ins Zimmer zurückkam, wurde Ben auch gerade gewaschen und als Semir das Aussehen seines Freundes mit dem von gestern verglich, waren seine verquollenen Gesichtszüge bloß noch halb so dick und die Hände, die nun nach dem Waschen gut hochgelagert wurden, damit das Wasser besser herauslaufen konnte, begannen wieder ihre ursprüngliche Form anzunehmen.


    Als wenig später die große Visite kam, war man von Semir´s Fortschritten sehr angetan und als die Ärztetraube sich Ben zuwandte, schwirrte zwar die Luft vor Fachausdrücken, aber die allgemeine Stimmung war sehr positiv. Der chirurgische Chefarzt spülte persönlich mit 2 ml steriler Kochsalzlösung in einer kleinen Spritze die Pankreasdrainage an und gleich entleerte sich daraus nochmals ein wenig gelbes Sekret. „Bitte das zweimal täglich wiederholen!“ ordnete er an und der anästhesiologische Chefarzt bat seine Pflegekräfte darum, doch die Sedierung schon ein wenig zu reduzieren, um Ben langsam wieder wachwerden zu lassen. Die Schwester stellte die Perfusoren anders ein und als Semir sein Frühstück kurz darauf bekam, machte sie vorsichtshalber Ben´s Hände fest. „Er muss jetzt nicht sofort wach und auch heute noch nicht extubiert werden, aber er soll allmählich wieder an der Maschine selber atmen und darf auch ruhig ein wenig herumschauen und sich bewegen, also erschrecken sie nicht, Herr Gerkan, so ganz bei sich ist er deswegen noch nicht. Aber wenn sie etwas zu ihm sagen und ihn beruhigen, wenn er wacher wird, dann tut ihm das gut und ich denke, ihnen macht das ja auch keine Mühe!“ sagte sie zu ihm und Semir freute sich schon , dass Ben endlich wieder einen Schritt in die richtige Richtung tat.
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  • Ben war so schrecklich müde. Er hatte schlimme Schmerzen und traute sich nicht richtig durchzuatmen. Ihm war heiß und kalt zugleich und er merkte, dass er vielleicht bald gehen musste. Hatte er auch alles erledigt, was wichtig war? Auch wenn es ihm Mühe machte, versuchte er nachzudenken, was er noch unbedingt tun musste, aber er stellte fest, dass es gut war. Er hatte in seinem Leben gemacht, was er sich vorgenommen hatte. Entgegen der Wünsche seines Vaters hatte er seinen Traumberuf ergriffen und sich auf eigene Füße gestellt, unabhängig vom Einfluss seines Vaters, sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne.


    Gut, die Frau seines Lebens hatte er noch nicht gefunden, aber vielleicht wartete die auf ihn ja im Jenseits, falls es sowas überhaupt gab. Da standen ja mehrere zur Auswahl, aber er hatte jetzt nicht die Kraft, sich darüber Gedanken zu machen. Eva´s faszinierende Augen kamen ihm wieder in den Sinn, als sie ihn, tödlich getroffen, angeschaut hatte. Vielleicht wäre sie es gewesen, wenn Jan nicht dazwischengekommen wäre-wer weiß? Oder Saskia, oder-er wurde immer müder. Er bemerkte, wie Andrea ihm die Hand hielt, auch sein Vater war da. Sie sprachen leise-sprachen sie über ihn? Ach es war egal.


    Dass er seine Band zurücklassen musste, war schlimm. Er hatte sich musikalisch doch gerade angefangen durchzubeissen. Langsam wurden sie auch außerhalb des engsten Kreises bekannt und es machte ihm doch so Spaß, auf der Bühne zu stehen. Mit Bedauern sah er zurück, soweit sein von Drogen benebeltes Gehirn das zuließ.
    Aber er hatte etwas sehr wichtiges gehabt, was vielen verwehrt war-einen besten Freund, der immer für ihn da war. Diese Freundschaft mit Semir war ein sehr wichtiger Faktor in seinem Leben gewesen, dieses absolute Vertrauen, das sie einander entgegenbrachten. Sie hatten so viel miteinander erlebt und ihre Beziehung war unheimlich eng geworden. Wenn Semir bei ihm war, fühlte er sich sicher und geborgen.

    Er kämpfte gegen Dämonen-nein er wollte doch nicht sterben! Unruhig warf er sich im Bett herum und stöhnte. Immer wieder bemerkte er, wie ihn jemand frischmachte und anders hinlegte, es tat zwar momentan gut, aber wenig später war er schon wieder schweißüberströmt und seine trockenen Lippen begannen trotz Salbe aufzuspringen. Seine Hände waren dick und schwer und es machte ihm immer mehr Mühe, die Augen zu öffnen, auch die waren wohl geschwollen.
    Immer wieder dämmerte er weg, sein Verstand verwirrte sich, aber er merkte sehr deutlich, als auf einmal Semir an seinem Bett saß, seine Hand hielt und leise mit ihm sprach. Wenigstens der hatte die Sache überlebt und so musste er nicht mit der Schuld beladen sterben, dass er durch seine Unvernunft, seinen besten Freund ins Verderben gerissen hatte. Er wurde ruhiger und entspannte sich ein wenig. Semir´s Berührung und Nähe tat ihm so gut, als er hinüberging-und dann wusste er nichts mehr.

  • Langsam hörte er etwas. Jemand sprach und es war eine bekannte Stimme. Ben versuchte die Augen zu öffnen. Es war zwar unendlich schwer, aber mit viel Mühe schaffte er es. War er tot? Nein, denn um ihn herum waren weder helles Licht, noch Engelschöre, noch seine verstorbenen Angehörigen, sondern nur Maschinen. Außerdem hatte er Bauchschmerzen. Er beschloss, dass das für den Tod nicht in Ordnung war, deswegen musste er wohl noch am Leben sein! Unendlich mühsam drehte er den Kopf ein wenig in die Richtung, aus der die bekannte Stimme kam und da saß Semir und strahlte ihn an. „Hallo Ben! Mensch, du glaubst ja nicht, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast! Aber jetzt bist du wieder da und hast alle Chancen, wieder ganz gesund zu werden!“ beschwor ihn der und Ben nickte leicht mit dem Kopf, zum Zeichen, dass er ihn verstanden hatte.
    Semir sah merkwürdig aus-aber da musste er später darüber nachdenken, was an dem jetzt so anders war, als früher. Erst mal schloss er nach dieser Megaanstrengung wieder die Augen und schlief noch ein Ründchen.


    Als wenig später die Logopädin zu Semir kam und mit ihm trainieren wollte, musste sie ihn fast mit Gewalt vom Bett seines Freundes loseisen, denn der hatte jetzt beschlossen, dass der schönste Platz im Zimmer auf dem bequemen Mobilisationsstuhl neben Bens Bett war. „Herr Gerkan, wir müssen jetzt üben, wenn sie wieder normal sprechen wollen!“ beschwor sie ihn. Als ihr Semir zur Antwort einen halben Roman erzählte und die Worte beinahe wie sonst seinen Mund verließen, war sie erstaunt und überrascht. „Donnerwetter, das hätte ich in dieser kurzen Zeit aber nicht erwartet. Da haben sie aber feste geübt!“ lobte sie ihn. Nur manche Wortendungen klangen noch ein wenig schlampig und verwaschen, wie wenn er zu tief ins Glas geschaut hätte. Sie machte mit ihm deshalb Übungen, die auf die exakte Modulation hinzielten und nach 20 Minuten klappte auch das immer besser.


    Während Semir so angestrengt übte, war Ben wieder erwacht, hatte seinen Kopf herüber gedreht und beobachtete hinter halbgeschlossenen Lidern das Schauspiel. Er konnte eins und eins noch nicht zusammenzählen, aber er wusste auf jeden Fall, dass die Stimme, die nun komische unverständliche Dinge sagte, ihn die letzten Stunden fast ununterbrochen belabert hatte. Aber das war so gewohnt und vertraut. Oft wenn sie über die Autobahn Streife fuhren und nichts weiter los war, erzählte ihm Semir irgendwas und er hatte inzwischen gelernt, sozusagen mit offenen Augen zu schlafen, damit sein Kollege am Steuer nicht beleidigt war, wenn er gar nicht richtig zuhörte. Bei irgendwelchen Fangfragen Semir´s, konnte er immer die letzten Sätze rekapitulieren und dann war dieser wieder zufrieden.


    Ben hatte einen total trockenen Mund und als er schluckte, störte ihn der Schlauch in seinem Hals ungemein! Er musste husten und dann musste die Logopädin leider ihre Therapieeinheit zügig beenden, denn Semir war nicht mehr zu halten und eilte wieder ans Bett seines Freundes. Als er ihn beruhigend ansprach, seine Hand ergriff und ihn beschwor, ruhig zu bleiben, wusste die Logopädin, weshalb die Sprechfähigkeit Semir´s nach dieser kurzen Zeit schon so gut war. Er hatte vermutlich die meiste Zeit geredet, etwas, was die meisten Patienten aus Scham vermieden. Aber diese beiden waren so vertraut miteinander-eine bessere Sprachtherapie hätte es für ihren Patienten gar nicht geben können.


    Während Semir versuchte Ben zu beruhigen, verabschiedete sich die Sprachtherapeutin und sagte draußen gleich der Schwester Bescheid, dass der beatmete Patient ziemlich Probleme mit seinem Tubus zu haben schien. Als die ins Zimmer eilte, war Ben am Husten und Schaffen, um dieses blöde Ding endlich loszuwerden, das in seinem Rachen anstieß und ihn kontinuierlich reizte. Nachdem die letzten Blutgase gut gewesen waren und Ben mit Hilfe der Maschine schon fast selbstständig geatmet hatte, holte sie den Stationsarzt und gemeinsam beschlossen sie, einen Extubationsversuch zu starten. Wenn es schiefging, dann würde man halt wieder einen Schlauch in den Hals schieben, aber vielleicht klappte es ja so.


    Semir wurde deswegen in sein Bett gescheucht und sah fasziniert zu, wie der Arzt und die Schwester Ben, der einfach nicht mehr aufhören konnte zu husten und krampfhaft gegen die Maschine presste, gut zuredeten und dann zügig den Tubus nach dem Entblocken entfernten. Zuvor war die Sedierung noch komplett ausgeschaltet worden und das Opiat nochmals reduziert.


    Ben´s Husten verstummte allmählich, als der Reiz in seinem Hals verschwunden war. Das Bett wurde in halbsitzende Stellung hochgefahren und eine Ohio-Sauerstoffmaske auf sein Gesicht gelegt und locker befestigt. Seine zuvor gefesselten Hände wurden losgemacht und als die Sauerstoffsättigung sich wieder erholt hatte, ließen der Arzt und die Schwester Semir zu seinem Freund. Der setzte sich wieder in den Mob-Stuhl, den man ganz nahe ans Bett gefahren hatte und hielt Bens Hand, bis der sich beruhigt hatte und sein Atem gleichmäßig floss. „Jetzt geht´s nur noch aufwärts, Ben!“ flüsterte Semir und mit der Andeutung eines Lächelns nickte der.

  • Als Ben sich einigermaßen von der Extubation erholt hatte, sah er Semir genauer an. Na klar-der hatte ja eine Operation am Kopf hinter sich und war deswegen kahlgeschoren. So sehr sah er deshalb zwar gar nicht verändert aus, aber trotzdem, ein wenig ungewohnt war es schon. Ben leckte sich über die trockenen Lippen und fragte mit heiserer Stimme. „Wie geht´s dir und wie lange habe ich geschlafen?“ Jetzt war ihm nämlich aufgefallen, dass Semir keine Drainagen mehr hatte und auch keinen Kopfverband trug.
    „Zwei Tage, Ben und du wurdest in der Zeit erfolgreich operiert und hast eine Pankreasdrainage bekommen!“ erklärte ihm Semir. Ben ließ den Blick an sich herunter wandern und hob mit zitternden Händen sein Krankenhaushemd ein wenig an, um seinen Bauch zu betrachten. In der Mitte war wie vorher noch ein Klebeverband, aber die Drainagen, die in allen Richtungen aus seinem Bauch ragten, waren schon sehr gewöhnungsbedürftig. Mit einem Schmerzenslaut ließ er das Hemd wieder fallen und versuchte an etwas anderes zu denken. Aua, jetzt war klar, was da so weh tat. Allerdings-wenn er nun in sich hineinhorchte, war das wieder eher der scharfe Schmerz, wie nach der Milzoperation, dieser bohrende, tobende Schmerz, der ihn fast wahnsinnig gemacht hatte, war nicht mehr so stark.


    Gerade als Semir, der ihn besorgt betrachtet und auch den Schmerzenslaut richtig gedeutet hatte, die Schwester rufen wollte, stand die auch schon vor ihnen beiden. Mit einem aufmunternden Lächeln fragte sie Ben: „Und, wie geht´s, Herr Jäger, kriegen sie gut Luft?“ Ben nickte und bevor er etwas sagen konnte, fragte sie gleich: „Und wie sieht´s mit den Schmerzen aus?“ und Ben nickte langsam. „Es tut schon ganz schön weh!“ flüsterte er immer noch heiser und bekam daraufhin einen Schmerzmittelbolus über den Perfusor. Auch der Urinbeutel war schon wieder prall gefüllt und nachdem die Stundenportionen bei der wieder anspringenden Niere riesig waren, stellte die Schwester eine der Infusionen schneller, denn es war zwar gut, wenn das Wasser, das nun langsam aus dem Gewebe ins Gefäßsystem zurückfloss, ausgeschieden wurde, aber manchmal reagierte der Körper da auch über und sowohl der Kreislauf, als auch der Flüssigkeitshaushalt mussten im Lot gehalten werden.

    Ben bemerkte gleich die Erleichterung auf das Opiat hin und außerdem wurde er wieder ein wenig müde. Die Schwester stellte das Bett ein wenig flacher, so dass er bequem lag, wischte seinen Mund mit einem Mundpflegestäbchen aus und bestrich die aufgesprungenen Lippen mit Salbe. Sie entnahm noch Blut aus der Arterie und als sie wenig später die Werte hatte, hängte sie einen Kaliumperfusor an und veränderte die Einstellung des Insulinperfusors.

    Auch der Arzt trat nun hinzu, um zu schauen, ob sein Patient die Extubation gepackt hatte und nach einem Blick auf das Blutgas, das erstaunlich gute Werte zeigte, betastete er noch kurz Ben´s Bauch und nickte zufrieden. „Es schaut gut aus, Herr Jäger. Diese Drainage, die im Pankreas liegt, leitet die scharfen Verdauungssäfte zumindest größtenteils nach außen ab, bis sich die Entzündung ein wenig beruhigt hat. Es ist möglich, dass wir die mehrere Tage bis Wochen belassen müssen, aber wenigstens hat die Selbstverdauung des Organs anscheinend zu großen Teilen aufgehört. Sie sind gerade dabei aus der Sepsis zu kommen, was wir auch an der anspringenden Niere sehen. Leider hat dieses Organ die Tendenz da überzureagieren und scheidet jetzt in dieser sogenannten polyurischen Phase fast ein wenig zu viel Flüssigkeit und damit auch Mineralstoffe aus. Wir kontrollieren das deswegen engmaschig und lassen ihnen immer das zukommen, was gerade fehlt-häufig Kalium, Calcium und Kochsalz. Ruhen sie sich ein wenig aus und später müssen sie Atemgymnastik machen, damit wir keine Anstauung von Trachealsekret haben, was wiederum eine Lungenentzündung provozieren könnte.“
    Ben sah schon, das Gesundwerden war anscheinend mit Arbeit verbunden, wenn er schon das Wort Gymnastik hörte, allerdings merkte er für sich, dass er begann wieder ein wenig Kraft und Mut zu kriegen. Er wollte schließlich gesund werden und mit Semir´s Hilfe würde er es schaffen!

  • Bevor Semir sich versah, war die Mittagessenszeit da und als er sein Essen bekam, tat ihm Ben leid, weil der doch nichts kriegte und das, obwohl der doch sonst so verfressen war. Als hätte er Semir´s Gedanken gelesen, schüttelte Ben lächelnd den Kopf. „Nein, Semir, es macht mir wirklich nichts aus, dass ich noch nichts zu essen kriege. Ich habe irgendwie gar keinen Hunger und wenn ich daran denke, wie schlecht´s mir die ganze Zeit war, dann bin ich jetzt leidlich froh, dass ich nichts essen muss!“ erklärte er ihm. „Aber jetzt ist dir nicht mehr übel?“ vergewisserte sich Semir und war froh, als Ben den Kopf schüttelte und dann ein wenig die Augen schloss.


    Wenig später kam erst die Schwester und schnallte wieder die Maske für die Atemgymnastik auf Ben´s Gesicht, damit er eine halbe Stunde übte und obwohl es darunter heiß und unangenehm war, ließ es Ben ohne Protest über sich ergehen und als er damit fertig war, stellte ihm die Schwester einen Schnabelbecher stilles Wasser hin. „Herr Jäger, sie dürfen neben der Magensonde vorbei trinken. Das meiste wird zwar wieder herauslaufen, aber gegen den trockenen Hals und das Durstgefühl hilft das erfahrungsgemäß trotzdem!“ klärte sie ihn auf. Man wartete nach der Extubation damit immer noch ein Weilchen, weil der Schluckakt oft nach Sedierung nicht sofort wieder funktionierte, aber jetzt war schon so viel Zeit vergangen, dass man keine Sorge mehr haben musste, dass Ben aspirierte und als die Schwester das Zimmer wieder verlassen hatte und dabei gleich Semir´s Essenstablett mitgenommen hatte, rutschte der wieder an seiner „Laufleine“, wie er insgeheim sein Überwachungskabel bezeichnete, zu Ben herüber und setzte sich in den Mobilisationsstuhl.


    Als Ben versuchte, nach dem Becher zu greifen, entglitt er seinen immer noch schwachen und zitternden Fingern und Semir erwischte ihn gerade noch, bevor er sich komplett ins Bett ergoss. „Komm, lass dir helfen!“ sagte Semir und hielt den Becher an Ben´s trockene Lippen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wie ein kleines Kind versorgt zu werden, aber dankbar schluckte Ben die klare Flüssigkeit und sagte danach zu seinem Freund: „Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mal zu schwach sein könnte, einen Plastikbecher zu halten, aber ich hätte das jetzt ohne deine Hilfe nicht geschafft, dank dir dafür!“ Semir grinste ihn frech an und erwiderte: „Na ich hoffe doch, dass das nicht so bleibt, denn wenn du jetzt auf Streife auch noch von mir gefüttert werden willst, dann zahlst du mir das extra!“ Nun musste auch Ben grinsen, wenn er sich das so bildlich vorstellte. Ach hoffentlich würde er bald wieder mit dem besten Kollegen, den er sich vorstellen konnte über die Autobahnen düsen, Autos schrotten, Übeltäter verfolgen und sogar Berichte würde er ab sofort freiwillig schreiben-meistens wenigstens-wenn er nur bald hier herauskam. Aber dann verdüsterte sich seine Miene.
    „Semir, ich muss mit dir reden und es ist total wichtig!“ kündigte er an und sein Freund sah ihn daraufhin erwartungsvoll an. Er war gespannt, was Ben ihm nun mitzuteilen hatte!

  • „Die ganze Zeit möchte ich mich schon bei dir entschuldigen. Dieser ganze Schwachsinn, der uns beiden beinahe das Leben gekostet hätte, wäre nicht geschehen, wenn ich nicht so uneinsichtig und verbohrt gewesen wäre. Du hast dir wegen der Fußballkarten so große Mühe gegeben und ich habe dich fallen gelassen, wie eine heiße Kartoffel, als ich Jan gesehen habe. Ich schäme mich dafür, denn wer war die letzten Jahre immer da, wenn ich Hilfe gebraucht habe, wer ist mit mir durch dick und dünn gegangen? Nein, nicht Jan, sondern du. Als ich gemeint habe, sterben zu müssen, hast du meine Hand gehalten und ich war eigentlich nur dankbar, dass ich so eine Freundschaft wie unsere erleben durfte. Das wollte ich nur mal gesagt haben!“ schloss er dann und konnte fast nicht glauben, als er ein feines Glitzern in Semir´s Augen entdecken konnte.

    Der war sichtlich gerührt und sagte leise: „Weisst du, auch ich mache mir schon die ganze Zeit Vorwürfe. Wenn ich nicht unaufmerksam gewesen wäre, wäre der Bagatellunfall nicht passiert und dann hätte uns auch der LKW nicht erwischt. Wenn du gestorben wärst, hätte ich mir ein Leben lang die Schuld dafür gegeben. Ich bin alt genug, um über solchen Sachen zu stehen, aber trotzdem hat es mich, bei allem Verständnis, gewurmt, als du mit Jan abgezogen bist und nicht mit mir ins Stadion. Die Vernunft hat mir gesagt, dass du die Gelegenheit, nen alten Freund wiederzusehen, nutzen musstest, aber im tiefsten Inneren war ich fürchterlich eifersüchtig. Ich habe eigentlich aus Trotz gegen Jan ermittelt-gut schnell war mir klar, dass der keine weiße Weste hatte, aber eigentlich hat die Chefin Recht. Man soll nicht an einem Fall arbeiten, wenn man persönlich involviert ist. Gefühle und Polizeiarbeit vertragen sich nicht!“ Ben nickte und streckte Semir die Hand entgegen:“Begraben wir die Sache? Jan und Eva sind tot und wenn wieder irgendwas kommt, was unsere Freundschaft gefährden könnte, dann reden wir miteinander und zwar bevor es zu solchen Eskalationen kommt!“ sagte er entschlossen Semir schlug ein.
    Danach blieben die beiden noch eine ganze Weile da sitzen bzw. liegen und hingen ihren Gedanken nach, bis auf einmal Andrea und kurz darauf Konrad im Zimmer standen. Wenig später stieß noch die Chefin hinzu und als sich nun alle ihren Besuchen widmeten, verging der Nachmittag wie im Flug.

    Konrad erklärte Ben, dass er angerufen habe und am Vortag die Auskunft bekommen hatte, dass Ben intubiert war und deswegen sowieso nichts mitkriegen würde. Deshalb hatte er von einem Besuch abgesehen und sich lieber der Firma gewidmet. „Ben nach diesen ganzen Dingen die dir passiert sind, wirst du ja jetzt hoffentlich so vernünftig sein und der Polizeiarbeit den Rücken zukehren. Dein Platz in der Firma wartet auf dich und ich würde mich freuen, dich baldmöglichst in die Materie einzuarbeiten.“ erklärte er, aber Ben schüttelte den Kopf. „Papa, schlag dir das aus dem Kopf. Ich bin sehr glücklich mit meiner Arbeit und wenn ich das irgendwann mal nicht mehr machen möchte, dann würde ich trotzdem eher alles andere tun, als in die Firma einzusteigen. Das ist etwas, was mich einfach nicht interessiert. Ich will kein Leben führen, wie du es tust und bin auch vom Finanziellen her nicht anspruchsvoll. Mein Gehalt bei der Polizei reicht, um meine Bedürfnisse zu erfüllen und ich bin ja froh, dass du dein Lebenswerk erhalten konntest-denn Konrad war schon beinahe vor der Pleite gestanden-aber lass das Julia und Peter weiterführen, die tun das gerne. Lass mich mein Leben leben und freu dich, dass es mir damit gut geht!“ erklärte er und Frau Krüger, die zwar gerade bei Semir stand, hatte einen Teil des Gesprächs mitbekommen und lächelte nun Ben aufmunternd zu.


    „Ben, wir freuen uns alle, wenn sie wieder gesund sind und ihrer Arbeit nachkommen können. Unser Dreamteam geht uns ab und in der PASt warten alle schon sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie das nächste Fahrzeug demolieren. Auch hat Frau Schrankmann die Beschwerde Mc Connors unter den Tisch fallen lassen, als ich ihr die Hintergründe erklärt habe und so steht ihrer Rückkehr nichts mehr im Wege. Die Suspendierung ist hiermit offiziell aufgehoben!“ erklärte sie. Semir und Ben wechselten einen Blick. „Chefin, ihnen ist schon klar, dass sie uns hiermit unter Zeugen die Erlaubnis gegeben haben, das nächste Fahrzeug zu schrotten?“ fragte nun Ben und die Chefin grinste in sich hinein. „Als würden sie das nicht so oder so tun!“ erwiderte sie und alle Anwesenden brachen in ein befreites Lachen aus.

  • Nach Beendigung der Besuchszeit kamen zwei Schwestern, um Ben zum ersten Mal an den Bettrand zu mobilisieren. Erst bekam er ein Schmerzmittel und das Aufrichten tat trotzdem wahnsinnig weh, aber als er dann saß, fühlte er sich doch ganz gut und es war einfach schön, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Während die eine Schwester das Bett glättete, stützte ihn die zweite von der Seite und als er mit kühlem, erfrischendem Franzbranntwein auf dem Rücken eingerieben wurde, atmete er tief durch und der Geruch erinnerte ihn irgendwie an seine schon verstorbene Großmutter. Deren Geheimtipp war auch dieser Franzbranntwein gewesen und mit dem hatte sie versucht, so ziemlich alle Wehwehchen zu behandeln und wenn der nicht half, kam Klosterfrau Melissengeist zum Zug. Innerlich in ausreichenden Mengen angewendet, konnte der fast alle Krankheiten heilen. Das passende Geschenk für Oma zu allen Gelegenheiten war zudem Doppelherz gewesen. Dieser Likör mit angeblich wundertätigen Eigenschaften, war von den ganzen älteren Damen konsumiert worden. Er musste in sich hinein grinsen. Als kleiner Junge hatte er das auch wirklich geglaubt, aber heute war er überzeugt davon, dass das nur ein Vorwand für ein vormittägliches Schnäpschen für die Mädels gewesen war. „Na, sie können ja schon wieder lachen, Herr Jäger!“ sagte die eine Schwester herzlich. Als Ben ihnen seine Überlegungen mitteilte, mussten die beiden Schwestern grinsen, aber Semir sah ihn verständnislos an. Von diesen ganzen Dingen hatte er mit seinem türkischen Background in Köln-Kalk keine Ahnung. Bei ihnen hätte nie eine ältere Frau Alkohol konsumiert, während die jungen Türken, er eingeschlossen, das nicht so eng gesehen hatten.


    Nach etwa 10 Minuten, in denen er auf Aufforderung tief durchgeatmet hatte und auch das Noradrenalin nicht verändert werden musste, ließ sich Ben wieder unter Schmerzen hinlegen und brauchte dann eine Weile, um diese Anstrengung zu verkraften. Mann, wie konnte man nur in wenigen Tagen vom vitalen, kraftstrotzenden jungen Mann zum Pflegefall werden, es war ihm unbegreiflich, aber so sehr er sich auch anstrengte, seine Energie war im Moment verbraucht und er konnte nur die Augen schließen und darauf warten, dass sich die Batterien wieder aufluden.
    Wenig später bekam Semir sein Abendbrot und jetzt schaffte Ben es tatsächlich, seinen Becher selber zu halten und sein Wasser zu trinken. Als der Arzt später nochmals zum Kontrollultraschall kam, war er sehr zufrieden. Es waren keine Flüssigkeitsansammlungen im Bauch mehr festzustellen und als man vorsichtshalber die Pankreasdrainage wieder mit 2 ml steriler Lösung angespült hatte, kam auch die Flüssigkeit klar zurück.


    Wenn an seinem Bauch herummanipuliert wurde, verzog Ben heftig das Gesicht, weil ihm das immer noch sehr weh tat. Nach kurzer Überlegung ordnete der Arzt eine sogenannte PCA-Pumpe an. Er legte die Dosierung und das Intervall fest und wenig später baute die Schwester einen Opiatperfusor mit einem Druckknopf an einer Leitung an, programmierte ihn mit einem Spezialschlüssel und erklärte ihm, wie das funktionierte. „Herr Jäger, dies ist eine patientenkontrollierte Schmerzpumpe, auf Englisch: Patient Controlled Anästhesie-PCA. Damit können sie sich selber mit Schmerzmittel versorgen, sooft sie eines benötigen. Wenn sie auf den Knopf drücken, bekommen sie eine fest eingestellte Dosis injiziert und müssen nicht warten, bis ihnen von uns jemand etwas zukommen lässt. Es ist eine Sperrzeit programmiert, damit sie sich nicht überdosieren können. Wenn sie innerhalb dieser halben Stunde erneut drücken, ertönt zwar der Kontrollton, aber sie bekommen kein Medikament.“ Sie forderte Ben nun auf, in ihrem Beisein zu drücken und tatsächlich merkte nach dem Ton Ben erleichtert, wie das Schmerzmittel in seine Vene schoss. Eine wohlige Müdigkeit machte sich in ihm breit und er schloss noch ein wenig die Augen.
    Nach der Abendtoilette kam auch Semir zur Ruhe und wenig später schliefen die beiden Freunde hoffnungsvoll dem nächsten Tag entgegen.

  • Man hatte Ben in der Nacht nur einmal aufgeweckt und frisch gemacht und dabei noch einige Messwerte ermittelt. Sein Flüssigkeitshaushalt war nun relativ ausgeglichen und die Niere hatte aufgehört riesige Mengen auszuscheiden. Kontinuierlich konnte man über Nacht bereits das Noradrenalin reduzieren und gegen Morgen ganz ausschalten. Ben konnte sich selber wieder ein wenig im Bett drehen, so dass die Gefahr des Wundliegens gebannt war und mit seiner Schmerzpumpe kam er gut zurecht. Alleine das Wissen, sich jederzeit mit Opiat versorgen zu können, ohne jemanden zu bitten, sorgte schon dafür, dass er lockerer wurde und die Angst vor den Schmerzen, die ihn durchaus beherrscht hatte, weniger wurde.


    Er drehte sich also ruhig wieder um und lauschte Semirs sonorem Schnarchen, bis er in Kürze eingeschlafen war. Die Nachtschwester hatte die beiden Monitore im Zimmer auf Privatbildmodus gestellt, dass hieß, dass im Zimmer selber der Bildschirm dunkel und leise blieb, man aber von draußen und von jedem anderen Zimmer aus Zugriff auf die Überwachungsdaten hatte. So piepten zwar Infusomaten und Perfusoren, wenn sie leer wurden, aber es hielt sich in Grenzen, denn die Medikamente, die Ben zugeführt werden mussten, wurden stündlich weniger.


    Am Morgen gähnte Ben herzhaft, als die Frühschicht zum Waschen kam und zog sich seine Decke ein wenig über den Kopf. Nach einem Blick auf die Uhr beschwerte er sich: „Es ist erst 6.30, also vor Tau und Tag-kann man bei euch nicht mal ausschlafen?“ Semir, der wach und fit war, musste grinsen. Das war wieder der alte Ben, der morgens nicht rauskam, was ein häufiges Zuspätkommen und so manchen Anschiss von der Chefin zur Folge hatte. Nach kurzer Überlegung beschloss die Schwester einen anderen Patienten vorzuziehen und während Semir wieder duschen durfte, drehte sich Ben noch genüsslich zur Seite und hängte ein Stündchen Schlaf an.


    Nun kam erst die Visite und der Chirurg und der anästhesiologische Chefarzt waren von den Fortschritten ihrer beiden Patienten sehr angetan. „Herr Gerkan, eigentlich gibt es für sie keinen Grund mehr, auf der Intensivstation zu bleiben. Die weitere Behandlung könnte man auch auf der neurochirurgischen Normalstation fortführen. Wenn sie allerdings noch ein wenig dableiben wollen, können sie das machen. Wir haben gerade keinen Bettennotstand auf der Intensiv, also sie dürfen entscheiden!“ sagte der Anästhesist zu ihm und Semir bat, noch ein wenig dableiben zu dürfen. Allen war klar, dass das nur wegen seinem Freund so war, aber er würde leichter gehen, wenn der noch etwas besser beieinander wäre.


    Auch ohne Noradrenalin hielt sich Bens Blutdruck im Normbereich. Er war nun auch nicht mehr aufgequollen und aus der Magensonde war nur ein Teil des Wassers zurückgelaufen, das er getrunken hatte, nicht mehr diese Menge an Magensaft, so dass man davon ausgehen konnte, dass die Peristaltik, also die Darmeigenbewegung, wieder in Gang kam. Als der Chirurg seinen Bauch betastete, drückte Ben vorher noch schnell aufs Knöpfchen und so war die Untersuchung auch gar nicht schlimm. Man hörte mit dem Stethoskop auf seinen Bauch und dann wurden ihm und der Schwester die Anordnungen für den Tag gegeben. „Herr Jäger, sie dürfen ab sofort unbegrenzt trinken und wir bieten ihnen Astronautenkost an, damit die Dünndarmzotten keinen Schaden nehmen. Die brauchen enterale Ernährung und wir geben ihnen zwar momentan noch alle Kalorien als Infusion, aber wenn sie es vertragen, erfolgt jetzt zügiger Kostaufbau. Die Magensonde kann raus und die beiden Redondrainagen auch. Sie werden heute mit der Krankengymnastik aufstehen und mit einem anderen Gerät Atemgymnastik machen. Ich denke, sie haben das Schlimmste überstanden und wir können jetzt mal vorsichtig optimistisch sein.“ sagte der Arzt.


    Immer noch lief der Insulinperfusor und seit es Ben besser ging, hatte er die Schwestern bei jedem Medikament gefragt, wozu das war und warum er es bekam. Nun stellte er die Frage, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte: „Meinen sie ich bleibe zuckerkrank und muss lebenslang Insulin spritzen, oder kann sich das wieder geben?“ Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. „Es ist noch zu früh, um eine Prognose abzugeben-häufig ist das der Fall, aber wir haben auch schon erlebt, dass sich das Pankreas wieder weitgehend erholt. Wir müssen abwarten!“ erklärte er seinem Patienten, der nun nickte und innerlich heftig zu hoffen begann, dass er wieder ein ganz normales Leben führen könnte. Als die Visite weiterzog sagte Semir aufmunternd zu seinem Freund. „Gemeinsam schaffen wir das, egal was kommt!“ und Ben nickte langsam.

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