Verrat

  • Außerdem glaubte sie im Nachhinein nicht, dass er ihr gegenüber handgreiflich geworden wäre. Ihr zuliebe hatte Ben also auch darauf verzichtet, die Körperverletzung ihm gegenüber weiter zu verfolgen.
    Semir war also allein unterwegs, um Befragungen durchzuführen und Alibis zu überprüfen. Ben war diese Aufteilung ganz recht, zum einen konnte er so seinen Kopf noch etwas schonen, zum anderen konnte er so Susanne bei ihrer Arbeit beobachten. In den letzten Wochen hatte er es sich immer verkniffen, sie anzusehen und das war ihm sehr schwergefallen. Jetzt genoss er einfach ihren Anblick. Dass er mit seiner Arbeit deswegen nur recht langsam vorankam, störte ihn wenig. Und als dann die Kollegen aus Bonn anriefen, um mitzuteilen, dass sie den Gesuchten verhaftet hatten, ließ Ben endgültig die Arbeit Arbeit sein und entspannte sich noch ein Weilchen auf der Couch, die im Aufenthaltsraum stand.
    „He Kollege, aufwachen“, drang Semirs Stimme am sein Ohr. „Im Dienst schlafen, das geht ja gar nicht!“ sagte er dann streng, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ben blinzelte. „Ich hab nicht geschlafen“, murmelte Ben, „ich hab nur kurz die Augen zugemacht.“ Semir grinste immer noch, während Ben langsam aufstand, als Susanne ihren Kopf zur Tür reinsteckte. „So, ich bin fertig, wir können.“ Semir sah zu ihr. „Ich glaube, dein Freund braucht noch einen Moment. Übrigens, Andrea hat angerufen. Sie hat vorgeschlagen, dass wir heute Abend zur Feier des Tages essen gehen.“ Fragend blickte er abwechselnd zu Susanne und Ben. Ben sah seine Freundin an. Seine Freundin. Wie gut es tat, das wieder sagen und hören zu können. Er konnte ihr ansehen, dass sie diesen Vorschlag gerne annehmen würde. Ihm selbst war eigentlich nach einem gemütlichen Abend zuhause zu Mute, aber er wollte sie nicht enttäuschen. Er musste sowieso etwas essen. Außerdem war es schon so lange her, dass sie zu viert etwas unternommen hatten, dass es schon fast gar nicht mehr wahr war. „Also gut, warum nicht“, stimmte er also zu und freute sich, als er Susannes glücklichen Gesichtsausdruck sah. „Prima“, sagte Semir. „Dann gebe ich Andrea Bescheid, treffen wir uns um sieben Uhr beim Italiener?“ „Ja gerne, wir freuen uns, bis später dann“, antwortete Susanne für sich und Ben.


    Die vier verbrachten einen schönen Abend mit einem guten Essen und angeregten Gesprächen. Die Stimmung war gelöst und locker, Ben lachte so viel wie schon lange nicht mehr und war im Nachhinein sehr froh, die Einladung doch angenommen zuhaben. Nachdem sie sich dann verabschiedet hatten, machten Ben und Susanne noch einen kleinen Spaziergang. Eng aneinander gekuschelt bummelten sie durch die fast menschenleeren Straßen. Doch als sie um eine Ecke bogen, blieb Ben auf einmal wie angewurzelt stehen. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können und sah noch einmal genauer hin. Doch es gab keinen Zweifel. Bei einem der beiden Männer, die ein Stück weit von ihnen entfernt in ein Gespräch vertieft waren, handelte es sich definitiv um Wagner! Dieses Gesicht würde Ben nie vergessen können und überall wieder erkennen. „Was ist denn los?“ fragte Susanne beunruhigt.

  • Doch Ben gab keine Antwort, sondern suchte nach seinem Handy ohne Wagner aus den Augen zu lassen. „Fuck, der Akku ist leer“, fluchte er dann leise. „Ben, was ist los?“ fragte Susanne jetzt eindringlich. „Gibst du mir mal dein Telefon?“ fragte Ben, ohne auf sie einzugehen. „Das habe ich nicht dabei“, antwortete sie, „und würdest du mir bitte endlich verraten, warum du dich so aufführst?“
    Ben sah sie an. „Da hinten steht Wagner. Susanne, du musst irgendwo ein Telefon auftreiben und Semir Bescheid geben.“ Susanne schüttelte den Kopf. „Ben, wenn das wirklich Wagner ist, kannst du ihm nicht allein folgen, das ist viel zu gefährlich! Du hast nicht einmal eine Waffe dabei. Ihr werdet ihn auch so wieder finden.“ Doch Ben ließ sich nicht beirren. „Susanne, weißt du, was das für ein Zufall ist, dass er mir hier über den Weg läuft? Wir dachten, er sei gar nicht mehr im Land.“ Er sah zu Wagner hinüber, der sich inzwischen von seinem Begleiter getrennt hatte und langsam die Straße hinunter ging und aus seinem Blickfeld zu verschwinden drohte. „Bitte ruf Semir an und sag ihm, in welche Richtung wir gegangen sind, er wird uns schon finden.“ Susanne schüttelte zwar noch einmal den Kopf, machte sich dann aber auf den Weg.
    Sie wusste, dass Ben sich nicht aufhalten lassen würde, also musste sie zusehen, dass er schleunigst Hilfe bekam. „Sei vorsichtig!“ rief sie ihm leise zu, bevor sie um die Ecke bog und dann losrannte. Sie wollte zum Restaurant zurück, sie waren nicht so weit entfernt von dort. Vielleicht war Semir auch noch in der Nähe. Doch sie hatte kein Glück. Als sie ihn anrief, war er bereits zuhause, versprach aber, sofort zu kommen. „Susanne, ich bin so schnell wie möglich da. Nimm dir ein Taxi und fahr in deine Wohnung. Der Typ ist gefährlich. Ich will nicht, dass du auch da auch noch reingezogen wirst.“ Widerwillig gab Susanne ihm ihr Wort, denn sie wusste, dass es besser war, wenn sie nicht im Weg stand. Allerdings hatte sie nicht vor, nach Hause zu fahren, sie würde sehen, ob Hotte und Dieter noch auf der Wache waren. Noch mehr Verstärkung konnte nicht schaden. „Versprich mir, dass du dich sofort meldest, wenn alles vorbei ist“, bat sie noch. „Klar, mache ich“, verabschiedete sich Semir.


    Als er schließlich an der genannten Adresse angekommen war, konnte er niemanden mehr entdecken. „So ein Mist“, fluchte er und fuhr langsam die Straße entlang, in der Hoffung, die beiden noch zu entdecken. Nach einigen hundert Metern kam er an einem Haus vorbei, das durch einen Bauzaun vor neugierigen Blicken geschützt war. Sollte hier das Versteck von Wagner sein? Semir sah sich um. Viel weiter konnten sie zu Fuß in der kurzen Zeit auch nicht gekommen sein. Er beschloss, es zu riskieren. Er parkte ein Stück weit entfernt und versuchte, so leise wie möglich, auf das Grundstück zu gelangen. Es rappelte allerdings ziemlich laut, als er den Bauzaun zur Seite schob und wenige Schritte später blieb er auch noch mit dem linken Bein in Stacheldraht hängen. Ein reißendes Geräusch ertönte und ein langer Riss im Hosenbein wurde sichtbar. „Na super“, murmelte er, „Andrea wird sich freuen.“

  • Vorsichtig befreite er sein Bein aus der Falle und schlich weiter. Erst konnte er niemanden entdecken, doch dann sah er Ben, der hinter einem Holzstapel in Deckung gegangen war und ihm irgendwelche Zeichen zu geben schien. Fragend runzelte er die Stirn und hob die Schultern, doch im selben Moment hörte er hinter sich ein metallisches Klicken und eine kalte Stimme fragte: „Haben Sie sich verlaufen?“ Langsam drehte Semir sich um und blickte in den Lauf einer Pistole. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ben langsam heran kam, immer bemüht, in Deckung zu bleiben. Er musste irgendwie versuchen, Zeit zu schinden, damit Ben unauffällig nahe genug kommen konnte. Zu zweit würden sie es schon schaffen, den Typ zu überwältigen. „Ich wollte mal fragen, ob ich nicht noch einen Abdruck ihres Artikels kriegen könnte?“ versuchte er betont lässig zu fragen. Wagner grinste hämisch. „Aber gerne. Ich werde ihrer Witwe eine Kopie zukommen lassen.“ Semir sah, wie sich der Finger am Abzug langsam krümmte.
    Reflexartig warf er sich zur Seite, dabei knallte er jedoch mit dem Hinterkopf gegen einen Stapel Bretter und blieb benommen liegen. Er war sehr hart aufgeschlagen und im Augenblick nicht in der Lage, sich von der Stelle zu rühren. Nur schemenhaft bekam er mit, dass Ben zeitgleich mit ihm losgesprungen zu sein schien und Wagner so von den Beinen gerissen hatte, so dass Semir auf keinen Fall getroffen worden wäre. Semirs Blick war so auf die Waffe fixiert gewesen, dass er Bens Zeichen nicht bemerkt hatte. Jetzt konnte er nur dabei zusehen, wie Ben und Wagner auf dem staubigen Boden lagen und jeder versuchte, die Oberhand zu gewinnen. Durch den Sturz war Wagners Waffe weit weg geschleudert worden, so dass zumindest durch diese im Moment keine Gefahr mehr drohte. Doch dann musste Semir mit ansehen, wie Wagner nach dem Stacheldraht griff, der auch ihm eben zum Verhängnis geworden war. Blut lief an seinen Händen entlang, doch er ließ nicht los, sondern versuchte, Ben den Draht um den Körper zu schlingen.
    Ben hatte all seine Kraft in den weiten Sprung gelegt, um zu verhindern, dass Wagner jetzt doch das tat, was er die ganze Zeit hatte verhindern wollen. Er war bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um seinen Freund und Partner zu beschützen. Doch langsam spürte er, dass er Wagners Kräften nicht gewachsen war. Hatten beide, durch die Wucht des Aufpralls von den Beinen gerissen, zunächst noch auf der Seite gelegen, hatte Wagner jetzt Bens rechten Arm auf den Rücken gedreht. Er selbst war in die Hocke gegangen, während Ben inzwischen fast auf dem Bauch lag. Sein Knie bohrte sich in Bens Rücken und mit seiner freien Hand schien er nach etwas zu greifen. Ben hoffte inständig, dass er keine zweite Waffe bei sich trug. Er versuchte einen besseren Blick auf Semir zu erhaschen, doch der lag immer noch bewegungslos da.

  • Ben versuchte, sich aufzurichten und umzudrehen doch plötzlich durchfuhr ein schneidender Schmerz seine Arme und seinen Oberkörper. Kleine scharfe Metallspitzen schnitten sich durch seine Haut und Muskeln. Erschrocken keuchte Ben auf und versuchte mit der linken Hand den Stacheldraht wegzuschieben, was aber nur zur Folge hatte, dass sich Haken nur noch tiefer in seinen Arm hineinbohrten. In Bens Kopf kamen Bilder hoch, die er schon längst vergessen geglaubt hatte; Bilder von Messern, die sich in ihn hineinbohrten. Doch Wagner schien sich nicht damit zufrieden zu geben, er zog den Draht mit aller Gewalt noch oben und hinterließ damit blutende Striemen auf Bens Oberkörper. Und dann hatte er sein Ziel erreicht. Er ließ Bens Arm los, packte mit beiden Händen den Draht an Stellen ohne Dornen und zog ihn mit aller Kraft um Bens Hals.
    Blut rann an diesem herab, als sich die Stacheln in das Fleisch bohrten. Ben versuchte verzweifelt, seine Hand unter den Draht zu schieben, um Luft zu bekommen, doch seine Kräfte verließen ihn. Er dachte an Susanne. Daran, wie schön alles hätte werden können. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Hatte er denn keinen Anspruch auf ein kleines bisschen Glück? Er hätte doch so gerne noch mehr Zeit mit ihr verbracht. Der Schmerz an seinem Hals und in seinen Lungen wurde unerträglich, doch er konnte nicht einmal mehr schreien, so fest zog Wagner die Schlinge zu. Doch langsam verblasste dieses Gefühl, bis es schließlich nicht mehr zu spüren war. Ben fühlte nichts mehr. Keinen Schmerz, keine Angst, keine störenden Gedanken mehr, gar nichts mehr. Alles wurde schwarz.
    Entsetzt konnte Semir nur dabei zusehen, wie Ben verzweifelt versuchte, sich zu wehren. Doch er kam nicht gegen Wagner an, der wie ein Wahnsinniger den Stacheldraht um seinen Hals zuzog. Panik stand in Bens Augen, doch Semir war immer noch nicht in der Lage, sich zu rühren. Auf einmal trat ein anderer Ausdruck in Bens Augen. Die Angst schien zu verschwinden und machte einer Art Ruhe Platz. Dann wurde sein Blick leer.
    Schwer atmend ließ sich Wagner zur Seite fallen, nachdem Bens Gegenwehr erlahmt war. Auch er hatte Blessuren an den Händen vom Stacheldraht. Mit einem verächtlichen Blick verpasste er Ben noch einen Tritt, so dass dieser ein Stück zur Seite rutschte und mit dem Gesicht zu Boden liegen blieb. Dann blickte er sich suchend nach seiner Waffe um, die einige Meter von ihm entfernt lag.
    In der Ferne hörte Wagner die Sirenen der Polizeifahrzeuge, die sich aber so rasch näherten, dass er es wohl nicht mehr schaffen würde, ungesehen von hier zu verschwinden. Er sah an sich herab. Unterhalb seiner Rippen hatte sich ein Stück Stahl in ihn hineingebohrt, auf das er gefallen war, als sich dieser verfluchte Bulle auf ihn gestürzt hatte. Langsam tropfte das Blut zu Boden, während er sich seiner Waffe näherte. Auch wenn es hier für ihn vorbei war, den anderen Bullen würde er auch noch mitnehmen. Und wenn es das Letzte wäre, was er täte.

  • Er hätte ihn schon damals in der Wohnung abknallen sollen, doch wer hätte da schon ahnen können, dass dieser Jäger so abdriften würde. Damit hatte niemand rechnen können. Er hatte seine Pistole erreicht. Fast im Zeitlupentempo hob er sie auf. Er hatte alles um sich herum ausgeblendet, nur noch das eine Ziel vor Augen, er wollte den Polizisten töten. Er richtete den Lauf auf den am Boden liegenden Mann.
    Auch Semir konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf die Waffe, die auf ihn gerichtet war und in wenigen Augenblicken sein Leben auslöschen würde. Zwar kam langsam wieder das Gefühl in seinen Körper zurück, doch es war zu spät. Nach einem letzten Blick auf Ben schloss er die Augen, denn er wollte Wagner nicht den Triumph gönnen, die Angst darin zu sehen.
    Ein Schuss erklang und dröhnte über alle anderen Geräusche hinweg. Doch Semir verspürte keinen Schmerz. War das Empfinden seines Körpers durch den Sturz so in Mitleidenschaft gezogen worden, dass er nicht einmal mehr eine Kugel spürte? Das würde ihm das Sterben wenigstens leichter machen. Denn davor hatte er immer Angst gehabt, vor einem schmerzhaften Todeskampf, von dem man wusste, dass man ihn verlieren würde. Er hoffte inständig, dass Ben nicht so lange hatte leiden müssen.
    Doch Semir merkte, dass er immer noch atmete und von irgendwelchen Schmerzen war auch keine Spur zu bemerken. Er hatte sogar eher das Gefühl, dass seine Kräfte zurückkehrten und er gleich aufstehen könnte. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah Wagner vor sich tot am Boden liegen. Ein großer Blutfleck auf dessen Brust ließ keinen Zweifel an dieser Tatsache aufkommen. Semir stütze sich mit den Armen ab, brachte sich in eine halbaufrechte Position und sah so seine Chefin mit noch erhobener Waffe ein Stück entfernt stehen. „Endlich hab’ ich dich, du mieses Schwein“, kam es fast triumphierend aus ihrem Mund. Sie steckte die Waffe weg und lief zu Semir. Sie kniete sich neben ihn und half ihm auf die Beine. „Herr Gerkan, sind Sie in Ordnung?“ fragte sie ihn besorgt. „Ja, ich… mir geht es gut….Ben…“, war alles was Semir raus bringen konnte, zumal er in diesem Moment Susanne entdeckte, die von Dieter und Hotte davon abgehalten wurde, zu Ben zu gelangen.

  • „Lasst mich los!“ schrie sie und wand sich aus Hottes Griff. Sie rannte zu Ben. Kurz vor seinem reglosen Körper blieb sie stehen. Doch dann wagte sie den letzten Schritt. Sie kniete sich nieder und drehte Ben vorsichtig auf den Rücken und bettete seinen Kopf vorsichtig auf ihren Beinen. Zärtlich strich sie ihm durchs Gesicht und über die Haare. Dass ihre Hände jetzt auch über und über mit Blut beschmiert waren, schien sie nicht weiter zu registrieren.
    Frau Krüger war viel zu geschockt, um irgendetwas zu sagen. Aber Semir wollte auch Abschied nehmen. Noch leicht schwankend ging er auf seinen Freund zu und stellte sich neben Susanne. Die Hektik, die um ihn herum inzwischen ausgebrochen war, registrierte er kaum. Er nahm nur noch Bens leblos daliegenden Körper wahr.
    Warum hatte er es nicht geschafft, früher hier zu sein? Warum hatte es so enden müssen, dass Ben Wagner allein gegenüber gestanden hatte? Vor allem das war eine Tatsache, die Semir sehr zu schaffen machte. Es tat ihm unendlich leid, dass Ben am Ende doch allein gewesen war, denn davor hatte er immer am meisten Angst gehabt. Warum hatten sie auch nur darauf bestanden, unbedingt heute Abend essen zu gehen? Er hatte Ben doch angesehen, dass er eigentlich gar keine Lust dazu gehabt hatte. Semir merkte, dass er zitterte, als er sich zu seinem Partner kniete.


  • Noch 4 Kapitel...


    Vorsichtig berührten seine Finger Bens Hals, wo sich der Stacheldraht an mehreren Stellen hinein gebohrt hatte. Überall war Blut, dennoch konnte man deutlich die Würgemale erkennen, die der Draht hinterlassen hatte. Semirs Finger verweilten an der Seite von Bens Hals.
    Was er dann fühlte, hielt er zuerst für eine Täuschung, einen üblen Streich, den ihm seine Sinne spielten, das konnte doch nicht sein! Er riss sich zusammen und konzentrierte sich. Doch es gab keinen Zweifel. „Susanne, er hat noch einen Puls!“ flüsterte er aufgeregt. „Was?“ Sie schien gar nicht zu begreifen, was er gesagt hatte. „Ich bin mir sicher, ich kann ihn fühlen!“ Er löste sich aus seiner Starre, sprang auf und blickte um sich. Doch es kam bereits ein Sanitäter auf ihn zu. Die Chefin war wirklich mit allem angerückt, was sie hatte auftreiben können.
    Nach einer kurzen Untersuchung konnte er Semirs Vermutung bestätigen. „Ja, da ist ein Puls“, sagte er und Semir fiel ein Stein vom Herzen. Susanne konnte noch gar nicht richtig glauben, was sie da hörte. Sie saß einfach nur da, hielt Bens Hand fest und hoffte inständig, dass es wirklich wahr sein könnte, dass er nicht tot war. „Der Herzschlag ist zwar recht schwach, aber regelmäßig. Wir werden ihn jetzt transportfähig machen und dann nehmen wir ihn für die weitere Behandlung mit ins Krankenhaus. Der Draht hat zwar einige Schäden angerichtet, aber glücklicherweise haben die Stacheln nicht die Carotis verletzt. Sonst wäre er verblutet. Im Moment sieht es schlimmer aus, als es ist. Verletzungen im Halsbereich bluten immer sehr stark, da kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen, wenn man so etwas nicht kennt.“ In der Zwischenzeit war Ben an die Überwachungsgeräte angeschlossen worden, die auch eindeutig zeigten, dass er am Leben war. Die Verletzung, die Wagner sich zugezogen hatte, als er auf die Metallstange gefallen war, hatte ihn so geschwächt, dass seine Kräfte am Ende doch nicht ausgereicht hatten, um Ben zu töten. Zwar hatte Wagner erreicht, dass Ben bewusstlos wurde, doch er hatte den Draht viel zu tief angesetzt, um auch überhaupt nur in die Nähe der Halsschlagader oder Luftöhre kommen zu können. Doch in Unkenntnis dessen schien Wagner davon überzeugt gewesen zu sein, dass er es geschafft hatte, Ben endgültig los geworden zu sein. Nur deswegen hatte er sein Opfer losgelassen und diese Tatsache hatte Ben das Leben gerettet.


    Nachdem er auf die Trage gelegt worden war, trat Susanne noch einmal zu ihm. Sie ergriff seine Hand und sagte mir so fester Stimme, wie es ihr in diesem Augenblick möglich war: „Du darfst nicht wieder weggehen, hörst du? Ich lasse dich nicht gehen.“ Bens Augenlider flatterten und für einen kurzen Augenblick öffnete er sie und Susanne glaubte, auch ein schwaches Nicken erkennen zu können, dann schloss Ben die Augen wieder. „Keine Sorge, er wird sich schon daran halten“, sagte der Arzt beruhigend. „Lassen Sie sich nach Hause fahren und erholen Sie sich auch erst einmal etwas. Heute Nacht können Sie sowieso nicht mehr zu ihm, aber morgen früh wird er sich auf Sie freuen.“


  • Mit diesen Worten nickte er ihr freundlich zu und verschwand dann mit Ben im Krankenwagen. Mit Blaulicht bog er schließlich um die Ecke und verschwand aus ihrem Blickfeld.
    Inzwischen waren auch die Beamten der Gerichtsmedizin eingetroffen, die sich nun um Wagner kümmern würden. Ein anderer Kollege kam auf Kim Krüger zu, die sich inzwischen zu Susanne und Semir begeben hatte. Semir war kurz vom Arzt durchgecheckt worden, er hatte nichts weiter zu befürchten. Beim Sturz war er so unglücklich aufgekommen, dass seine Nerven kurzzeitig den Dienst versagt hatten, doch es würden keine Folgeschäden entstehen.
    „Frau Krüger? Wir haben in dem Haus etliche Unterlagen sicher stellen können. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe Wagner allein hinter der ganzen Sache gesteckt. Die Sache mit den Hintermännern hat er anscheinend nur als Ablenkungsmanöver inszeniert.“ „Das heißt, es ist vorbei?“ fragte Semir. „Ja, es sieht ganz danach aus“, war die Antwort. Der Kollege verschwand, um sich mit den anderen um die weitere Beweissicherung zu kümmern. Kim sah zu Susanne und Semir. „Frau König, Sie begleiten am besten Herrn Gerkan nach Hause, er ist ja noch nicht wieder ganz sicher auf den Beinen und wie ich ihn kenne, wird er sich sowieso weigern, in ein Krankenhaus zu gehen.“ Susanne nickte nur. Sie brauchte dringend die Unterstützung von Semir und Andrea, um die ganze Sache durchzustehen. „Und ich will Sie morgen auf keinen Fall im Büro sehen, haben Sie verstanden? Informieren Sie mich, wie es Herrn Jäger geht.“ Sie wandte sich zu den anderen Kollegen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Auf sie kam auch noch einiges zu, denn immerhin hatte sie einen Menschen getötet. Auch wenn sie keine andere Wahl gehabt hatte und sich jederzeit wieder so entscheiden würde, konnte sie doch nicht einfach so darüber hinweg gehen. Wenigstens hatte sie keine juristischen Konsequenzen zu befürchten, dazu war die Situation zu eindeutig gewesen.
    Semir legte Susanne den Arm um die Schultern und zog sie mit sich. „Hotte, rufst du bitte Andrea an, dass sie uns abholt?“ bat er seinen Kollegen. Er traute sich noch nicht ganz zu, selber zu fahren und Susanne war erst recht nicht in der Lage dazu. Hotte nickte und verständigte sofort Semirs Frau. Er hätte die beiden gerne selber gebracht, aber wurde hier noch gebraucht. Dann nahm er mit Dieter seine beiden Freunde in die Mitte und gemeinsam warteten sie auf Andrea. Keiner von ihnen konnte in dieser Situation noch etwas sagen und vor allem Susanne war froh, als Andrea schließlich eintraf.
    Als sie dann endlich total müde und erledigt in ihrem Bett im Gästezimmer lag, konnte sie dennoch nicht einschlafen. Immer wieder sah sie Ben blutüberströmt vor sich liegen und immer wieder erinnerte sie sich an das Gefühl, Ben nun doch endgültig verloren zu haben. Im Morgengrauen hielt sie es nicht mehr aus, also schlich sie sich aus dem Haus und fuhr zu Ben ins Krankenhaus.

  • Erst als sie ihn dort schlafend im Bett liegen sah, wurde sie etwas ruhiger. Er hatte keinen Tubus mehr, nur noch eine Nasenkanüle versorgte ihn mit zusätzlichem Sauerstoff. Die Wunden an Hals, Oberkörper und Armen waren versorgt und mit Verbänden bedeckt worden. Vorsichtig zog Susanne einen Stuhl ans Bett und setzte sich zu ihm. Langsam ließ ihre Müdigkeit sich nicht mehr verdrängen und so legte sie ihren Kopf an Bens Seite und schlief schließlich ein.


    In dieser Position fand sie Semir wenig später. Er hatte sich Sorgen gemacht, als Susanne heute Morgen plötzlich verschwunden gewesen war, doch wie immer hatte seine Frau Recht gehabt, als sie gemeint hatte, er würde sie bestimmt bei Ben finden. Semir blickte auf das gleiche Bild wie Susanne, allerdings mit dem Unterscheid, dass Ben inzwischen wach war. „He, schön dich zu sehen“, sagte Semir leise. „Wie fühlst du dich?“ „Es geht so“, flüsterte Ben heiser. „Ein bisschen wie ein Packet vielleicht, aber ansonsten geht’s.“ Semir sah ihn verständnislos an. „Na ja, zusammengeschnürt halt“, erklärte Ben. „Das ist nicht witzig!“ sagte Semir erbost, aber eigentlich war er froh, dass Ben so darüber redete. Denn das bedeutete, dass er über diese Sache gut hinweg kommen würde, denn sonst hätte er ganz anders reagiert.
    „Wagner ist tot, stimmt’s?“ fragte Ben dann ernster. Semir nickte. „Das habe ich irgendwie noch mitbekommen. Weißt du, als ich den Schuss gehört habe, dachte ich, alles sei vorbei.“ Semir legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Keine Sorge, mich wirst du so schnell nicht los“, sagte er. „Ich kann sehr anhänglich sein“, ergänzte er mit einem Lächeln. „Ja, das habe ich schon gemerkt“, kam es immer noch sehr heiser von Ben.
    „Du sollst mit deinem Hals bestimmt noch nicht so viel reden“ kam es verschlafen von Susanne. „Sei nicht böse Semir, aber kannst du später noch mal wiederkommen? Ben braucht jetzt viel Ruhe.“ Semir grinste. „Oh je, oh je, ich ahne schon, worauf das hinausläuft. Ich bin schon weg“, setzte er hinterher, als Susanne erneut zum Sprechen anhob. „Aber ich komme bald wieder“, verabschiedete er sich und machte sich dann auf den Weg zu Andrea. Die beiden hier würden schon ohne ihn klarkommen, da war er sich sicher. Er freute sich jetzt auf einen unbeschwerten, erholsamen Tag mit seiner kleinen Familie.
    Ben und Susanne blieben einfach so liegen, wie Semir sie verlassen hatte. Sie brauchten keine Worte mehr für das, was sie fühlten. Ben würde es bald wieder besser gehen und dann konnte ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen.


    Ein paar Wochen später hatte sich der Spätsommer endgültig verabschiedet. Es war ein trüber, verregneter Samstagnachmittag im Herbst, als Ben und Susanne es sich auf Bens Couch gemütlich gemacht hatten. Nur noch wenige Narben an Hals und Armen erinnerten an die Geschehnisse vor wenigen Wochen. Beide hatten sich unter eine Decke gekuschelt und schauten dem Regen zu, der unaufhörlich ans Fenster prasselte.

  • Gedankenverloren strich Ben immer wieder über die Haare seiner Freundin. Plötzlich sagte er in die Stille hinein: „Ich möchte, dass du bei mir bleibst.“ Susanne richtete sich auf, sah ihn verwundert an und meinte: „Ich hatte nicht vor, zu gehen. Wir wollen doch morgen zusammen frühstücken.“ Ben schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht.“ Er stockte kurz. „Doch, natürlich will ich, dass du heute Nacht hier bleibst; aber nicht nur heute, sondern auch morgen und in Zukunft auch. Ich möchte, dass du bei mir einziehst, ich möchte nicht mehr ohne dich sein.“ Er schwieg und sah sie erwartungsvoll an.
    „Wow, da willst du ja ganz schön viel“, war ihre erste Erwiderung. Dann kam erst mal nichts mehr. „Ich meine, wir müssen ja nicht hier wohnen, wenn es dir nicht gefällt, wir können uns ja auch was anderes suchen, vielleicht in der Nähe von Andrea und Semir, oder bei Jana…“ Susanne stoppte seinen Redefluss, indem sie ihm sanft den Finger auf den Mund legte. „Nun lass mich doch auch mal zu Wort kommen“, sagte sie. „Das ist eine ganz schön große Sache, weißt du?“ Ben nickte. „Ja, das ist mir auch klar, aber wir müssen ja nicht gleich heiraten…“ „Ach, das dann doch nicht?“ erwiderte Susanne belustigt. „So ernst ist es dir dann also auch nicht?“ Sie musste zugeben, dass es ihr einen gewissen Spaß machte, Ben so auf die Folter zu spannen, obwohl ihr längst klar war, welche Antwort sie ihm geben würde. „Oh man, du kannst es einem aber ganz schön schwer machen“; stöhnte Ben. „Ich möchte doch einfach nur mit dir zusammen sein und das so oft wie möglich, das ist doch nicht so schwer zu verstehen, oder? Falls du es noch nicht weißt, ich liebe dich nämlich.“ Susanne sah ihn an. Sie lächelte. „Weißt du was? Mir geht es da ganz genau so. Ich finde, wir können den Versuch wagen.“ Sie kuschelte sich wieder an Ben, der in diesem Augenblick einfach nur glücklich war.
    „Aber der hässliche Schrank im Gästezimmer kommt raus“, kam es noch von Susanne. Ben verzog das Gesicht im gespielten Entsetzten. Das konnte ja heiter werden!
    Doch sie hatten es geschafft, wieder zusammen zu finden und alles andere würden sie auch schaffen. Sie würden ihren weiteren Lebensweg gemeinsam gehen und Ben würde nie wieder allein sein.
    Er freute sich auf die Zukunft.
    ENDE

  • Gedankenverloren strich Ben immer wieder über die Haare seiner Freundin. Plötzlich sagte er in die Stille hinein: „Ich möchte, dass du bei mir bleibst.“ Susanne richtete sich auf, sah ihn verwundert an und meinte: „Ich hatte nicht vor, zu gehen. Wir wollen doch morgen zusammen frühstücken.“ Ben schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht.“ Er stockte kurz. „Doch, natürlich will ich, dass du heute Nacht hier bleibst; aber nicht nur heute, sondern auch morgen und in Zukunft auch. Ich möchte, dass du bei mir einziehst, ich möchte nicht mehr ohne dich sein.“ Er schwieg und sah sie erwartungsvoll an.
    „Wow, da willst du ja ganz schön viel“, war ihre erste Erwiderung. Dann kam erst mal nichts mehr. „Ich meine, wir müssen ja nicht hier wohnen, wenn es dir nicht gefällt, wir können uns ja auch was anderes suchen, vielleicht in der Nähe von Andrea und Semir, oder bei Jana…“ Susanne stoppte seinen Redefluss, indem sie ihm sanft den Finger auf den Mund legte. „Nun lass mich doch auch mal zu Wort kommen“, sagte sie. „Das ist eine ganz schön große Sache, weißt du?“ Ben nickte. „Ja, das ist mir auch klar, aber wir müssen ja nicht gleich heiraten…“ „Ach, das dann doch nicht?“ erwiderte Susanne belustigt. „So ernst ist es dir dann also auch nicht?“ Sie musste zugeben, dass es ihr einen gewissen Spaß machte, Ben so auf die Folter zu spannen, obwohl ihr längst klar war, welche Antwort sie ihm geben würde. „Oh man, du kannst es einem aber ganz schön schwer machen“; stöhnte Ben. „Ich möchte doch einfach nur mit dir zusammen sein und das so oft wie möglich, das ist doch nicht so schwer zu verstehen, oder? Falls du es noch nicht weißt, ich liebe dich nämlich.“ Susanne sah ihn an. Sie lächelte. „Weißt du was? Mir geht es da ganz genau so. Ich finde, wir können den Versuch wagen.“ Sie kuschelte sich wieder an Ben, der in diesem Augenblick einfach nur glücklich war.
    „Aber der hässliche Schrank im Gästezimmer kommt raus“, kam es noch von Susanne. Ben verzog das Gesicht im gespielten Entsetzten. Das konnte ja heiter werden!
    Doch sie hatten es geschafft, wieder zusammen zu finden und alles andere würden sie auch schaffen. Sie würden ihren weiteren Lebensweg gemeinsam gehen und Ben würde nie wieder allein sein.


    Er freute sich auf die Zukunft.



    ENDE

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