Freunde fürs Leben - und dann?

  • Fassungslos sahen Andrea und Ben der Schwester nach. Beide fühlten sich, als wäre ihnen der Boden unter den Füssen weggebrochen. Genau diese Sorge um die Spätfolgen hatten sie gedacht hinter sich zu lassen, als Semir aus dem Koma erwacht war. Und jetzt sollten sie wieder ganz am Anfang stehen? Mit einem Aufschluchzen setzte sich Andrea auf den Stuhl an Bens Bett und griff nach seiner Hand. Wie zwei Ertrinkende hielten sie sich aneinander fest und versuchten ein wenig Trost aus der Nähe des jeweils anderen zu ziehen.


    Semir war in der Zwischenzeit in den OP-Trakt gebracht worden. Auf der Fahrt dahin bemerkte er auf einmal ein Kribbeln in der ganzen linken Körperhälfte und als er probierte, das der Schwester, die das Bett schob, mitzuteilen, konnte er sich schon nicht mehr klar artikulieren. Voller Panik versuchte er sich mitzuteilen, aber es gelang ihm nicht mehr und wie in Trance ließ er es über sich ergehen, dass er eingeschleust und in die Einleitung gebracht wurde.


    Der Neurochirurg trat, bevor er die Narkose bekam, noch kurz zu ihm und sah sich die Ausfälle der linken Körperhälfte an, die inzwischen völlig gelähmt war. Semir sah ihn mit Panik im Blick an und der Arzt nickte beruhigend, bevor er in den Waschraum verschwand: „Herr Gerkan, wir tun unser Möglichstes, um ihnen zu helfen, schlafen sie erstmal und seien sie zuversichtlich, wir kriegen das schon hin!“ sagte er aufmunternd und während das Narkosemittel in seine Vene flutete, rann eine kleine Träne aus Semirs Augenwinkel, bevor er einschlief und nichts mehr wusste.


    Er wurde problemlos intubiert und nachdem man den Tubus gut verklebt hatte, wurde Semir mit einer speziellen Lagerung in halbsitzender Stellung in einem sogenannten Beach-Chair festgeschnallt. Die CCT-Bilder waren an dem großen Digitalschirm an der Wand deutlich zu sehen und der Neurochirurg informierte seine Mitarbeiter, was er weiter zu tun gedachte.
    „Zuerst wollte ich eigentlich nur eine Köhnlein-Bohrung machen, um das Gehirn zu entlasten, aber weil sich die Symptomatik nun dermaßen rasant entwickelt hat mit Aphasie und kompletter Hemiparese, werde ich ihn doch entdeckeln und die Blutung unter Sicht stillen!“ erklärte er seinen Mitarbeitern. Eine junge Schwesternschülerin, die den ersten Tag ihres vierwöchigen OP-Praktikums hatte, drückte sich ganz aufgeregt in einer Ecke herum. Sie würde die erste Gehirnoperation ihres Lebens sehen und war schon sehr interessiert. Der Springer erklärte ihr leise: „ Normalerweise hätte man jetzt auf Höhe des rechten Ohrs zwei Löcher gebohrt und den Bluterguss dadurch abgesaugt. Durch das rasche Fortschreiten der Symptomatik, nämlich der kompletten Halbseitenlähmung und des Unvermögens zu sprechen, ist es aber naheliegend, dass da schon eine stärkere Blutung vorliegt, die man lieber unter Sicht verschweißt.“
    Der Springer legte erst noch in Narkose einen neuen Blasenkatheter und auch ein zweiter dicker venöser Zugang wurde noch in Semirs Arm versenkt, damit man ihn mit ausreichend Flüssigkeit und Medikamenten versorgen konnte. Man fuhr eine relativ flache Narkose, da außer dem Schnitt an der Kopfschwarte und der Knochensägung die Schmerzen der Operation sich sehr in Grenzen hielten.
    Nun wurde sein Kopf flächig dreimal mit hellorangem Desinfektionsmittel chirurgisch desinfiziert, seine Augen hatte man mit Augensalbe versorgt und zugeklebt und dann deckten der Operateur und sein Assistent, die inzwischen mit sterilem Kittel und Handschuhen versorgt waren, den kompletten Patienten ab, so dass nur noch der blanke Schädel zu sehen war.
    Der Neurochirurg stellte sich das Licht mit sterilen Handgriffen ein und dann machte er einen großen, bogenförmigen Schnitt hinten am Haaransatz, der von einem Ohr zum anderen reichte. Der Assistent stillte mit einer bipolaren elektrischen Pinzette die Blutung aus den Hautgefässen und dann packte der Neurochirurg die Kopfschwarte und zog sie einfach nach vorne.


    Die Schwesternschülerin musste sich momentan erschauernd abwenden, so schlimm sah das aus, als sozusagen das Innere der Kopfhaut nach außen geklappt wurde. Auch die nun auftretenden Hautblutungen wurden gestillt, teils elektrisch und teils mit Ligaturen und Umstechungen, aber wenig später hatte der Neurochirurg schon die oszillierende Säge in der Hand, die eigentlich mehr aussah, wie eine kleine Flex. Ein schwingendes kreisrundes Sägeblatt wurde mit Druckluft über einen Schlauch betrieben, angesetzt und trennte einen Deckel des Schädelknochens von etwa 20 cm Durchmesser ab.
    Die Schwesternschülerin, die sich wieder gefangen hatte, sah fasziniert zu und fragte dann den Springer leise: „Besteht da nicht die Gefahr, dass man da mitten ins Gehirn sägt?“ aber der Pfleger erklärte ihr flüsternd: „Nein, denn durch diese Schwingungen stoppt die Maschine, sobald es weich wird. Die durchtrennt wirklich nur den Knochen. Dasselbe Prinzip wird auch für Gipsentfernungen verwendet und hat sich seit vielen Jahren bewährt!“ Die Schülerin nickte und sah zu, wie nun der Deckel an die OP-Schwester abgegeben wurde, die ihn sofort in kühle Nährlösung auf ihrem Instrumentiertisch einlegte. Man würde abwarten, ob man ihn gleich wieder brauchte, oder erst einige Tage später. Das würde der Befund zeigen, der nun vor den Augen der Operateure und der Zuschauer zu sehen war.

  • Auf der rechten Seite kam ihnen schon ein großes Blutgerinnsel entgegen, auch eine frische Blutung war zu sehen. Als der Bluterguss entfernt war, saugte der Assistent das ständig austretende Blut ab und der Operateur lokalisierte die Blutungsquelle. „ Die Arteria meningea media ist verletzt, daher die erhebliche Blutung!“ murmelte er. „Mir ist zwar immer noch nicht klar, warum das Intervall zwischen dem Unfall und der heutigen Symptomatik so lang ist, aber das wird vermutlich immer ein Rätsel bleiben!“ Zügig begann er die Arterie sauber zu unterbinden und alle kleineren Blutungen ebenfalls zu stoppen, was mit der bipolaren Pinzette elektrisch gut zu machen war. Nach wenigen Minuten war das OP-Feld sauber und kein neues Blut trat mehr aus.


    Die Schwesternschülerin konnte ihren Blick nicht von dem Gehirn abwenden, das nun ungeschützt mit seinen ganzen Furchen deutlich sichtbar vor ihnen lag. Allerdings war es von einer recht kräftigen hellgrauen Haut überzogen und der Pfleger erklärte ihr wieder: „ Das ist die Dura Mater, die harte Hirnhaut. Strenggenommen ist das, was du gerade siehst auch keine richtige Gehirnoperation, weil das Gehirn selber ja nicht eröffnet wird. Das ist bei der Diagnostik eine wichtige Unterscheidung. Der Patient hier hatte als Unfallfolge eine Epiduralblutung,also eine Blutung zwischen Schädelknochen und Hirnhaut. Es gibt aber auch noch die Möglichkeit einer Subarachnoidalblutung, das heißt, da läuft das Blut nach innen ins Gehirn, weil da die Gefäße der sogenannten Spinnenhaut betroffen sind. Ohne Behandlung kann beides tödlich enden, aber Herr Gerkan hat eine sehr gute Prognose, dass er das folgenlos überstehen kann, weil die schwere Symptomatik mit der Linksseitenlähmung erst ganz kurz vor der Operation aufgetreten ist.“


    Der Neurochirurg musterte das Gehirn, ob es sehr aufgequollen wirkte, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. „Wir setzen die Schädelkalotte wieder ein, verzichten auf eine Hirndruckmesssonde und legen zwei Redondrainagen mit intermittierendem Sog ein!“ bestimmte er und der Assistent und die instrumentierende Schwester nickten.
    Nun griff der Operateur zu einem feinen Bohrer und bohrte mehrere kleine Löchlein von innen nach außen in den Schädel und das Gegenstück in das entnommene Knochenstück. Der Assistent hielt dabei mit einem feuchten Tuch das Gehirn ganz vorsichtig zur Seite, um jegliche Verletzung oder Quetschung zu vermeiden. In die Höhle, in der der Bluterguss gesessen hatte, legte er zwei Redondrainagen ein, das waren relativ starre, dünne grüne Kunststoffdrainagen, die etwa 8cm weit an der Spitze lauter kleine Löchlein hatten. Die gelochte Seite kam innerhalb des Schädels und das ungelochte, etwa 20cm lange Stück wurde nach außen durch den Sägespalt geleitet. Nun fädelten der Assistent und der Operateur geschickt durch die Bohrlöcher kleine Drähte und zurrten damit das Knochenstück wieder fest. Die Enden wurden versäubert und knapp über der Knochenhaut abgeschnitten. „Die bleiben lebenslang drin und sind auch auf jedem Röntgenbild des Kopfes zu sehen!“ erklärte der Springer der Schülerin. Nun wurde die Kopfschwarte wieder zurückgestülpt und nachdem man die Redondrainagen auch da noch durchgespiesst hatte, mit feinen Nähten rundherum festgenäht. Zu guter Letzt wurden noch die Redonsaugdrainagen angeschlossen und kurz geprüft, ob man einen Sog aufbauen konnte, dann unterbrach man mit einem Kunststoffschieber am Schlauch wieder den Dauersog, denn der wäre an dieser Stelle nicht sinnvoll.


    Der Operateur nickte nun dem Anästhesisten zu, der schon beim Wundverschluss begonnen hatte, die Narkose herunterzufahren. Man desinfizierte noch die Wundränder, nahm die Abdecktücher weg und machte einen Kopfverband mit Stülpa, einem speziellem Baumwollschlauchgewebe. Als die Kompressen von Semirs Augen genommen wurden, begann er sich schon wieder zu regen. „Herr Gerkan, machen sie die Augen auf!“ befahl der Chirurg laut und wenig später öffnete Semir tatsächlich die Augen. Er sah verständnislos um sich, biss auf dem Tubus herum und wusste gar nicht, was los war. „Heben sie die rechte Hand!“ befahl der Chirurg und Semir, der inzwischen losgemacht worden war, befolgte die Anweisung. „Heben sie jetzt die linke Hand!“ kam der nächste Auftrag und auch der wurde von Semir unverzüglich umgesetzt. Ein Lächeln zog über das Gesicht des Neurochirurgen, der nacheinander nun noch beide Beine bewegen ließ. Mit einem Nicken wandte sich der Chirurg zum Anästhesisten und sagte: „Sie können ihn extubieren!“ und das wurde auch unverzüglich erledigt. Semir hustete noch ein paarmal, schloss aber dann erschöpft die Augen, um noch ein wenig zu schlafen.

  • Ben und Andrea hielten sich immer noch krampfhaft aneinander fest, als der Arzt mit dem Ultraschallgerät zur Tür hereinkam. „Würden sie bitte einen Moment draußen warten?“ bat er Andrea und die ließ Bens Hand los und ging vor die Zimmertür. Ben sah ihr einen Augenblick nach, aber dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Arzt, der inzwischen die Decke nach unten geschlagen hatte und das Hemd hochschob. Er erschauerte, als das kalte Sonographiegel auf seinem Oberbauch und der Nierenpartie verteilt wurde und als der Schallkopf dann auf seinen Leib gedrückt wurde, stöhnte er wieder auf. Verdammt, warum musste denn das gar so wehtun? Die Schwester war, fast unbemerkt, auch wieder ins Zimmer getreten und der Doktor bat sie, Ben doch einen Schmerzmittelbolus zu geben, was sie auch gleich erledigte. Es wurde zwar ein wenig leichter, aber angenehm war etwas anderes. Als er gründlich von vorne geschaut hatte, schallte ihn der Arzt noch von der Seite und ein wenig vom Rücken her. Dazu musste Ben sich ein wenig seitlich drehen und wieder stieß er schmerzvoll die Luft aus, weil es ihm so wehtat. Der Arzt sah mit ernstem Gesicht auf den Monitor, maß irgendwelche Flüssigkeitsausdehnungen mittels eines Programms im Sonographiegerät und besah sich genau den Inhalt der Drainagen.


    Als er das Gel abgeputzt hatte, betastete er noch vorsichtig und gründlich den gesamten Bauch und achtete sehr darauf, ob bei bestimmten Bewegungen mehr Blut in die Drainage lief. Zu guter Letzt desinfizierte er sich die Hände am Wandspender, wischte die Schallköpfe des Sonographiegeräts ebenfalls mit speziellen Desinfektionstüchern ab und sagte zu seinem Patienten: „Herr Jäger, ich bin momentan etwas unschlüssig. Fakt ist, dass in den Drainagen mehr Blut und Spülflüssigkeit ist, als ich gerne sehen würde. Auch unterhalb des Rippenbogens ist freie Flüssigkeit, von der ich nicht genau sagen kann, was es ist. Ich werde mich nochmals mit meinem Hintergrund besprechen, was wir weiter unternehmen sollen, aber bitte bleiben sie um Himmels willen jetzt ganz ruhig liegen. Die Schwester wird engmaschig ihr Hb kontrollieren und wenn sich da noch etwas nach unten bewegt, müssen wir irgendwie reagieren!“
    Damit verließ er das Zimmer und griff draußen zum Telefon. Ben hatte ihn eigentlich nach Semir fragen wollen, war aber jetzt selber zu geschockt und verwirrt, als dass er so schnell hätte reagieren können.


    Als Andrea wenig später wieder an seinem Bett saß und nach seiner Hand griff, sagte sie sanft. „Bleib einfach ganz ruhig liegen, Ben! Ich habe unfreiwillig durch die halboffene Tür mitgekriegt, was der Doktor gesagt hat. Mach dir bitte keine Gedanken und entspann dich ein wenig, es wird schon alles gut werden!“ Ben sah sie mit angstvollem Blick an: „Meinst du?“ fragte er matt und Andrea strich ihm mit einem aufmunterndem Lächeln eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. Der Schweiß, den sie fühlte war kalt und zum zweiten Mal innerhalb der letzten halben Stunde griff eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen.

  • Der Stationsarzt hatte sich inzwischen mit seinem Hintergrund abgesprochen und verständigte den Chirurgen, der Ben operiert hatte. Der war im Moment zwar im OP, versprach aber, sobald er die Operation beendet hatte, nach seinem Patienten zu sehen.


    Die Schwester kam nochmals mit ein paar Blutröhrchen und lächelte ihm aufmunternd zu, während sie die Blutproben aus dem arteriellen Zugang abzog, wovon Ben überhaupt nichts spürte. Sein Blutdruck war augenblicklich wieder im Sinken begriffen und nachdem auch im Urinbeutel in der letzten Stunde kaum etwas gelaufen war, schaltete die Schwester nach kurzer Überlegung das Noradrenalin wieder ein. Ben war ganz komisch zumute, ihm war schwindlig und er fühlte sich völlig kraftlos. Trotzdem fragte er die Schwester: „Haben sie schon etwas von Herrn Gerkan gehört?“ aber die Pflegerin schüttelte nur den Kopf.


    Besorgt musterte ihn Andrea und als er die Augen schloss, weil er hoffte, dass dann der Schwindel besser werden würde, entgleisten Andrea momentan die Gesichtszüge, weil er sie nun ja nicht ansah und sie deshalb gerade nicht schauspielern musste, und es war zu erkennen, dass sie vor Kummer und Sorge um Mann und Freund fast wahnsinnig wurde. Die Schwester, die das Mienenspiel gesehen und richtig gedeutet hatte, sagte: „Ich rufe mal im neurochirurgischen OP an, ob die schon was Näheres wissen und sage ihnen dann Bescheid. Tut mir leid, wenn ich sie vorher beunruhigt habe, aber leider habe ich ihnen nur gesagt, was Sache ist!“ Andrea wandte ihr den Blick zu, während die Schwester ihr gebrauchtes Material entsorgte und mit ihren Röhrchen Richtung Ausgang strebte. „Sie können ja auch nichts dafür und wir können an der Situation ebenfalls nichts ändern, drücken sie einfach mit uns die Daumen, dass alles gut wird!“ sagte sie. „Das mach ich!“ sagte die Schwester und trug ihre Röhrchen zur Rohrpost, um sie so schnellstmöglich ins Labor zu befördern.


    Danach griff sie zum Telefon und erfuhr von der Anästhesieschwester des Neurosaals, dass Semir gerade entdeckelt war und die Blutstillung vorgenommen wurde. Auch dass er auf der Fahrt zum OP eine komplette Hemiparese und eine Aphasie gehabt hatte, erfuhr die Schwester auf diesem Weg und beschloss, dass sie dieses Wissen für sich behalten würde, denn die arme Frau und auch der Freund, der selber kaum besser dran war, konnten solche Nachrichten jetzt als Allerletztes brauchen.
    Der Chirurg hatte seine Operation inzwischen beendet und sah nun nach seinem Patienten. Wieder wurde Andrea gebeten, draußen zu warten und der Arzt in seiner grünen verschwitzten OP-Kluft trat ohne Umschweife an Bens Bett und wiederholte im Prinzip dieselben Untersuchungen wie vorher sein Kollege. Auch das Ultraschallgerät ließ er sich bringen und wieder wurde Ben von allen Seiten unter Schmerzen geschallt. Trotz einem erneuten Schmerzmittelbolus musste Ben wieder laut aufstöhnen und auch der Chirurg entdeckte die freie Flüssigkeit. Inzwischen war ein Teil der Laborbefunde auf dem PC abrufbar, allerdings war das Hb nicht maßgeblich gefallen.


    Der Arzt überlegte kurz. „Herr Jäger, ich bin zwar nicht ganz zufrieden mit dem Befund, allerdings ist er jetzt auch nicht so dramatisch, dass ich der Überzeugung bin, ich müsste sie sofort aufmachen und die Milz doch entnehmen. Ich kann ihnen natürlich nicht versprechen, dass das nicht plötzlich notwendig werden könnte, aber im Augenblick werden wir uns darauf beschränken, das engmaschig zu kontrollieren.“ Zum Stationsarzt, der auch wieder ins Zimmer gekommen war sagte er: „Wie wäre es, wenn wir ihm ein paar Gefrierplasmen und Hämostyptika, also blutstillende Medikamente, geben würden? Falls es eine diffuse Blutung ist, können wir die so vielleicht stoppen und das Organ doch erhalten, wo wir uns doch jetzt schon so viel Mühe damit gemacht haben. Falls es natürlich zu einer stärkeren Blutung, oder einem fulminanten Hb-Abfall kommt, müssen wir reagieren, das ist klar, aber im Moment denke ich, ich kann es verantworten, zuzuwarten!“
    Der Stationsarzt, der froh war, dass ein anderer Arzt die Verantwortung mit ihm teilte nickte zu dem Vorschlag und gab der Schwester gleich mehrere Anordnungen, was sie vorbereiten und wie viele FFP´s sie auftauen sollte.


    Als die Ärzte das Zimmer wieder verlassen hatten, machte die Schwester doch gleich noch Bens Rücken ein wenig frisch, legte ihm eine zusammengerollte Decke unter die Seite, wegen der Lungenbelüftung und machte seinen Mund mit einem Mundpflegestäbchen feucht.
    Als Andrea wenig später wieder hereindurfte, lag Ben ganz ruhig ein wenig auf der Seite und schien zu schlafen.

  • Voll banger Sorge setzte sich Andrea auf den Stuhl und sah gedankenverloren auf Semirs leeren Bettplatz. Wie es ihm wohl gerade ging? Hoffentlich konnte man ihm bei der Operation helfen! Ein zweites Mal innerhalb weniger Tage durchlebte sie dieselben Sorgen und Ängste. Was wäre, wenn er sterben würde, wenn er nie mehr ganz aufwachen würde, sondern als Wachkomapatient ein Pflegefall bleiben würde. Leider hatte sie in den vergangenen Tagen im Internet viel zu viel darüber gelesen und die schrecklichsten Geschichten waren ihr natürlich am Allermeisten im Gedächtnis geblieben. Manchmal war zu viel Information gar nicht allzu gut. Sie hatte Ben da eigentlich beneidet, denn obwohl er häufig nach Semir geschaut hatte, hatte er doch weiterermittelt und sich so abgelenkt, während sie Stunde für Stunde am Bett ihres bewusstlosen Mannes gesessen hatte und ihm von zuhause erzählt hatte, ihm Lieder, die er mochte, vorgespielt hatte und ihn an ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre große Liebe erinnert hatte.


    Erst war er beatmet gewesen, aber als seine Schutzreflexe funktioniert hatten, hatten ihn die Ärzte zügig extubiert und sie ermuntert, viel bei ihm zu sein und mit ihm zu sprechen, was sie selbstverständlich gemacht hatte. Sie war eigentlich nur zum Schlafen nach Hause gegangen, wo ihre Mutter zuverlässig und liebevoll die Kinder versorgt hatte. Aydas und Lillys Fragen, wo denn der Papa wäre und ob sie ihn nicht besuchen dürften, hatten ihr jedes Mal einen Stich versetzt, aber die Ärzte hatten ihr davon abgeraten, die Kinder einem dermaßen großen Stress, den sie einfach noch nicht verarbeiten konnten, auszusetzen.
    „Eigentlich ist es aus hygienischen Gründen und vor allem zum Schutz der Kinder vor den üblen Keimen, die auf jeder Intensivstation vorkommen, sowieso nicht gestattet, kleine Kinder mitzubringen. Allerdings gibt es immer Ausnahmeregelungen, aber wir würden ihnen raten, das genau zu überdenken!“ hatte ihr eine Schwester erklärt, die sich sehr liebevoll um Semir und auch um sie gekümmert hatte. Immer wieder hatte sie ihr ein Wasser, oder einen Kaffee gebracht und sie manchmal regelrecht gezwungen, ein wenig in die Cafeteria zu gehen und sich zu stärken, damit sie nicht die Nächste war, die umkippte.
    Wie groß war die Freude gewesen, als Semir endlich die Augen aufgeschlagen hatte und sie erkannt hatte. Er hatte wissen wollen, wie lange er geschlafen hatte und hatte völlig normal geschienen. Er hatte von ihr wissen wollen, wie er hierhergekommen war und sie hatte ihm die Wahrheit erzählt, soweit sie ihr bekannt war. Alles Weitere musste Ben übernehmen, der ja als Beifahrer am nächsten dabei gewesen war. Dazu war es aber anscheinend gar nicht mehr gekommen, bevor nun auch er an den Unfallfolgen beinahe gestorben wäre.


    Als vor Verzweiflung ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln flossen, spürte sie plötzlich eine Berührung an ihrer Hand, mit der sie ihre Tasche fest umklammert hatte, während sie ihren Gedanken nachgehangen war. „Hörst du, Andrea, es wird alles gut werden, ich weiß es!“ sagte Ben mit leiser Stimme, der sie anscheinend schon eine ganze Weile beobachtet hatte. „Semir ist ein Kämpfer und er wird das, was er schon einmal geschafft hat, nämlich aus dem Koma aufzuwachen, auch ein zweites Mal schaffen! Mach dir um mich auch gar keine Sorgen, du hast doch die Ärzte gehört, es ist alles halb so schlimm und Unkraut vergeht nicht so schnell!“ setzte er noch nach und quälte sich ein schiefes Grinsen ab, um seine Freundin aufzumuntern.


    Sie hatte gerade ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ben gerichtet, da fuhr auf einmal ein Bett um die Kurve und darin lag halbsitzend ein wacher Semir, der sie mit klarem Blick ansah. Andrea sprang auf und vor Erleichterung fiel ihr ein Stein vom Herzen. „Schatz, wie geht’s dir?“ wollte sie wissen und stellte fest, dass er außer einem Kopfverband und zwei Drainagen, die neben seinem Ohr herausführten in keinster Weise auffällig aussah. Semir öffnete den Mund und versuchte etwas zu sagen, aber außer ein paar unartikulierten Lauten kam nichts heraus, was einen Sinn ergab.

  • Entsetzt und hilflos starrten Andrea und Ben ihn an. Während die Schwester Semir wieder stationär verkabelte, hatte Andrea seine Hand ergriffen. „Schatz, hast du Schmerzen?“ fragte sie ihn sanft. Sie musste jetzt stark sein, stark für Semir-hatte sie beschlossen. Er sah sie verwirrt an und schüttelte dann den Kopf. „Oh bitte noch nicht, Herr Gerkan, bitte bleiben sie einfach achsengerecht mit erhöhtem Oberkörper liegen. Keine Verdrehungen, so kann die Schwellung besser abklingen!“ erklärte die Schwester. Semir wollte gerade nicken, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, aber dann fiel ihm ein, dass das wohl auch nicht gut war. Er hob deshalb den Daumen, zum Zeichen, dass er verstanden hatte
    .
    Er war gerade erst dabei, so richtig aus der Narkose zu erwachen und hatte die Fahrt zur Intensiv nur im Halbschlaf mitgekriegt. Als er aber Andrea und Ben gesehen hatte, war er vollständig wach geworden und hatte versucht, etwas zu sagen. Menschenskinder, in seinem Kopf waren die klaren Gedanken, er hatte die Worte sozusagen auf der Zunge, aber als er abermals versuchte zu sprechen, verließen wieder unverständliche Laute seinen Mund. Vor Verzweiflung stiegen ihm die Tränen in die Augen, aber Andrea küsste ihn sanft. „Semir, alles wird gut werden, hörst du!“ sagte sie und er hob wieder den Daumen. Andrea wischte mit einem Taschentuch die Tränenspur weg und die Schwester machte an den beiden Redondrainagen genau für 30 Sekunden den Schieber auf. Ein wenig blutiges Wundsekret rauschte in die Plastikflaschen und dann wurde der Sog schon wieder weggenommen. „Wir machen das jetzt die nächsten Stunden alle 30 Minuten, dass wir das Wundsekret so absaugen, dann kann die Schwellung schön abklingen und heute Nachmittag schaut dann auch unsere Logopädin gleich bei ihnen vorbei, das kriegen wir schon wieder hin!“ sagte die Schwester tröstend. „ Der Neurologe kommt dann auch noch und spricht mit ihnen, jetzt ruhen sie sich einfach noch ein wenig aus, Herr Gerkan“ sagte die Schwester und verließ mit den Unterlagen das Zimmer.


    Ben, der wie erstarrt seinen Freund angesehen hatte und deswegen ganz verkrampft dagelegen hatte, versuchte sich ein wenig zu drehen und schon entfuhr ihm ein lautes Stöhnen, so dass Semir und Andrea gleich erschrocken zu ihm herüberblickten. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, denn Semir sah so mitleidig herüber, dass er gar nichts zu sagen brauchte-Ben hatte es auch so verstanden. Er hob abwehrend die Hand. „Alles halb so schlimm!“ behauptete er dann und versuchte seine Gesichtszüge zu kontrollieren, damit Semir sich nicht aufregte. Wenn er ehrlich war, hätte er lieber laut geschrien, aber er würde sich jetzt einfach nicht so anstellen, wichtig war, dass sein Freund wieder gesund wurde!


    Es dauerte nicht lange und ein ihnen bisher unbekannter Arzt kam zu Semir und stellte sich als diensthabender Neurologe vor. „Ich wurde von der Schwester verständigt, dass sie Schwierigkeiten haben, sich zu artikulieren, Herr Gerkan. Würden sie bitte mal versuchen, mir auf diese Frage zu antworten?“ Er beobachtete Semir dabei, wie er mühsam versuchte einige Worte zu formen, aber das Ergebnis war sehr unbefriedigend. Manchmal dachte man, etwas verstehen zu können, aber etwas Genaues war es jedenfalls nicht. So sehr Semir sich auch mühte, es war unverständlich, was aus seinem Mund kam. Der Arzt nahm nun eine komplette neurologische Untersuchung bei Semir vor. Er prüfte die Beweglichkeit der Extremitäten, die Kraft, die Reflexe, sah in die Augen und machte mit Semir dann eine Art Zeichensprache aus. Nun stellte er mehrere einfach zu beantwortende Fragen, die der mittels Gestik beantworten konnte und sagte dann: „Herr Gerkan, ich sehe das nicht so dramatisch. Vermutlich liegt durch die Hirnschwellung und die Manipulation, evtl. auch durch den Primärunfall eine Versorgungsstörung im Sprachzentrum vor. Alle anderen Funktionen sind sehr gut. Ein wenig hängt der rechte Mundwinkel, aber das ist sicher auch reversibel.“ Andrea sah ganz erschrocken genau hin-gut, wenn er es sagte, dann konnte man wirklich eine kleine Asymmetrie erkennen.
    „Sie bekommen jetzt noch hochdosiert Cortison, das ist auch noch gut gegen die Schwellung. Für morgen planen wir dann ein MRT und bitte versuchen sie immer wieder, etwas zu sagen, auch wenn es ihnen dumm vorkommt. Übung macht den Meister und unsere Logopädin wird sie auch nachher gleich noch behandeln. Sie können mich gut verstehen und auch Aufforderungen gut umsetzen, darum hoffe ich, dass diese Beeinträchtigung völlig weggehen wird. In Anbetracht des doch recht ausgedehnten Befundes, wie ich aus den Akten und dem Bericht des Neurochirurgen entnommen habe, können wir froh sein, dass das die einzige Störung ist. Immerhin ist die Hemiparese völlig weg und so hoffen wir jetzt einfach das Beste!“ sagte der Neurologe noch, bevor er sich mit einem Händedruck von Semir und Andrea verabschiedete.


    Die Schwester kam in diesem Moment auch schon wieder mit einer ganzen Batterie an Spritzen und Infusionsfläschchen herein, die sie auf Bens Nachttisch abstellte. Sie spritzte ihm nacheinander mehrere Medikamente in den ZVK und hängte dann das erste Fläschchen mit einer Kurzinfusion an. Als sie seinen gequälten Gesichtsausdruck sah, fragte sie ihn: „Herr Jäger, haben sie wieder Schmerzen?“ und Ben nickte stumm mit dem Kopf. Er bekam erneut einen Piritramidbolus und ein wenig leichter wurde es. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, während die Schwester ihre Hände am Wandspender desinfizierte und sich nun Semir zuwandte. Die halbe Stunde war schon um und deshalb öffnete sie wieder für 30 Sekunden die Schiebeklemmen und ließ Wundsekret ablaufen.
    „Der Stationsarzt kommt auch gleich noch zu ihnen beiden!“ kündigte die Schwester an und ließ ihre Patienten wieder alleine.


    Andrea setzte sich auf den Stuhl zwischen ihre beiden Sorgenkinder und musterte nacheinander die beiden Männer, die nun die Augen geschlossen hatten. Dass der Unfall dermaßen schlimme Folgen haben würde, hatte sie auch nicht gedacht. Trotz alledem ein wenig beruhigt-immerhin hatte sie die beiden um sich-, lehnte sie sich zurück und wartete, was weiter passieren würde.

  • Wenig später kam der Stationsarzt zu ihnen und fragte erst Semir: „Herr Gerkan, wie fühlen sie sich?“ Semir versuchte tapfer zu antworten und von der Wortmelodie her, meinte man erkennen zu können, dass es: „ Ganz gut!“ bedeuten sollte. „Das freut mich!“ sagte der Arzt und holte eine große abwischbare weiße Tafel und einen schwarzen abwaschbaren Filzstift hervor, die er hinter seinem Rücken verborgen hatte. Er reichte sie Semir, fuhr ihm das Nachtkästchen her und gab ihm den Stift in die Hand. Semir begann sofort zügig zu schreiben, glücklich beobachtet von Andrea und dem Arzt. Als er aufhörte, traten die beiden näher, um zu lesen, was er geschrieben hatte. Es war deutlich leserlich und auf der Tafel stand: „Mir geht’s gut, aber was ist mit Ben?“ und nun wandten beide ihren Blick zu dem jungen Polizisten.


    Der lag zwar immer noch mit geschlossenen Augen im Bett, aber über der Nasenwurzel zeichnete sich eine deutliche Schmerzfalte ab und als sie genauer hinsahen, bemerkten sie, dass er vor Schmerzen die Hände zu Fäusten geballt hatte. Ganz erschrocken trat Andrea zu ihm und fragte: „Ben, was ist mit dir?“, aber er schüttelte den Kopf und versuchte seine Gesichtszüge zu kontrollieren. Verdammt, warum konnte er nur nicht besser schauspielern. In seinen Eingeweiden rumorte es zwar, als wenn jemand mit einem Messer hineinstechen und das munter drehen würde, aber es ging jetzt um Semir, der musste schnellstmöglich wieder gesund werden und sprechen können, dagegen war er unwichtig. Semir hatte Familie und wenn er mit seinem blöden Freundesgequatsche wegen Jan diesen Unfall schon zu verantworten hatte, dann konnte er ruhig dafür büßen. Es würde schon irgendwann besser werden mit seinen Schmerzen, das war doch so nach Operationen. Der erste Tag war immer blöd, aber dann ging es irgendwann steil aufwärts!
    Er versuchte auch zu verdrängen, dass es ihm heute Morgen wesentlich besser gegangen war und die Schmerzen trotz Medikamenten immer zuzunehmen schienen. Semir beobachtet besorgt und gespannt, was wohl mit seinem Freund los war. Sogar aus den Augenwinkeln hatte er erkannt, dass mit Ben irgendwas überhaupt nicht in Ordnung war. Er wagte es zwar nicht den Kopf zu drehen, aber er musste jetzt irgendwas Aufmunterndes zu seinem Freund sagen. Er öffnete den Mund und dachte nur: sei´s drum und sagte dann „Kopf hoch, Ben!“ und es hörte sich sogar ungefähr so an, wie er sich das vorgestellt hatte.


    Andrea und der Arzt drehten sich nun wieder überrascht zu Semir, der ganz zufrieden mit seiner Leistung war. Es war zwar nicht völlig deutlich gewesen, aber man konnte durchaus erahnen, was es heißen sollte. „Schatz, das wird ja immer besser!“ sagte Andrea überwältigt zu ihrem Mann, aber der wies nur mit einer gebieterischen Geste zu seinem Freund.
    Der Arzt schob wieder das Hemd hoch und die Decke nach unten und schaute erst, was in den Drainagen war. Das war im Gegensatz zu vorhin nicht mehr geworden, als er allerdings nur leicht an Bens Bauch kam, schrie der schon laut auf. Er wollte es nicht, aber es war ihm nicht möglich, sich bei dieser Qualität an Schmerzen zurückzuhalten. Andrea wurde wieder auf den Flur geschickt, das Ultraschallgerät kam zum Einsatz und sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, so laut hallte Bens Jammern durch die halboffene Schiebetür.


    Die Schwester hatte Ben einen Piritramidbolus gegeben und als er bei der Berührung des Schallkopfs immer noch laut jammerte, gleich noch einen hinterdrein. Ihm war zwar jetzt ganz komisch im Kopf und er konnte sich nur noch schlecht orientieren, aber die Schmerzen waren nur unwesentlich besser. Das Ultraschallbild zeigte zu vorhin eigentlich kaum Veränderungen und der Arzt war relativ ratlos, was seinen Patienten denn so peinigte. Gerade wollte er die psychische Komponente in Erwägung ziehen und Ben ein Beruhigungsmittel verabreichen, da steckte ein Pfleger den Kopf zur Tür herein. „Das Labor hat angerufen, schaut euch bitte mal am Schirm die aktuellen Werte an, dann wundert euch nichts mehr!“ sagte er und der Arzt wischte noch das Ultraschallgel ab und schob das Hemd wieder nach unten, während Ben nun vor Schmerz und Stress heftig zu zittern begonnen hatte.


    Nachdem er die Hände desinfiziert hatte, rief der Arzt am Bildschirm neben Bens Bett die Laborwerte auf. Gebannt starrten er und die Schwester auf die Werte, die nun nach und nach dort erschienen. Ihre Gesichtszüge wurden sehr ernst, wie Semir angstvoll bemerkte. Ben hatte die Augen geschlossen und bei jedem Ausatmen kam ein kleiner Schmerzenslaut über seine Lippen. Nachdem die beiden Fachleute die Befunde gesehen hatten, trafen sich ihre Blicke und der Arzt sagte zu Ben: „Wir wissen jetzt, warum sie so starke Schmerzen haben, Herr Jäger!“

  • Ben öffnete die Augen wieder einen kleinen Spalt und wollte nun mit schwacher Stimme wissen: „Warum denn?“ Auch Semir lauschte gespannt auf die Eröffnung des Arztes. „Herr Jäger, laut den Laborbefunden haben sie eine hochakute Pankreatitis, das ist eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Die Bauchspeicheldrüse liegt im Oberbauch und hat normalerweise die Aufgabe Verdauungsenzyme zu bilden und über die Vater´sche Papille in den Dünndarm abzugeben. Manchmal geschieht es nach Unfällen wie bei ihnen, weitaus häufiger nach Alkoholkonsum, oder nach endoskopischen Eingriffen an der Galle, dass plötzlich eine Autolyse beginnt. Das bedeutet, dass sich die Verdauungssäfte anstauen und das Organ beginnt, sich sozusagen selber zu verdauen. Das macht diese starken Schmerzen, die alleine schon zum Schock führen können. Leider bleiben solche Entzündungen meistens nicht auf das Organ selber beschränkt, sondern das Gewebe rund um die Bauchspeicheldrüse wird oft ebenfalls angedaut. Wenn ich raten darf, haben sie das Gefühl, es würde sie jemand gerade mit dem Messer bearbeiten-habe ich Recht?“ fragte er und Ben nickte stumm.


    Nun mischte sich Semir ein, der momentan völlig vergessen hatte, dass er ja Sprachprobleme hatte. Neugierig fragte er: „Und was kann man da machen?“ Der Arzt und die Schwester, sowie Ben, drehten den Kopf zu ihm-es hatte sich ungefähr so angehört wie: Uasannana machen? aber der Tonfall und die Wortmelodie stimmten, so dass der Arzt einfach Semirs doch verständliche Frage beantwortete.
    „Ehrlich gesagt nicht viel. Wir werden zwar versuchen herauszufinden, ob es zu einer Abflußstauung des Pankreasgangs gekommen ist und die wenn möglich beseitigen, aber leider spricht die Entzündung selbst weder auf Antibiotika, noch auf andere Maßnahmen an. Das muss der Körper selber in Griff kriegen. Wir werden versuchen, die Schmerzen erträglich zu machen, dem Volumenmangel entgegenwirken und alle Werte möglichst im physiologischen Rahmen zu halten. Sonst können wir nur hoffen und beten, dass das bald besser wird!“


    Sowohl dem Arzt, als auch der Schwester kamen Bilder von vielen, teils jungen Menschen in den Sinn, die diesen Kampf gegen eine akute, nekrotisierende Pankreatitis verloren hatten-meist nach langem Leidensweg, immer zwischen Hoffen und Bangen. Es war nicht schön, was ihrem Patienten bevorstand.


    „Herr Jäger, wir haben jetzt einen Vorteil-weil wir wissen, was die Schmerzursache ist, geben wir ihnen ein spezielles sehr altes Medikament-Pethidin, besser bekannt unter dem Namen Dolantin. Es hat eine starke analgetische Wirkung und im Gegensatz zu Piritramid entspannt es diesen Ringmuskel, der am gemeinsamen Einfluss von Gallengang und Pankreasgang in den Dünndarm liegt. So wird es erleichtert, dass die Verdauungssäfte in den Zwölffingerdarm ablaufen können und nicht im Pankreas selber noch mehr Schaden anrichten. Zusätzlich bekommen sie noch zwei andere peripher wirksame Schmerzmittel in regelmäßigen Abständen, nämlich Metamizol und Paracetamol. So hoffen wir, diese sicher außerordentlich schmerzhafte Erkrankung für sie erträglich zu machen.


    Andrea, die wieder vor der Türe gewartet hatte, aber diesmal nichts mitbekommen hatte, weil die Schwester hinter ihr nachdrücklich die Schiebetür geschlossen hatte, war schon ganz aufgeregt, was denn nun los sei. Kurz darauf öffnete sich die Tür und die Schwester fuhr das Ultraschallgerät heraus und machte sich gleich auf den Weg, die verlangten Schmerzmittel zu holen. Der Arzt hängte inzwischen noch das erste, inzwischen aufgetaute Gefrierplasma an. „Herr Jäger, das ist menschliches Plasma, in dem viele Gerinnungsfaktoren enthalten sind. Man weiß aber, dass es vom Körper nicht in dem Maße wie die Erythrozytenkonzentrate erkannt wird, also ist es keine so große Herausforderung an ihre Immunabwehr, die sowieso gerade mit der Pankreatitis zu kämpfen hat. Gleich wird die Schwester mit den Schmerzmitteln kommen und dann wird es auch leichter für sie!“ erklärte er mitleidig und musterte die schmerzverzerrten Gesichtszüge seines Patienten.


    Sollten die mit ihm machen, was sie wollten, wenn nur diese schrecklichen Schmerzen aufhörten. Ben hatte zwar zugehört, aber nur die Hälfte mitgekriegt von dem, was der Arzt gesagt hatte. Aber Semir würde schon aufgepasst haben. Während der Arzt auch gleich noch eine der Infusionen, die Vollelektrolytlösung, sehr schnell stellte, kam endlich die Schwester mit den verlangten Medikamenten. Der Piritramidperfusor wurde gegen einen mit Pethidin getauscht und gleich rauschte der erste Bolus in Bens Venen. Als es nur unmerklich leichter wurde, machte man so lange weiter, bis er einen gewissen Wirkspiegel im Blut erreicht hatte und sich endlich getraute, wieder durchzuatmen. Während auch die Kurzinfusion mit Paracetamol zügig einlief, lösten sich endlich Bens zu Fäusten geballte Hände und die Schwester sah, dass er sich sogar mit den Nägeln in den Handflächen Verletzungen zugefügt hatte, die leicht zu bluten begannen. Kopfschüttelnd verband sie die und nun ließen der Arzt und sie einen sichtlich geplätteten Ben zurück, der endlich wieder an etwas anderes, als diesen Vernichtungsschmerz in seinem Bauch denken konnte.


    Andrea wurde wieder hereingebeten, aber als sie den Arzt fragte: „Und, was hat er?“ schüttelte der abwehrend den Kopf und wies auf seine Schweigepflicht hin. Ben war nicht in der Verfassung, irgendwelche Erklärungen abzugeben und so setzte Andrea sich wieder an Semirs Bett, der sie mit wachen Augen musterte. Die Schwester kam kurz nochmal, wechselte eine der Kurzinfusionen bei Ben, als der Infusomat alarmierte und öffnete danach nochmals für 30 Sekunden Semirs Drainagen. Sie kontrollierte auch noch seine Pupillen mit einer Taschenlampe, ließ ihn alle vier Extremitäten bewegen und gab ihre Ergebnisse auch gleich in den PC an der durchsichtigen Silikontastatur neben dem Bett ein. Auch Semir bekam noch 8mg Cortison gespritzt, um die Hirnschwellung abzumildern, seine Sauerstoffsonde wurde zurechtgerückt und nun blieb Andrea mal wieder mit ihren beiden kranken Männern alleine zurück. Nun gut, irgendwann würde sie schon erfahren, was jetzt genau mit Ben los war, aber momentan schien es ihm besser zu gehen, denn er lag nun eigentlich recht entspannt auf dem Rücken und schien zu schlafen.
    Auch Andrea konnte sich nun etwas entspannen und betrachtete liebevoll ihren Mann, der ebenfalls gerade ein kleines Nickerchen machte.

  • Wenig später fuhr Ben plötzlich hoch und begann fürchterlich zu würgen. Obwohl er ja immer noch die Magensonde hatte, war ihm auf einmal furchtbar schlecht. Andrea drückte alarmiert auf den Klingelknopf, denn er verzog dazu noch das Gesicht, weil diese Attacke ihm im Bauch wieder sehr weh tat. In die Magensonde entleerte sich massenhaft grünliches Dünndarmsekret und auch nebendran vorbei bahnte sich noch eine Menge Sekret seinen Weg.
    Andrea sah sich suchend um, konnte aber keine Schale entdecken, die sie Ben vorhalten konnte und so beschmutzte er sich mit Erbrochenem, ohne dass irgendjemand etwas dafürkonnte. Auch Semir sah ganz entsetzt zu seinem Freund hinüber und wurde ganz grün im Gesicht.


    Als die Schwester kam, war die Attacke vorbei und Ben lag mit beiden Händen auf den Bauch gepresst da und schämte sich. „Ist nicht schlimm, Herr Jäger!“ tröstete ihn die Pflegekraft, bei der er sich stammelnd versuchte zu entschuldigen. „ Das ist auch ein Symptom der Pankreatitis, diese Übelkeit und die fehlerhafte Peristaltik, die die Verdauungssäfte in die verkehrte Richtung befördert. Ich mache sie jetzt sauber und dann geht’s schon wieder!“ kündigte sie an und holte gleich eine Waschschüssel. Sie tat einige Tropfen wohlriechendes Aromaöl und Kondensmilch als Emulgator in die Edelstahlschüssel zum warmen Wasser, zog sich eine Plastikschürze und Handschuhe an und begann, nachdem sie Andrea vor die Tür geschickt hatte, ihren Patienten herunterzuwaschen. Die beschmutze Wäsche entsorgte sie im Abwurf und bezog auch das Bettzeug frisch. Sie ließ Ben dann noch den Mund mit Mundwasser ausspülen und lüftete nach getaner Arbeit das Zimmer. Auch der Arzt kam wieder vorbei, um das nächste Gefrierplasma anzuhängen und bei der Gelegenheit öffnete die Schwester, nachdem sie die Hände gründlich desinfiziert und gewaschen hatte, gleich wieder die beiden Drainageschieber an Semirs Kopf. Erneut entleerte sich auch bei ihm ein wenig blutiges Wundsekret und er merkte gleich, dass die Kopfschmerzen, die gerade begonnen hatten, ihn zu plagen, ein wenig leichter wurden.
    Die Schwester, die ihn aufmerksam beobachtet hatte, fragte Semir: „Brauchen sie auch ein wenig Schmerzmittel?“ und er deutete zögernd ein Nicken an. Es war zwar nicht schlimm, aber irgendwie zog seine ganze Kopfhaut und am Haaransatz entlang, wo er deutlich die Nähte spürte, ziepte es ganz ordentlich.
    Auch Semir bekam also eine Kurzinfusion mit Metamizol und als Andrea endlich wieder ins Zimmer durfte, ging es den beiden Pechvögeln gerade den Umständen entsprechend besser. Das Zimmer roch wieder einigermaßen gut, nach einer Mischung aus Lavendel und Bergamotteöl und Andrea setzte sich auf ihren Stuhl und überlegte, ob sie ihrer Mutter irgendwie Bescheid geben sollte. Die hatte ja ihren überstürzten Aufbruch nach dem Anruf des Krankenhauses mitbekommen und war sicher auch in großer Sorge.


    Auf einmal waren draußen Stimmen zu hören und wenig später standen Konrad und Julia im Zimmer. Sie begrüßten Ben und natürlich auch Andrea und Semir. Julia verzog allerdings ein wenig das Gesicht, denn auch wenn man versucht hatte, es zu übertünchen, so lag doch immer noch der Geruch nach Erbrochenem leicht im Raum und so blieben die beiden auch nicht lange, weil Julias empfindlicher Magen bald begann zu protestieren.
    Konrad hatte noch wissen wollen, was Ben jetzt eigentlich fehlte, denn seine Gesichtsfarbe hob sich nicht sonderlich von dem weißen Kissen ab und die Batterie an Infusionen, Schläuchen und Kabeln sah durchaus beeindruckend aus. Ben erklärte nur in Kurzform, denn er war momentan fix und fertig, so hatte ihn erst das Gekotze und später die Waschung angestrengt: „Erst haben sie meine Milz geflickt und jetzt habe ich dazu noch eine Bauchspeicheldrüsenentzündung!“ sagte er und Konrad nickte ein wenig ratlos-das musste er zu Hause erst mal im Internet recherchieren, was genau das war und wie sich sowas äußerte. Auf Julias bittenden Blick hin, verließ er dann aber zügig das Zimmer, nachdem sich die beiden hastig verabschiedet hatten und ehrlich gesagt waren alle Anwesenden, Ben eingeschlossen, froh darüber. Er schloss wieder die Augen und dämmerte vor sich hin, bis sich der nächste Besuch mit einem Klopfen an der Tür ankündigte.

  • Als Semir, Andrea und Ben ihren Blick zur Tür wandten, kam gerade Frau Krüger vorsichtig herein. „Hey, das finde ich toll, dass man sie zusammengelegt hat!“ sagte sie herzlich und sowohl Semir als auch Ben zeigten ihre Zustimmung.
    „Herr Gerkan, wie geht’s ihnen denn?“ wollte sie nun zunächst wissen, aber Semir schwieg beharrlich. Es war etwas anderes, vor medizinischem Personal und seinen nächsten Vertrauten Sprachübungen zu machen, als vor seiner Chefin, zu der sein Verhältnis ja nicht immer ungetrübt war. Andrea sprang nach einem kurzen Moment des Schweigens in die Bresche. „Es tut uns leid, Semir würde ihnen sicher gerne antworten, aber er hatte vor ein paar Stunden erst eine Gehirnoperation und ist noch nicht so ganz fit!“ erklärte sie bewusst drastisch, so dass Kim sie völlig entsetzt ansah. „Um Himmels Willen, das ist ja schrecklich-und noch dazu so plötzlich!“ bedauerte sie. Semir hatte erst versucht wütende Blitze mit den Augen zu seiner Frau zu schicken-verdammt, das konnte ihn seinen Job kosten- aber er war dann doch von der menschlichen Reaktion der Chefin überrascht. Sie trat dann nämlich zu ihm, nahm seine Hand und drückte sie fest. „Herr Gerkan-ich hoffe sehr, dass sie wieder ganz fit werden, denn die Autobahnpolizei braucht sie-wie auch Herrn Jäger, aber lassen sie sich alle Zeit der Welt zum Gesundwerden, ich drücke ihnen die Daumen und werde sie in jeder Form unterstützen!“ sagte sie, um sich danach Ben zuzuwenden, der gebannt den Wortwechsel verfolgt hatte.


    „Und wie schaut´s bei ihnen aus, Herr Jäger?“ wollte sie dann wissen. Der überlegte kurz, kam aber dann zu dem Schluss, dass es nichts bringen würde, jetzt um den heißen Brei herumzureden. Er räusperte sich deshalb und sagte schwach: „Ich werde auch noch ein paar Tage brauchen, bis ich wieder arbeiten kann, denn ich habe ´ne Bauchspeicheldrüsenentzündung dazubekommen!“ erklärte er. Mit der Reaktion der Chefin hatte allerdings niemand gerechnet. Sie wurde blass, sank auf den Stuhl, der immer noch vor Bens Bett stand und griff nach seiner Hand. „Vergessen sie momentan die Arbeit-viel wichtiger ist, dass sie beide wieder ganz gesund werden!“ verkündete sie und ließ Bens Hand im Augenblick gar nicht mehr los. Dem war das erst etwas unangenehm, aber als langsam wieder Ruhe im Patientenzimmer einkehrte, fielen Ben vor Erschöpfung und Blutarmut wieder die Augen zu und er dämmerte ein wenig weg, seine Hand immer noch fest in den Händen der Chefin.
    Andrea und auch Semir hatten stirnrunzelnd den Wortwechsel und auch die körperliche Zuwendung der Chefin verfolgt. Was das wohl sollte? Wollte sie gut Wetter machen, damit sie bald wieder auf der Autobahn unterwegs waren? Aber momentan ließ sich das nicht eruieren.


    Wenig später kam die Schwester herein und bat die Besucher zu gehen. Andrea verabschiedete sich zärtlich von ihrem Mann und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich küsse die Mädels von dir-mach bitte nicht nochmal so einen Scheiß!“ und mit einem letzten Kuss löste sie sich von ihrer großen Liebe.
    Kim hatte inzwischen Bens Hand fest gedrückt, der daraufhin verwirrt die Augen öffnete. Er hatte gar nicht mitgekriegt, dass sie seine Hand noch in der Ihren gehalten hatte und fast war ihm das ein wenig peinlich. „Gute Nacht!“ sagte er und dasselbe wünschte ihm seine Chefin.


    Nachdem Andrea Ben noch kurz gedrückt und die Chefin sich von Semir verabschiedet hatte, gingen die beiden Frauen zunächst schweigend nebeneinander her zum Parkplatz. Andrea musste nun eine Frage, die ihr unter den Nägeln brannte, stellen: „Sie scheinen gar nicht überrascht gewesen zu sein, als sie Bens Diagnose gehört haben-warum ist das so-ich muss jetzt zuhause erst mal im Internet recherchieren, was genau das ist?“ Kim Krüger blieb stehen. „Vor drei Jahren ist mein Vater hier in diesem Krankenhaus, auf dieser Intensivstation, an dieser Erkrankung gestorben!“ sagte sie leise und traurig und ließ eine Andrea zurück, die starr vor Entsetzen war.

  • Nachdenklich und immer noch geschockt fuhr Andrea nach Hause, wo sie schon sehnsüchtig von ihrer Mutter und den Kindern erwartet wurde. Ihre Mutter sah sie angstvoll an und fragte: „Und?“ Auch sie hatte einen Nachmittag wie auf glühenden Kohlen verbracht, denn immer hatte sie auf eine Nachricht Andrea´s gewartet, die aber nicht eingetroffen war. Sie hatte sich große Sorgen, nicht nur um Semir, sondern auch um ihre Tochter gemacht, die völlig panisch nach dem Anruf aus dem Krankenhaus ins Auto gestürzt und davongefahren war. Hoffentlich würde die in ihrer Aufregung keinen Unfall bauen und Andrea hatte ihr auch nur kurz zugerufen, dass es Semir schlecht ginge und er operiert werden müsste, mehr hatte Andreas Mutter nicht gewusst.


    Jetzt war sie aber erst mal erleichtert und zwang ihre Tochter regelrecht, sich hinzusetzen und erst mal eine Tasse Tee zu trinken, bis sie ihr die Reste vom Mittag warmgemacht hatte. Andrea hatte nämlich seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen, was ihr selbst zwar nicht aufgefallen war, aber ihrer Mutter schon. Die Kinder, die die ganze Aufregung auch mitgenommen hatte und die den ganzen Nachmittag nur gestritten hatten, kuschelten sich zu ihr aufs Sofa und Andrea schloss ihre Kinder erst mal liebevoll in die Arme.
    Dann überlegte sie, was man den Kindern wohl zumuten konnte, entschloss sich aber, dann einfach die Wahrheit zu erzählen-es half ja so nichts, irgendwann würden sie sowieso alles erfahren, warum dann nicht gleich?
    „Semir hat heute Mittag eine Hirnblutung erlitten, als Unfallspätfolge sozusagen. Er wurde sofort operiert und die konnten den Bluterguss absaugen. Allerdings kann er momentan nicht gut sprechen-aber die sagen, das wird wieder!“ erklärte sie in Kurzversion-weiter Details waren momentan nicht wichtig.
    „Dann hat der Papa einen blauen Fleck im Kopf?“ wollte Ayda nun wissen und Andrea stimmte nach kurzer Überlegung zu. „Das sieht sicher komisch aus!“ bemerkte Ayda, aber Andrea sagte: „Da sieht man von außen gar nichts, der Papa hat bloß einen Verband wie so eine Mütze auf, aber der ist von dem Autounfall sowieso noch grün und blau überall. Aber ich bin mir sicher, wenn es ihm besser geht, dann zeigt er dir alle blauen Flecke und zählt die mit dir, Ayda!“ Nun nickte das kleine Mädchen altklug und damit war die Sache momentan für sie erledigt. Sie zog Lilly mit in die Wohnzimmerecke, wo die beiden, ausnahmsweise für heute mal ohne Streit, begannen mit ihren Barbies zu spielen.


    Andrea setzte sich aufatmend an den Esstisch und aß mit recht wenig Appetit eine kleine Portion Gulasch mit Nudeln, das ihre Mutter ihr hinstellte. Andrea´s Mutter strich ihrer Tochter mitfühlend über den Arm und die erzählte ihr dann leise von den Details, ohne dass die Kinder da was mitbekamen. Margot war völlig entsetzt und als ihr nun Andrea noch von Bens schwerer Erkrankung erzählte, wurde ihre Mutter noch ernster. „ Unser Nachbar hatte das auch mal-so ´ne gefährliche Bauchpeicheldrüsenentzündung. Der wäre beinahe dran gestorben, aber ihm geht’s jetzt wieder einigermaßen. Allerdings ist er seitdem zuckerkrank, muss Insulin spritzen und auch ganz viele Tabletten nehmen, um das Essen verdauen zu können!“ erzählte sie.
    Andrea nickte-das war ihr inzwischen klar geworden, dass Ben´s Krankheit nichts Harmloses war. Sie holte dann ihren Laptop und recherierte noch ein wenig im Internet, bis es Zeit war, die Kinder ins Bett zu bringen.


    Im Krankenhaus hatten bei Ben die Schmerzen inzwischen erneut zugenommen. Ihm war kontinuierlich übel und immer wieder entleerte sich ein Schwall dunkelgrünes, atonisches Dünndarmsekret in den Magensondenbeutel. Er musste zwar wenigstens nicht mehr brechen, aber es war auch so schlimm genug. Ben hatte das Gefühl, sein Bauch wäre dick und prall und der Typ, der ihn mit dem Messer bearbeitete, wäre zwar nicht mehr ganz so aktiv, aber die Schmerzstärke war durchaus noch ganz schön happig. Er lag auf dem Rücken und versuchte sich möglichst wenig zu bewegen und auch nur flach zu atmen, denn jeder tiefe Atemzug trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn.


    Die Schwester, die Semirs Drainage geöffnet und wieder geschlossen hatte, rieb erst mal ihrem Schädelpatienten, nachdem sie den sogenannten Kopfbogen erledigt hatte, den Rücken mit Franzbranntwein ab. Dieser Kopfbogen war eine Skala, in die Pupillenweite, Lichtreaktion, Blutdruck, Puls, Extremitätenbewegung und verbale Äußerung in Semirs Fall halbstündlich dokumentiert wurden und von daher sowohl für die objektive Überwachung, als auch zur Verlaufskontrolle und Prognosenstellung herangezogen wurde. Alle Werte, außer eben der Sprache waren im Normbereich.
    Die Logopädin hatte es leider an diesem Tag nicht mehr geschafft, hatte aber versprochen, gleich morgen früh zu kommen und mit Semir intensiv zu üben.


    Als die Schwester sich nun Ben zuwandte, um ihn ein wenig frisch zu machen und zu lagern, sah sie gleich, wie schmerzverkrampft er schon wieder in seinem Bett lag. Sie gab ihm einen Dolantinbolus und holte eine Kollegin, die ihr beim Betten helfen sollte, denn zu zweit war es schonender für ihren schwerkranken Patienten. Ben war es so hundeelend, dass er völlig passiv die pflegerischen Maßnahmen über sich ergehen ließ und nur die Schmerzfalte wieder steil über seiner Nasenwurzel erschien, wenn man ihn nur ein bisschen bewegte. Trotzdem wischte man seinen Mund mit feuchten Mundpflegestäbchen aus, cremte seine rauen, aufgesprungenen Lippen ein und erneuerte die verschwitzte Unterlage. Völlig verkrampft ließ er sich umdrehen und hoffte nur, dass sie ihn bald wieder in Ruhe ließen. Es war zwar angenehm, als sein Rücken abgefrischt wurde, aber die zunehmende Übelkeit ließ ihn wieder würgen und das tat so weh, dass er laut aufstöhnte. Mitleidig drehten ihn die beiden Frauen auf die Seite, legten eine zusammengerollte Zudecke in seinen Rücken, damit er so liegenbleiben musste und schoben ihm ein Lagerungskissen zwischen die gebeugten Beine, damit er einigermaßen bequem liegen konnte. Man saugte die Magensonde ein wenig an, damit sich kein Magensaft staute und als er wieder würgte, bekam er noch ein zentral im Gehirn wirksames Mittel gegen die Übelkeit gespritzt.
    „Herr Jäger, versuchen sie tief durchzuatmen und später kommt der Stationsarzt nochmals zum Ultraschall!“ sagte die Schwester, bevor sie ihn wieder alleine ließ. Sie hatte noch ein Blutgas entnommen, um es am Kleinlabor zu kontrollieren und Ben war heilfroh, dass die Tortur für ihn wieder vorbei war. Wenig später kam sie mit den Ergebnissen wieder und spritzte Ben gleich 8 Einheiten Altinsulin, denn sein Zuckerspiegel hatte sich nach oben bewegt. Auch einen weiteren Liter Infusion hängte sie zügig an, denn was im Urinbeutel war, war nicht der Rede wert. Ein Kaliumperfusor vervollständigte die momentane Versorgung, aber dann wurde Ben endlich in Ruhe gelassen.


    Sie hatten ihn so gedreht, dass er mit dem Gesicht zu Semir schaute, der sich zwar bemühte, seinen Kopf achsengerecht zu lassen, aber durchaus aus den Augenwinkeln sah, wie mies es Ben ging. Als die beiden Freunde endlich ohne fremde Menschen im Zimmer waren, versuchte Semir Ben etwas mitzuteilen. Wenn Ben ganz genau hinhörte, konnte er aus dem Gebrabbel so etwas Ähnliches heraushören wie: „ Lass mich nicht allein!“ Müde sagte zu seinem Freund: „Semir, mir geht’s so schlecht, ich kann dir nichts versprechen!“ und dann schloss er die Augen.

  • Semir war momentan wie vom Donner gerührt. So schwach und krank hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Wie gerne hätte er ihm geholfen, oder wenigstens etwas Aufmunterndes gesagt, aber vor Verzweiflung, dass nicht einmal das klappte, hätte er am liebsten sein Kopfkissen verhauen, oder sonst etwas Blödsinniges gemacht. So blieb ihm nichts weiter übrig, als die gegenüberliegende Wand anzuschauen, die ein Landschaftsbild zierte, das anscheinend beruhigend wirken sollte. Ihn regte es nur auf!


    Es dauerte nicht lange und der Neurochirurg, der mit lauter Notfällen im OP aufgehalten worden war, kam zu ihm, um, bevor er Feierabend machte, nach seinem frischoperierten Patienten zu schauen. „Wie geht’s ihnen, Herr Gerkan?“ wollte er von ihm wissen. Natürlich war er vom Stationsarzt schon von der Sprachstörung informiert worden, aber er hatte vor, sich da selber ein Bild davon zu machen. Semir sah ihn frustriert an und deutete auf seinen Mund. Der Arzt nickte ihm aufmunternd zu und Semir versuchte zu sagen: „Ich kann nicht sprechen!“ Erstaunlicherweise war das sogar halbwegs verständlich und der Neurochirurg lächelte ihn beruhigend an. „Herr Gerkan, nach Eingriffen am Gehirn sind vorrübergehende Mangelversorgungen bestimmter Zentren-bei ihnen halt das Sprachzentrum im Frontalhirn-nichts Ungewöhnliches. Wenn wir an den Ausgangsbefund vor der OP denken, mit kompletter Hemiparese und Aphasie, haben wir ja schon eine deutliche Verbesserung erreichen können. Mit Logopädie und auch langsamer Abnahme der leichten Hirnschwellung kommt das Sprachvermögen nach meiner Erfahrung innerhalb weniger Tage meist zurück, also keine Aufregung deswegen.“ erklärte er und Semir glaubte ihm das jetzt sogar.


    „Von mir aus können sie ab sofort wieder zu trinken beginnen und morgen essen, soweit sie keine Schluckstörung haben, das werden wir ausprobieren. Ich möchte sie bitten, wenn möglich mit 30° erhöhtem Oberkörper weiterhin zu liegen und den Kopf achsengerecht zu halten, damit die Ventrikel, also die Hirnkammern leichter abfließen können. Sie dürfen sich aber durchaus auf die Seite drehen, nur dann eben èn bloc“, erlaubte er ihm. Er öffnete selbst noch kurz die Drainagenschieber und sah auf die kleine Menge Sekret, die daraufhin ablief. „ Gut wir werden für heute Nacht den Kopfbogen und die Drainagenentlastung auf zweistündige Intervalle ausdehnen, sonst kommen sie ja gar nicht zum Schlafen!“ setzte er noch nach und verabschiedete sich in seinen wohlverdienten Feierabend.


    Semir drehte sich gleich zur Seite und zwar so, dass er Ben anschauen konnte, der die Visite mit halbgeöffneten Augen verfolgt hatte. Er lächelte ihm aufmunternd zu und Ben schickte ihm ein schiefes Grinsen zurück, bevor er wieder die Augen schloss und vor sich hindämmerte.
    Eine Stunde später kam der Stationsarzt mit dem Ultraschallgerät wieder und sprach Ben freundlich an. „Herr Jäger, ich möchte bloß kurz draufschauen, wie es in ihrem Bauch ausschaut!“ kündigte er an und schob die Decke und das Hemd zur Seite. Er zog die Zudecke unter Bens Rücken heraus, so dass der zurückrollte und gab ihm erst mal noch einen Dolantinbolus, damit die Untersuchung leichter erträglich wurde. Während er das Gel verteilte und dann mit sanftem Druck den Schallkopf auf Bens Leib drückte, hatte Ben die Hände wieder zu Fäusten geballt und versuchte sich zu beherrschen, um nicht laut zu schreien. „Die Milzkapsel steht, also müssen wir uns diesbezüglich keine Sorgen machen! Ihr größeres Problem ist jetzt die Pankreatitis. Wir geben ihnen noch viel Flüssigkeit und versuchen die Schmerzen erträglich zu halten, geht’s denn jetzt so halbwegs?“ wollte er von seinem Patienten wissen, während er den Bauch schon wieder abwischte. „Solange sie nicht drücken geht’s einigermaßen!“ antwortete der, „aber mir ist die ganze Zeit furchtbar übel!“
    Der Arzt nickte und ordnete noch ein anderes Antiemetikum an, das vielleicht die Übelkeit ein wenig abmildern konnte. Die Schwester, die inzwischen lautlos in den Raum getreten war, in der Hand einen Becher für Semir, stellte den ab und lagerte gemeinsam mit dem Arzt Ben wieder einigermaßen bequem. Als er wieder ruhig auf dem Rücken lag, atmete er erleichtert auf.


    Die Pflegekraft ließ Semir aus dem Schnabelbecher einen kleinen Schluck Wasser trinken, was der, ohne sich zu verschlucken, meisterte. „Prima!“ freute sich die Schwester, „ dann werden sie bald wieder auf dem Damm sein, Herr Gerkan!“ Nachdem sie noch schnell das Antibrechmittel für Ben geholt hatte, löschte sie das Licht und wünschte ihren Patienten eine gute Nacht.
    Obwohl sie beide zunächst nicht gedacht hatten, überhaupt schlafen zu können, dämmerten sie beide weg, alle zwei Stunden unterbrochen von Semir´s Kopfbogen und Bens Lagerungen und Wundkontrollen. Als der Morgen dämmerte, ging es Semir schon deutlich besser, aber Ben fühlte sich immer noch fiebrig und krank, wie noch nie in seinem Leben.
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  • Als die Nachtschicht an die Frühschicht übergeben hatte, war am Vormittag ein junger Pfleger für die beiden zuständig. Nachdem es Semir schon erstaunlich gut ging, wurde der zum Waschen an den Bettrand gesetzt und bekam eine Waschschüssel, Rasier- und Zahnputzzeug vor sich hingestellt. Außer den Rücken und die Füße konnte er schon wieder alles selber erreichen und als er nach dreimaligem Räuspern fragte: „Ben, wie hast du geschlafen?“ war das schon wieder ganz gut verständlich, nur noch ein wenig undeutlich-so wie nach dem 5. Bier. Ben drehte mühsam den Kopf in Semir´s Richtung, woraufhin schon wieder ein Schwall grünlicher Magensaft in den Beutel rann. „Ging so!“ log er, denn es hätte ja auch nichts gebracht, wenn er ihm anvertraut hätte, dass er nie völlig weggewesen, sondern immer in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen gewesen war und dabei jedes Geräusch und nicht zuletzt Semir´s Schnarchen überdeutlich gehört hatte.


    Wenn nur diese alles überdeckende Übelkeit nicht gewesen wäre! Mit Schmerzmitteln war Ben so abgedeckt, dass er einigermaßen zurechtkam, solange er sich nicht groß bewegte. Als nun Semir fertiggewaschen und sein Bett komplett frisch bezogen war, was auf Intensiv zum täglichen Standard aus Hygienegründen dazugehörte, wandte sich der Pfleger seinem jüngeren Patienten zu.
    Nachdem er sich eine Plastikschürze und Handschuhe angezogen hatte, bezog er auch zunächst das Bett, außer dem Leintuch und der Safetexunterlage frisch. Nun begann er damit, Ben von Kopf bis Fuß erst von vorne herunterzuwaschen, wobei Ben jedesmal, wenn sein Bauch nur leicht berührt wurde, laut aufstöhnte. Als der Pfleger Ben´s Dreitagebart entfernen wollte, hob er abwehrend die Hand. „Bitte nicht, ich mag keinen Kahlschlag im Gesicht!“ bat er schwach und der Pfleger respektierte den Wunsch seines Patienten.
    Nach dem Abtrocknen der kühlen Waschlösung, putzte der Pfleger Ben die Zähne im Liegen und saugte den entstehenden Schaum mit seinem Absauger weg, denn es war nicht möglich, Ben´s Kopfteil auch nur ein kleines Stück hochzustellen, ohne dass er Kreislaufprobleme bekam. Immer wieder hatte man in der Nacht die Dosis des Noradrenalins erhöhen müssen und ein Liter Flüssigkeit nach dem anderen war in Ben verschwunden, ohne dass eine größere Menge im Urinbeutel wiedererschienen wäre. Die Stundenportionen ließen zu wünschen übrig und als der Pfleger aus der Arterie wieder großes Labor und Blutgas abgenommen hatte, waren die Werte in keinster Weise zufriedenstellend. Nachdem man über Nacht das Insulin immer aus der Hand bolusweise nachgespritzt hatte, beschloss der Pfleger nach Rücksprache mit dem Stationsarzt, nun einen Insulinperfusor anzuhängen. Damit wurde Ben nun kontinuierlich Altinsulin zugeführt, wie Semir mit Interesse bemerkte.
    „Warum braucht Ben Insulin?“ nuschelte er, als er den Aufkleber auf dem Perfusor las, woraufhin der Pfleger erklärte: „Das körpereigene Insulin wird in den Langerhans´schen Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse gebildet. Durch die Entzündung können die ihre Arbeit momentan nicht ausführen und so müssen wir eben substituieren, was fehlt!“ „Wird das wieder?“ fragte Semir den Pfleger, woraufhin der nur die Schultern zuckte.


    Während nun steril alle Verbände Ben´s gewechselt wurden, vom ZVK, über die Arterie, den Bauchschnitt und die Drainagebeutel, soweit erforderlich, kam sich Ben vor wie im falschen Film. Hatten die gerade über ihn geredet, oder war das der Fieberwahn?“ fragte er sich. Er war doch noch nie zuckerkrank gewesen und außerdem hatte er doch gar nichts gegessen, wo kam dann der hohe Zuckerspiegel her? Auf seine Frage, erklärte der Pfleger, dass er hochkalorische, parenterale Ernährung über den ZVK erhielt, damit sein Körper alle Stoffe hatte, die er zum Gesundwerden brauchte. Aha, dafür waren diese ganzen merkwürdigen Beutel also da, die neben den verschiedenen Infusionsflaschen am Versorgungsbaum neben seinem Kopf hingen.
    Auch nachts war fast nach jeder Blutabnahme wieder ein neuer Perfusor, oder ein kleines Infusionsfläschchen dazugekommen, womit substituiert wurde, was momentan fehlte, oder entgleist war.


    Der Pfleger holte sich zum Rückenwaschen eine zweite Pflegekraft hinzu, denn Ben hätte es keinesfalls geschafft, sich alleine auf die Seite zu drehen, so schwach war er inzwischen geworden. Als die Kehrseite noch gewaschen und sorgfältig eingecremt war, das Leintuch und die Unterlage beim Drehen gewechselt und ein frisches Hemd über Ben gebreitet war, war Ben von dieser Aktion so erschöpft, als wenn er eine wilde Verfolgungsjagd zu Fuß gerade hinter sich gebracht hätte. Es war für ihn selber völlig unverständlich, wie er in so kurzer Zeit dermaßen kraftlos werden konnte. Aber er konnte nur die Augen schließen und sich von der Anstrengung ausruhen, bis die morgendliche große Visite kam, besorgt betrachtet von seinem besten Freund.

  • Das Zimmer füllt sich mit Ärzten, Praktikanten und Pflegepersonal. Semir hätte nicht erwartet, dass dermaßen viele Leute in diesem Raum Platz hatten. Auch den Neurochirurgen, der ihn operiert hatte, konnte er erkennen und nun trat der Stationsarzt, der Nachts dagewesen war vor und erklärte dem Plenum, was es für Neuigkeiten bei seinen Patienten gab.
    Zunächst widmete sich der Trupp Semir. „ Bei Herr Gerkan hat sich gestern, vermutlich als Unfallfolge, eine intracranielle, extracerebrale Epiduralblutung manifestiert, die zu Aphasie und Hemiparese geführt hat. Nach sofortiger Entlastung durch Entdeckeln und intracranieller Blutstillung mit Drainagenanlage ist die Symptomatik rückläufig“ erzählte der Arzt seinen Kollegen. Semir sah ihn mit offenem Mund an. „ Bitte was? Konnte da vielleicht ein Übersetzer eingeschaltet werden?“ dachte er, aber das Fachpersonal nickte nun informiert mit dem Kopf und der anästhesiologische Chefarzt, der die Abteilungsleitung innehatte, gab ihm beide Hände und begrüßte ihn freundlich. Er forderte Semir auf, die Extremitäten zu bewegen und auch die Kraft, mit der er mit den Händen zudrücken konnte war seitengleich. Obwohl sich Semir vor den ganzen Leuten fast ein wenig genierte, wurde er aufgefordert, etwas zu sagen und alle nickten sehr zufrieden mit dem Kopf, als er einige Worte halbwegs verständlich formulieren konnte. „Krankengymnastik und Logopädie ist angemeldet!“ meldete sich der Pfleger zu Wort und nach der Verabschiedung wandte sich die Aufmerksamkeit Ben zu.

    Der Chefarzt trat kurz zum Wandspender und desinfizierte seine Hände, um dann an Bens Bett zu treten und ihm die Hand zu geben.
    „Bei Herrn Jäger, der übrigens im selben Unfallfahrzeug wie Herr Gerkan saß, ist die Entwicklung leider nicht so erfreulich!“ referierte der Stationsarzt. „Nachdem eine zweizeitige Milzruptur mit Netzanlage und Drainage operativ primär erfolgreich behandelt wurde, hat sich zusätzlich eine akute, nekrotisierende Pankreatitis herausgestellt, Ursache unbekannt. Er ist kreislaufinstabil mit inzwischen 3,2mg Nor, hat einen hohen Volumenbedarf und massive Stoffwechselproblematik.“ Wie auf Kommando drehten sich die Köpfe der visitierenden Ärzte vom Monitor zu den Perfusoren, die inzwischen in hoher Zahl vor sich hinliefen.


    Der Stationsarzt vermeldete auf Nachfrage einige Laborbefunde und Semir konnte vom Nachbarbett her erkennen, dass die Gesichter aller Anwesenden sehr ernst waren. Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen kommentierten einzelne Befunde, so war der Nephrologe gefragt, weil Harnstoff und Kreatinin im Steigen begriffen waren und der setzte ein paar Medikamente um, unter anderem das Metamizol gegen Schmerzen, weil die die Niere nur noch mehr schädigen würden. Der Gastroenterologe wurde gebeten im Laufe des Vormittags eine Gastroskopie vorzunehmen, um etwaige Verlegungen des Ausführungsgangs des Pankreas von innen zu erkennen und zu behandeln. Der Chefarzt hatte Bens Hemd hochgeschoben und betastete, begleitet von Bens Stöhnen, vorsichtig den ganzen Bauch, besah den Drainageninhalt und bat den diensthabenden Internisten später noch um einen großen Ultraschall. Alle wirkten sehr besorgt und nach einem Blick auf die Blutgase, ordnete der Arzt noch maschinelle Atemgymnastik und ein Röntgenbild der Lunge an.
    Nachdem der Chefarzt Bens Hemd nach unten geschoben und ihn wieder zugedeckt hatte, nahm er seine Hand und erklärte ihm freundlich. „Herr Jäger, wir werden heute mit einigen Untersuchungen und Behandlungen versuchen, ihre Situation zu verbessern, aber sie wissen schon, dass sie sehr krank sind?“


    Semir konnte in einer Lücke zwischen den Anwesenden durchschauen und sah, dass der leichenblasse Ben betreten nickte. „ Das ist ein sehr ernstes Krankheitsbild Herr Jäger und wir wissen nicht, ob sie wieder gesund werden. Also wenn sie noch etwas zu regeln haben...?“ sagte er eindringlich zu seinem Patienten. „Falls sie gerne mit einem Seelsorger sprechen möchten, werden wir ihnen selbstverständlich jemanden zur Seite stellen. Nicht dass sie mich falsch verstehen, aber sie sollten sich bewusst sein, dass sie eine sehr schwere Verlaufsform einer ernstzunehmenden Erkrankung haben. Ich möchte sie darüber nicht im Unklaren lassen, aber ich denke, das wissen sie schon?“ fragte er sanft. Ben räusperte sich ein wenig. „Gewusst habe ich es nicht, aber gefühlt!“ sagte er leise und obwohl er es zu vermeiden suchte, bahnten sich ein paar Tränen ihren Weg und nach der Verabschiedung verließ der Ärtzepulk taktvoll das Zimmer und zurück blieben ein völlig geschockter Semir, dem nun auch die Tränen kamen und ein überaus nachdenklicher Ben.

  • Nachdem sie eine Weile nebeneinander vor sich hingetrauert hatten, fasste Semir sich ein Herz und drückte auf die Glocke. Er konnte jetzt nicht zusehen, wie sein Freund so nah und trotzdem irgendwie unendlich weit entfernt vor sich hinlitt. Er wollte ihm wenigstens auch körperlich nahe sein, wenn das mit dem sprechen noch nicht so klappte. Als der Pfleger, der noch den Rest der Visite mitgemacht hatte, zu ihnen kam, bat ihn Semir halbwegs verständlich: „Kann ich mich nicht auf einen Stuhl an sein Bett setzen, wenn ich doch heute schon wieder aufstehen darf?“ fragte er und nach kurzer Überlegung willigte der junge Mann ein. Er holte einen bequemen Mobilisationsstuhl ins Zimmer und bat dann eine Kollegin kurz mit herzulangen. Gemeinsam lockerten sie Semir´s Überwachungskabel, die aber leicht bis zu Bens Bett reichten, nahmen den Urinbeutel und die Drainagen mit und führten gemeinsam Semir zu dem Stuhl, der mit einem Bettbezug bedeckt wurde. Der nahm Platz und nachdem das Pflegepersonal den Raum verlassen hatte, nahm Semir ganz behutsam Ben´s heiße Hand in die Seine. „Ben!“ sagte er eindringlich. Der sah ihn mit tränenverschleierten Augen an.“Hör zu, du wirst das schaffen, ich weiß das!“ sagte Semir im Brustton der Überzeugung. Es war zwar noch ein wenig undeutlich, aber man konnte den Sinn der Worte genau erkennen. Semir drückte dazu noch ermutigend die Hand seines Freundes und lächelte ihn an, obwohl er innerlich furchtbare Angst um ihn hatte. Aber er musste ihm einfach Mut machen, damit der nicht aufhörte zu kämpfen und scheinbar gelang ihm das, denn Ben´s Blick klärte sich ein wenig und seine vereinzelten Tränen versiegten. „Hör zu-denen werden wir´s allen zeigen und bald sind wir wieder auf der Autobahn, hast du verstanden?“ nuschelte Semir und Ben nickte langsam. Mit Semir´s Beistand würde er es zumindest versuchen!“
    Semir blieb noch eine Weile sitzen und versuchte mit seinem Körperkontakt Ben alle Kraft, die er erübrigen konnte, zufließen zu lassen und das war eine ganze Menge. Sie hatten schon so viel miteinander erlebt-so durfte das nicht zu Ende gehen. Semir fühlte sich wie ein Terrier, er würde es mit jedem aufnehmen, der nochmal behauptete, dass Ben verloren war!


    Etwa 15 Minuten später-Ben war viel ruhiger geworden und fühlte sich auch ein wenig besser- kam die Röntgenassistentin mit der Mobilette, dem mobilen Röntgengerät, um die angeordnete Lungenaufnahme bei Ben zu schießen. Die beiden Pflegepersonen kamen auch mit, führten Semir wieder in sein Bett zurück und hoben dann Ben ein wenig an, damit die Assistentin die Röntgenkassette unter Ben´s Rücken legen konnte. Als er angehoben wurde, stöhnte Ben zwar kurz auf und erschauerte wegen der Kühle der Kassette, aber dann lag er ganz ruhig, bis die Aufnahme angefertigt war. Der Gonadenschutz aus Blei auf seinem Unterleib machte ihm fast am meisten zu schaffen, weil der so schwer war und drückte, aber in ganz kurzer Zeit war die Aufnahme geschossen und er wurde von seiner harten Unterlage befreit und wieder bequem hingelegt. Sein Blutdruck hatte zwar kurz wieder verrückt gespielt und ihm war schwindlig geworden, aber das legte sich schnell wieder.


    Wenige Minuten später kam ein Internist mit dem Sonographiegerät hereingerollt , ließ das Zimmer verdunkeln und machte nachdem Ben noch etwas gegen die Schmerzen gekriegt hatte, einen großen Ultraschall des Unter- und Oberbauchs. Man sah, hier war ein Meister seines Fachs am Werk und er hatte auch ein sehr modernes Ultraschallgerät dabei, das die Strukturen sehr viel deutlicher zum Vorschein brachte, als das andere Modell. Sogar Semir konnte vom Nebenbett her zuschauen und mit den Erklärungen des Arztes auch etwas erkennen. Was Semir vorher schon aufgefallen war-Ben begann einen leichten Gelbstich zu bekommen. Er hatte eine Hautfarbe, die fast an einen Asiaten erinnerte, was durch die geisterhafte Blässe noch mehr ins Auge stach.
    Nachdem der Internist sehr gründlich die Milz, die Nieren und den Unterbauch untersucht hatte, wandte er sich der Leber, den Gallengängen und dem Pankreas zu. Obwohl es Ben schon wehtat, biss er die Zähne zusammen und ertrug ohne Jammern den Druckschmerz. Der Arzt pfiff durch die Zähne, als er in die Nähe des gemeinsamen Ausführungsgangs von Galle und Bauchspeicheldrüse kam. Deutlich konnte er eine Auftreibung sehen und nachdem er kurz darauf Ben´s Bauch trockengewischt hatte, sagte er gleichermaßen zu Ben und Semir, die immer versucht hatten zu erkennen, was er ihnen erklärte, was ihnen manchmal auch gelungen war.


    „Herr Jäger, auf jeden Fall stauen sich bei ihnen die Verdauungssäfte zurück und nicht nur der Pankreasgang ist aufgetrieben, sondern auch der Gallengang in der Leber. Dazu würde der Ikterus, also ihre Gelbsucht, die sie gerade entwickeln, durchaus passen. Ich werde meinem Kollegen Bescheid sagen, vielleicht kann ihnen der mit einer erweiterten Magenspiegelung helfen, ich habe nämlich den Verdacht, dass da irgendetwas den Abfluss behindert!“ erklärte er und Ben hörte schon fast nicht mehr zu, denn ihm fielen nun vor Erschöpfung die Augen zu.
    „Gute Besserung!“ wünschte ihm der Arzt noch und verließ das Zimmer, um draußen sein Konsil in den PC einzutippen.

  • Nachdem Ben sein kleines Erschöpfungsschläfchen von einer viertel Stunde beendet hatte, öffnete sich wieder die Schiebetür und einige große Geräte wurden hereingefahren.


    „Wir haben erst überlegt, ob wir die Untersuchung in unserer Endoskopieabteilung durchführen sollen, Herr Jäger, aber sie sind uns leider zu instabil, als dass wir das Risiko eingehen wollten, sie in ihrem Zustand quer durchs Haus zu fahren“ erklärte der Gastroenterologe, der die Spiegelung durchführen würde. Er hatte einen Aufklärungsbogen dabei und während seine Assistentin schon die Geräte aufbaute und das Zimmer komplett verdunkelte, machte er ein kleines Bettlicht an und erklärte Ben, was er zu tun gedachte.
    „Nachdem mein Kollege, der sie gerade geschallt hat, die Vermutung geäußert hat, dass der gemeinsame Ausführungsgang von Galle und Pankreas eine Abflussbehinderung haben könnte, werde ich jetzt erst eine Spiegelung von Magen und Zwölffingerdarm vornehmen und dann diesen Ringmuskel im Duodenum, durch den die Bauchspeicheldrüsen-und Gallenflüssigkeit normalerweise unbehindert in den Darm abfließen, mit einem Messerchen einschneiden. Dabei kann es natürlich zu einer stärkeren Blutung kommen, oder auch der Darm verletzt werden. Wir decken sie danach antibiotisch ab, um die Infektionsgefahr zu verringern. Falls da Gallengrieß oder sogar ein kleines Steinchen darin wären, die für ihren Zustand verantwortlich sein könnten, können wir das vielleicht mit einem kleinen Schirmchen fangen und entfernen. Das ist momentan reine Spekulation, aber in ein paar Minuten wissen wir mehr. Sie bekommen ein leichtes Beruhigungsmittel, so dass die Untersuchung für sie nicht so belastend ist und dann werden wir in Kürze anfangen. Hatten sie schon mal eine Magenspiegelung?“ wollte er dann wissen, aber Ben schüttelte nur den Kopf. Er war eigentlich immer gesund gewesen und hatte eher wenig Krankenhauserfahrung-außer, wenn er mal wieder angeschossen, oder bei einem Unfall verletzt worden war, bisher aber eher immer leicht.


    Ohne zu zögern unterschrieb er die Einverständniserklärung, denn wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass es ihm nach diesem Eingriff besser gehen könnte, würde er damit einverstanden sein. Allerdings bekam er nun doch einen sehr trockenen Mund vor lauter Aufregung und seine Handflächen wurden schweißfeucht. Der Arzt trat noch kurz zu Semir und sagte zu ihm. „Es wäre möglich, dass wir nachher mit dem C-Bogen röntgen müssen, da besteht natürlich auch für sie ein gewisses Strahlenrisiko. Wir würden sie mit einer Bleischürze zudecken, wenn es soweit ist, aber wenn sie das nicht wollen, müssten wir sie für die Dauer der Untersuchung aus dem Zimmer bringen!“ Semir schüttelte den Kopf. „Ich nehme die Schürze!“ bestimmte er und sah neugierig zu, wie Ben nun von der Intensivschwester und der Endoskopiefachkraft auf die linke Seite gedreht wurde und eine Decke in den Rücken bekam, damit er stabil so liegenbleiben musste. Der Arzt hatte inzwischen eine Bleischürze, darüber eine Plastikschürze und eine Schutzbrille angezogen. Ein Paar stabile Untersuchungshandschuhe vervollständigten sein Outfit. Auch die Intensivschwester und die Arzthelferin trugen Handschuhe, Blei-und Plastikschürzen und man legte über Bens Unterkörper wieder den Gonadenschutz.


    Bens Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung, denn er wusste ja überhaupt nicht, was da auf ihn zukam. Das Schmerzmittel für die Ultraschalluntersuchung hielt noch ein wenig vor und so zog der Arzt erst einmal, nachdem er die Kleber gelöst hatte, Bens Magensonde heraus, die sonst nur gestört hätte. Ben musste kurz schlucken, aber das war jetzt nicht schlimm gewesen. Die Sonde und der Beutel wurden im Abfalleimer entsorgt und die Schwester legte noch schnell eine wasserfeste Einmalunterlage unter Bens Kopf, um das Bett zu schützen.


    Er wurde nun aufgefordert den Mund zu öffnen und der Arzt schob ihm einen Beissschutz hinein, der gleich am Hinterkopf mit einem Gummi befestigt wurde, damit Ben ihn nicht mehr ausspucken konnte. „Das brauchen wir, um unser wertvolles Gerät zu schützen. Da laufen empfindliche Glasfasern durch und wenn sie da unwillkürlich draufbeissen, entsteht ein großer Schaden!“ erklärte er seinem Patienten, dessen Aufregung dadurch nicht gemindert wurde.
    Nun wurde der Bildschirm eingeschaltet, der das nun vollständig verdunkelte Zimmer in diffuses Dämmerlicht tauchte. Die Pflegekraft gab Gleitgel auf die Spitze des Gastroskops und der Arzt nahm es nun zur Hand und näherte sich Ben`s Mund. „ Wenn sie es sich und uns leichter machen wollen, dann schlucken sie bitte nach Kommando!“ sagt er zu seinem Patienten und nickte dann der Schwester zu, die Ben 3mg Midazolam, einem valiumähnlichen Beruhigungsmittel spritzte. Wie durch einen Nebel nahm Ben nun das Schluckkommando wahr, ohne irgendwie darauf reagieren zu können. Er merkte nur, wie etwas an seinem Rachen anstieß und schloss dann ergeben und desorientiert die Augen.

  • Ben war kurz völlig weg, aber als das Duodenoskop vorgeschoben wurde, wurde er unter starkem Würgen doch wieder wach. Er wusste zwar nicht genau, was gerade los war, aber dieses Ding da in seinem Hals wollte er loshaben. Wie in Zeitlupentempo fasste er nach oben, um es herauszuziehen, aber dann wurden seine Hände erst festgehalten und dann festgebunden. Inzwischen war er wieder soweit wach, dass er halb bewusst mitbekam, dass der Arzt so lange gewartet hatte, bis er nicht mehr „mithelfen“ konnte und nun begann unter erneuten Schluckkommandos das Instrument vorzuschieben. Ben würgte dagegen, denn ihm war doch sowieso schon so übel und so schossen ihm die Tränen in die Augen und auch aus seinem Mund floss Speichel, der aber von der Schwester mit Zellstoff sofort weggewischt wurde.


    Semir lag in seinem Bett sozusagen auf dem Logenplatz, denn auf dem Bildschirm konnte er glasklar erst Ben´s Mundhöhle und Zunge, dann den Rachenraum mit dem Kehlkopfeingang und schließlich die Speiseröhre in gesamter Länge bewundern. Das Einzige was nicht so toll war, war der Sound, wie Semir mitleidig feststellen musste, denn Bens heftiges Würgen löste bei Semir selber beinahe Übelkeit aus.
    Als der Arzt, der die ganze Zeit versucht hatte, seinem Patienten beruhigend zuzureden, im Magen angekommen war, hatte sich der schon wieder mit grünlich-atonischem Verdauungssaft gefüllt, der sofort über das Endoskop abgesaugt wurde. Der Arzt beurteilte nun den Magen, der Anzeichen einer Gastritis, also einer Magenschleimhautentzündung, vermutlich stressbedingt, aufwies. Das würde man medikamentös behandeln und als das gesamte Organ mit allen Falten und Kurvaturen beurteilt war, schob der Internist das Instrument in den Zwölffingerdarm vor. Er positionierte es genau vor der Vaterschen Papille, der gemeinsamen Mündung von Gallen- und Pankreasgang. Man konnte da schon sehen, dass der Ausführungsgang entzündlich verändert und geschwollen war.

    Ben hatte sich nun ein wenig beruhigt und lag ganz still, denn als das Instrument nicht mehr vorgeschoben wurde, war die Untersuchung auch nicht mehr ganz so unangenehm.
    „Wir machen eine Kontrastmitteldarstellung!“ ordnete der Doktor an und die Assistentin schob den C-Bogen heran, ein Röntgengerät in Form eines C, das über und unter Ben´s röntgenfähiges Bett positioniert wurde, mit dem auch kontinuierlich geröntgt und nicht nur Bilder geschossen werden konnte. Das ergab zwar eine höhere Strahlenbelastung, aber anders war es nicht durchführbar. Im Vorbeiweg hatte die Schwester noch die angekündigte Bleischürze über Semir gebreitet und als nun das Gerät positioniert war, führte der Arzt in die Papille eine Sonde ein, durch die das Kontrastmittel gespritzt wurde. Die Schwester spritzte die genaue Milliliterzahl nach Angabe des Arztes vom Arbeitsgang des Endoskops her in die Sonde ein und dann startete man die Durchleuchtung. Auf dem Röntgenschirm war zu sehen, dass das Kontrastmittel nur ein ganz kleines bisschen in den Gang floss und dann von etwas Rundem aufgehalten wurde und wieder zurück in den Darm floss.


    „Da sitzt anscheinend ein Übeltäter!“ sagte der Arzt und erklärte Ben und Semir, wobei Ersterer seinen Worten noch nicht sonderlich gut folgen konnte: „Wir haben hier einen Stop-vermutlich einen Gallenstein, der den Ausführungsgang verlegt.“ Die Kontrastmittelsonde wurde zurückgezogen und eine Art elektrisches Messerchen in den Arbeitsgang eingeführt. Als der Arzt es richtig positioniert hatte, wurde Ben gebeten, nun ganz ruhig zu liegen und mit einem Fusspedal leitete der Arzt Strom durch die Art Draht und schlitzte so die Papille. Ein scharfer Schmerz zog durch Ben´s Bauch, so dass er aufstöhnte. Er bekam noch einen Dolantinbolus über den Perfusor und schon wurde es wieder leichter. Nun war der Eingang weiter und Semir sah gebannt zu, wie der Arzt nun mit Zangen und auch einem Art Körbchen versuchte, den Stein herauszuholen. Es war eine diffizile Arbeit, aber irgendwann war er erfolgreich und als er das Körbchen herauszog, lag darin ein Gallenstein, der verhindert hatte, dass die Verdauungssäfte abfließen konnten. Es entleerte sich gleich eine große Menge angestauter Gallen- und Pankreassekret und als der Arzt nun die Kontrastmittelsonde erneut einführte, ließen sich beim Röntgen nun die Gallengänge in der Leber klar darstellen und auch in der Gallenblase war kein weiterer Stein erkennbar.
    Als man nun noch eine kleine Menge Kontrastmittel in den Pankreasgang spritzte, waren allerdings kaum mehr Strukturen darstellbar, sondern die röntgenfähige Flüssigkeit verteilte sich diffus in Ben´s Pankreasloge. „Das Organ ist sehr schwer geschädigt, das erklärt die Schmerzen und die Laborwerte, aber das wussten wir ja eigentlich schon!“ merkte der Arzt an und zog nun relativ zügig das Instrument aus dem Magen-Darmtrakt seines Patienten, was wieder recht unangenehm war. Er entfernte noch den Beissschutz und Ben atmete erst mal erleichtert auf.


    Die Schwester fuhr den C-Bogen zur Seite und machte das Licht an, das durch seine Helligkeit alle Anwesenden erst mal zum Blinzeln brachte.
    „Herr Jäger, ich lege ihnen nun noch eine neue Magensonde, allerdings aus einem weicheren Material, als die vorherige, das ist dann für sie angenehmer!“ teilte er Ben mit und begann auch gleich, die mit Gleitmittel bestrichene Sonde durch Bens Nasenloch vorzuschieben. Nun ging das Gewürge schon wieder los, bis der Arzt ihn scharf anredete und einfach befahl- „Jetzt schlucken, nicht würgen!“ Eingeschüchtert versuchte Ben der Aufforderung Folge zu leisten und bald lag die Silikonsonde an Ort und Stelle, der Führungsmandrin wurde entfernt und sie wurde noch außen an seiner Nase verklebt. Während der Arzt seine Handschuhe und die Schürzen auszog, wischte die Schwester Ben´s Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, zog die Einmalunterlage heraus und machte seine Hände los. Man ließ ihn auf der Seite liegen, nahm aber den Bleischutz weg und ersetzte ihn durch eine leichte Decke, denn Ben zitterte nun mal wieder fix und fertig.


    Die Verdunklungsvorhänge wurden aufgemacht und als das Tageslicht wieder in den Raum flutete, schloss Ben die Augen und bekam fast nicht mehr mit, wie das Zimmer durch die Schwester und die Endoskopiefachkraft aufgeräumt wurde. Als es nun still wurde, dämmerte er hinüber und träumte von seinem Freund Jan. Semir betrachtete liebevoll seinen Kollegen, der anscheinend jetzt zur Ruhe kam und das Sedativum vollends ausschlief. Hoffentlich hatte der Eingriff etwas gebracht und es ging ihm bald besser!

  • Ben hatte wirre Träume. Er war wieder auf dem Dach und Jan versuchte auf die Maschine von Mc Connor zu schießen. Er versuchte verzweifelt, ihn davon abzubringen, aber Jan war so verbohrt und von der Richtigkeit seiner Mission überzeugt, dass er sich nicht davon abbringen ließ. Da trat Eva ins Bild-seine Eva, in die er so verliebt gewesen war. Jan und er waren Nebenbuhler gewesen und erst hatte er ihm geglaubt, dass er sie auch aus den Augen verloren hatte, bis er die beiden im Hotel zusammen wiedergetroffen hatte. Erst dann war ihm klar geworden, dass die zwei ihn nur benutzt hatten, um an das Geld aus der Asservatenkammer heranzukommen.


    Aber Eva begann zu zweifeln, ob das richtig war, was Jan vorhatte. Sie war kurz davor gewesen, ihre Meinung zu ändern und wieder in die Legalität zurückzukehren-und damit vielleicht auch zu ihm, als sie die Polizeikugel traf, die eigentlich seinem Freund Jan gegolten hatte. Diesen erstaunten Blick aus ihren wunderschönen Augen, als sie tot zusammenbrach, würde er nie vergessen und danach hatte er, Ben, einen verhängnisvollen Fehler begangen, als er dem Polizeihubschrauber: „Nicht schießen!“ zugerufen hatte. Die Männer darin hatten das mit dem Leben bezahlt-wenn sie Jan in diesem Moment kampfunfähig gemacht hätten, wären sie nicht getötet worden. Wieder und wieder brach vor seinem inneren Auge Eva zusammen und der Hubschrauber explodierte in der Luft.


    Semir sah mitleidig zu seinem Freund hinüber. Er hatte gehofft, der würde ruhig schlafen, aber das war weit gefehlt! Ben wälzte sich im Schlaf herum, stieß immer wieder Satzfetzen aus, stöhnte und murmelte einen Namen. Immer wieder konnte Semir „Eva!“ verstehen und ihm war klar, dass das die Jugendfreundin Bens war. Was war eigentlich mit der geschehen? Semir nahm sich vor, die Chefin zu fragen, was passiert war, als er im Koma gelegen hatte. Obwohl er jetzt schon eine ganze Weile neben Ben im selben Zimmer lag, waren sie beide noch nicht in der Verfassung gewesen, den Ausgang des Falles zu besprechen. Seine letzte Information war gewesen, dass die Verdächtigen in dem Lieferwagen geflohen waren, als der folgenschwere Unfall passiert war, der nun sie beide in Lebensgefahr gebracht hatte.
    Auch was mit Jan Behler geschehen war, war Semir nicht bekannt. Er hatte einen Stachel der Eifersucht gespürt, als Ben einen Abend mit seinem Jugendfreund dem Spiel vorgezogen hatte und gleichzeitig hatte er sich selber gescholten. Ben war zwar sein Freund und Kollege, aber er war immer noch ein eigenständiger Mensch, der eben eine Gelegenheit zum Ausgehen mit alten Freunden nicht hatte verstreichen lassen wollen. Er hätte ja auch alleine auf das Spiel gehen können, aber das hatte er nicht gewollt. Denn ohne Ben machte so ein Fußballabend viel weniger Spaß.


    Sie beide waren sowieso schon den halben Tag in der Arbeit zusammen. Warum sollte Ben da auch noch seinen wohlverdienten Feierabend mit ihm verbringen? Wobei sie das eigentlich seit Jahren regelmäßig machten, auch nach Dienstschluss etwas zusammen zu unternehmen. Ben gehörte bei ihm fast zur Familie und auch für die Kinder war Ben ein fester Bestandteil ihres Lebens. Allerdings war doch klar, dass er auch eigene Freunde hatte und das ihn, Semir, überhaupt nichts anging.
    Ben warf sich wieder im Bett herum, der Schweiß stand ihm auf der Stirn und er rief immer wieder: „Jan, nein, Jan, bitte nicht!“
    Klar, Ben hatte erkennen müssen, dass seine alte Freundschaft nicht mehr im selben Ausmaß bestand, wie früher, aber wie man hörte, beschäftigte ihn sein Verhältnis zu dem Jugendfreund. Ob der wohl inzwischen festgenommen, oder immer noch auf der Flucht war? Mann, Ben hatte dem sogar Dienstgeheimnisse verraten! Eigentlich müsste er verdammt sauer auf ihn sein, aber als Semir so zu seinem Partner hinübersah, der so furchtbar unruhig in seinen sichtbaren Alpträumen gefangen war, war in ihm nur ein großes Mitleid. Auch wenn Ben vielleicht Fehler gemacht hatte, er büßte gerade schrecklich dafür.


    Als die Schwester ins Zimmer kam und nach ihren beiden Patienten sah, die Werte notierte und Semir freundlich zulächelte, wies Semir wieder auf seinen Freund. „Meinen sie, ich dürfte mich wieder ein wenig zu ihm setzen?“ fragte er schon viel deutlicher als vorhin und die Schwester nickte lächelnd. Sie holte den bequemen Stuhl wieder näher und nachdem es vorhin schon so gut geklappt hatte, führte sie ihren Patienten alleine hinüber. Mobilisation war gerade nach Schädelverletzungen gut und wichtig und so fühlte sich vielleicht ihr jüngerer Patient nicht so alleine, wenn ihm sein Partner beistand.
    Semir griff, nachdem die Pflegerin das Zimmer wieder verlassen hatte, nach Bens Hand, der sich gerade wieder unruhig herumwarf und hielt sie einfach fest. Ben öffnete seine Augen einen kleinen Spalt, als er die Berührung spürte, sagte „Semir!“ und fiel dann in einen ruhigen, erholsamen Schlaf, bewacht und behütet von seinem Freund.

  • Semir saß ganz ruhig und entspannt da und dachte nach. Er selber hatte kaum noch Schmerzen und er beobachtete ruhig Ben´s Monitor. Die kreislaufstützenden Medikamente halfen und der Puls war zwar noch ein wenig erhöht, aber der Blutdruck hielt sich einigermaßen stabil. Nur ein Wert blinkte ab und zu. Nachdem er ja nun selber schon erfahrener Intensivpatient war, wusste er, dass das die Sauerstoffsättigung war. Auch die Schwester hatte von draußen gesehen, dass der Wert immer wieder unter die Norm ging, sich dann allerdings immer wieder stabilisierte. Als sie kurz darauf die aktuellen Blutgase aus der Arterie bestimmte, waren die so schlecht, dass man sofort mit der Atemgymnastik beginnen musste, sonst schwebte der Tubus wie ein Damoklesschwert über ihrem Patienten.


    Sie setzte ihr System zusammen und fuhr eine sogenannte Carina ein kleines Beatmungsgerät der Firma Dräger zur Tür herein. Als sie Ben weckte, sah der ganz verschlafen in der Gegend herum-er hatte gerade keinen sonderlichen Peil, was los war-auch bedingt durch das Medikament, das die Erinnerung an die ERCP ein wenig abmilderte. „Herr Jäger, wie der Chefarzt heute Morgen schon angeordnet hat, müssen sie jetzt dringend Atemgymnastik machen. Sowohl die Milzverletzung, als auch die Pankreatitis verhindern, dass sie ausreichend tief durchatmen. Dieses Gerät hilft ihnen dabei und ich werde ihnen jetzt einfach eine Beatmungsmaske über die Nase stülpen, dann probieren wir, ob´s so geht. Wenn nicht, bekommen sie eine große Maske, die dann über Mund und Nase festgeschnallt wird, aber wenn sie es schaffen, durch die Nase zu atmen, ist diese Variante natürlich angenehmer für sie. Dieses Gerät weitet durch den Druck, den es aufbaut, die Lungenbläschen und so wird einer Pneumonie vorgebeugt. Semir hatte sich erst zurückziehen wollen, wurde aber von der Schwester freundlich zum Bleiben aufgefordert.


    Ben kam sich vor, als hätte er einen Elefantenrüssel, als die sogenannte CPAP-Maske auf seiner Nase befestigt wurde. Anfangs fand er es sehr angsteinflößend und unangenehm unter der Nasenmaske, aber weil Semir ganz nah bei ihm war und immer noch tröstend seine Hand hielt, begann er zögernd, wie die Schwester das zu ihm sagte, durch die Nase ein-und auszuatmen. Die Schwester veränderte noch die Feineinstellung und als sein Atem regelmäßig floss, verließ sie die beiden Freunde wieder, nachdem sie Ben zuvor noch sein Schmerzmittel hatte zukommen lassen. „Schlimm?“ fragte Semir, aber Ben schüttelte den Kopf. Nachdem er sich ein wenig daran gewöhnt hatte, war es ganz gut auszuhalten und als kurze Zeit später die Logopädin zu Semir kam, verfolgte er interessiert, was die nun mit seinem Partner so anstellte.


    Zuerst musste Semir verschiedene Mundübungen machen, was aussah, wie Grimassen schneiden. Als Ben unter seiner Maske zu grinsen begann, schenkte er ihm einen bitterbösen Blick, woraufhin der gleich wieder ernst wurde. „Meinst du, du schaust besser aus?“ fragte Semir leicht beleidigt und Ben bemühte sich, den Kopf zu schütteln, um keine Missstimmung aufkommen zu lassen. Die Logopädin hatte aufmerksam zugehört, wie Semir gesprochen hatte-immer noch leicht verwaschen und mit wenig Wortmelodie und notierte sich im Geiste schon einige Übungen, die sie ihm auftragen würde.


    So begann sie aber erst mal ganz schematisch mit ihrer Diagnose, ließ ihn die Lippen spitzen, verschiedene Laute ausstoßen und dann holte sie Kärtchen mit Dingen hervor, die Semir nun benennen und deutlich aussprechen sollte. Der kam sich vor wie im Kindergarten, aber er würde einfach alles machen, damit sein Sprechvermögen wieder vollständig normal wurde.
    Nach einer halben Stunde angestrengten Übens ließ die Fachfrau Semir mit Hausaufgaben zurück und nun war es an dem, sich bequem in seinem Sessel zurückzulehnen und entspannt die Augen zu schließen, bis sein Mittagessen kam.

  • Ben atmete unter seiner Maske und betrachtete seinen Freund Semir. Gott war er froh, dass es dem besser ging und auch die Sprache hatte sich seit dem gestrigen Tag um ein Vielfaches verbessert. Gerade Semir, der ja gerne und viel sprach und auch viel Wortwitz hatte, spontan reimen konnte und solche Sachen, war ja auf diese Fähigkeit angewiesen. Wie das wohl war, wenn man im Kopf alles deutlich wusste und sich nicht artikulieren konnte? Bestimmt schrecklich-ihm hatte es schon gelangt, diesen Tubus im Hals zu haben und deshalb nichts sagen zu können.


    Er lauschte in sich hinein. Natürlich hatte er eigentlich ständig Schmerzen, aber sie waren in einem gewissen Maß erträglich, solange er ausreichend Medikamente dagegen bekam. Er merkte aber genau, wenn der Wirkspiegel nachließ, denn dann wurden sie richtiggehend unerträglich. Er konnte dann an nichts mehr anderes denken, als diesen Vernichtungsschmerz in seinem Bauch. Der war auch so anders, als der Wundschmerz nach der Operation. Der war zwar auch nicht angenehm gewesen, aber viel leichter erträglich, während dieser Schmerz in ihm wütete, wie ein wildes Tier. Irgendwie hatte er schreckliche Angst davor, dass irgendwann die Mittel nicht mehr helfen würden und er dann diesem Schmerz hilflos ausgeliefert war.


    Er konnte sich erinnern, als vor Jahren Semir und er zu einem Unfall auf der nächtlichen Autobahn gerufen worden waren. Ein PKW war spektakulär in eine Autobahnbrücke gekracht und in Flammen aufgegangen. Der Fahrer war teilweise verbrannt, aber trotzdem hatte der Gerichtsmediziner bei der Obduktion noch feststellen können, dass er eine fortgeschrittene Krebserkrankung gehabt hatte. Die Ehefrau hatte erst völlig überrascht und entsetzt getan, aber als Semir mit ihr ruhig und ausführlich gesprochen hatte und ihr klar gemacht hatte, dass da etwas faul war an der Sache, war sie mit dem Plan herausgerückt, den ihr Mann verfolgt und bis zum bitteren Ende durchgezogen hatte. Er hatte unerträgliche, durch nichts mehr behandelbare Krebsschmerzen gehabt und wollte mit diesem spektakulären Selbstmord, der nach einem Unfall aussehen sollte, wegen der doppelten Versicherungssumme der Lebensversicherung, seinem Leben ein Ende bereiten und seine Angehörigen finanziell gut versorgt zurücklassen.


    Sie hatten damals lange über diesen Fall gesprochen und beide hatten sich nicht vorstellen können, wie man auf so eine Idee kam, aber Ben war jetzt bewusst, dass er da auch nicht so weit davon entfernt war. Bevor er mit solch schrecklichen Schmerzen weiterleben würde, was heißt leben-vegetieren- würde er zur Dienstwaffe greifen und die Sache ein für allemal beenden. Für alle eine Last zu sein, für Angehörige, Freunde, Kollegen und völlig ohne Lebensqualität dahinsiechen-nein dann lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Wo seine Sachen überhaupt waren? Da musste die Waffe ja wohl oder übel auch mit dabei sein, denn er hatte sie am Körper getragen, als er ohnmächtig geworden war.


    Gerade als er in solch trüben Gedanken gefangen war, kam das Mittagessen für Semir und die Schwester stellte es an dessen Nachttisch ab. Der Mobilisationsstuhl, in dem der gerade erwachte Semir saß, war fahrbar und die Pflegerin schob ihn nun einfach zu seinem Nachtkästchen hinüber und richtete ihm das Essen ein wenig her. Ben wurde alleine schon beim Gedanken an Essen übel. Er würgte innerlich, versuchte sich aber zu beherrschen, um Semir den Appetit nicht zu verderben. Die Schwester trat nun zu ihm, befreite ihn von der Maske und legte wieder eine Sauerstoffbrille in sein Gesicht. Als sie ihn musterte, fragte sie gleich, ob ihm übel war und er Schmerzen habe. Er nickte und sagte leise: „Beides!“ woraufhin er gleich wieder einen Opiatbolus bekam und die Magensonde angesaugt wurde. Sie holte noch ein Mittel gegen die Übelkeit und spritzte es ihm, machte seinen Mund mit Mundpflegestäbchen frisch und cremte seine Lippen ein. Sie erhob noch einige Messwerte, wie den zentralen Venendruck und nachdem der immer noch sehr niedrig war, obwohl sich in Bens Körper gerade massiv die Flüssigkeit ansammelte, bekam er nochmals einen Liter Infusion zusätzlich. Der Urin der nach wie vor nur spärlich in den Beutel floss, war bierbraun, von den Gallenfarbstoffen, die übers Blut in die Nieren wanderten und so ausgeschieden wurden.
    Ihr Patient hatte nicht nur eine Baustelle, stellte die Schwester seufzend fest, während sie ihm noch den Rücken mit Franzbranntwein abrieb und ihn bequem anders lagerte. So jung und schon so krank-sie hoffte nur, er würde das überstehen.


    Während Semir mit wenig Appetit und immer wieder einem Seitenblick auf seinen Freund, der furchtbar schlecht aussah, in seinem Essen herumstocherte, schloss Ben nun die Augen und gab der Müdigkeit, die das Antiemetikum verursachte, nach.

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