Erloschene Erinnerungen

  • Semir betrat langsam Bens Zimmer. Er nahm sich den Stuhl von der Seite und setzte sich neben Bens Bett. Er war wirklich sehr blass. Das Krankenhaushemd und die vielen Verbände und Schläuche ließen ihn hager und eingefallen wirken. Auch seine rot unterlaufenen Augen ließen von den letzten Stunden zeugen. Semir nahm Bens Hand, um ihm so zu zeigen, dass er für ihn da war. Er machte sich nochmals Gedanken über die Worte des Arztes. Was würde ihn erwarten, wenn Ben aufwacht? An was konnte er sich erinnern? Noch wichtiger aber, an was konnte er sich nicht erinnern? Die Täter waren immer noch auf freiem Fuß. Konnte Ben ihm helfen, sie eindeutig zu identifizieren und zu schnappen? Oder war Semir nur auf Ninas Aussage und Hilfe angewiesen? Wie wird Ben reagieren, wenn er erfahren sollte, dass Nina seinetwegen ebenfalls entführt wurde? Nina hatte ihm noch nicht alles erzählt. Aber er spürte, dass noch mehr vorgefallen sein musste als sie ihm sagte. Etwas, wofür sie sich schämte, hatte er das Gefühl. Wofür sie sich schuldig fühlte. Wenn er sich so Bens Verletzungen besah, die nicht vom Unfall stammten, mochte er sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen war. Würde er es von Nina erfahren und würde er ihr helfen können? So viele Fragen. Und die Antworten würde die Zeit zeigen. Zeit, die sie aber nicht hatten, solange die Täter auf freiem Fuß waren. Semir war so abgelenkt, dass er beinahe gar nicht merkte, wie seine Hand leicht gedrückt wurde und Ben sich langsam zu regen begann.


    “Semir?…”, kam es stockend und heiser von Ben. Er hatte die Augen noch geschlossen, aber man sah, dass er wach war. “Ja ich bin hier”, entgegnete Semir sogleich, drückte seine Hand fester und strich ihm mit der anderen durch seinen Haarschopf, als Zeichen, dass er bei ihm war. “Semir…”, kam es immer noch leise, aber auch erleichternd von Ben und Semir sah wie er den Kopf bewegte und versuchte die Augen zu öffnen. “Lass dir Zeit”, sagte Semir, denn er merkte, dass es Ben wohl große Anstrengungen kostete. Nach mehreren Versuchen hatte es Ben endlich geschafft seine Augen einen Spalt weit zu öffnen und er blickte Semir müde an. Ein leichtes Lächeln umspielte Bens Mundwinkel, als er Semirs Gesicht nun erkennen konnte. Er war froh, dass sein Partner an seiner Seite war. “Wie fühlst du dich?”, erkundigte sich Semir als erstes. “Wie vom LKW überfahren”, entgegnete Ben mit kratziger Stimme. Ein kurzer Moment des Schweigens trat ein, denn Ben musste nochmals seine Kräfte sammeln. “Was ist passiert Semir? Warum bin ich hier?… Irgendwie… ist alles weg… ich weiß nicht…”. “Nur die Ruhe, Ben. Du hattest einen Unfall und eine schwere Gehirnerschütterung. Das ist normal, sagte der Arzt, dass du vielleicht einige Gedächtnislücken hast. Ich erklär dir alles, wenn du wieder etwas fitter bist”. Semir wollte Ben wie angewiesen nicht überfordern. Und da er sah, das Ben noch sehr schwach war und mühe hatte wach zu bleiben, hofft er Ben würde sich mit dieser Erklärung vorerst begnügen. Und er hatte recht, denn Ben nickte nur und schloss schon wieder die Augen. Nach wenigen Sekunden konnte er sehen, dass Ben wieder eingeschlafen war. Doch Semir wich weiterhin nicht von seiner Seite.


    In den nächsten Stunden wurde Ben immer wieder kurzzeitig ein paar Minuten wach. Er war aber immer noch so erschöpft und mitgenommen, dass er nach ein paar Worten immer schon wieder einschlief. Deshalb verabschiedete sich Semir am Abend von Ben und versprach ihm morgen gleich in der Früh wieder zu kommen. Ben sollte noch seine Kräfte sammeln bevor Semir ihn mit seiner Entführung konfrontieren wollte. Bevor er das Krankenhaus verließ sah er aber nochmals wie versprochen nach Nina. Er erzählte ihr, wie es Ben ging und das er ihn morgen wenn möglich schon über ein paar Details befragen wollte. “Bitte sag ihm aber wenn möglich nichts von mir. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde. Wir haben uns schließlich lange nicht gesehen. Ich möchte nicht, dass er sich aufregt oder Sorgen macht. Das wäre nicht gut für ihn“. “Ich werde sehen, wie sich das Gespräch entwickelt. Aber keine Sorge, ich werde mich um ihn kümmern”. “Das weiß ich”, sagte Nina und sie verabschiedeten sich. So machte sich Semir dann auf den Weg nach Hause.

  • Auf dem Weg erhielt Semir noch einen Anruf von Kim Krüger. Hartmut war es gelungen die Spuren vom Unfallort zu identifizieren und so konnten die Kollegen diese bis zu einem abgeschiedenen Haus an einem Waldstück verfolgen. Das SEK hatte sich umgehend vorbereitet und das Wochenendhaus gestürmt. Aber leider war es bereits verlassen. “Und sie konnten keine weiteren Spuren finden?”, fragte Semir etwas ratlos. “Nein, leider nicht. Hier wurde noch mal ordentlich sauber gemacht. Im Keller konnten wir lediglich Blutspuren von Ben Jäger feststellen, aber mehr leider auch nicht. Er schien mit einer Eisenstange bearbeitet worden zu sein, an der ebenfalls Blut haftete, dass von Ben stammt. Ich möchte gar nicht erst wissen, was den beiden dort geschehen war”. Kims Stimme wurde immer dünner. Sie hatte den Kellerraum selbst mit eigenen Augen gesehen. Und obwohl sie sich für eine gute Polizistin hielt, ging der Anblick der Spuren eines Kampfes nicht an ihr vorüber. “Also stehen wir wieder bei Null da”, schlussfolgerte Semir. “Ja, leider. Ruhen Sie sich aus Gerkan. Wenn Sie morgen bei Ben sind, versuchen Sie einige Einzelheiten herauszubringen. Vielleicht kann er uns weiter helfen”. “Ich werd´s versuchen”.


    Nina lag die ganze Zeit wach und fand einfach keinen Schlaf. Immer wieder spukten die Szenen der letzten Stunde durch ihren Kopf und ließen sie beinahe verzweifeln. Wie konnte das Schicksal es so schlecht mit ihnen meinen? Und vor allem mit Ben. Für ihn wollte sie immer nur das Beste. Und sie dachte, sie hätte sich damals richtig entschieden. War es ein Wink des Schicksals sie auf solche Weise nach dieser Zeit wieder mit ihm zusammen zu führen? War sie dazu bestimmt an seiner Seite zu sein? Konnte sie ihn glücklich machen? Anscheinend nicht. Denn wegen ihr, weil sie sich nicht alleine wehren und verteidigen konnte, wurde er so brutal misshandelt. Wegen ihr, weil sie nicht in der Lage war ein Gefährt richtig zu steuern, musste er die schlimmen Folgen des Autounfalls tragen. Lange dachte Nina über diese Dinge nach und die Selbstzweifel nahmen immer mehr zu. Oberste Priorität war aber erstmal, dass Ben wieder gesund wurde. Und das sie die Kerle endlich schnappen konnte. Semir würde ihr dabei helfen, sie zur Strecke zu bringen. Über diesem Gedanken ruhte sie, bis der Morgen kam.


    Ralf schlug mit der Faust hart auf den Tisch. Die Polizei hatte schnell ihre Fährte aufgenommen und das Haus gefunden, in dem sie sich versteckt hielten. Sie konnten gerade noch alles nötige beseitigen und fliehen bevor fast die ganze Kavallerie anrückte. In ihrem neuen Versteck gefiel es ihm gar nicht. Es war nicht annähernd so komfortabel wie das Haus am Waldrand. Aber es diente dem Zweck. Immer gut, wenn man einen Plan B hatte. “Wie denkst du können wir jetzt an die Informationen kommen?”, fragte ihn Toni, der es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte. “Nur keine Angst, ich hab da schon eine Idee”. Er schob das Bild in den Umschlag, klebte ihn zu und notierte den Empfänger auf der Vorderseite.

  • Semir kam am nächsten Morgen wie versprochen wieder ins Krankenhaus und begab sich sofort auf die Intensivstation. Als er Bens Zimmer betrat, sah dieser schon wesentlich besser aus am Vortag. Semir schloss leise die Tür, den Ben schien noch zu schlafen. Doch als er sich wieder umdrehte lächelte Ben ihn leicht an. “Guten Morgen Partner. Na, wie geht`s dir heute?”. “Schon etwas besser, danke”, antworte Ben immer noch schwach. Er fühlte sich so kraftlos. Jeder Muskel schmerzte und die Operationswunden waren trotz der Schmerzmittel deutlich zu spüren. Auch die Kopfschmerzen brachten ihn fast um und er hatte Mühe sich zu konzentrieren. Er versuchte sich in seinem Bett ein wenig aufzurichten, musste aber aufgeben als ihn der stechende Schmerz in der Seite wieder durchfuhr. Er wollte vor Semir keine solche Schwäche zeigen. Semir sah ihn sorgenvoll an. “Keine Angst Kumpel, das wird schon wieder”, versuchte ihn Ben zu beruhigen und brachte zitternd ein mattes Lächeln zustande. “Der Arzt hat heute morgen mit mir gesprochen. Er hat mir erklärt, was da oben bei mir passiert ist”, sagte Ben und tippte mit seinem Finger auf seinen Kopf. Ein großes Pflaster schützte immer noch die Platzwunde an der Stirn. “Semir, die letzten Tage sind einfach weg. Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern. Du musst mir helfen. Was ist mit mir passiert? Der Arzt sagte, dass die Verletzungen nicht nur von diesem Unfall kommen. An welchem Fall haben wir gearbeitet? Wie kommt es, dass ich jetzt hier bin? Bitte Semir, erklär mir das!”. Ben war ganz aufgeregt. Das konnte man auch an dem Monitor neben ihm ablesen. Ihm machte es sehr zu schaffen sich nicht erinnern zu können. Er wollte jedes Detail genau wissen. Er wollte sich wieder erinnern können. Umso mehr wuchs der Druck auf Semir, wie viel er ihm erzählen sollte. “Ben, ich möchte dich nicht überfordern. Ich kann dir auch nicht viel sagen. Aber wenn es dir zu viel wird, sag es bitte, dann brechen wir ab, ok?”. Ben nickte und Semir begann ihm davon zu erzählen, als er an dem besagten Morgen vor zwei Tagen unauffindbar war und sie keine Spur von ihm hatten. Das er entführt wurde, aber anscheinend fliehen konnte und es bei der Flucht zu dem Autounfall kam. Semir redete sich raus, dass er ja nicht dabei war und deswegen die genauen Einzelheiten und Umstände nicht kannte, die er absichtlich ausgelassen hatte.


    Doch er unterschätzte Bens Klugheit. Oberwohl er immer noch von den Medikamenten benebelt und sein Geist von den Kopfschmerzen wie gelähmt war, konnte er doch die Lücken erkennen, die Semir ihm bewusst vorenthalten wollte. “Woher weißt du, dass ich entführt wurde und danach fliehen konnte? Schließlich war ich seit dem Unfall nicht mehr bei Bewusstsein”, sah Ben seinen Partner fragend an. “Und außerdem hatte der Arzt, ganz beiläufig, erwähnt, dass der Beifahrerairbag und die schnelle Hilfe mir wahrscheinlich das Leben gerettet haben. Wer hat den Wagen gefahren? Und wer hat mir geholfen?”. Semir war von Bens Kombinationsgabe erstaunt, aber auch überrascht. Er hatte gehofft, Ben würde sich mit seiner Aussage vorerst zufrieden geben. Statt dessen bohrte er immer weiter nach. Semir versuchte seinen Blicken auszuweichen. “Semir, du verschweigst mir etwas!”. Ben versuchte sich in eine andere Position zu richten. Doch die Schmerzen ließen es nicht zu und so musste er sich resignierend zurücksinken lassen. Er verdammte seine Situation hier so hilflos zu liegen. Am liebsten wäre er sofort aufgesprungen und hätte seinen Fall selbst in die Hand genommen um herauszufinden was geschehen war, wenn ihm Semir schon nicht helfen wollte. Denn er verschwieg ihm definitiv etwas. Das konnte er an seiner Art sehen. Wie er seinen Blicken auswich und versuchte das Thema zu wechseln. Wie jetzt. Aber er musste herausfinden, was geschehen war. “Du solltest dich noch ein wenig ausruhen. Du bist bestimmt noch müde”. “NEIN!”. Die Antwort kam härter als erwartet. Ben tat es im nächsten Augenblick schon leid, so grob und überraschend laut reagiert zu haben. Aber er musste wissen, was vor sich ging. “Bitte Semir, sag es mir hier und jetzt, auf der Stelle”, flehte Ben seinen Partner an. Semir blickte nochmals sorgenvoll zum Monitor hinüber. Bens Herzschlag und Puls hatten sich stark beschleunigt. Er hatte noch die Worte des Arztes im Hinterkopf. Aber er musste ihm die Wahrheit sagen. Er konnte zwar Teile der Ereignisse Ben unterschlagen. Aber er konnte ihn nicht anlügen. “Also gut…”, gab sich Semir somit geschlagen.

  • “So weit wir wissen, wurdest du vermutlich von Ralf Schröder entführt. Sagt die der Name etwas?”. “War das nicht der Fall vom LKA mit dem Spielcasino? Der ist doch in den Bau gewandert…”. “Ja, aber er hat seine Strafe abgesessen. Die Beute gilt bis heute als verschwunden. Schröder vermutet ganz richtig, dass der Mittäter, Gerd Reimann, der ihn verraten hat, das Geld hat. Wir sind an dem Fall dran. Du hast ja damals beim LKA an dem Fall gearbeitet und Schröder auch gestellt und in den Knast gebracht. Vermutlich wollte er jetzt, wo er wieder draußen war, von dir wissen, wer in verpfiffen hat und wo das Geld ist. Er hat dich deshalb in deiner Wohnung überfallen und entführt. Er hatte keine Spuren hinterlassen. Wir wussten nicht, wo du steckst, oder was passiert war. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht”. Semir ließ Ben keine Sekunde aus den Augen um irgendwelche Reaktion oder Änderung in seiner Körperspannung erkennen zu können. Ben starrte an die Decke. Er versuchte sich zu erinnern. Aber da war nichts. “Ben?”, wollte Semir nachfragen, ob alles in Ordnung war. Ben versuchte derweilen sich zu konzentrieren, irgend etwas vor seinem geistigen Auge zu sehen. Aber da war nichts. Als ob Semir von jemand anderem sprach. “Schon gut, erzähl weiter…”.


    “Anscheinend wollte er von dir Informationen bekommen. Aber du wirst sie ihm nicht gegeben haben. Das hat ihn wütend gemacht”. Demonstrativ fasste sich Ben an die Seite, wo er den dicken Verband um seine Rippen spüren konnte. Unweigerlich ging auch Semirs Blick auf die vielen blauen Flecken und Verletzungen an seinem Körper, die zu sehen waren. Semir atmete noch mal tief durch. “Sie haben deshalb ein Druckmittel beschafft”, stellt Semir in den Raum. Bens Kopf ruckte zu ihm herüber. Seine Augen wurden immer größer und sahen ihn fragend an. “Aber sie hat dir geholfen zu fliehen. Doch leider kam es auf der Flucht zu dem Unfall”, beendete Semir seine Erkenntnisse. “Sie?”, fragte Ben und seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. Er musste unweigerlich an die Frauen in seinem Bekannten- und Freundeskreis denken. Doch da gab es eigentlich nicht viele. Eine paar flüchtige Bekanntschaften oder alte Liebschaften. Nichts wichtiges. Die einzigen Konstanten waren da noch seine Chefin, Kim Krüger, und natürlich Susanne. Zu letzterer verband ihn eine tiefe Freundschaft. War ihr etwas zugestoßen?


    Semir ließ Ben noch ein wenig Zeit. Er merkte, wie es in ihm arbeitete und hoffte er könnte sich vielleicht selbst daran erinnern. Das seine erloschenen Erinnerungen wieder zurückkehrten. “Semir, wer?”. Mit dieser Frage war seine Hoffnung dahin. Er musste es ihm sagen. “Es geht ihr gut, sie wurde nur leicht verletzt und…”. Semir wollte Ben erstmal beruhigen. Denn er fragte sich bestimmt auch, ob ihr ähnliches widerfahren war wie ihm, der jetzt hier auf der Intensivstation lag. Doch wurde er gleich unterbrochen. “Semir, WER?”, war nochmals die etwas harsche Frage von Ben, die Semir leicht zusammenzucken lies. Er konnte die aufsteigenden Tränen in Bens Augen erkennen und den großen fragenden Blick, der trotz Bens Erschöpfung unermüdlich auf seine Lippen gerichtet war. “Es war Nina”, sagte Semir kurz und knapp.


    “Was?…” Seine Frage war nur mehr ein flüstern. Er starrte Semir weiter entsetzt an. Eine stille Träne bahnte sich seinen Weg. Er begann langsam den Kopf zu schütteln. “Nein, nein, nein… das kann nicht sein”, kam es immer noch flüsternd und gebrochen von Ben. Mit ihr hätte er als allerletztes gerechnet. Er hatte Nina doch schon so lange nicht gesehen. Und jetzt sollte sie seinetwegen entführt worden sein. Und er konnte sich nicht einmal daran erinnern. Sie war nur noch ein verblassendes Bild, als er sie das letzte mal sah. Als sie durch seine Tür ging und ihm lebe wohl sagte. Das selbe hatte er ihr auch gewünscht. Aber er konnte sie nie vergessen. Er hatte oft an sie gedacht. Er hatte sie geliebt. Und jetzt sollte sie seinetwegen wieder in Schwierigkeiten sein? “Nein, nein, nein… das darf nicht sein…”. Ben hatte in seiner Lethargie gar nicht gemerkt, wie Semir die Schwester gerufen hatte, die jetzt neben seinem Bett stand. Sie setzte gerade die leer Spritze von dem Zugang an seinem Handrücken ab. “Bitte beruhigen Sie sich Herr Jäger. So viel Aufregung ist nicht gut für sie. Ganz ruhig weiteratmen”, drang es zu Ben durch. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sein Körper gegen die Anstrengung protestierte und er leicht zu hyperventilieren begann. Sein Herz pochte wie wild in seiner Brust und sein Puls war in die Höhe geschnellt. Doch langsam entspannte er sich wieder und auch sein Geist wurde schwerer. Semir saß etwas machtlos neben seinem Bett. “Ben, bitte reg dich nicht auf, es geht ihr gut”, versuchte er ihn zu beruhigen, bevor Ben in den herbeigeführten Schlaf fiel.


    “Sie sollten ihn doch nicht überlasten”, mahnte die Schwester, nachdem sie nochmals Bens Werte gecheckt hatte. “Ich weiß”, gestand Semir ein, “aber er hat immer weiter nachgefragt. Ich musste ihm die Wahrheit sagen. Ich kann ihn nicht anlügen”. Semir blickte wieder traurig auf Ben herab und sah, dass er endlich ruhig schlief. Er hatte erwartet, dass es Ben überraschen würde, wenn er erfährt, das die Entführer Nina als Druckmittel benutzt hatten. Aber das es ihn so sehr aufwühlen würde? “Wie geht es ihm jetzt?”. “Die neuen Informationen waren ein Schock für ihn. Mit schlechten Informationen konfrontiert zu werden, an die man sich nicht einmal erinnern kann, obwohl man dabei war, ist sehr belastend. Herr Jäger kann diese Informationen im Moment noch nicht verarbeiten. Auch sein schlechter Allgemeinzustand belastet seinen Körper zusätzlich. Wir müssen ihm die Ruhe gönnen, die er braucht. Nötigenfalls mit Sedativum”. Semir nickte stumm und blickte nochmals zu seinem schlafenden Freund. Er wollte nicht, dass es so weit kommt. “Am besten kommen Sie in zwei Stunden noch mal vorbei. Dann wird er vielleicht wieder wach werden. Sie sollten bei ihm sein, um ihm das Gefühl zu geben, dass jemand für ihn da ist”, riet ihm die Krankenschwester. “Ich hab da eine bessere Idee…”.

  • Leise klopfte Semir an die Tür und späte ins Zimmer hinein. Nina saß auf der Bettkante und drehte sich um. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund als sie Semir eintreten sah. “Gibt’s was Neues von Ben?”, überfiel sie ihn gleich. Semir berichtete ihr von dem Gespräch und natürlich auch, wie sehr es ihn mitgenommen hatte zu erfahren, das Nina in den Fall mit verwickelt wurde. “Du solltest zu ihm gehen. Das wird ihn beruhigen. Er macht sich sicher viele Gedanken. Aber wenn er dich sieht, weiß er, dass alles in Ordnung ist und er sich keine Sorgen machen braucht. Es wird ihm helfen wieder gesund zu werden. Und vielleicht kommen auch seine Erinnerungen zurück“. Nina hatte noch Zweifel. Sicher hatte er sich gestern, unter den gegebenen Umständen, gefreut sie wiederzusehen. Das hatte sie gespürt, als er sie in die Arme nahm und sie festhielt. Aber ob es ein weiteres mal so sein würde? “Bist du dir wirklich sicher Semir? Ich meine, was ist wenn er mich gar nicht sehen möchte?”. “Das kann ich mir nicht vorstellen. Er wird sich sehr freuen, glaub mir… Ich fahr zurück zur PAST und werde sehen, was ich weiter herausfinden kann, damit wir diesen Schröder endlich schnappen können. Außerdem müssen wir Reimann noch ausfindig machen. Ich bin mir sicher er hat das Geld. Und du bleibst so lange bei Ben. Hier seid ihr in Sicherheit. Hier kann euch nichts passieren”.


    In der PAST war geschäftiges Treiben. Das ganze Team war damit beschäftigt, neue Informationen zu sammeln und mehr über die Täter in Erfahrung zu bringen, die Ben so zugesetzt hatten. Nachdem Semir eingetroffen war, hatte die Chefin in sofort in ihr Büro zitiert. Sie teilte ihm die neuesten Ergebnisse mit, nicht ohne sich aber zuvor nach Ben und Nina erkundigt zu haben. “Wir haben dank Frau Lechners Beschreibung das Versteck ausfindig machen können, in dem die beiden festgehalten wurden. Leider war es bereits verlassen. Die Spurensicherung versucht noch verwendbares Material zu finden, um vielleicht einen Anhaltspunkt zu bekommen, wo sie sich zur Zeit aufhalten könnten. Uns liegen auch keine Zeugenaussagen vor, die den Unfallhergang oder ein anderes Fahrzeug gesehen haben könnten. Diese Strecke neben der Autobahn ist nur selten befahren. Und der gemeldete Wohnsitz von Reimann ist auch noch immer verlassen. Wir haben also zur Zeit keinerlei Anhaltspunkte. Wir können jetzt nur noch hoffen, dass die Fahndung etwas ergibt”. “Ich werde mich gleich dahinterklemmen, Chefin”. “Ich habe für Ben Jäger einen Personenschutz abbestellt. Sicher ist sicher. Sobald er aus der Intensivstation kommt, wird er rund um die Uhr bewacht werden. Was ist mit Frau Lechner? Es wird ihr nicht gefallen…”. “Um Nina werde ich mich kümmern. Sie wird bei uns unterkommen. Außerdem wird sie bei den Ermittlungen mithelfen wollen. Da kann ich sie im Auge behalten”, entgegnete Semir. “Sehr gut. Dann an die Arbeit, Gerkan!”.


    Susanne hielt ihn auf dem Weg in sein Büro noch auf. “Semir, hier ist ein Umschlag für dich abgegeben worden”. Semir nahm den Umschlag entgegen, bedankte sich und setzt sich an seinen Schreibtisch. `Komisch, gar kein Absender` dachte er sich und nahm den Brieföffner zur Hand. Er zog ein Foto aus dem Umschlag. Was er sah ließ Semir den Atem stocken. Beinahe wäre ihm das Foto aus den Händen geglitten, so sehr war er von dem Anblick schockiert. Es war das Unfallfahrzeug. Und man konnte deutlich sehen, dass sich Nina und Ben noch darin befanden. Überall war Blut. Die beiden waren anscheinend ohne Bewusstsein. Semirs Hände begannen zu zittern. Er hatte schon viele Unfälle gesehen. Aber seine Freunde auf dem Foto zu sehen, wie sie hilflos und wehrlos dasaßen, das war zuviel. Wie gebannt konnte er den Blick nicht davon wenden. Er drehte das Foto langsam um. Auf der Rückseite waren in Rot die unheilvollen Worte zu lesen: “Das war erst der Anfang!”

  • Nina stand vor der Scheibe und starrte in Bens Zimmer. Ihr Herz verkrampfte bei dem Anblick. Er sah so hilflos aus, so schwach. All die Maschinen und Gräte um ihn herum wirkten bedrohlich. Die Angst, ihn zu verlieren kroch wieder in ihr hoch. “Sie können ruhig zu ihm gehen. Es ist in Ordnung”, sagte die Schwester, die Nina nochmals kurz informiert hatte. Langsam betrat sie das Zimmer. Sie setzte sich, wie Semir zuvor, an seine Seite und nahm langsam seine Hand in ihre. “Ich weiß nicht, ob du mich hier haben willst, Ben. Aber ich bin für dich da, wenn du mich brauchst”, flüsterte sie und strich ihm mit ihrer freien Hand durch sein Haar und küsste zärtlich seine Finger. “Ich brauche dich”. Sie wollte diese Bindung zu ihm nicht zulassen und hatte bis dato auch geglaubt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Aber mit jeder Minute, die sie wieder bei ihm war bereute sie es mehr und mehr. Je länger sie ihn anblickte, desto stärker kamen ihre Gefühle der Zuneigung und der Geborgenheit wieder zurück. Das Bedürfnis in seiner nähe zu sein und ihn zu spüren überwältigte sie abermals. Leise Tränen bahnten sich ihren Weg und tropften auf das weiße Laken.


    Der Nebel begann sich langsam wieder zu lichten. Er versuchte die letzten Gedanken weiter zu ordnen. Ein Gefühl der Panik und der Hilflosigkeit. Ein Bild taucht vor seinem geistigen Auge auf. Diesmal ist es ganz klar und deutlich. Nina. Sie hat Angst.
    “Warum hast du das getan?”, fragte Nina und sah ihm dabei in die Augen. “Ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht zusehen, wie er dich verletzt. Das hätte ich nicht ertragen”. “Danke… ich weiß nicht, was ohne dein Eingreifen passiert wäre… Danke Ben”, schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in seiner starken Schulter. Er drückte sie an sich, so fest er konnte und strich ihr beruhigend über den Rücken. “Es ist gut, ich bin ja da”, flüsterte er ihr ins Ohr und schloss für einen Moment die Augen.
    Die Szene verblasste wieder. Ben versuchte sich zu konzentrieren, doch es war wieder weg. Plötzlich spürte er eine Hand in seiner. Ganz zart und weich. Anders als die von seinem Partner Semir. Eine andere streicht ihm übers Gesicht. So warm und liebevoll. Er kannte dieses Gefühl, diese Berührung. Schwach drehte er seinen Kopf in die Richtung.


    “Ben?” Sie nahm das leichte zucken seiner Finger in ihrer Hand war. Auch die Bewegung seines Kopfes zur Seite. Er schien aufzuwachen. “Ben?” Seine Lider flackerten immer wieder unter dem Versuch sich zu öffnen und kurze Zeit später sah sie in zwei matte braune Augen.
    Ben konnte nur Umrisse erkennen. Diese verdammten Medikamente legten nicht nur die Schmerzen, sondern auch scheinbar seine Sinne lahm. Er versuchte sich zu konzentrieren, schloss mehrmals die Augen um den Schleier zu vertreiben. Seine Hand wurde wieder gedrückt. Eine Aufmunterung für ihn sich mehr Mühe zu geben. “Ben, kannst du mich hören?” Wieder eine zarte Hand, die seine Wange berührt. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm. Dann nahm er alle gesammelte Kraft zusammen und öffnete die Augen wieder. Diesmal ist alles klarer und deutlicher. Leuchtend blaue Augen, wie er sie gekannt hatte. Die braunen Haare, das zarte Gesicht. “Nina…”, kommt es leise und erleichtert über seine Lippen. “Streng dich nicht so an. Es dauert seine Zeit”, sagte Nina. Denn sie merkte, dass Ben beim erwachen angestrengter atmete. Sein Puls war erhöht. Wahrscheinlich wollte er zu viel zu schnell.
    Für Ben war es ein reinster Kraftakt überhaupt wach zu bleiben. Aber er konnte seinen Blick nicht von Nina abwenden. Zu lange hatte er sie vermeintlich schon nicht gesehen. Er wollte jede Einzelheit ihres Gesichtes studieren, damit sie nicht wieder so verblassen, wie er es zugelassen hatte. Wie er es verdrängt hatte, um die Enttäuschung nicht zu spüren. Eingeschlossen in seinem Inneren. Jetzt hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als ihr Gesicht zu sehen und sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Aber so viel Traurigkeit und Sorge lag in ihrem Blick. Sein Bewusstsein wäre beinahe wieder weggeschwemmt worden, doch er hielt an sich und bemühte sich wach zu bleiben. Er brachte ein schwaches Lächeln zustande, worauf sich auch Ninas Miene ein wenig erhellte. Ben befeuchtete kurz seine Lippen. “Ich… ich bin… bin so froh, dich zu sehen”, brachte er stockend hervor. Jetzt konnte Nina ihre Tränen der Erleichterung nicht mehr zurückhalten. “Ich hatte solche Angst um dich. Ich dachte ich hätte dich verloren, Ben. Und diesmal für immer…”, weinte sie und schmiegte Bens Hand an ihr Gesicht. “Hey, ist ja gut… Sieh her, ich lebe noch… ich bin zäh, ich pack´ das”, sagte Ben nun schon etwas klarer. Am liebsten hätte er sich aufgerichtet und sie umarmt, aber seine Kräfte reichten dafür noch nicht aus. Er bewegte seinen Daumen um eine Träne abzuwischen, die sich ihren Weg bahnte. “Du hast mir so gefehlt”, gab Nina zu und legte ihren Kopf ganz vorsichtig auf seine Brust. Sie wollte ihm nahe sein, ihn halten, solange sie konnte. Dieses Gefühl der Geborgenheit genießen, solange es dauerte. Nur er gab ihr seither dieses Gefühl und sie hatte es so sehr vermisst.


    Nach einem Moment des Schweigens, Nina dachte schon, Ben sei wieder eingeschlafen, strich er ihr durchs Haar, um wieder ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie erhob ihren Kopf von seiner Brust, rückte näher an sein Bett heran. “Bitte, du musst mir helfen, mich wieder zu erinnern”. Ihre Augen wurden schlagartig wieder traurig. “Das kann ich nicht. Ben, der Arzt sagt, du musst dich von allein wieder erinnern und du darfst nichts erzwingen. Es ist er mal wichtig, dass du dich erholst und bald wieder fit bist”. Sie sah Bens enttäuschtes Gesicht. “Ich kann verstehen, dass es wahrscheinlich im Moment sehr belastend für dich sein mag, nicht zu wissen, was die letzten Tag vorgefallen ist. Aber wichtig ist, dass du körperlich wieder gesund wirst. Und hier bist du in Sicherheit”. “Und wer passt auf dich auf?”. “Keine Sorge, Semir kümmert sich um mich… Wir werden diese Kerle drankriegen, die dir das angetan haben, das schwöre ich dir!” Ben verdammte seine Situation. Er lag hier und konnte absolut nichts tun. Nina wurde in die Sache mit hinein gezogen, obwohl sie nichts dafür konnte. Und er wusste nicht einmal was passiert war. So wie er sich fühlte, müssten die Täter nicht gerade zimperlich mit ihnen umgegangen sein. Darauf ließen jedenfalls auch die vielen blauen Flecken und Blutergüsse an seinem Körper schließen. Auch Ninas Gesicht und Arme war gezeichnet von diversen Schrammen und einer Wunde an der Stirn. Und er konnte nun in seiner Lage nichts ausrichten. Er musste auf Semir hoffen. Ninas Stimme riss ihn aus den Gedanken. “Schlaf noch ein bisschen, das wird dir gut tun”, sagte sie liebevoll und strich im nochmals durchs Haar. Er war ganz abwesend und Nina ahnte, dass er wahrscheinlich zu viel grübelte um die Erinnerungen wieder aufzurufen. Aber Ruhe war jetzt das beste. “Ich werde hier bleiben, du kannst ganz beruhigt sein”. Ben nickte und schloss die Augen. Eigentlich wollte er weiter nachdenken, aber schon nach wenigen Sekunden war er wieder eingeschlafen.

  • Langsam schlich sich Semir um das Haus, die Waffe immer im Anschlag. Vor nicht einmal 15 Minuten hatte er endlich den erlösenden Anruf erhalten. Sie hatten Reimann gefunden. Er war kurz in seine Wohnung zurückgekehrt. Die Kollegen konnten unbemerkt die Verfolgung aufnehmen und ihn nun bis zu seinem Zielort verfolgen. Ein hübsches Haus in einer netten Wohngegend. Semir gab das Zeichen und sofort drangen die Kollegen des SEK mit gezogenen Waffen in das Haus ein. Gerd Reimann saß am Tisch und war mehr als überrascht und verdutzt, so dass er keinerlei Gegenwehr zeigt. “Was wollen Sie von mir?”, begann er sich nun doch zu wehren, verstummt aber sobald er Semir Gerkan erkennen konnte. Nun wusste er, was die Stunde geschlagen hatte. Seine Tarnung war aufgeflogen. So ließ er sich ohne Worte abführen.


    “Nun geben Sie schon zu, dass Sie das Geld unterschlagen haben um sich ein schönes Leben zu machen. Sie haben alle an der Nase herumgeführt. Hätten Sie sich nicht denken können, was passiert, wenn Ralf Schröder wieder frei ist?”, schnaubte ihn Semir an. Reimann saß zusammengekauert auf dem Stuhl im Verhörraum der PAST und hatte noch keinen Ton gesprochen. Semir wurde immer wütender. “Verdammt noch mal”, knallte er mit der Faust auf den Tisch, was Reimann zusammenschrecken ließ. Semir trat zu im herüber und packte ihn am Kragen. “Sie werden im Bau landen und das für sehr sehr lange Zeit, das verspreche ihn Ihnen, wenn Sie jetzt nicht endlich den Mund aufmachen!”. Reimann versuchte sich aus Semirs Griff zu winden. “Schon gut, schon gut, ich geb´s ja zu”. Semir ließ ihn wieder auf den Stuhl sinken und nahm ihm gegenüber Platz. Reinmann begann zu erzählen.


    “Ok, ich habe das Geld genommen. Ich habe damals bei der Verhaftung gelogen und habe Ralf alles in die Schuhe geschoben. Ich wollte einfach ein besseres Leben. Ich hatte das Geld danach in meiner Wohnung versteckt. Nach und nach habe ich mir einige Dinge geleistet. Natürlich alles in bar bezahlt. Ich lernte ein Frau kennen, machte ihr schöne Geschenke und bin dann bei ihr eingezogen. Ich tat so, als hätte ich einen hohen Posten, über den ich nicht sprechen durfte. Ich bin jeden Tag zu Arbeit außer Haus gegangen. In Wirklichkeit bin ich in meine Schutzwohnung und habe die Zeit totgeschlagen oder mich anderweitig vergnügt. Ein klassisches Doppelleben. Meine Freundin hat nie nachgefragt. Es lief alles bestens. Durch das Zeugenschutzprogramm wusste ich, dass Ralf mich nicht finden konnte. Wieso sollte ich mir also Sorgen machen? Einem Verbrecher glaubt doch keiner, wenn er behautet hätte, ich hätte das Geld. Aber einem reumütigen ehemaligen Kleinkriminellen schon eher. Ich hatte nichts zu befürchten”.
    “Und durch Ihre Leitsinnigkeit haben Sie meinen Partner in Lebensgefahr gebracht!”, stieß Semir bitter aus. Wie konnte man nur so naiv sein, dass der Schwindel nie auffliegen würde. “Helfen Sie mir”, fuhr Semir weiter fort. “Wo könnte sich Schröder versteckt halten? Wir brauchen alle Anhaltspunkte, damit wir ihn Dingfest machen können. Er wird mächtig sauer sein. Und solange er frei herumläuft, ist er nicht nur für meinen Partner, sondern auf für Sie eine ernste Gefahr und unberechenbar”.


    “Was sollen wir tun Chefin? Er hat gestanden, hat aber keine Ahnung wo Schröder sein könnte. Wir müssen ihn stellen. Er ist für Ben und Nina eine große Gefahr”, resultierte Semir bitter. Beide standen vor der Scheibe des Verhörraumes und sahen zu, wie Reimann eben abgeführt wurde. Er sollte nach der Überführung sofort seinen Haftantritt leisten. Wenigstens eine Genugtuung für Semir. Kim atmete einmal tief durch und sah dann Semir an. “Wir werden es umgehend publik machen. Wir werden die Medien damit füttern. Schröder wird es sehen. Es wird ihn wütend machen. Wut macht unvorsichtig. Wir können ihn dadurch zur Aufgabe zwingen”. “Chefin, meinen Sie, das ist ein so guter Plan? Wir könnten dadurch Ben nur noch mehr in die Schusslinie bringen”, wand Semir ein. “Einen besseren habe ich im Moment nicht. Jäger wird außerdem ab sofort rund um die Uhr bewacht. Im Krankenhaus kann ihm nichts geschehen. Und um alles andere machen wir uns danach Gedanken. Wichtig ist, dass wir schnell und unverzüglich handeln”. Semir bestätigte dies und machte sich sofort an die Arbeit. Hoffentlich hatte dieser Plan gelingen.

  • Die Stunden vergingen, in der Nina einfach nur neben Bens Bett saß und über seinen Schlaf wachte. Sie selbst fühlte sich immer noch sehr erschöpft. Ihr Körper erinnerte sie bei jeder Bewegung schmerzhaft an die gestrigen Ereignisse. Und auch die Kopfschmerzen kehrten mit jeder Minute mehr und mehr zurück. Doch an Schlaf war für sie nicht zu denken. Ihr Gehirn arbeitete wie verrückt. Und sie hatte Angst vor den Bildern, die sie verfolgten.
    Die Schwester kam routinemäßig vorbei und checkte die Werte von Ben. Alles sah gut aus. “Was ist mit Ihnen Frau Lechner? Sie sind ja ganz blass. Möchten Sie sich nicht auf Ihrem Zimmer noch ausruhen?”, fragte die Schwester besorgt. “Nein, nein, schon in Ordnung, danke. Es sind nur die Kopfschmerzen”, log Nina. “Ich werde Ihnen noch ein Infusion über ihren Zugang am Arm legen, mit einem leichten Schmerzmittel. Das wird Ihnen helfen”. Die Schwester verschwand und kam kurz danach mit einem Infusionsbeutel wieder. Sie legte ihn an Ninas Zugang an und wies sie an sich ein wenig zu entspannen. Sie wollte später noch mal nach ihr sehen. Nina schloss daraufhin kurz die Augen, spürte wie die kühle Flüssigkeit in ihre Vene floss und die Schmerzmittel zu wirken begannen. Unbemerkt schlief sie wenig später auf ihrem Stuhl an Bens Seite ein.


    Ralf trat vor sie und setzte sich auf ihren Schoß. Er begann ihr durchs Haar zu streichen und ihr Gesicht zu berühren. “Na Ben, was hältst du davon, wenn ich mir einfach deine kleine Freundin hier nehme?”, provozierte er Ben und riss ihr mit einem Ruck die Bluse auf. Im Hintergrund konnte sie Bens Schreie hören, als auf einmal der Knopf ihrer Jeans geöffnet wurde. Gedemütigt schloss sie die Augen. Seine Hände glitten weiter über ihren Körper nach unten. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Doch plötzlich war das Gewicht auf ihren Schenkeln verschwunden. Als sie die Augen wieder öffnet schlug Ralf auf Ben ein, bis er schließlich bewusstlos zusammenbrach. Er lag vor ihren Füßen. Er blutete aus diversen Wunden an seinem Körper. Sein Gesicht war zu ihr gewandt, Blut rann aus der Wunde am Kopf. Doch er war ohne Bewusstsein und rührte sich nicht.


    “Nina?… Nina…” Es dauerte, bis sie die Hand auf ihrem Arm wirklich wahrnahm, die an ihr rüttelte und sie zurück in die Realität holte. Sofort schoss sie hoch und ihre Augen flogen panisch durch den Raum. “Ben?”, keuchte sie völlig außer Atem. Es dauerte einen Moment, bis Nina sich wieder im Griff hatte, ihre Atmung sich langsam normalisierte und ihre Orientierungslosigkeit sich legte. Dann realisierte sie, wo sie sich überhaupt befand. Sie saß immer noch auf dem Stuhl an Bens Seite. Er hatte die Hand auf ihren Arm gelegt und blickte sie sorgenvoll an. Er sah schon wieder wesentlich besser aus. Langsam wurde sie ruhiger. “Ein Alptraum?”. Sie blickte zu Boden. “Ben, ich…”. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. “Was du erlebt hast muss schrecklich gewesen sein. Ich wünschte ich könnte mich erinnern. Ich wünschte ich könnte nachempfinden, was passiert ist. Und ich wünschte ich könnte dir helfen”. “Nein Ben, es ist… Ich komm klar… Entschuldige bitte”. “Du brauchst dich nicht entschuldigen. Wann hast du das letzte mal geschlafen?”. “Na eben gerade”, rang sie sich zu einem müden Lächeln durch. Doch Ben durchschaute ihre Fassade. “Nina, du bist total am Ende. Du brauchst Ruhe und Schlaf um dich zu erholen genauso dringend wie ich. Glaub mir, ich komm klar”. “Ich möchte dich nicht allein lassen Ben”. “Und ich möchte nicht, dass du dich verausgabst“. Nina gab sich geschlagen und verließ somit schweren Herzens den Platz an Bens Seite, begab sich wieder auf ihr eigenes Krankenzimmer. Nicht ohne nochmals durch die Scheibe zurückzublicken. Sie hätte nicht gedacht, dass sie noch so sehr an Ben hing und es ihr so schwer fiel ihn alleine zu lassen. Auf ihrem Zimmer angekommen fand sie aber dann schließlich den Schlaf, den sie so dringend benötigte.


    In ihrem Versteck schmiedete Ralf bereits neue Pläne. Die Ereignisse hatte eine unerwartete Wendung genommen. Heute war in den Nachrichten zu hören, dass ein jahrelang verschwunden geglaubter Casinoraub jetzt aufgetaucht sei. Ein reue bekennender Mittäter hat gestanden und das Geld überführt. Allerdings wurde auch berichtet, dass die Summe verschwindend gering war, da der Raub fast komplett ausgegeben wurde und nun die erworbenen Gegenstände in einer Auktion versteigert werden. “Was willst du machen? Das Geld ist futsch. Wir sollten die ganze Sache ruhen lassen”, regte Toni an, der die Nachricht ebenfalls verfolgte. “Nein vergiss es. Jäger hat mir die Suppe gehörig versalzen und dafür muss er büßen!”. Er wollte sich an Ben rächen, dass er ihn so vorgeführt hat, denn er wusste, er konnte jetzt nicht mehr an das Geld kommen. Aber zuallererst wollte er sich Gerd vorknöpfen. Mit ihm hatte er schließlich auch noch eine Rechnung offen. Er brauchte nur noch etwas Zeit und die passende Gelegenheit.

  • Semir war, nachdem er alles nötige erledigt hatte, noch mal zu Ben ins Krankenhaus gefahren. Er berichtete ihm von der Festnahme und dem anschließenden Verhör von Reimann. Ben wäre am liebsten selbst dabei gewesen. Schließlich hatte er ihm das alles zu verdanken. Zorn stieg in Ben hoch, den er nur zu gerne an Gerd Reimann entladen hätte. Aber er musste sich gedulden, bevor er ihm gegenüberstehen konnte. Denn die nächsten Tage würde er sicherlich noch nirgends hingehen können. “Und habt ihr schon was neues von Ralf Schröder?”. Semir ließ den Blick sinken und musste den Kopf schütteln. “Leider nein. Aber wir werden alles tun. Die Chefin und ich haben einen Plan”. Semir erzählte ihm von dem durchgeführten Vorhaben, die Medien zu involvieren und ihn dadurch aus der Reserve zu locken. “Du wirst deshalb Personenschutz bekommen Ben. Ich habe ihn schon vor deinem Zimmer positionieren lassen. Es ist nur zur Vorsicht”. Semir wollte nicht zugeben, dass er schreckliche Angst um Ben hatte. Er hat ihm und Nina natürlich das Foto und die darauf geschriebene Drohung vorenthalten. Selbst Semir und die Chefin hatte diese Skrupellosigkeit zutiefst erschüttert. Und er wollte Ben nicht noch mehr belasten. Denn Ben hatte im Moment schon genug zu kämpfen. Semir war bei dem Gefühl viel wohler, das jemand rund um die Uhr auf seinen Partner achtete. Ben nahm seine kleine Ausrede zum Glück wortlos hin. “Wir hoffen, er wird unvorsichtig und dann kriegen wir ihn dran. Für alles, was er dir und Nina angetan hat”. Semir wollte sich wieder verabschieden, damit sein Freund noch etwas Ruhe hatte. Als er sich zum gehen wandte, hielt ihn Ben noch kurz auf. “Semir, versprichst du mir etwas?”. “Wenn es in meiner Macht liegt”, antworte er etwas unsicher. “Semir, bitte pass auf Nina auf. Ich möchte nicht, das ihr unverschuldet noch einmal irgendetwas meinetwegen zustößt! Bitte versprich mir das”. Semir trat noch einmal an Bens Seite und sah ihm in die Augen. “Ich werde alle tun, um sie so weit wie möglich da raus zu halten. Und ich werde auf sie achten. Das kann ich dir versprechen… Jetzt ruh dich aus, damit du schnell wieder hier raus kommst. Und zerbrich dir nicht so viel den Kopf. Ich werde mich um alles kümmern”. Semir lächelte Ben an, denn er meinte es ernst und wollte nichts mehr, als den Fall zu ende und Schröder endlich hinter Gittern bringen. “Danke, Partner!”, lächelte Ben zurück. Er wusste, auf Semir war Verlass.




    Fast eine Woche war vergangen. Ben ging es von Tag zu Tag besser. Er musste zwar noch im Krankenhaus bleiben, aber der Arzt hatte gesagt, dass er vielleicht schon in zwei Tagen entlassen werden konnte. Doch Ben quälte sich insgeheim täglich, um nicht doch eine Fetzen der Erinnerungen aufzuschnappen, die ihm verloren gegangen waren. Vergeblich.
    Semir hatte Nina nach ihrer Entlassung zu sich nach Hause geholt und sie hatte sich dort ebenfalls gut erholt. Andrea hatte sie umsorgt und sich um alles gekümmert, was sie brauchte. Nina war dies gar nicht mehr gewohnt, denn sie lebte ja schon immer allein und konnte gut für sich selbst sorgen. Doch sie genoss die Fürsorge und die Gespräche mit Andrea sehr. Auch die beiden Kinder hielten sie auf Trab und lenkten sie tagsüber von ihren Sorgen ab. Doch nachts sah alles anders aus. Nina sagte niemandem etwas von den Alpträumen, die sie fast jede Nacht einholten. Sie konnte sich das nicht erklären. Nina hatte schon oft schlimme Situationen erlebt, konnte es immer beiseite schieben oder verarbeiten. Sie war immer professionell und souverän. So, wie es ihr Job von ihr verlangt hatte. Doch diesmal war es anders. War sie aus der Übung? Hatte es etwas mit Ben zu tun? Sie hatte Angst um ihn. Sehr große Angst. Und solange die Täter noch frei herumliefen würde sich diese Angst auch nicht legen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag, jede freie Minute, bei ihm, um sich zu vergewissern, das alles in Ordnung war und das er nicht in Gefahr war. War es gut, sich wieder so an ihn zu binden oder sollte sie sich wieder zurückziehen? Schließlich lag das Schicksal nicht in ihrer Hand und sie konnte den Lauf der Dinge nicht ändern. Sie konnte Ben nicht rund um die Uhr schützen. Aber sie wusste auch, je mehr sie bei ihm war, desto schwerer viel ihr der Gedanke, ohne ihn zu leben. Quälende Gedanken, die ihr fast jede Nacht den Schlaf raubten. Um so entschlossener war sie Schritte zu unternehmen. Sie schlug die Decke beiseite und machte sich auf den Weg.

  • “Hey Nina, was machst du denn so spät noch hier?”, wurde sie von Susanne begrüßt und gleich in den Arm genommen. “Ich konnte noch nicht schlafen, deshalb hab ich mir gedacht, ich schnapp mir ein Taxi und schau noch mal bei euch vorbei. Gibt’s denn schon was neues in den Ermittlungen?”, fragte Nina. “Nein, leider noch nicht”. Susanne wirkte ebenso resigniert wie Semir, mit dem sie heute morgen am Tisch noch gesprochen hatte. “Wo ist Semir?”, fragte sie deshalb. “Der ist noch bei der Chefin drin. Kann noch ein paar Minuten dauern”. “Ist gut, ich warte solange. Danke Susanne. Kannst du mir schon mal die Akte auf den Monitor spielen?”. Nina wollte keine Zeit verlieren und sich die gesammelten Daten noch einmal ansehen. “Ja klar, kommt sofort”.


    Nina ging in das Büro und schloss die Glastür hinter sich. Susanne kam Ninas Wunsch bereitwillig nach. Und so ging der Flachbildschirm im Büro an und zeigte die gewünschten Daten. Nina ging mit Hilfe der Bedienfelder die Ordner durch, doch bei einem wurde sie stutzig. Diesen Ordner kannte sie noch gar nicht. Sie öffnete ihn mit der Hand und sogleich sprang eine Bild-Datei auf. Nina glaubte, ihr Herz würde stehenbleiben. Sie ging zwei Schritte zurück, um das Bild vollends zu betrachten. Auf dem Foto waren Ben und sie selbst, anscheinend Minuten nach dem Unfall zu sehen. Überall war Blut. Bens Kopf war auf ihre Schulter gesackt. Reglos hing er in seinem Gurt. Sie hatte diese Minuten nur vage in Erinnerung, denn durch den Schock wurde das meiste verdrängt. Aber als sie sich und vor allem Ben so sah, stiegen ihr unweigerlich wieder die Tränen in die Augen. Aber noch beunruhigender war das Bild genau daneben, das die Rückseite des Fotos darstellte. Mit großen roten Lettern waren die Worte “Das war erst der Anfang!” geschrieben. “Oh Gott, nein!”, entwich es ihr und sie schlug die Hand vor ihren Mund.


    In dem Augenblick betrat Semir das Büro. “Warum hast du mir nichts davon gesagt?”, konfrontierte sie Semir, ohne sich umzudrehen. Semir war beim Eintritt ins Büro noch so in Gedanken, dass er Nina erst gar nicht bemerkte. Erst auf ihre Frage hin hob er den Kopf, sah sie vor dem Bildschirm stehen. Das Foto vom Unfall prangte ihm entgegen. `Oh nein, sie hat es gesehen`, ging ihm als erstes durch den Kopf. Nina drehte sich um. Tränen glitzerten in ihren Augen. “Warum hast du mir nichts davon gesagt?” fragte sie nochmals etwas langsamer und mit einem zittern in der Stimme. Dabei sah sie Semir in seine großen braunen Augen. “Nina… ich… ich wollte euch schützen…”. “Verdammt Semir!”, fuhr ihm Nina ins Wort. “Wann hast du das bekommen?”. “Noch bevor wir Reinmann verhaftet haben”, gab Semir ohne Umschweife zu. “So lange? Semir! Ich habe ein Recht darauf so etwas zu erfahren. Ben ist in Gefahr, verstehst du?”. “Ja und deshalb habe ich ja auch sofort den Personenschutz beantragt. Er ist im Krankenhaus. Es kann ihm dort nichts passieren. Bisher war alles ruhig. Und seit der Zusendung ist nichts mehr passiert. Keine Drohungen, keine Aktionen. Nina, ich wollte dich nicht beunruhigen. Bitte glaub mir, ich tue alles für Ben. Und auch für dich. Ich will nur euer Bestes”. “Aber du hättest es mir sagen sollen”. Nina versuchte sich die Tränen wegzuwischen. Sie setzte sich auf die Couch in dem Büro und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Semir setzte sich neben sie und strich ihr über den Rücken. “Ich dachte, es ist besser, wenn ihr es nicht erfahrt. So kann ich mich auf den Fall konzentrieren und du dich auf Ben”. Nina sah Semir nun an. “Ben wird morgen entlassen. Was dann?”. “Ich habe bereits mit Frau Krüger gesprochen. Ben wird weiterhin Schutz erhalten. Und du auch, wenn du das willst”. “Ja, das ist eine gute Idee. Und ich werde mich vorerst auch um Ben kümmern. Er wird vielleicht Hilfe brauchen, wenn er morgen nach Hause kommt”. “Tu das. Es wird ihm gut tun”. Semir umarmte Nina freundschaftlich und bot ihr an sie nach Hause zu Andrea zu bringen. Doch Nina lehnte erstaunlicherweise ab. “Ich sollte noch mal zu Ben fahren. Ich will mich nur noch einmal vergewissern”. “Es ist schon spät, er wird sicher schon schlafen”, wand Semir ein. Nina überlegte kurz und schaute auf die Uhr. Es war bereits sehr spät. “Ja, vielleicht hast du recht”.


    Ben erwachte aus seinem Dämmerschlaf. Irgend etwas hatte ihn noch einmal geweckt. Im Zimmer war es bereits dunkel. Vor gut einer Stunde hatte er seine Schlaftabletten bekommen und wunderte sich, warum er wach wurde, war er doch mehr als benommen. Langsam drehte er den Kopf zur anderen Seite. Seine Bewegung war träge und er sah nur sehr undeutlich. Er konnte Umrisse einer Person erkennen. “Semir?… Was machst du denn noch hier…”, kam es ganz schwerfällig über Bens Lippen. Doch als der Mann sich umdrehte, erkannte Ben, das es nicht Semir war. Es schien ein Pfleger zu sein. Er hatte weiße Kleidung und einen Mundschutz um. Er trat näher an das Bett und beugte sich tief über Bens Gesicht. Als er den Mundschutz herunterzog, brach Ben augenblicklich der Schweiß aus. Er starrte in gehässige Augen. Er hatte diese schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, wo. Aber sie verhießen nichts gutes. Panik stieg ihn ihm auf. Er wollte rufen, er wollte sich wehren. Doch sein Körper brachte keine einzige Bewegung zustande. Verzweifelt versuchte Ben an den Rufknopf neben seinem Bett zu gelangen, doch Toni packte seine Hand mit eisernem Griff. Ben hatte keine Chance. Er spürte das kalte Gummi des Handschuhs auf seiner Haut. “Wird Zeit, ein bisschen zu schlafen, was meinst du?”, grinste er Ben an, der immer noch vergeblich versuchte sich zu wehren. Toni hielt sein Handgelenk fester. Er brachte eine Spritze aus seiner Kitteltasche hervor, die mit klarer Flüssigkeit gefüllt war. Er steckte sie auf die Öffnung der Infusionsnadel in Bens Handrücken und drückte den kompletten Inhalt hinein. Ein Stöhnen entfuhr Ben, als er merkte, wie sich die eiskalte Flüssigkeit in seinen Venen breit machte. Sekunden später verwandelte sich die Kälte in ein Brennen wie Feuer, das sich seinen ganzen Arm entlang zog. Schmerzen machten sich breit und ließen Ben keuchen. Er hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Sein Puls raste und noch mehr Schweiß zeichnete sich auf seiner Stirn ab. Das beklemmende Gefühl wurde immer stärker. Er sah noch, wie Toni grinsend auf ihn herabblickte und dann das Zimmer wieder verließ. Dann verschwamm alles. Toni begutachtete sein Werk. Wie der Polizist hilflos vor im lag, nach Luft rang und dann die Augen verdrehte. Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ er das Zimmer. Er blickte auf den bewusstlosen Beamten, der neben der Zimmertür lag, ließ die leere Spritze auf ihn fallen und verließ dann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das Krankenhaus wieder.

  • Nina hatte es sich doch anders überlegt und sich nicht von Semir abhalten lassen, noch einmal nach Ben zu sehen. Nach dem Foto und der Drohung hatte sie einfach das Bedürfnis, sich zu vergewissern, das wirklich alles in Ordnung war. Sie hatte sich ein Taxi genommen und war zu der späten Stunde noch ins Krankenhaus gefahren. Langsam ging sie nun den menschenleeren Gang entlang, in dem Zweifel, ob es nicht die falsche Entscheidung war und sie sich einfach zu viele unbegründete Sorgen machte. Sie wollte einfach noch einmal kurz nach Ben sehen und wenn er schlief konnte sie sich beruhigt auf den Weg zu den Gerkans machen. Ben würde nichts bemerken und sie wäre beruhigter. Doch als sie um die Ecke bog war all ihre Alarmbereitschaft noch verstärkt, als sie den Wachposten am Boden liegen sah. Kein Arzt und keine Schwester war zu sehen. Schnell ging sie auf ihn zu, fühlte den Puls. Er war nur bewusstlos. Voll Schrecken starrte sie auf die leere Spritze neben ihm am Boden. Sie blickte auf Bens Zimmertür und fand diese angelehnt. Ohne zu zögern ging sie deshalb sogleich in Bens Zimmer.


    Ben lag in seinem Bett. Doch irgend etwas stimmte nicht. Sie hörte, wie er mühsam versuchte Luft zu bekommen und rannte sofort zu ihm hinüber. Ohne zögern machte sie das Licht an, drückte den Notknopf und widmete dann ihre ganze Aufmerksamkeit Ben. Schweißüberströmt und mit stockendem Atem lag er zitternd vor ihr. Seine Augen waren halb geöffnet und starrten panisch in den Raum. Sie hatten jeglichen Glanz verloren. Nina nahm sein Gesicht in beide Hände, sprach ihn an, kam aber nicht zu ihm durch. Er schien große Schmerzen zu haben. Bens Oberkörper bäumte sich bei jedem Atemzug auf, doch schien er immer noch nicht genug Luft in seine Lungen zu bekommen. Jeder Muskel seines Körpers verkrampfte sich zusehens. “Verdammt, wo bleibt der Arzt”, rief sie in ihrer Verzweiflung. “Bleib ganz ruhig Ben! Hilfe kommt gleich. Bitte bleib bei mir…”. Doch ihre Bemühungen waren vergebens, denn Bens Kopf kippte langsam zur Seite, während sich seine Augen schlossen und sein Körper erschlaffte.


    In dem Moment kam endlich der Arzt und ein paar Schwestern ins Zimmer gestürmt. “Was ist passiert?”, fragte er sofort und besah sich seinen Patienten. “Jemand muss ihm etwas verabreicht haben. Als ich hergekommen bin war er schon so”, schilderte Nina. Der Arzt leuchtete Ben in die Augen, fühlte kurz den Puls und gab dann weitere Anweisungen. “Wir bringen ihn sofort in Behandlungsraum 1. Machen sie ein EKG und ein EEG klar. Schwester, bitte sofort mit der Maske beatmen. Wir dürfen keine Zeit verlieren”. Nina sah, wie die Schwester an Bens Seite trat, die Beatmungsmaske auf Bens Mund und Nase legte und in gleichmäßigen Abständen den Blasebalg drückte. Danach wurde Bens Bett schnell aus dem Zimmer geschoben und in den Behandlungsraum gebracht. Allein zurück blieb Nina, die noch immer an Ort und Stelle stand und auf die Tür starrte. Sie konnte das alles noch gar nicht begreifen. Langsam ging sie rückwärts zur Wand und ließ sich daran hinunter gleiten. Weinend brach sie zusammen.

  • Semir kam ins Zimmer gestürmt. Es war leer. Nur eine Person kauerte am Boden an der Wand und hatte die Beine angezogen. Nach Ninas mehr als verwirrendem Anruf hatte sich Semir sofort auf den Weg in Krankenhaus gemacht. Er wusste immer noch nicht genau, was eigentlich geschehen war. Nina war total aufgelöst gewesen und hatte ihn gebeten umgehend herzukommen. Nun stand er in Bens Krankenzimmer. Von ihm allerdings keine Spur. Er beugte sich zu Nina hinunter. Erst jetzt registrierte sie ihn, hob den Kopf. Semir sah in ihre geröteten Augen. “Was ist passiert?”, wollte er endlich wissen. “Er will Ben töten”, entkam es ihr nur leise und die Tränen bahnten sich wieder ihren Weg. Semir nahm Nina in den Arm und wiegte sie wie ein Kind hin und her, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann konnte sie Semir erzählen, was sich zugetragen hatte. Semir glaubte kaum, was Nina ihm versuchte mitzuteilen. Schröder war anscheinend zu mehr fähig, als er ihm zugemutet hatte. Sogleich kamen ihm Zweifel an ihrem Plan und er hatte ein so schlechtes Gewissen Ben gegenüber. “Wie geht es ihm jetzt?”, fragte Semir neugierig. “Ich weiß es leider nicht. Er ist jetzt schon sehr lange im Behandlungsraum. Der Arzt kam noch nicht wieder. Ich mache mir solche Sorgen!”. “Es wird alles gut”, versuchte Semir sie zu trösten und umarmte sie noch fester. Doch er selbst war ebenfalls sehr besorgt um seinen Partner und besten Freund.


    Eine gute dreiviertel Stunde später kam endlich der behandelnde Arzt zurück ins Zimmer. Hinter ihm wurde Bens Bett wieder hereingeschoben. Nina ging sofort auf Ben zu, streichelte sein Gesicht, redete ihm liebevoll zu. Doch er schien noch zu schlafen, denn er zeigte keine Regung. Er sah beinahe friedlich aus, wenn nicht der ernst der Situation über ihm schwebte. Nachdem Semir ebenfalls einen Blick auf seinen Partner geworfen hatte und sich vergewisserte, das er soweit außer Gefahr war, wandte er sich an den Arzt. “Was ist passiert, wie geht es ihm?”. Auch Nina blickte von Ben auf und erwartete die Antwort. “Nun, ihr Kollege ist soweit wieder stabil. Ihm wurde eine Überdosis Schmerzmittel verabreicht, die in folge zu Atemnot und einem Kreislaufzusammenbruch mit anschließendem Stillstand geführt hatten. Zum Glück haben Sie so schnell reagiert, so konnten wir ihn wieder stabilisieren und die lebenswichtigen Funktionen aufrecht erhalten. Wir werden seine Vitalfunktionen noch weiter überwachen, aber soweit sieht alles gut aus. Im Moment sieht es schlimmer aus als es ist. Herr Jäger war seitdem zwar nicht mehr bei Bewusstsein, aber an den Werten ist zu erkennen, dass er höchstwahrscheinlich bald wieder erwachen wird. Sein Körper ist noch sehr geschwächt. Sie sollten ihm noch Ruhe gönnen”. “Ich werde bei ihm bleiben”, verkündete Nina sogleich. “In Ordnung”. Der Arzt wusste, das eine Diskussion zwecklos war, hatte er ja selbst die ganze letzte Woche miterlebt, dass Nina täglich bei Ben war und das ihm ihre Gegenwart sichtlich gut tat. “Falls Sie noch fragen haben, bin ich für Sie da”, verabschiedete sich der Arzt an Semir gewandt. “Danke Doktor”, bedankte sich Semir und gesellte sich an Ninas Seite. So standen beide da und blickten auf den schlafenden Ben herab.


    Keine Minute wich Nina von Bens Seite und verfolgte jede auch noch so kleinste Regung, die darauf hindeuten würde, dass er bald wieder erwachte. In den letzten Minuten waren diese Zeichen immer häufiger geworden, da er immer wieder leise stöhnte oder ein kurzes zucken durch seine Hände oder über sein Gesicht ging. Dann endlich öffneten sich seine Augen ein Stück weit und Nina beugte sich über ihn. “Ben, endlich. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir?”, flüsterte sie ihm zu.
    Ben konnte die Geschehnisse noch gar nicht richtig einordnen. Er sah verschwommen ein Gesicht über sich, wollte sich wegdrehen. Denn plötzlich kam die Angst wieder in ihm hoch. Jemand hatte ihn bedroht. Jemand hatte versucht ihm Schaden zuzufügen. Ein Druck auf seiner Brust wurde immer stärker und er hatte das Gefühl es schnürte ihm die Luft ab. Hecktisch versuchte Ben zu atmen, versucht die Person von sich zu schieben. Ein schriller Alarmton durchdrang seinen schmerzenden Kopf, dann noch mehr Gesichter, noch mehr Leute, die Ben nicht erkennen konnte. Er wollte dem ganzen entfliehen. Plötzlich spürte er wieder dieses seltsame Gefühl, dass sich von seinem Handrücken aus breitmachte. Der Signalton war mittlerweile verstummt. Er konnte nur noch das unregelmäßige pochen seines Herzens wahrnehmen. Doch dann hörte er ihre Stimme. Sie war auf einmal so klar und so beruhigend. Sie sagte ihm er sollte keine Angst haben. Alles würde wieder gut werden. Mit einem mal entspannte sich sein Körper. Er wurde wie schwerelos und driftete langsam wieder in die Dunkelheit ab. Als letztes spürte Ben noch ihre Hand, wie sie sich auf seine Brust legte und ihm Wärme und Geborgenheit vermittelte.


    “Was war das Doktor? Was ist da gerade passiert?”, fragte Nina den Arzt ganz ungläubig. Sie hatte gehofft Ben würde es besser gehen, wenn er aufwachen würde. Statt dessen hatte er sie nicht einmal erkannt. Ben hatte versucht Nina von sich weg zu stoßen. Sie hatte Panik in seinen Augen erkennen können, als er plötzlich anfing nach Luft zu schnappen. Die Schwestern waren sogleich zur Stelle, haben ihm eine weiteres Beruhigungsmittel verabreicht, dass Ben wieder ins Land der Träume versetzte. Doch irgendwie konnte sie spüren, dass er zuletzt ihre Gegenwart wahrnahm. Sie hatte immer noch die Hand auf seiner Brust gelegt, ihr Gesicht tief über das seine gebeugt, als der Arzt fortfuhr. “Nun, Herr Jäger ist nur knapp einem Attentat entgangen. Das wird auch das letzte gewesen sein, woran er sich erinnert hat. Durch die Beruhigungs- und Schmerzmittel kann es sein, dass er noch nicht bei klarem Verstand war und sie als Bedrohung eingeschätzt hat. Ich denke er hat eine kleinen Panikattacke erlitten. Aber das wird sich wieder geben. Sie sollten ihn jetzt in Ruhe schlafen lassen. Fahren Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus und kommen Sie morgen wieder. Dann sieht alles schon ganz anders aus”, riet ihr der Arzt. Nina wollte Widerwort geben, aber Semir, der alles besorgt von der Ecke des Zimmers aus beobachtet hatte, war bereits an ihre Seite getreten und zog sie sanft vom Stuhl. “Komm Nina, es ist besser wir lassen ihn ein wenig allein, damit Ben sich erholen kann. Es ist das Beste für ihn”. Zu gerne wäre Semir ebenfalls Ben geblieben. Aber nach der erschreckenden Reaktion war es wohl wirklich besser Ben erst mal allein zu lassen. Und hier war er in gute Händen. Nina verabschiedete sich von Ben und versprach ihm morgen früh gleich wieder zu kommen. Sie küsste ihre Fingerspitzen und fuhr ihm damit zärtlich über die Stirn. Ein kurzer Seufzer von Ben reichte ihr als Bestätigung und so verließ sie mit Semir schweren Herzens das Krankenhaus.

  • Nina war auf dem Weg zum Haus der Gerkans auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Semir hatte sie dann nach ihrer Ankunft kurz geweckt und nach oben begleitet. Natürlich hatte Semir auch den Personenschutz vor Bens Zimmer noch verstärken lassen, so dass er sich spät nachts zu Andrea ins Bett schlich. “Was ist denn passiert?”, fragte Andrea verschlafen, als sie merkte, wie ihr Mann sich langsam an sie schmiegte. “Jemand hatte Ben angegriffen. Aber es ging zum Glück noch alles gut”. Andrea war sofort hellwach und Semir erzählte ihr, was sich an diesem Abend zugetragen hatte. Auch wie viel Sorgen er sich selbst um seinen Freund machte. “Keine Angst Semir, Ben ist stark. Er wird damit fertig”, tröstete ihn Andrea. “Ich weiß, er wird es schaffen. Aber ich mache mir auch Sorgen um Nina. Sie leidet so sehr mit ihm. Und es wird erst aufhören, wenn wir ihn haben”. Auch Andrea hatte die Bande zwischen Nina und Ben bemerkt und litt insgeheim mit ihr. Sie wusste genau, wie man sich fühlt, wenn man um einen geliebten Menschen bangen muss. Denn auch Andrea hatte diesen Schmerz nur zu oft erfahren, wenn sie um ihren Mann weinte, wenn er wieder mal in Situationen geraten war, aus denen es augenscheinlich keinen Ausweg mehr gab. Sie konnte Nina verstehen und wollte ihr helfen. “Du wirst sie kriegen Semir, da bin ich mir sicher. Aber jetzt lass uns schlafen. Morgen ist ein neuer Tag”.




    Ben hatte sich tatsächlich schnell erholt und konnte einige Tage später auf eigenen Wunsch entlassen werden. Der Arzt war zwar mit Bens Entscheidung nicht einverstanden, aber musste dem Drängen seines Patienten stattgeben. Über die Ereignisse dieser Nacht sprach Ben allerdings nicht. Nie hätte er vor anderen zugegeben, dass er Angst hatte. Er musste stark sein. So etwas durfte ihn nicht aus der Bahn werfen. Außerdem wollte er sich jetzt voll und ganz darauf konzentrieren seine Erinnerungen wieder zurück zu erhalten. Deshalb redete er so lange auf Semir ein, bis dieser schließlich nachgab und sich einverstanden erklärte mit Ben kurz zu dem Haus am Waldrand zu fahren, in dem er und Nina gefangen gehalten wurden. Er bildete sich ein, wenn er die Räume sehe, würde er sich bestimmt erinnern können. “Und du bist dir sicher, dass du das wirklich willst?”, wand Nina ein. Nicht einmal sie hatte den Mut bisher Semir dorthin zu begleiten. Zu schlimm waren für sie die Ereignisse gewesen und sie wollte und konnte sich dem noch nicht stellen. Sie hatte solche Angst, noch einmal durchleben zu müssen, wie sie Ben leiden sah. Schon schlimm genug, dass es sie jede Nacht einholte. Doch wenn sie dort wäre, würden sich die Bilder nur noch deutlicher und einprägsamer in ihr Gedächtnis brennen. “Ich bin mir ganz sicher. Ich will endlich wissen, was passiert ist, verstehst du?”, sagte Ben eindringlich zu Nina. “Also gut, aber nur kurz. Du musst dich noch schonen”, ermahnte Semir und erklärte sich bereit Ben dorthin zu bringen, bevor er sie nach Hause fuhr. Nina würde sie begleiten, aber sie würde im Auto warten. Denn sie konnte unmöglich das Gebäude betreten. Also machten sich die drei auf den Weg zu dem verlassenen Haus.

  • Langsam stieg Ben die Treppen hinunter. Ein moderiger Geruch von feuchten Wänden drang in seine Nase, typisch für Kellerräume. Er sah sich in dem Gang um. Nichts kam ihm bekannt vor. “Wir haben in zwei Räumen Blutspuren von dir gefunden. Hier und hier”, deutete Semir auf die Räume. Er stand direkt hinter seinem Partner und versuchte seine Mimik zu studieren. Doch Bens Ausdruck blieb unberührt. Er betrat langsam den ersten Raum rechts von ihm, der lang und schmal war und in einen weiteren Raum führte. Dieser war kleiner und nur ein kleines Fenster ließ etwas Licht in den kargen Raum fallen. Ben sah sich um. An der Wand und am Boden waren einige kleine eingetrocknete Blutflecken zu sehen. Er ahnte es waren seine. Ben kniete sich hinunter und besah sie sich genau. Nach einiger Zeit erhob er sich wieder und drehte sich zu Semir um, der ihn erwartungsvoll ansah. Doch Ben schüttelte den Kopf. “Nichts”, war seine knappe Antwort. “Vielleicht in den anderen Raum. Dort wart ihr zusammen”. Semir führte Ben in den alten Heizungsraum im anderen Gebäudeteil. Die Spurensicherung hatte alles gesichert, aber so hinterlassen, wie es vorgefunden wurde. So standen der Stuhl, auf dem Nina gefesselt war, noch an der selben Stelle. Auch das herausgerissene Heizungsrohr lag noch dort, wo es Ralf Schröder voller Wut fallen gelassen hatte. Die resultierenden Spuren des Kampfes waren auch hier noch deutlich zu sehen.


    Ben studierte jede Einzelheit in dem Raum. Er erkundigte sich bei Semir, wo welche Spuren von wem gefunden wurden. Er erfuhr, dass Nina auf dem Stuhl gesessen hatte und dass das Blut am Heizungsrohr von ihm stammte. Auch das an der Wand, was wenn er sich genau an diese Position stellte auf Wangenhöhe war. Abwesend strich er über die verkrustete Stelle an seiner rechten Wange. Ben ging nun auf des Heizungsrohr zu, bückte sich und hob es an. Er schloss die Augen, befühlte das Rohr und achtete auf alle Gerüche und Geräusche, die seine Sinne vernahmen. Einige Sekunden verharrte er in dieser Stellung. Semir beobachtete alles schweigend. Er hoffte so sehr Ben könnte sich an wenigstens irgend etwas erinnern, damit diese Last endlich von seinen Schultern genommen wurde. Doch wurde er enttäuscht, als Ben sich plötzlich mit einem wütenden Gesichtsausdruck aufrichtete und das Rohr scheppernd fallen ließ. Zu schnell, denn sofort durchfuhr in wieder der stechende Schmerz in der Seite, der Ben leicht zusammenkrümmen und einen leisen Schmerzeslaut entfahren ließ. “Ben!”. Semir war gleich an der Seite seines Freundes um ihn nötigenfalls zu stützen. Doch Ben hob abwährend die Hände. “Schon gut, schon gut. Alles ok”. “Ich glaube, das ist genug für heute. Ich bring dich jetzt nach Hause”, sagte Semir, ohne Widerworte zuzulassen. So führte er Ben nach draußen, der noch einmal zurückblickte. Dieser Ausflug hatte ihn seinen Erinnerungen kein Stück näher gebracht. Enttäuscht ließ er sich von Semir zu seiner Wohnung fahren.

  • “Geht’s?”, fragte Nina besorgt, als sie Ben half sich auf die Couch zu setzen. Die paar Stufen zu seiner Wohnung hatten ihn schon enorm viel Kraft gekostet. Sonst hatte er von der Haustür bis zu seiner Wohnung nur immer wenige Sekunden gebraucht, doch heute war es der reinste Kraftakt für ihn. Ben war froh als er endlich wieder auf seiner Couch, in seiner Wohnung saß. Die vertraute Umgebung würde ihm gut tun schnell wieder gesund zu werden. “Danke Nina, dass du noch ein paar Tage bei mir bleibst. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde”. “Das ist doch selbstverständlich. Jetzt ruh dich erst mal ein bisschen aus”, sagte Nina, hob seine Beine auf die Couch und breitete die Decke auf ihm aus, damit Ben es gemütlich hatte. Er schien ganz abwesend zu sein. “Was ist los, Ben? Was hast du?”, wollte sie von ihm wissen. Nina machte sich wie immer Sorgen um ihn. Sie kannte diesen nachdenklichen Gesichtsausdruck bei ihm gar nicht. “Ach, nichts… ich…”. Ben fand einfach nicht die richtigen Worte. “Ich fühle mich einfach so… schwach“. Ben war es einfach nicht gewohnt hier zu liegen, während andere sich um ihn kümmerten. “Auch starke Menschen dürfen mal Schwäche zeigen, ohne sich dafür schämen zu müssen. Das zeigt, dass wir Menschen sind“. Ben dachte über ihre Worte nach. Wenn man einander liebt, gleicht man die Schwäche des anderen aus. Deshalb ergänzt man sich auch so gut. Bei Nina fühlte er sich immer wohl. Sie gab ihm nie das Gefühl unverstanden zu sein. Bei ihr konnte er sein Innerstes offenbaren, ohne sich dafür schämen zu müssen. Ihr konnte er den Menschen zeigen, der er wirklich war. Der sich auch als Mann hinter der harten Fassade verbarg. Der gefühlvoll und verletzlich war. Und es machte ihm nichts aus, denn sie verstand ihn. Auch ohne Worte.


    Doch seine erloschenen Erinnerungen ließen ihn nicht los. “Warum willst du mir nicht helfen?”, fragte Ben. “Wie meinst du das?”, entgegnete Nina und zupfte unruhig an der Decke herum. Sie wusste, worauf er hinaus wollte. “Nina, bitte! Rede mit mir!”. Doch sie konnte nicht. Sie wollte sich einfach nicht daran erinnern. Sie wünschte sich, sie könnte es ebenso löschen, wie Ben es getan hatte, wenn auch unabsichtlich. Vielleicht war es auch einfach eine Schutzreaktion seines Körpers gewesen. Und schließlich hatte er ja auch nicht mit ihr über seine Ängste nach dem erneuten Attentat geredet. Und Nina sah selbst das es ihn sehr beschäftigte und mitnahm. Ben umfasste ihre Hände und sah sie nochmals fehlend an. “Bitte…”. Nina konnte ihm nicht in die Augen sehen. “Du sagst, du vertraust mir. Dann vertrau mir bitte jetzt, weil ich dir helfen will. Ich will dich davor bewahren, dass es dir geht wie mir, dass du es nicht vergessen kannst. Dass du es jede Nacht noch einmal durchleben musst“. “Aber ich möchte es wissen, damit ich dir helfen kann”. Jetzt sah sie ihn an. Bei Bens Blick würde jede Frau sofort nachgeben und dahinschmelzen. Deshalb lenkte Nina schnell wieder vom Thema ab. “Schlaf noch ein wenig, dass wird dir gut tun. Ich mache dir erst mal noch einen Tee”. Ben gab sich geschlagen. Während ihm Nina durch die Haare fuhr, lehnte sich Ben zurück und schloss langsam und erschöpft die Augen.


    Nina ging an die Küchenzeile und bereitete einen Tee zu. Ben hatte derweilen die Augen wieder geöffnet und beobachtete sie heimlich von der Couch aus. Er studierte jede ihrer Bewegungen. Wie sie dort stand, verzauberte ihn immer wieder aufs neue. Wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr er sie doch vermisst hatte. Und wie sehr er sie vermissen würde. Er stand deshalb leise auf und trat näher an sie heran. Sanft ließ er seine Hand um ihre Hüften gleiten und drehte sie zu sich um. Nina, etwas erstaunt, ließ es aber geschehen und blickte ihm tief in seine braunen Augen. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel während er seine Hände weiter an ihren Hüften kreisen ließ. Voller Erwartung atmete Nina tief ein, vergrub ihre Hand in seinen Haaren und schloss genüsslich die Augen. Ein elektrisierender Schlag ging durch ihren Körper als sie seine Lippen trafen. Nina gab sich dem Kuss hin und genoss es. Ben spürte ebenfalls ihre weichen Lippen und voller Vorfreude fuhr er mit den Händen an ihrem schlanken Bauch entlang. Er war gerade dabei sich an dem Knopf ihrer Jeans zu schaffen zu machen...

  • Plötzlich schossen Nina die Bilder wieder durch den Kopf. Wie sie wehrlos auf dem Stuhl gefesselt ist, der Entführer ihr über den Körper fährt, langsam nach unten gleitend. Wie er ihren Knopf öffnet und sie sich machtlos ausgeliefert fühlt. Bens Schreie hallen in ihrem Kopf wieder. Nina schreckte unweigerlich zurück und stieß in ihrem Reflex Ben grob von sich. Dieser sah sie ganz erstaunt an, hatte nicht mit der Reaktion gerechnet und war etwas perplex. “Was war das denn gerade?”, fragt er sie, sah aber im gleichen Augenblick Angst und Schmerz in ihren sonst so klaren Augen. “Hab ich etwas falsch gemacht?”, wollte Ben nun viel gefühlvoller wissen und hob seine Hand, um sie am Arm zu berühren. Doch Nina wich ihm aus. “Nein… ich…”. Nina brachte keinen Ton heraus. Was war nur los mit ihr? Warum kam das gerade jetzt? Sie wollte diese schrecklichen Erinnerungen doch beiseite schieben. Nina versuchte immer noch sich zu erklären. “Ich wollte nicht…”. Doch wusste sie nicht was sie sagen sollte. “Entschuldige mich bitte”. Um der Situation zu entgehen ging sie schnellen Schrittes ins Bad und schloss die Tür hinter sich zu. Dort sank sie, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, langsam nach unten und begann bitterlich zu weinen. Zurück blieb ein völlig verdutzter Ben, der nicht wusste, was dies gerade zu bedeuten hatte. Was war ihr widerfahren, dass sie so reagierte? Wie konnte er ihr nur helfen? Ben hatte keine Antwort.


    Es waren einige Stunden vergangen bis Nina endlich wieder den Mut hatte aus dem Bad zu kommen. Ben hatte einige Male an die Tür geklopft und versucht mit ihr zu reden. Doch Nina wollte allein sein, bis Ben schließlich resigniert aufgab. Draußen war es schon dunkel geworden und im gedämmten Licht des Deckenfluters konnte Nina sehen, dass Ben auf der Couch wohl eingeschlafen war. Leise ging sie zu ihm rüber und rüttelte ihn sanft wach. “Komm Ben, ich bring dich ins Bett”. Ben war noch so schlaftrunken, dass er sich ohne Widerworte und ohne Kommentar ins Schlafzimmer führen ließ. Nina half ihm seine Sachen auszuziehen und in sein Bett zu gelangen. “Gute Nacht. Schlaf gut”, flüsterte sie ihm zu. “Wenn du was brauchst, ich bin nebenan”. Ein leises “Mmmhh” und ein nicken von Ben waren alles, was noch zu hören und zu sehen war bevor er auch schon wieder eingeschlafen war. Nina lehnte die Tür an und holte Decke und Kissen aus dem Kasten neben der Couch hervor und machte es sich gemütlich. Bens Decke lag auch noch dort. So nahm sie sie und sog seinen Duft tief ein, der noch daran haftete. ´Es tut mir so Leid Ben, aber ich kann nicht darüber sprechen. Noch nicht…`, dachte sie und hoffte, dass er es verstehen würde und ihr genügend Zeit gab.


    Ben schlief in dieser Nacht sehr unruhig. Schweißperlen liefen über sein Gesicht. Immer wieder warf er sich im Schlaf von einer Seite zur anderen. In plagte ein Traum, aber alle Bilder waren so verschwommen, dass er nichts erkennen konnte. Er wusste nur, er hatte Angst. Er sah Ninas verzweifeltes Gesicht, wie sie auf einem Stuhl gefesselt war. Den gleichen, den er in diesem Kellerraum stehen sehen hatte. Plötzlich beugte sich ein Mann in Arztkleidung und mit Mundschutz über ihn. Dann spürte er nur noch Schmerzen. Er schrie auf. In dem Moment erschrak Ben aus seinem Traum und fuhr mit seinem durchgeschwitzten Körper hoch. Zu schnell, denn jede seiner einzelnen Verletzungen meldetet sich nun zurück. Ben stöhnte auf. Im Raum war es dunkel, aber er erkannte plötzlich eine Gestalt neben seinem Bett. Er war trotz der Schmerzen bereit zur Verteidigung, als in zwei sanfte Hände an den Schultern packte und er in ihre tiefblauen Augen sah. “Ben, beruhige dich. Du hattest einen Albtraum. Hier bist du in Sicherheit”, sagte Ninas sanfte Stimme zu ihm. Ben schluckte ein paar mal, um seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach mehreren Zügen gelang ihm das und Ben ließ sich erschöpft in die Kissen zurückfallen. “Kannst du mir ein Glas Wasser bringen bitte?”, fragte Ben, nachdem er seine Stimme wiederhatte. “Natürlich, ich bin gleich wieder da”. Nina verließ kurz das Schlafzimmer. Ben atmete noch mal tief ein und aus und rieb sich mit den Händen durch das Gesicht. “Man, so eine Scheiße. Komm schon Ben, reiß dich zusammen”, flüsterte er und erschrak erneut, als er merkte, dass Nina bereits wieder neben ihm war. Mitfühlend blickte sie ihn an. “Es wird zurückkommen, Ben. Aber lass dir Zeit”. Nina hatte immer die richtigen Worte für ihn. So sehr er sich zwar wünschte sich zu erinnern, so sehr fürchtete er sich auch davor, genau wie sie. Jedes mal, wenn er Ninas Gesicht in seinen Gedanken sah, fühlte er nur noch Schmerz und Verzweiflung. Doch gerade Nina gab ihm den Halt, den er brauchte. “Hier, nimm die… Du solltest noch ein wenig schlafen”. Nina hielt ihm in ihrer geöffneten Hand zwei Tabletten und das Glas Wasser hin. Ben hätte sich normalerweise geweigert, aber er fühlte sich so ausgelaugt, dass er sich den Schlaf herbeisehnte. Ohne Widerworte nahm der die Tabletten und schluckte sie mit dem kühlen Wasser herunter. “Ich bin drüben, falls du mich noch mal brauchst”. Nina wollte sich erheben, doch Ben hielt sie am Arm. “Bitte bleib noch”, bat er. Also kniete sie sich ohne Worte wieder neben sein Bett und strich ihm beruhigend über den Arm. Ben lächelte sie an und schloss langsam die Augen. Nach wenigen Minuten zeigten die Schlaftabletten ihre Wirkung, denn Bens Körper entspannte sich und er schlief tief und fest ein. Nina gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verließ dann leise wieder das Schlafzimmer.

  • “Semir Gerkan, Kripo Autobahn. Ich habe einen Termin mit Gerd Reimann”. Semir hielt dem Beamten am Empfangsschalter des Gefängnisses seinen Ausweis hin. Kurz darauf erschien ein Wärter, der in erst kontrollierte und dann zum Besucherraum brachte, in dem Semir Gerd Reimann noch ein paar Fragen stellen wollte. Semir wollte versuchen noch ein wenig über Ralf Schröders Gewohnheiten oder Eigenarten herauszufinden. Schließlich waren die Täter ja vor dem Coup so etwas wie befreundet oder hatten sich zumindest gut kennen gelernt. Und wenn Semir Glück hatte, konnte er mehr über Schröders Profil herausfinden, dass ihn ihm vielleicht ein Stück näher brachte. Semir hatte sich seine Fragen bereits im Kopf zurechtgelegt, da wurde er aus seinen Gedanken gerissen als die Tür geöffnet wurde. Doch nicht Gerd Reimann, sondern ein weiterer Beamter erschien. “Herr Gerkan, mein Name ist Kunze. Ich bin der Direktor dieser Einrichtung. Darf ich mich kurz zu ihnen setzten?”, wurde Semir freundlich vom Gefängnisdirektor begrüßt. Semir nickte und sah ihn gespannt an. Was hatte das zu bedeuten? “Danke. Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie, Herr Gerkan. Es wird ihnen nicht gefallen und wir selbst sind sehr bestürzt über diesen Vorfall. Doch leider konnten wir nicht schnell genug handeln, da Herr Reimann wegen der Untersuchungshaft ja in einer Einzelzelle untergebracht war”. Semirs Unverständnis wuchs mit jeden Satz mehr. “Herr Kunze, was wollen Sie mir sagen? Ich verstehe nicht ganz…”. Der Direktor atmete noch einmal tief durch. “Leider muss ich ihnen mitteilen, das Gerd Reimann gestern in seiner Zelle vergiftet wurde und leider kurz darauf noch vor Ort verstarb. Der Vorfall ist sehr bedauerlich für uns und die Untersuchungen…”. “WAS?”, fiel ihm Semir ins Wort und sprang auf vor Entsetzten. “Wie konnte das passieren? Ich meine… hier kann doch nicht jeder einfach so reinspazieren. Wie ist das möglich?”. “Soweit wir wissen, war es ein hochwirksames Relaxan, dass zu Atemstillstand geführt hat. Es wurde ihm im Abendessen beigemischt. Genaures können wir aber erst nach Obduktion sagen. Wir sind natürlich bemüht den Vorfall so schnell wie möglich zu klären und haben auch bereits unsere Sicherheitsvorschriften überprüft. Aber wir bitten in diesem Fall auch um Ihre Mithilft. Hatte Herr Reimann irgendwelche Feinde, oder Personen die ihm direkt oder indirekt schaden wollten?”. Semir stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. “Oh ja, die hatte er.” Semir braucht nur eins und eins zusammenzählten, um zu wissen, dass Ralf Schröder hinter dem Anschlag steckte. Er musste Ben und Nina warnen. Schröder war gefährlicher denn je. Wer weiß, was er bereits ausgeheckt hatte. Er musste die beiden sofort kontaktieren. Jede Minute zählte.


    Nina hatten den Frühstückstisch bereits gedeckt, als das Telefon klingelte. Schnell hob sie ab, um Ben nicht zu stören, der nebenan noch schlief. Sie erkannte die Nummer sofort. “Guten Morgen Semir. Was gibt’s denn schon so früh”, begrüßte sie ihn fröhlich. “Nina, Gott sei Dank. Geht es euch gut?”. Nina war sehr erstaunt über die Ernsthaftigkeit seiner Frage. “Ja, warum? Stimmt irgendetwas nicht?”. “Nina, bitte hör mir jetzt ganz genau zu…”. Ninas ganze Aufmerksamkeit war auf Semir gerichtet. Sein Anruf schien wirklich dringend zu sein. Augenblicklich war ihr Ermittlerinstinkt geweckt und alle Sinne konzentrierten sich auf die Situation. Semir begann mit seinen Ausführungen. “Ich bin gerade in der JVA und wollte noch einmal mit Reimann sprechen. Der Gefängnisdirektor hat mir eben mitgeteilt, dass Reimann gestern in seiner Zelle vergiftet wurde”. Nina sog scharf die Luft ein, folgte aber weiter Semirs Worten. “Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Schröder da dahinter steckt. Ich mache mich sofort auf den Weg zu euch. Öffne auf keinen Fall irgend jemandem die Tür. Bitte haltet euch von den Fenstern fern. Ich möchte kein Risiko eingehen. Schröder ist wirklich unberechenbar. Wir werden zusammen überlegen, was wir unternehmen werden. Aber bitte Nina, versprich mir, dass ihr nichts unternehmt, bis ich nicht da bin. Hast du verstanden?”. “Ja, ich habe verstanden. Wir warten hier auf dich”, sagte sie kühl. Diese kurzen Informationen waren ausreichend, um ihre Professionalität zurückkehren zu lassen. Jetzt war sie wieder in Gedanken ganz die Polizistin. Sie legte das Telefon beiseite. Danach schloss sie sofort die Wohnungstür ab und zog die Vorhänge im Wohnzimmer weiter zu. Sie nahm ihre alte Dienstwaffe aus ihrer Tasche, überprüfte das Magazin und legte sie auf dem Küchentresen ab. Nun musste sie noch Ben informieren.

  • Schwaches Licht fiel durch die Schlitze des Rollladens. Er konnte nicht mehr schlafen. Dank der Tabletten hatte sein Körper wenigstens ein bisschen Erholung bekommen. Doch seine Gedanken verwirrten ihn und ließen ihm keine Ruhe. Ben schwang die Beine über die Bettkante und stand langsam auf. Jede Bewegung verriet ihm, dass er noch weit davon entfernt war gesund zu sein, aber er wollte sich dadurch nicht entmutigen lassen. Er war ein Kämpfer und gab sich nicht so leicht geschlagen. Langsam ging er zur Kommode und betrachtete sein Spiegelbild. “Du sahst auch schon mal besser aus”, sagte er zu sich selbst und fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. Leichte rötliche Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet und seine Gesichtszüge wirkten etwas eingefallen. Der lange Aufenthalt in der Klinik hatte doch seine Spuren hinterlassen. Genau wie die Ereignisse, die dazu geführt hatten. Er betrachtete die einzelnen Wunden, die schon so gut wie verheilt waren. Bei den meisten würde nur, wenn überhaupt, eine kleine Narbe zurückbleiben. Doch die Narben, die man nicht sah, sind meist weitaus schlimmer. Schmerzhafte Einstiche in die Seele, die ein Leben lang bleiben. Die man nicht mit Kleidung verdecken kann. Er wollte sich gerade zum Kleiderschrank wenden, um ein frisches T-Shirt herauszuholen. Plötzlich erschrak Ben. Auf ein mal wurde die angelehnte Tür zum Schlafzimmer langsam geöffnet. Das Knarren der Tür brannte sich in sein Gehirn ein. Ein Lichtstrahl fiel in den dunklen Raum und eine Person stand im Türrahmen. Ben stockt der Atem. Das Geräusch. Eine Person, anfangs im Dunkeln verborgen. Es kam ihm so bekannt vor, wie ein Deja´vu. Plötzlich fielen die Erinnerungen ohne Vorwarnung auf ihn herein. Ben ging unvermittelt in die Knie und hielt sich stöhnend den Kopf. Er kämpfte gegen den Nebel in seinem Gehirn an und versuchte, die Puzzleteile der Realität zusammenzusetzen, die anfallsartig in einer Folge von Bildern über ihn hereinbrachen. Auf einmal war alles wieder da. All die erloschnen Erinnerungen und Emotionen, die im hintersten Teil seines Bewusstseins verschlossen waren, kamen nun wieder zum Vorschein. Alles spielte sich in Sekundenschnelle in seinem Kopf ab. All die Angst, der Schmerz und die Verzweiflung schienen ihn zu erdrücken. Keuchend atmete er ein und aus. Er merkte nicht einmal, wie Nina sich neben ihn gekniet hatte, ihn im Arm hielt und mit ihm sprach. Nur von fern hörte er die Stimme, die immer lauter wurde und nun vollends zu ihm durchdrang. “Sag doch was, Ben. Soll ich einen Arzt rufen?”.


    Nina war so besorgt. Als sie ins Zimmer trat starrte Ben sie einen Moment lang an, als er plötzlich unverhofft vor ihren Augen zusammenbrach. Sie konnte ihn gerade noch auffangen. Doch er schien so gefangen zu sein, dass er sie nicht einmal wahr nahm. Vorsichtig schlang sie die Arme um ihn, als er weiter stöhnend die Augen zusammenpresste und zu zittern begann. Sie versuchte auf ihn einzureden, zu ihm durchzudringen. Jeder weitere sonderliche Laut, den Ben von sich gab, ließ Ninas Herz zusammenkrampfen. Langsam schien es nachzulassen. Das zittern wurde weniger und die Hand, die er gegen seinen Kopf gepresst hatte erschlaffte langsam und fiel zu Boden. Beinahe wäre Ben zur Seite gekippt, hätte Nina ihn nicht gestützt. “Sag doch was, Ben. Soll ich einen Arzt rufen?”. Endlich schien er wieder in die Realität zurück zu kehren. Mit glasigen Augen sah er sie an.
    “Ich kann mich wieder erinnern”, kam es stockend von Ben. “Oh Gott, Nina, es tut mir so Leid. Ich hätte es verhindern sollen. Du hattest mit der Sache rein gar nichts zu tun. Ich hätte verhindern sollen, dass er dir irgend etwas antut. Ich hätte…”. Nina unterbrach ihn und nahm ihn einfach nur in die Arme. “Ist schon gut Ben, es ist alles gut. Beruhige dich”. Nina konnte nur erahnen, welcher Schock es für Ben war so abrupt mit seinen Erinnerungen konfrontiert zu werden. Völlig aufgelöst lag er nun in ihren Armen, aus Verzweiflung über sich selbst und über das, was Nina widerfahren war. Das er ihr in dieser Situation nicht helfen konnte, als Schröder sich über sie her machte. Das er nicht imstande gewesen war für ihre Flucht zu sorgen, sondern das Nina ihm dazu geholfen hatte. Auch hatte sie außerordentlichen Mut bei der Flucht bewiesen und hatte versucht bis zuletzt dem Fahrzeug der Täter auszuweichen, nur um sein Leben zu schützen. Obwohl das eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Und dann dieser tragische Unfall, den er selbst jetzt nur verschwommen in Erinnerung hatte. Vermutlich wegen der starken Verletzungen, die er sich dabei zugezogen hatte. Und jetzt verstand er auch, weshalb Nina ihn gestern so abrupt abgewiesen hatte und seine Nähe nicht zulassen konnte. Es musste die Hölle sein für sie. Und er war Schuld. Für alles gab Ben sich die Schuld. Und dieses Gefühl erdrückte ihn beinahe.


    Einige Minuten waren vergangen. Nina spürte, dass das beben seines Körpers allmählich nachgelassen hatte. Langsam löste sie sich von ihm und sah ihm in die Augen. Sie konnte sich denken, mit was er gerade zu kämpfen hatte, denn ihr würde es nicht anders gehen. Vom Wesen her waren sie beide sich doch so sehr ähnlich. Sie sah ihm tief in die Augen und stich ihm sanft über die Wange. “Für das, was passiert ist, trägst du keine Schuld. Der Einzige, der Schuld hat, ist Schröder mit seinem Bruder. Er allein trägt die Verantwortung für das, was dir und was mir widerfahren ist. Und deshalb gilt es sie zu fassen, hörst du?”. Ben nickte nur. Er war von ihrer Stärke so beeindruckt. Das sie selbst in schwierigen Situationen den Überblick behielt. Nina richtete sich auf und half Ben auf die Beine zu kommen, da er immer noch etwas wacklig war. “Semir hat vorhin gerade angerufen. Es gibt schlechte Neuigkeiten”, wollte sie Ben informieren, als in dem Moment ein Geräusch an der Türe zu hören war. “Das wird er sein”, gab Nina bekannt.

  • Wütend schlug Semir auf das Lenkrad. “Verdammt, ausgerechnet jetzt!”. Er besah sich die Autoschlange vor sich, die kein Ende zu nehmen schien. Er packte sich das Funkgerät. “Zentrale für Cobra 11. Susanne, ich bin gerade auf der A59 unterwegs. Was ist denn da los? Ich steh hier in einem riesigen Stau”, gab er durch. Susanne meldete sich am anderen Ende. “Hallo Semir, leider gab es hier einen Unfall mit einem Schwertransporter. Das kann noch eine Weile dauern”. “Gibst du mir bitte mal die Chefin?”. “Ja, Moment”. Einen Augenblick später war auch schon Kim Krüger am Funk. “Chefin, ich bin gerade auf dem Weg zu Bens Wohnung. Reimann ist tot. Er wurde in der JVA vergiftet. Ich brauche dringend eine Streife bei Ben und Nina. Ich befürchte, sie sind in großer Gefahr und ich stecke hier in dem Stau fest. Es geht nichts vorwärts”, teilte Semir seiner Chefin mit. “Unmöglich Gerkan. Alle Kräfte sind gerade im Einsatz bei dem Unfall. Ich kann im Moment niemanden abziehen. Sind Sie sicher, dass hier wirklich Dringlichkeit besteht?”. “Schröder ist zu allem fähig und ich möchte es ehrlich gesagt nicht darauf ankommen lassen”. Es herrschte Stille. Kim überlegte kurz. “In Ordnung, ich mache mich selbst auf den Weg. Ich werde wegen des Staus einen Umweg fahren müssen, aber ich denke ich werde in ca. 15 Minuten an Jägers Wohnung sein. Informieren Sie ihn und kommen sie dann so schnell wie möglich nach um mich abzulösen. Krüger Ende”. Semir hängte ein und wählte schnell Bens Nummer. Er war froh, dass sich Kim auf den Weg machte, war ihm doch bei dem Gedanken wohler sie in Schutz zu wissen. Es läutete mehrmals. Doch niemand hob ab. Nachdem der Anrufbeantworter ranging versuchte es Semir noch einmal. Doch wieder nichts. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Er ahnte nichts Gutes.



    Nina sah noch mal zu Ben, der sich aufs Bett gesetzt hatte, und durchquerte das Wohnzimmer, um durch den Spion zu sehen. Sie war noch nicht angekommen, als die Tür mit einem lauten Knall aus den Angeln flog. Nina erschrak sich, denn vor ihr stand auf einmal Toni Schröder. Wie erstarrt sah sie in seine kalten Augen. Sie konnte kaum reagieren, schon hatte er sich auf sie gestürzt und drückte sie mit festen Armen auf den Boden. “Du Mistkerl”, versuchte sie sich verzweifelt zu wehren und ihn mit ihren Tritten zu erwischen. Doch er hatte sie festgenagelt und es war für Nina unmöglich, sich aus seinem Griff zu winden. Aufmerksam durch den Lärm stand nun Ben im Türrahmen. Er konnte die Situation gar nicht richtig erfassen, war noch so benebelt von dem Bildern und Eindrücken der letzten Minuten, dass er die Gefahr nicht richtig erkannte und unterschätzte. Er war wie gelähmt, völlig unfähig etwas zu bewirken. Nina sah Ben in der Tür stehen, während sie noch versucht sich zu wehren. Toni schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. `Das ist seine Chance´, dachte sie. Sie konnte ihre rechte Hand ein wenig frei bekommen und Toni so einen Schlag mit der Faust an die Schläfe versetzen. Die Gelegenheit war da. “Los Ben, lauf!”, schrie sie und deutete mit ihrem Blick zur Wohnungstür. Ben erwachte aus seiner Starre. Er musste ihr helfen, aber er wusste, dass er in seinem Zustand nichts ausrichten konnte. Also nahm er die Gelegenheit war und rannte zur Tür. Ob das ein Fehler war? Kaum hatte er den Treppenabsatz erreicht hört er allerdings schnelle Schritte von unten. Er späte kurz über das Geländer und ihm fuhr sofort ein Schauer über den Rücken. Es war Ralf Schröder, der schnellen Schrittes die Treppen erklomm. Ihm blieb nur noch ein Ausweg. Die Flucht nach oben.

  • Auf dem Dach angekommen sah Ben sich um. Hier konnte er sich nirgendwo verstecken. Und er hörte schon Ralfs Schritte, die immer näher kamen. Er war ihm gefolgt. Schnell nahm Ben den Balken, der neben der Tür lehnte, schloss sie und klemmte ihn dagegen. Die Tür war nun zwar blockiert, aber Ben befürchtete, es würde nicht lange halten. Ein Donnern war zu hören. Obwohl es noch früh am Tag war hatte der Himmel sich dunkel verfärbt und es begann zu regnen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ben sah sich um. Auf dem Boden lagen noch ein paar alte Metallstangen von einem Gerüst. Er nahm eine davon in die Hand. `Das hat ja das letzte Mal auch so gut funktioniert`, dachte er sarkastisch, als ihm die Szene aus dem Kellerraum durch den Kopf schoss. Er erinnerte sich jetzt auch wieder genau daran, mit wie viel Wut er auf Ralf eingedroschen hatte, da er den Gedanken nicht ertragen konnte Nina leiden zu sehen. Und genau diese Wut stieg jetzt wieder in ihm hoch, als er das unaufhaltsame rütteln an der Tür vernahm. Er sammelte all seine Energie für den nächsten Schlag um Ralf Schröder das zu geben, was er verdiente. Für all dass, was er ihm und ihr angetan hatte. Er wollte Rache. Und dieses Gefühl war stärker denn je. So umschlossen seine Hände fest die Stange und er wartete auf den entscheidenden Augenblick.


    Mit einem starken Tritt wurde die Tür zum Dach aufgestoßen und Ben hielt sich bereit. Doch nichts passierte. Erst nach einigen Sekunden trat Ralf hervor, als hätte er geahnt, dass Ben an der Ecke auf ihn lauerte. Bens Überraschungsmoment war dahin und so konnte er, als er Ralf endlich sah, nur einige ungezielte Schläge setzten. Doch Ralf, wesentlich agiler als Ben ins diesem Moment, hatte keine Probleme ihm auszuweichen. Statt dessen grinste er Ben nur frech an, was ihn noch wütender machte. “Komm endlich her, du Schwein! Ich mach dich fertig!”, schrie Ben und torkelte die Stange schwingend ihm entgegen. Das hoch hetzen der Treppe und die paar Bewegungen hatten ihn unheimlich viel Kraft gekostet. Doch spürte er jetzt den Adrenalinschub, der ihn weiter vorwärts trieb. Ralf war allerdings mehr als unbeeindruckt. Er wich weiterhin Ben aus, steckte seine Waffe weg, entriss mit einem Satz Ben die Stange und schleuderte sie für ihn unerreichbar weit weg. Dann hob er die Fäuste. “Dich mach ich auch so fertig”, höhnte Ralf selbstsicher und verpasste Ben den ersten Schlag ins Gesicht. Ben ging in die Knie, doch hatte er sich schnell wieder gefangen und setzte zur Gegenwehr an. Die beiden Männer lieferten sich einen Zweikampf über mehrere Minuten, in dem keiner dem anderen etwas schenkte und jeder jeweils harte Schläge einstecken musste. Derweilen regnete es in Strömen und Ben hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, da er immer wieder auf dem glatten Boden des Daches ausrutschte. Endlich gelang ihm ein gekonnter Treffer und Ralf schrie auf, als ihm das Blut aus einer Wunde an der Augenbraue rann. Er fasste sich kurz an die Stirn und besah sich seine roten Finger. “Jetzt ist genug”, zischte er und holte seine Waffe wieder hervor. “Ich habe genug von dir. Jetzt wird endlich abgerechnet. Du bist mir schon viel zu oft in die Quere gekommen, aber jetzt ist Schluss!”. Ralf spannte den Hahn. Ben stand ihm schwer atmend in einiger Entfernung gegenüber. Er wusste, er hatte nichts mehr entgegenzusetzen. Er war am Ende seiner Kräfte. Es gab keinen Ausweg mehr. `Das war´s jetzt also`, dachte er. Langsam schloss er die Augen und ließ den Regen auf sich herabfallen. “Bye Bye, Bulle”. Dann hörte er auch schon den Knall...

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