Fassungslos sahen Andrea und Ben der Schwester nach. Beide fühlten sich, als wäre ihnen der Boden unter den Füssen weggebrochen. Genau diese Sorge um die Spätfolgen hatten sie gedacht hinter sich zu lassen, als Semir aus dem Koma erwacht war. Und jetzt sollten sie wieder ganz am Anfang stehen? Mit einem Aufschluchzen setzte sich Andrea auf den Stuhl an Bens Bett und griff nach seiner Hand. Wie zwei Ertrinkende hielten sie sich aneinander fest und versuchten ein wenig Trost aus der Nähe des jeweils anderen zu ziehen.
Semir war in der Zwischenzeit in den OP-Trakt gebracht worden. Auf der Fahrt dahin bemerkte er auf einmal ein Kribbeln in der ganzen linken Körperhälfte und als er probierte, das der Schwester, die das Bett schob, mitzuteilen, konnte er sich schon nicht mehr klar artikulieren. Voller Panik versuchte er sich mitzuteilen, aber es gelang ihm nicht mehr und wie in Trance ließ er es über sich ergehen, dass er eingeschleust und in die Einleitung gebracht wurde.
Der Neurochirurg trat, bevor er die Narkose bekam, noch kurz zu ihm und sah sich die Ausfälle der linken Körperhälfte an, die inzwischen völlig gelähmt war. Semir sah ihn mit Panik im Blick an und der Arzt nickte beruhigend, bevor er in den Waschraum verschwand: „Herr Gerkan, wir tun unser Möglichstes, um ihnen zu helfen, schlafen sie erstmal und seien sie zuversichtlich, wir kriegen das schon hin!“ sagte er aufmunternd und während das Narkosemittel in seine Vene flutete, rann eine kleine Träne aus Semirs Augenwinkel, bevor er einschlief und nichts mehr wusste.
Er wurde problemlos intubiert und nachdem man den Tubus gut verklebt hatte, wurde Semir mit einer speziellen Lagerung in halbsitzender Stellung in einem sogenannten Beach-Chair festgeschnallt. Die CCT-Bilder waren an dem großen Digitalschirm an der Wand deutlich zu sehen und der Neurochirurg informierte seine Mitarbeiter, was er weiter zu tun gedachte.
„Zuerst wollte ich eigentlich nur eine Köhnlein-Bohrung machen, um das Gehirn zu entlasten, aber weil sich die Symptomatik nun dermaßen rasant entwickelt hat mit Aphasie und kompletter Hemiparese, werde ich ihn doch entdeckeln und die Blutung unter Sicht stillen!“ erklärte er seinen Mitarbeitern. Eine junge Schwesternschülerin, die den ersten Tag ihres vierwöchigen OP-Praktikums hatte, drückte sich ganz aufgeregt in einer Ecke herum. Sie würde die erste Gehirnoperation ihres Lebens sehen und war schon sehr interessiert. Der Springer erklärte ihr leise: „ Normalerweise hätte man jetzt auf Höhe des rechten Ohrs zwei Löcher gebohrt und den Bluterguss dadurch abgesaugt. Durch das rasche Fortschreiten der Symptomatik, nämlich der kompletten Halbseitenlähmung und des Unvermögens zu sprechen, ist es aber naheliegend, dass da schon eine stärkere Blutung vorliegt, die man lieber unter Sicht verschweißt.“
Der Springer legte erst noch in Narkose einen neuen Blasenkatheter und auch ein zweiter dicker venöser Zugang wurde noch in Semirs Arm versenkt, damit man ihn mit ausreichend Flüssigkeit und Medikamenten versorgen konnte. Man fuhr eine relativ flache Narkose, da außer dem Schnitt an der Kopfschwarte und der Knochensägung die Schmerzen der Operation sich sehr in Grenzen hielten.
Nun wurde sein Kopf flächig dreimal mit hellorangem Desinfektionsmittel chirurgisch desinfiziert, seine Augen hatte man mit Augensalbe versorgt und zugeklebt und dann deckten der Operateur und sein Assistent, die inzwischen mit sterilem Kittel und Handschuhen versorgt waren, den kompletten Patienten ab, so dass nur noch der blanke Schädel zu sehen war.
Der Neurochirurg stellte sich das Licht mit sterilen Handgriffen ein und dann machte er einen großen, bogenförmigen Schnitt hinten am Haaransatz, der von einem Ohr zum anderen reichte. Der Assistent stillte mit einer bipolaren elektrischen Pinzette die Blutung aus den Hautgefässen und dann packte der Neurochirurg die Kopfschwarte und zog sie einfach nach vorne.
Die Schwesternschülerin musste sich momentan erschauernd abwenden, so schlimm sah das aus, als sozusagen das Innere der Kopfhaut nach außen geklappt wurde. Auch die nun auftretenden Hautblutungen wurden gestillt, teils elektrisch und teils mit Ligaturen und Umstechungen, aber wenig später hatte der Neurochirurg schon die oszillierende Säge in der Hand, die eigentlich mehr aussah, wie eine kleine Flex. Ein schwingendes kreisrundes Sägeblatt wurde mit Druckluft über einen Schlauch betrieben, angesetzt und trennte einen Deckel des Schädelknochens von etwa 20 cm Durchmesser ab.
Die Schwesternschülerin, die sich wieder gefangen hatte, sah fasziniert zu und fragte dann den Springer leise: „Besteht da nicht die Gefahr, dass man da mitten ins Gehirn sägt?“ aber der Pfleger erklärte ihr flüsternd: „Nein, denn durch diese Schwingungen stoppt die Maschine, sobald es weich wird. Die durchtrennt wirklich nur den Knochen. Dasselbe Prinzip wird auch für Gipsentfernungen verwendet und hat sich seit vielen Jahren bewährt!“ Die Schülerin nickte und sah zu, wie nun der Deckel an die OP-Schwester abgegeben wurde, die ihn sofort in kühle Nährlösung auf ihrem Instrumentiertisch einlegte. Man würde abwarten, ob man ihn gleich wieder brauchte, oder erst einige Tage später. Das würde der Befund zeigen, der nun vor den Augen der Operateure und der Zuschauer zu sehen war.