Erloschene Erinnerungen

  • Nina hatte große Mühe, sich gegen Toni zur Wehr zu setzten. Ihr kam allerdings ihre gute Nahkampfausbildung zugute und so schaffte sie es nach einer wilden Rangelei Toni zu überwältigen. Bewusstlos lag er nur vor ihr. Schnell nahm sie die Handschellen von Ben und kettete Toni an den Heizungsrohren an der Wand im Wohnzimmer fest. Sie hatte gerade den Halt noch einmal überprüft, als sie durch die geöffneten Türen Geräusche vom Dach vernahm. Ralf war Ben anscheinend gefolgt und sie schienen zu kämpfen. Bens angestrengtes Stöhnen, das gedämpft an ihr Ohr drang, konnte sie unter tausenden erkennen. Er schien in Schwierigkeiten zu sein. Da er noch lange nicht gesund war konnte er sich wahrscheinlich nicht lange wehren. Ohne zu zögern nahm Nina ihre bereit gelegte Waffe vom Küchentresen und rannte die Stufen hinauf, dem Dach entgegen.


    Schnell hatte sie die letzten Stufen genommen und ihr Ziel erreicht. Doch das Bild, das sich ihr bot, ließ sie erstarren. Ralf stand in einiger Entfernung und hatte seine Waffe genau auf Ben gerichtet. Ben stand zitternd im Regen, nass bis auf die Haut. Seine Augen waren geschlossen und seine Arme ein wenig ausgebreitet, so als ob er das Unausweichliche erwarten würde. Ben sah wohl, dass er keine Chance mehr hatte und Schröder völlig wehrlos gegenüberstand. Er hatte sich seiner Situation ergeben. Doch das durfte nicht sein. Nina musste schnell handeln. Sie wollte gerade ansetzten, als Ralf, der sie anscheinend noch nicht bemerkt hatte, den Hahn spannte. “Bye Bye, Bulle”, waren Ralfs letzte Worte, bevor er den Abzug drückte.


    Ben stand noch immer da, hatte die Augen geschlossen. `So sollte es also enden`. Er dachte noch einmal kurz an alle seine Freunde, an seine Familie und alle die ihm nahe standen. An Semir, mit dem er so viele schöne Dinge erlebt hatte und der sein bester Freund geworden war. Und an Nina. Sekundenbruchteile später hallte der Knall in seinen Ohren wieder. Doch er spürt keine Schmerzen. `Ging es wirklich so schnell?`, dachte sich Ben. Ein weiterer Knall war zu hören, dann ein dumpfer Aufschlag. Die Kälte durch den Regen war immer noch so real und seine Kleidung klebte nass an seiner Haut. Der Regen tropfte aus seinen Haaren. Zögerlich begann er zu blinzeln. Als Ben die Augen halb öffnete, sah er verschwommen seine Chefin mit gestreckter Waffe stehen. Schröder lag am Boden. Ben fasste sich mit beiden Händen an die Brust um zu tasten, ob ihm wirklich nichts passiert war. Doch alles war heil. Er hatte in der Anspannung gar nicht gemerkt, wie er den Atem angehalten hatte und ließ nun wieder Luft in seine Lungen strömen. Ein Gefühl der Erleichterung ging durch seinen Körper und alles fiel von seinen Schultern ab. Nur knapp war er dem Tod entkommen. Schon wieder einmal. Ben konnte sein Glück kaum fassen.


    Doch irgend etwas an dem Bild passte nicht. Seine Sicht wurde langsam klarer. Kim stand immer noch in derselben Position, doch ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Erst jetzt nahm Ben die Gestalt wahr, die vor ihm stand. Es war Nina. Sie war mit dem Rücken zu ihm gewandt. Ihre Haare und Kleidung waren bereits ebenfalls nass durch den Regen und ein leichtes zittern ging durch ihren Körper. Ben begriff immer noch nicht, wollte ihre Schulter berühren um ihr Gesicht zu sehen, als sie plötzlich vor ihm zusammenbrach.

  • Kim löste sich als erste aus ihrer Starre. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. In den Bruchteilen einer Sekunde war es schwer zu erfassen, welches Drama sich direkt vor ihren Augen abspielte. Sie hatte das Wohnhaus betreten und jemanden an der Treppe nach oben rennen gehört. Also folgte sie der Spur bis zum Dach. Dort stand Ralf Schröder, die Waffe direkt auf Ben gerichtet. Es regnete in Strömen. In dem Augenblick, als Kim begriff, was hier vor sich ging, hatte Ralf bereits abgedrückt. Schon konnte sie sehen, wie sich Nina in sekundenschnelle in die Schussbahn stellte und so Ben vor dem sicheren Tod bewahrte. Ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Dennoch glaube Kim erkennen zu können, dass sie es einzig und allein nur für Ben tat, um ihm das Leben zu retten. Der Fleck auf ihrer Brust wurde immer dunkler und immer größer. Ralf hatte sich gedreht und wollte ein zweites Mal feuern um die Sache zu Ende zu bringen, doch Kim kam ihm zuvor und streckte ihn mit einem gezielten Treffer nieder. Als sie sich wieder den beiden zuwandte, stand Ben immer noch an ein und der selben Stelle. Er war nicht fähig sich zu bewegen, so tief saß noch der Schrecken der Ereignisse. Er tastete seine Körper ab um wirklich sicher zu gehen, dass er doch nicht getroffen wurde. Beinahe hätte er zu lächeln begonnen, während er Kim einen Blick der Dankbarkeit schenkte. Doch dann nahm er Nina war. Er betrachtete sie einen Moment. Wusste nicht genau, was hier passierte. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, zögerlich, als sie plötzlich in sich zusammen brach und schlaff zu Boden fiel.


    Endlich kam auch Ben aus seiner Lethargie. Vergessen waren seine Verletzungen. Vergessen war einfach alles. Zögernd kniete er sich zu Nina hinab und sah an ihr entlang. Sie blutete. Sie blutete sehr stark. “Nina…”, hauchte er. Vorsichtig berührte Ben ihr Gesicht, blickte in ihre halb geöffneten glasigen Augen. Kim hatte derweilen die Lebenszeichen von Schröder überprüft. Doch sein starrer Blick und die Körperhaltung ließen darauf schließen, dass sie keine Vitalzeichen mehr finden würde. Sofort ging sie zu Ben, der sich über Nina gebeugt hatte, die immer noch auf dem nassen Boden lag. Sie kniete sich ebenfalls hinunter, sah den Einschuss auf Ninas rechter Brust und das Blut, das unaufhaltsam aus der Wunde strömte. “Oh nein…”. Kim zog ihre Jacke aus und presste sie auf die Wunde. Mit der anderen Hand fischte sie ihr Handy hervor und streckte es Ben entgegen. “Los Jäger, verständigen Sie den Notarzt”. Als ihr das Telefon nicht abgenommen wurde blickte sie Ben an. Doch Ben starrte nur auf Nina herab und bewegte sich keinen Zentimeter. Er hatte alles um sich herum ausgeblendet. Er selbst war ganz blass und zitterte immer noch leicht. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Also wählte Kim selbst schnell die 112 und setzte den Notruf ab. Dann war ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nina gerichtet. Sie begann mit zitternden Händen ihre Jacke noch fester auf die Wunde zu pressen, um die Blutung wenigstens ein wenig zu stoppen. Ninas Pupillen waren stark erweitert und Kim erkannte sofort, dass sie unter Schock stand. Auch ihre Atmung war sehr flach und das rasselnde Geräusch machte ihr Angst. “Nicht aufgeben Nina, gleich kommt Hilfe!”. Ben war unterdessen immer noch bewegungslos und konnte das Geschehene kaum verarbeiten. Sie hatte sich in die Schussbahn geworfen. Sie hatte ihm wieder einmal das Leben gerettet. Ihre Selbstlosigkeit war nun ihr Schicksal. Und er konnte nichts dagegen tun.

  • Die Tropfen des Regens auf der blanken Haut ihrer Wangen gaben Nina das Gefühl zu weinen. Aber wirkliche Tränen überwanden die Mauer aus Schmerz und Angst jedoch nicht. Sie starrt in den grauen Himmel. Alles schwamm dahin. Sie glaubte zu träumen, bis sie plötzlich Bens Gesicht über sich sah. “Ben…“. Ihre Stimme drohte zu versagen. Doch genau das riss Ben aus seiner Starre. Er nahm nun ihre Hand, strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht. “Bleib bei mir… Bitte tu mir das nicht an”, flehte Ben. Er befürchtete so sehr, dass sie den Kampf verlor. Tränen füllten seine Augen und vermischten sich mit dem Regen. “Warum hast du das getan? Warum nur hast du das getan?”. Weinend nahm er ihre Hand und führte sie zu seinem Mund. Unter Schmerzen lächelte sie ihn an. “Lass mich heute dein Held sein”, hauchte sie Ben entgegen. “Das war sehr mutig von dir. Ich kann mir niemand mutigeren vorstellen”, gab Ben zu. “Man muss mutig sein, um zu zeigen, was man fühlt. Und das bin ich nicht”. Sie wollte wenigstens in diesem einen Augenblick ehrlich zu sich selbst sein und sich eingestehen, wie sehr sie Ben doch liebte. Ben merkte aber, wie Nina langsam die Kraft verließ. “Nicht sprechen, es wird alles wieder gut. Ich bin bei dir”, versprach er ihr und legte seinen Finger auf ihre Lippen. Doch sie schüttelte den Kopf und versuchte noch einmal zu Atem zu kommen. “Wenigstens… wenigstens darf ich… für die eine Liebe sterben”. Dieser Satz brach Ben beinahe das Herz. Er dachte, er hätte sie wieder gefunden und nun sollte er sie gehen lassen? Das durfte nicht sein. “Es ist alles gut. Wir sind zusammen. Dir kann nichts mehr passieren, hörst du. Ich bin bei dir”. Doch Nina hatte die Augen bereits geschlossen und ihr Kopf kippte langsam zur Seite.


    Im selben Augenblick kam das Rettungsteam an. Alles lief vor Bens Augen ab wie in einem Film. Kim nahm ihn bei Seite und er beobachtete, wie sich die Sanitäter um Nina kümmerten. Sie wurde untersucht, beatmet, ihr wurden Infusionen gelegt und schließlich wurde sie für den Abtransport bereit gemacht. “Sie muss sofort in ein Krankenhaus. Ich hoffe, wir schaffen es rechtzeitig”, hörte er eine Stimme von fern. Nina wurde weg gebracht und im selben Moment erschien auch Semir auf dem Dach des Hauses. Er blickte zuerst zu Ben, dann auf den großen Blutfleck, der mit dem Regen vermischt wie ein bleierner See erschien. Er sah zu seiner Chefin, die ebenfalls mit der Fassung rang und langsam mit dem Kopf schüttelte. Dann ging er auf Ben zu. Er wollte ihm Halt geben, ihm beistehen. Das war er seinem besten Freund schuldig. Denn er hatte es nicht rechtzeitig geschafft. Er war nicht rechtzeitig da, als sein Partner ihn am meisten brauchte. Ob er sich das so schnell verzeihen konnte? “Ben, bist du verletzt? Ist alles ok mit dir?”, sprach er Ben an und rüttelte sanft an seiner Schulter. Doch Ben starrte immer noch auf die Tür, in der die Rettungskräfte gerade mit der Trage verschwunden waren. “Was ist denn passiert? Was ist mit Nina?”, wollte Semir wissen. Ben reagierte immer noch nicht. Deshalb packte Semir Bens Arm fester. “Ben, sieh mich an!”. Ben stand noch einige Augenblicke wie hypnotisiert da, bewegte sich nicht, bis schließlich seine zitternden Knie unter ihm nachgaben und er an Semir halt suchend langsam zu Boden glitt. Verzerrt konnte er noch Semirs Stimme hören, die verzweifelt nach ihm rief, als sein Gesichtsfeld sich langsam verengte und er von Dunkelheit umhüllt wurde.

  • Semir lief unruhig den Gang auf und ab. Er wartete schon seit gefühlten Stunden. Die Chefin hatte ihm bereits alles berichtet, was sie mitbekommen hatte, bevor er bei Bens Wohnung ankam. Er konnte das alles noch gar nicht richtig begreifen. Wäre er doch nur ein wenig früher dagewesen. Oder hätte er doch nur eine andere Route gewählt. Dann wäre das ganze vielleicht erst gar nicht passiert. Aber im Moment nützte es niemandem etwas alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Es war wie es war und Semir konnte es nicht ändern. Er musste sich jetzt voll und ganz auf Ben und vor allem auf Nina konzentrieren. Sie war schon sehr lange im OP und Semir hoffte so sehr auf eine gute Nachricht, dass er immer wieder auf die Türen starrte. Aber sie blieben verschlossen. Zu Ben wurde er auch noch nicht gelassen. Er hatte noch genau das Bild vor Augen, als er auf dem Dach ankam. Ben, weiß wie eine Wand, der abwechselnd auf die Tür und auf die Blutlache von Nina am Boden starrte. Er war auf Ben zugegangen, wollte im Mut zusprechen. Doch Bens leere Augen starrten weiter stur in eine Richtung, als wäre er in seiner Welt gefangen. Er stand unter Schock. Und dann, ohne Vorwarnung, war auch er einfach zusammen gebrochen. Semir konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er zu Boden sank. Sein ganzer Körper zitterte. Seine Hände versuchten irgend etwas als Rettungsanker zu ergreifen. Seine Augen waren noch geöffnet, aber auf die Ansprachen zeigte er keinerlei Reaktion. So hatte er Ben noch nie gesehen. Er war am Ende. Der Arzt meinte, die psychische Belastung war zuviel für ihn, so dass sich sein Geist in einer Art Schutzmechanismus zurückzog. Er hatte im Krankenhaus noch ein Beruhigungsmittel erhalten, damit er möglichst lange schlief. Und deshalb war er bis jetzt auch noch nicht ansprechbar. Semir hoffte, dass er bald zu seinem Partner gelassen wurde. Denn er wollte ihm auf jeden Fall zeigen, dass er für ihn da war. Gerade jetzt, wo er ihn wahrscheinlich am meisten brauchte.


    “Sie sind der Kollege von Herrn Jäger und Frau Lechner?”. Erschrocken drehte sich Semir um, hatte er den Arzt doch gar nicht kommen hören. “Ja, ja, das bin ich. Wie geht es den beiden?”, war seine erste Frage und seine braunen Augen blickten den Arzt erwartungsvoll an. “Nun, wollen wir uns setzten?”. Er wies auf die Stühle neben ihnen und Semir nah unruhig platz. “Frau Lechners Zustand ist weiterhin kritisch. Sie wird immer noch operiert. Die Kugel hat zwar knapp ihr Herz verfehlt, aber es ist sehr schwer sie zu entfernen. Außerdem hat sie sehr viel Blut verloren. Wir können leider noch nicht sagen, ob ihr Körper dieser Belastung standhält. Aber wir tun unser bestes”. Semir nickte und blickte betroffen zu Boden. `Nicht schon wieder`, dachte er sich. Aber er war sich sicher, dass Nina nicht so leicht aufgab. “Und Ben?”, war nun der Blick wieder auf den Arzt gerichtet. “Bei Herrn Jäger konnten wir soweit keine äußerlichen Verletzungen feststellen. Nach den Berichten, die ich gelesen habe, scheint er aber psychisch sehr angeschlagen zu sein. Das bereitet mir mehr Sorgen. Auch wenn es nach außen nicht immer den Anschein erweckt, können solche Geschehnisse, die Herr Jäger in der letzten Zeit verkraften musste, großen Schaden anrichten, was seine emotionale Seite betrifft. Ich würde deshalb raten ihn umgehend in therapeutische Aufsicht zu geben”. Der Arzt sah Semir ernst an. Doch Semir wusste, was Ben brauchte. “Die einzige therapeutische Maßnahme für ihn ist Nina. Also sorgen sie bitte dafür, dass sie es schafft. Ansonsten ist er verloren”. Der Arzt verstand. “Ich werde mein bestes geben”, versprach er nochmals. “Darf ich zu Ben?”, bat Semir bevor der Arzt sich zum gehen wandte. Er überlegte kurz. “Bitte, es ist wichtig!”, flehte Semir. “Na gut. Aber behandeln sie ihn so schonend wie möglich. Und falls er nach seiner Kollegin fragt geben sie ihm noch keine Auskunft. Sonst könnte die Enttäuschung ihm am Schluss den Rest geben”. Semir verstand.

  • Leise betrat Semir zum wiederholten Male ein Krankenzimmer. Er hasste es so sehr um einen geliebten Menschen bangen zu müssen. Semir sah auf und stieß die Luft aus. Ben lag in einem Krankenhaushemd bekleidet in einem Bett. Seine nassen Sachen hingen im Bad. Sein Haar war immer noch feucht, doch seine Lippen hatten wieder eine gesunde Farbe angenommen. Wenigstens waren diesmal keine Gerätschaften um ihn herum verteilt, so dass Ben beinahe friedlich wirkte. Vorsichtig strich er ihm durch sein Haar. “Du musst jetzt stark sein Ben. Für dich und für Nina. Und du musst wissen, dass ich immer für dich da bin. Ich steh immer an deiner Seite, hörst du? Du bist nicht allein!”. Semir kamen schon wieder die Tränen und er versuchte sie zu unterdrücken. Erschrocken nahm er seine Hand zurück als Bens Kopf sich bewegte. Ben seufzte und Semir meinte seinen Namen leiste gehört zu haben. “Ja, ich bin hier. Ich bleibe bei dir”, flüsterte er ihm zu. Semir wertete dies als gutes Zeichen. Er nahm sich den Stuhl und setzte sich neben Bens Bett, in der Hoffnung bald mit ihm sprechen zu können. Jetzt hieß es wieder warten.


    Einige Zeit war bereits vergangen und Semir verließ kurz das Krankenzimmer um sich mit einem Kaffee über den weiteren Tag zu retten. Ben schlug die Augen auf und sah seinem Partner hinterher. Er war schon einige Zeit wach, doch hatte er noch nicht den Mut sich mit der Realität zu konfrontieren. Starr blickte er zur Seite. Er sah sich in dem Raum um, doch seine Gedanken gingen wild durcheinander. Vor seinem inneren Augen spielte sich etwas ganz anderes ab. Tränen standen ihm in den Augen und sein Mund verzog sich, als die Tür geöffnet wurde und Semir mit einem dampfenden Becher wieder im Raum stand. Als Semir die Tür hinter sich schloss und sich umdrehte, sah er, dass Ben bereits wach war. “Hey Partner!”. Doch Ben zeigte abermals keine Reaktion. Etwas irritiert nahm er wieder platz. “Ben, kannst du mich hören?”, fragte er nun etwas leiser. Er sah seinem Freund direkt in die leeren Augen und legte seine Hand auf seinen Arm. Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. “Semir”. Bens Stimme klang so fremd. “Semir, ich…”. Das erste mal blickte Ben ihm jetzt direkt in die Augen und konnte den Blick auch halten. “Semir, er… er wollte mich töten… und sie… sie hat…”. Er brach ab. Er konnte nicht aussprechen, was vorgefallen war. Doch Semir verstand. Er nahm seinen Freund in die Arme und hielt ihn ganz fest. “Sie hat es für dich getan. Und sie wird es schaffen, da bin ich mir sicher”. Semir war sich zwar überhaupt nicht sicher, aber er musste Ben irgendwas geben, woran er seine Hoffnung festmachen konnte. Er spürte das Beben des Körpers seines Freundes und wie sich seine Finger fester um sein T-Shirt schlossen. Sanft strich er mit der Hand über seinen Rücken, wie er es bei Ayda immer tat, wenn sie weinte und wiegte ihn hin und her. Als sich Ben wieder einigermaßen beruhig hatte, sah er Semir wieder an. Tränen schwammen immer noch in seinem Blick mit. “Semir, ich kann nicht mehr”, gab er leise zu. Semir wusste nicht, was er darauf sagen sollte. War Ben doch immer der Starke, der Kämpfer. Und nun offenbarte er ihm, dass er am Ende war. Semir wollte ihm so gerne Mut machen, wusste aber nicht genau wie. “Schlaf noch ein bisschen. Naher sieht alles vielleicht schon ganz anders aus”. Ben befolgte seinen Rat und war dank der Beruhigungsmittel, die immer noch ihre Wirkung taten, bald wieder eingeschlafen. Semir hatte ihn nicht mehr gefragt, was genau vorgefallen war. Ben brauchte Zeit, um wieder in die Normalität zurück zu kehren.

  • Doch von Normalität konnte keine Rede sein. Die Ärzte hatten es zwar geschafft, die Kugel aus Ninas Körper zu entfernen. Aber deshalb war sie noch lange nicht außer Lebensgefahr. Immer wieder ein kurzer Besuch auf der Intensivstation und ein Blick auf Nina, der ihm gewährt wurde, ließ Semir mehr und mehr an ein einem guten Ausgang zweifeln. Wie sollte er Ben nur beibringen, wie schlecht es um sie stand? Er wollte nicht noch einen Partner aufgeben müssen. Aber im Moment sah es mehr als schlecht für alle Beteiligten aus. Ben war zwar kurz davor entlassen zu werden, aber sein Zustand machte Semir mehr als Sorgen. Er sprach kaum noch. Er grübelte den ganzen Tag. Er weinte während der Nacht. Und er war währenddessen nicht ein einziges Mal bei Nina gewesen. Obwohl sie zeitweise auf der Intensivstation Besuch bekommen durfte. Deshalb versuchte es Semir noch einmal. “Geh zu ihr“. Ben blockte wie immer ab, ohne ihn anzusehen. “Ich kann nicht“, antwortete Ben brüchig mit gesenktem Blick. Semir versuchte es deshalb noch einmal. “Sie ist stabil. Und wenn du sie siehst geht es dir bestimmt besser“. Doch Ben lies sich nicht beirren. “Ich kann sie nicht so sehen. Was ist wenn… wenn sie… Semir ich kann einfach nicht. Ich möchte sie so in Erinnerung behalten, verstehst du“. Das machte Semir ein wenig wütend. “Du tust ja so, als ob sie schon tot wäre!”. Doch fuhr er etwas sanfter fort. “Sie braucht dich jetzt. Du hast ihr schon einmal zurück ins Leben geholfen. Warum nicht auch jetzt, warum nicht heute? Bitte gib sie nicht auf“. Semir sah ihn eindringlich an, suchte seinen Blick. “Ich gebe sie nicht auf, das habe ich nie getan. Ich will nur nicht… Ach, verdammt, ich weiß ja selbst nicht einmal, was ich will“. Ben vergrub sein Gesicht in seinen Händen. “Du willst sie und sie will dich. Also gib dir einen Ruck und geh zu ihr. Halte ihre Hand. Rede mit ihr. Es wird dir gut tun. Und es wird ihr gut tun. Komm, ich bring dich hin“. Nach mehreren Überredungsversuchen willigte Ben endlich ein.


    Er fühlte sich absolut nicht in der Lage ihr gegenüber zu sitzen, war er doch der Grund, warum sie überhaupt hier lag. Er hatte lange darüber nachgedacht. Wieso hatte er ihr bei Toni nicht geholfen und war wie ein Feigling weggerannt? Wieso hatte er sich nicht einfach weiter gewährt und hatte sich wie ein Feigling einfach hingestellt und abgewartet? Er war ein Feigling und nichts anderes. Wie sollte er ihr denn nur gegenübertreten? Was würde sie von ihm denken? Doch auch kamen ihm ihre letzten Sätze in den Sinn, die ihm ein wenig Hoffnung gaben. Sie war sein Held und er war es ihr schuldig an ihrer Seite zu sitzen! Wenigstens das war er ihr mehr als schuldig.


    Semir schob Ben in einem Rollstuhl sitzend auf die Intensivstation. Er brachte ihn in ihr Zimmer und blieb vor der Scheibe dann stehen. Semir beobachtete, wie Ben ihre Hand haltend mit ihr redete. Wie er ironisch lachte, wie er weinte. Er hoffte so sehr, das Nina ihn hörte und zurück fand. Zurück ins Leben.


    Tage vergingen, in denen Ben immer und immer wieder an ihrem Bett saß, mit ihr sprach. Ihr Zustand hatte sich nicht verändert. Aber Ben tat es gut, mit ihr zu reden, in der Hoffnung, sie würde verstehen und würde seine Anwesenheit spüren. Ihr konnte er alles sagen. Deshalb war es für ihn auch wesentlich leichter, mit ihr über die Vorfälle zu sprechen, als mit einem Psychologen. Auch wenn sie ihm nicht antworten konnte. Aber bei ihr fühlte er sich verstanden. Ben wusste genau, wenn sie wieder aufwachen, wenn sie wieder zu ihm zurückkehren würde, dann wäre alles gut. Aber mit jedem Tag, den er hoffte, kam auch die Enttäuschung. Und mit ihm der Schmerz. Er kam immer in Wellen über ihn, heftig und stoßweise, erschütternd und herzzerreißend. An anderen Tagen schwappten die Wellen langsam und träge dahin und drohten ihn zu ertränken. Er war in diesem weiten Meer aus Schock und Kummer gefangen. Sein einziger Fels war Semir, der ihm immer wieder Mut machte, der ihn nach vorne blicken ließ. Doch anstatt zu lernen auf den Wellen zu reiten, spürte er, wie er tiefer und tiefer hinunter ins Dunkel gezogen wurde.

  • Ben saß mit Semir zusammen im Wohnzimmer der Gerhans, beide eine Bierflasche in der Hand. Semir wollte nicht, das Ben die ersten Nächte allein zu Hause verbrachte, deshalb hatte er ihn mitgenommen. Das Gästebett stand immer für ihn bereit. Andrea hatte sich mit den Kindern bereits zurück gezogen und Semir versuchte mehr aus Ben herauszubekommen. Seit dem Vorfall hatte er wenig gesprochen, was es für Semir nicht leichter machte.


    “Ben, bitte sag mir, was dich beschäftigt. Ich bin dein Freund. Du kannst mit mir reden. Ich möchte dir so gern helfen”, versuchte es Semir wieder. Ben blickte in den Raum, drehte seine Bierflasche in der Hand, als ob er Semir gar nicht gehört hätte. Semir wollte wieder aufgeben und hatte seinen Blick gesenkt, als Ben plötzlich doch zu sprechen begann. “Ich kann mich wieder an alles erinnern”. Semir blickte schlagartig auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch sein Partner starrte weiter stur geradeaus. Semir gingen nun so viele Fragen durch den Kopf, doch er musste sich gedulden. Er hörte einfach weiter zu. “Was muss es nur für Nina bedeutet haben mit diesen Erinnerungen zu leben? Ich bin ein Versager, ein Feigling. Weder in diesem verdammten Drecksloch, als er ihr etwas antun wollte, noch auf dem Dach konnte ich ihr helfen. Sie hat alles für mich getan und ich? Ich steh einfach nur da”. Kurze Stille trat ein. “Ben, red dir doch so etwas nicht ein. Du hast sogar eine Eisenstange aus der Wand gerissen, nur um ihr zu helfen. Du hast Nina vor viel schlimmerem bewahrt. Wer weiß, was der Typ mit ihr angestellt hätte”. “Ich weiß es”, warf Ben ein und er erschauderte abermals bei dem Gedanken welchen körperlichen und seelischen Schaden Ralf Schröder seiner Nina zufügen wollte. Semir hatte Recht. Doch nichts desto trotz konnte er die Vergangenheit nicht ändern.


    “Wieviel würde ich dafür geben, um ihr nur noch ein mal sagen zu können wie sehr ich sie liebe? Warum nur habe ich sie damals gehen lassen?”. “Genau deswegen”, antworte Semir, obwohl er wusste, das Ben diese Frage nur rhetorisch gestellt hatte. Jetzt blickte Ben ihn direkt an. Man konnte wieder einen leichten Glanz in seinen Augen erkennen. “Sie hat dir auf die ergreifenste Art und Weise gezeigt, wie sehr sie dich liebt. Wie zeigst du ihr das jetzt? Indem du um sie trauerst? Indem du in Selbstvorwürfen zerfliest? Sei stark für sie, Ben. Sie braucht dich jetzt mehr denn je”, versuchte er Ben zu ermuntern. “Aber was ist, wenn sie wieder geht?”, fragte Ben. Semir wusste genau, dass Ben dies in zweierlei Hinsicht meinte. Dass Nina entweder den Kampf verlor oder dass sie sich aus Liebe zu ihm wieder gegen ihn entscheiden würde. “Dann bewahre dir das Gefühl”, riet ihm Semir. “Die Erfahrung jemanden von ganzem Herzen geliebt zu haben kann dir keiner nehmen. Nichts ist umsonst. Jeder muss viel erdulden im Leben, Junge…”, Semir hatte seine Hand nun väterlich auf die Schulter von Ben gelegt, “…aber was du daraus machst, liegt allein an dir”. Ben ließ seine Gedanken noch einige Augenblicke kreisen, dann erhob er sich. “Danke, Semir!”, sagte er, nahm seine Jacke und verließ das Haus. Semir wusste genau, wohin sein Weg ihn führen würde.

  • Leise setzte er sich an ihre Seite, wie er es die Woche zuvor schon so oft getan hatte. Noch immer lag sie blass und bewegungslos vor ihm, zeigte keine Anzeichen irgendeiner Veränderung. Er hatte immer gehofft, sie würde einfach die Augen öffnen und ihn anlächeln, doch nichts dergleichen geschah. Ben nahm abermals ihre Hand, drückte sie ganz fest und beugte sich näher zu ihr. “Es tut mir Leid. Es tut mir so unendlich Leid, was alles passiert ist. Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen. Warum nur passiert so etwas? Sag mir, wann hört das auf?”. Ben konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er sprach noch lange mit Nina, in der Hoffnung sie konnte ihn doch irgendwie hören oder würde seine Gegenwart wahrnehmen. “Du sollst wissen, ich habe dich nie aufgegeben. Auch wenn es für dich vielleicht den Anschein erweckt hat. Aber ich glaube immer an dich. Bitte kämpfe weiter! Wenn nicht für mich, dann auf jeden Fall für dich. Du sollst leben. Ich wünsch es dir so sehr”. Ben fuhr mit seinen Fingern zart über ihre Wange und küsste sie zaghaft. Danach schlief er aus Erschöpfung an ihrer Seite friedlich ein.


    Diesmal hatte er seit langem keine Alpträume gehabt. Es war ein schöner Traum. Ben konnte sich zwar nicht genau erinnern, als er aufwachte, aber das Gefühl war gut. Langsam streckte er sich, hatte er doch in einer nicht sehr bequemen Position geschlafen. Er richtete sich auf, blickte an Nina entlang, die immer noch im Bett lag, und erschrak. Sie sah ihn an. Ben konnte seinen eigenen Augen noch gar nicht trauen. Er rieb sie sich kurz, doch tatsächlich, sie blickte ihn an. Zwar sehr müde und erschöpft, aber immerhin. “Nina! Du bist wach?”, fragte Ben immer noch ungläubig. Sie war noch so geschwächt, das kein Laut ihre Kehle verließ. Doch ihre Lippen formten seinen Namen. Wieder rannen Tränen über seine Wangen. Diesmal waren es Tränen der Erleichterung. “Du hast mir so gefehlt”, gestand ihr Ben. Nina wollte ihm so viel sagen, doch es gelang ihr nicht. Es war, als ob ihr Körper ihr nicht gehorchen wollte. So schwach und müde hatte sie sich noch nie gefühlt. Aber Ben verstand sie, auch ohne Worte. Es bedurfte einfach keiner, denn sie beide fühlten das gleiche. “Jetzt wird alles gut. Ich werde dich nicht mehr im Stich lassen. Ich möchte dein Held sein. Ich finde immer zu dir, weil du mir den Atem nimmst. Und jetzt schlaf noch ein wenig. Damit du bald wieder gesund wirst. Ich werde auf dich warten”. Erschöpft schloss Nina die Augen wieder, in der Gewissheit Ben würde bei ihr bleiben. Dieses Gefühl gab ihr Sicherheit und Ruhe.

  • Mit jedem Tag, mit jedem Gespräch, kam die Wärme in Bens Herz zurück und er konnte sich nicht mehr vorstellen ohne sie zu sein. Es kam ihm vor wie ein Deja´vu, als er Nina am Tag ihrer Entlassung mit zu sich nach Hause nahm. Als sie auf seiner Couch saßen, er ganz dicht neben ihr. Sie ihm Arm hielt, den Duft ihrer Haare einsog und hoffte, dieser Moment der Stille und des Friedens würde ewig so anhalten. Ihre Haare fielen über seine Schulter. “Was ist das nur mit den Haaren einer Frau?”. Er fuhr mit den Händen hindurch und schaute sie an. “Was ist das nur mit dir?”. Sie schmiegte sich an ihn. Nina fühlte sich so geborgen bei ihm. Einen Moment lang hielt er sie nur fest, seine Hände strichen über ihre Haare, ihren Rücken. So viel Trost und Zuneigung fand er nur bei ihr. “Was ist das nur mit dir?”, wiederholte er. “Es beruhigt mich, wenn ich dich berühre. Aber du bittest mich nie um etwas. Du gibst, ohne zu fordern. Ist das deine Art?”. Sie schwieg eine Moment. Doch Ben redete weiter. “Du ziehst mich einfach an. Und letztendlich bin ich derjenige, der sich verirrt hat in dir”. “Keine Angst, ich finde dich schon. Ich finde dich immer”. Wieder legte Nina den Kopf auf seine Schulter. Sie hatte lange überlegt. Sie musste ihm die eine entscheidende Frage stellen. “Ben?”. “Hm?”, war von ihm zu hören, denn er hatte sich völlig in ihr verloren. “Ben, liebst du mich?”. Diese Frage traf ihn wie ein Schlag. Darauf war er jetzt nun wirklich nicht gefasst gewesen. Er drehte sie langsam zu sich um, sah ihr tief in ihre blauen, klaren Augen, in denen kleine Sterne funkelten. Er strich ihr eine Strähne beiseite und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen.


    “Ich liebe dich mehr als alles sonst auf der Welt. Mehr als mein eigenes Leben. Du kannst mir vertrauen. Keiner kennt mich so wie du. Wir sind Spiegelbilder füreinander. Wir haben Leidenschaft und Schmerz miteinander geteilt. Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann wirklich verstehen, was für ein Gefühl das ist. Ich liebe dich immer noch. Genauso wie ich dich geliebt habe als du das letzte mal durch diese Tür gegangen bist. Und ich werde dich immer lieben. Nichts wird sich zwischen uns stellen!”. Seine Worten berührten sie tief. “Ein einziger Augenblick kann dein ganzes Leben verändern. Triffst du die falsche Entscheidung, kann es dich dein ganzes Leben verfolgen. Und ich möchte mich nicht mehr falsch entschieden haben”, gab Nina zu. Jäh kam Ben die Szene von letztem Mal wieder ins Gedächtnis, als sie ihm Lebe wohl sagte und durch diese Tür ging. Er wollte diese Erinnerung am liebsten löschen. Würde sich die Vergangenheit wiederholen? Jetzt, wo er ihr gestand, wie sehr er sie doch liebte?


    “Wirst du diesmal auch gehen?”, fragte Ben deshalb offen. Sie sah ihm tief in die Augen, blickte auf den Grund seiner Seele. In ihrem Inneren hatte sie längst die Entscheidung getroffen. Sie lächelte ihn an. So warm und gefühlvoll wie er es an ihr liebte. “Nein, diesmal werde ich bleiben”. Danach gaben sich beide dem innigen Kuss hin, der ihre Zukunft besiegelte.


    ENDE

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