Verrat

  • „Hast du ihn gefunden?“ rief Susanne. „Nein, hier ist nichts!“ kam die Antwort zurück. „Bist du sicher? Er muss doch da irgendwo sein!“ entgegnete Susanne ungläubig. „Ich bin doch nicht blind! Hier unten ist niemand. Ich komme jetzt wieder rauf.“
    „Ich habe mich überall umgesehen“, berichtete Semir, nachdem er wieder oben angekommen war. „Es gibt allerdings etliche Wege, die Ben genommen haben könnte. „Aber der Wagen hat ihn doch mit voller Wucht getroffen“, hielt Susanne entgegen. „Wahrscheinlich sah es schlimmer aus als es tatsächlich war, sonst hätte er ja nicht von hier verschwinden können“, entgegnete Semir leicht genervt. Doch als er Susannes Blick sah, tat ihm das direkt schon wieder leid. „Hör mal, das war nicht so gemeint“, versuchte er sich zu entschuldigen. Susanne erwiderte erst einmal nichts.
    „Wir schaffen das nicht allein“, sagte sie schließlich. Semir musste ihr Recht geben. „Lass uns zur Chefin gehen. Ruf Hartmut an und sag’ ihm, er soll die Bänder vorbei bringen.“ Semir nickte und holte sein Handy heraus.
    Bereits eine halbe Stunde später saßen sie zu viert im Büro von Frau Krüger. Sie hörten sich noch einmal die Aufnahme an, dann berichteten sie ihrer Vorgesetzten was sich danach zugetragen hatte. „Warum hat Herr Jäger nicht um Hilfe gebeten?“ war ihre erste Frage. „Er hatte keine Möglichkeit dazu, ohne Semir in Gefahr zu bringen“ erklärte Susanne. „Zumindest hat er das so gesehen“, fügte sie dann noch hinzu. Die Chefin schwieg. Mit einer Entwicklung in diese Richtung hatte sie nicht gerechnet. Zwar war ihr klar gewesen, dass da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, aber auf diese Erklärung war sie nicht gekommen.
    „Frau Krüger?“ fragte Semir vorsichtig, als die Chefin nach einer Weile immer noch schwieg. „Was sollen wir jetzt machen?“ Die Chefin griff zu einer Akte, die am Rande ihres Schreibtisches lag. „Ich glaube, wir alle hätten viel früher miteinander reden sollen“, sagte sie. während sie die Seiten aufschlug. „Ich habe verschiedene Kollegen gebeten, nach Herrn Jäger Ausschau zu halten. Ich denke, er ist in diesem Hotel.“ Mit diesen Worten reicht sie Semir einen Zettel, auf dem Name und Adresse eines sehr drittklassigen Hotels notiert waren. „Fahren Sie hin und reden Sie mit ihm. Er soll zurück kommen. Wir werden das schon irgendwie regeln.“ Dankbar nahm Semir das Blatt in Empfang. „Hoffentlich ist er wirklich dort“, sagte er sorgenvoll. „Ich wüsste nicht, wo ihn sonst noch suchen könnte.“ „Ich denke, dass sie ihn dort finden werden“ meinte Frau Krüger. „Wo sollte er sonst hin? Wenn er das Gelände aus eigener Kraft verlassen konnte, wird er bestimmt nicht freiwillig ins Krankenhaus oder zu einem Arzt gegangen sein.“ Semir und Susanne nickten zustimmend. Die Chefin hatte Recht, von Medizinern musste Ben im Augenblick genug haben. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich erst einmal alleine fahre“, sagte Semir vorsichtig zu Susanne gewandt. „Ist in Ordnung“, stimmte sie zu. Sie war einfach nur froh, dass sie Ben wahrscheinlich bald wiedersehen würde.

  • Außerdem fehlten ihr im Moment einfach die Nerven für einen weiteren ‚Ausflug’. Zudem war sie sich noch nicht sicher, wie sie mit ihm über sein plötzliches Verschwinden reden wollte. Dass er einfach so gegangen war, ohne auch nur den Versuch zu machen, mit ihr Kontakt aufzunehmen, hatte sie doch mehr verletzt, als sie sich eigentlich eingestehen wollte. „Ich denke, es ist am Wichtigsten, ihm klar zu machen, dass wir jetzt über die Situation Bescheid wissen und ihm helfen werden“, fügte sie hinzu. Semir nickte und machte sich auf den Weg.
    Schon nach kurzer Zeit hatte er das Hotel erreicht. Es sah wirklich ziemlich heruntergekommen aus. Normalerweise würde Ben um ein solches Etablissement einen großen Bogen machen, es musste schon ziemlich schlimm um ihn stehen, wenn er sich freiwillig hier einquartierte. Nach einem kleinen Zögern betrat Semir das Gebäude und ging zielstrebig zur Rezeption. „Gerkan, Kriminalpolizei.“ Er zeigte seinen Ausweis. „In welchem Zimmer wohnt Herr Jäger?“ Der schmierig wirkende Mann hinter dem Tresen sah ihn gelangweilt an. „Jäger? Gibt hier keinen, der so heißt“, war die Antwort. Natürlich nicht, dachte Semir. Ben würde wohl kaum seinen richtigen Namen verwenden, wenn er sich verstecken wollte. „Er ist ca. 1,80m groß, braune, längere Haare, kräftige Statur, Mitte dreißig“, versuchte er seinen Partner zu beschreiben. „Ach so, der. Zimmer 416.“ Semir nickte dankend und ging dann zum genannten Zimmer. Er wurde immer nervöser. Was würde ihn wohl hinter dieser Tür erwarten? Er klopfte. Nichts. Er versuchte es erneut, doch es kam keine Reaktion. Er legte das Ohr an die Tür, doch er konnte kein Geräusch ausmachen. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter und fand die Tür zu seiner Überraschung unverschlossen.


    Sein Herz klopfte immer lauter, während er sie langsam öffnete und vorsichtig das Zimmer betrat, doch es war niemand zu sehen. Semir ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen. Auf den ersten Blick sah es zwar oberflächlich einigermaßen sauber aus, doch bei näherem Hinsehen wirkte alles irgendwie verkommen und bei noch genauerer Betrachtung an machen Ecken ziemlich schmuddelig. Semir mochte sich gar nicht vorstellen, wie es Ben ergangen war, wenn er in den letzten Wochen tatsächlich hier gehaust hatte. Und es sah ganz danach aus. Überall fanden sich Sachen von Ben verteilt. „Na, wenigstens das hat sich nicht geändert“, murmelte Semir vor sich hin, während er in das Bad ging. Dann sah er auch noch auf dem winzigen Balkon nach, aber Ben war definitiv nicht hier.

  • Ja, es war gut so. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Ben sich wieder sicher, was er zu tun hatte. Er fragte sich, ob ihn sein Vater wohl vermissen würde. Vielleicht ein wenig, immerhin war er sein einziger Sohn, aber wahrscheinlich würde er auch irgendwie erleichtert sein. So brauchte er nicht dabei zuzusehen, wie der eigentliche Firmenerbe weiterhin eine ganz andere Richtung einschlug. Seine Schwester war glücklich verheiratet und lebte ihr eigenes Leben. Ob wohl schon ein Kind unterwegs war? Dass er eine Nichte oder einen Neffen nun nicht mehr kennenlernen würde, bedauerte Ben zwar, aber es ließ sich nicht ändern. Semir hatte mit ihrer Freundschaft sowieso schon abgeschlossen und Susanne war so eine tolle Frau; sie würde schon jemand finden, der besser für sie war. Ben konnte sich kaum vorstellen, dass sie ihn noch einmal ansehen würde, nachdem, was er getan und wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Aber jetzt war ja endlich auf dem richtigen Weg und würde den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, mit seiner Entscheidung das Leben leichter machen. Der Weg war nicht mehr weit. Bald würde alles vorbei sein.


    Semir merkte erst jetzt wie sehr er gehofft hatte, Ben hier zu finden. Aber nun gut, dann würde er eben warten. Irgendwann müsste Ben ja zurückkommen. Langsam ging er noch einmal durch den Raum und sah sich noch einmal alles ganz genau an. Sein Blick fiel auf einen kleinen, wackligen Tisch, der neben dem Bett stand. Auf diesem lagen etliche Medikamente. ‚Deswegen hatte Ben also so schlecht ausgesehen’ dachte Semir erschrocken. An diese Möglichkeit hatte er noch überhaupt nicht gedacht. Er hatte nicht geglaubt, dass es Ben so schlecht gehen würde. Er sah genauer hin, um zu sehen, um welche Tabletten es sich genau handelte. Dabei entdeckte er unter den Packungen einen Briefumschlag. Als er feststellte, dass sein Name und die Adresse der Dienststelle darauf geschrieben waren, stockte ihm der Atem. Mit zitternden Fingern öffnete er den Brief und begann zu lesen. Dabei schien es ihm, als setzte sein Herzschlag aus. Viel von dem, was Ben mit diesen Zeilen erklärte, wusste er bereits. Doch Ben war zu einem völlig anderen Schluss gekommen als seine Freunde. Was Semir hier in den Händen hielt, war ein Abschiedsbrief!
    Entsetzt sprang er auf. Zu lange konnte es noch nicht her sein, dass Ben das Hotel verlassen hatte. Aber wo war er hingegangen? Während Semir zu seinem Wagen hastete, überlegte er verzweifelt, wo und wie Ben seinem Leben ein Ende setzten wollte. Doch dann kaum ihm eine Idee in den Sinn.


    Am Hochhaus angekommen wählte Ben die Treppe, um an sein Ziel zu gelangen. Der Aufzug sah schon recht ramponiert aus, was in dieser Gegend auch kein Wunder war. Er wollte zudem nicht riskieren, dass ein defekter Aufzug ihn an seinem Vorhaben hinderte. Langsam erklomm er Stockwerk für Stockwerk. Trotz Schmerzmittel tat seine Hüfte noch ziemlich weh, doch es war auszuhalten und würde ihn bald sowieso nicht mehr stören. Mit jeder Stufe, die er stieg, wurde er sicherer, was seine Entscheidung betraf. Er war überzeugt davon, auf dem einzig möglichen Weg zu sein.

  • Schließlich hatte er die Brüstung erreicht. Der Wind wehte recht kräftig in dieser großen Höhe. Es war tatsächlich sehr einfach gewesen, bis hierhin zu kommen. Wenn er nicht mit Semir vor wenigen Monaten hier gewesen wäre, um einen angeblichen Selbstmord zu überprüfen, hätte er kaum gewusst, in welchem Hochhaus man so leicht auf ein schlecht gesichertes Dach kommen konnte. Zu seiner Erleichterung war der Inhaber den Auflagen immer noch nicht nachgekommen. Sogar die Stelle, an der die junge Frau hinuntergestürzt war, hatte man nur provisorisch geflickt. Leichter hätte man es ihm nicht machen können.


    Auch Semir hatte das Hochhaus erreicht. Er stieg aus dem Wagen. Er blickte nach oben und glaubte, am Rande des Daches eine Gestalt zu erkennen. „Verdammte Scheiße!“ fluchte er und rannte los. Zu einem kleinen Teil war er froh, dass er mit seiner Annahme richtig gelegen hatte, aber würde er es rechtzeitig nach oben schaffen? Er würde es sich nie verzeihen, wenn es ihm nicht gelingen würde, Ben in seinem Vorhaben aufzuhalten. Genau wie sein Partner wusste auch er genau, welchen Weg er nehmen musste. Er hatte nicht die Nerven, um auf den klapprigen Lift zu warten, aber zu Fuß war er sowieso schneller bei der Menge an Adrenalin, welches im Moment durch seine Adern floss. Er riss die Tür zum Treppenhaus auf und spurtete los.


    Ben stand am Rande des Daches und blickte auf die erleuchtete Stadt. Es war ein schöner Anblick. Hier oben war alles ruhig, bis auf wenige Geräusche vom Verkehr der nahen Schnellstraße, aber das gab ihm das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Allein sein. Das war etwas gewesen, was ihm in den letzten Wochen am meisten zu schaffen gemacht hatte. Sonst war er immer unter Menschen gewesen. Sicher, er hatte allein gelebt, aber er hatte gewusst, dass da immer jemand war, zu dem er hätte gehen können. Doch jetzt hatte er niemanden mehr zum Reden gehabt. Aber wer hätte auch schon mit ihm sprechen wollen. Es fiel ihm keiner ein, an den er sich noch hätte wenden können. Er hatte wirklich keine andere Wahl, als dem Ganzen jetzt ein Ende zu setzen, denn er konnte einfach nicht mehr so weitermachen. Einfach einen Schlussstrich ziehen und so auch den anderen ein neues Leben ermöglichen. Wie es wohl wäre, wenn er fiel? Er fragte sich, wie er wohl unten aufkommen würde, welche Knochen zuerst brechen würden. Ob er den Aufprall noch merken würde? Er hoffte, dass sein Anblick nicht zu schlimm für diejenigen wäre, die seine Leiche abtransportieren müssten. Er setzte einen Fuß auf die äußere Umrandung des Daches, als er glaubte, hinter sich ein Geräusch zu hören. Doch er wollte sich nicht umdrehen. Er wollte jetzt nicht mehr aufgehalten werden.

  • Schwer atmend hatte Semir das letzte Stockwerk erreicht. Er hechtete durch die Tür und hatte so sein Ziel erreicht. Ben stand nur wenige Meter vor ihm am Rande des Daches. Zwar war er nicht wirklich weit entfernt, doch Semir hatte das Gefühl, er wäre unendlich weit weg. Ben stand schon so dicht am Abgrund, dass er ihn auf keinen Fall mehr rechtzeitig erreichen würde, wenn er jetzt sprang. Und es sah wirklich so aus, als wäre er kurz davor. Er hatte sich nicht einmal rumgedreht, obwohl Semir sicher war, dass er ihn gehört hatte. Er musste jetzt irgendetwas sagen, sonst wäre alle Mühe vergebens gewesen.


    Ben setzte auch den zweiten Fuß auf die Kante. Jetzt trennte ihn nur noch eine letzte Bewegung nach vorn vom Ende seines Lebens. Obwohl er sich vorgenommen hatte, es nicht zu tun, wagte er einen Blick in die Tiefe. Es war ein verdammt weiter Weg nach unten. Ben konnte nicht verhindern, dass sich Bilder in seine Gedanken schlichen, die er lieber nicht gehabt hätte. Vor seinem geistigen Auge sah er seinen Körper, zerschmettert vom Aufprall, auf dem Boden liegen. Viel würde wohl nicht von ihm übrig bleiben. Trotzdem lehnte er sich weiter leicht nach vorne, doch irgendetwas hinderte ihn noch daran, sich fallen zu lassen. Zuerst war er sich nicht sicher, doch dann wurde ihm klar, dass er einfach Angst hatte. Der leichte Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen. Er war also doch in der Lage, noch ein anderes Gefühl als Schuld zu empfinden. Doch was wäre, wenn er seine Entscheidung bereuen würde, während er fiel? Er versuchte, sich zusammenzureißen, was sollte jetzt dieses Zögern! Er hatte sich schließlich ein Ziel gesetzt und wenigstens das würde er nun hinkriegen. Er hatte es bis hierher geschafft, er brauchte sich jetzt nur fallen zu lassen…

  • Mit zwei beherzten Sätzen sprang Semir nach vorne, griff nach Bens Handgelenken und umklammerte sie, so fest er nur konnte. Er hatte einfach nicht gewusst, was er hätte sagen können, um Ben aufzuhalten und als er sah, wie Ben sich langsam nach vorne neigte, musste er irgendetwas tun. Mit aller Kraft riss Semir seinen Freund von dem Abgrund weg. Vom Schwung getragen taumelten die beiden einige Schritte über das Dach. Doch auch als sie zum Stehen kamen, ließ Semir Ben nicht los. Die beiden standen sich gegenüber, doch keiner wusste, was er sagen sollte. Ben starrte Semir nur an und begriff überhaupt nicht, was passiert war. War er gesprungen? War er tot? Aber was hatte Semir dann hier zu suchen? Wie kam er hierher? Aber hätte er seinen Sturz nicht spüren müssen? Zudem fühlte er sich noch ziemlich lebendig, zumindest mehr oder weniger. Sein Herz schlug, und das ziemlich schnell, er atmete und die Schmerzen waren auch noch da.
    Es war Semir, der als erster wieder Worte fand. „Da bist du ja endlich. Können wir jetzt gehen?“ Als er nach einer Weile glaubte, ein leichtes Nicken bei Ben ausmachen zu können griff er nach seinem Arm und zog ihn mit sich zum Aufzug. Auch sein Herz klopfte noch bis zum Hals. Das war verdammt knapp gewesen. Er hatte Ben eigentlich anschreien wollen, als er ihm gegenüberstand. Warum er das hatte tun wollen, wäre das erste gewesen, doch auch andere Worte hatte er noch im Sinn gehabt, die er seinem Freund an den Kopf hatte werfen wollen. Was für einen Scheiß er hier machte, ob er denn nicht wusste, dass sich alle große Sorgen um ihn machten. Doch diese Gedanken waren wie weggewischt gewesen, als er Bens Augen gesehen hatte. Da war rein gar nichts mehr von dem Mann, den er vor wenigen Wochen noch gut zu kennen geglaubt hatte. Sein Blick war fast leer, nur Schmerz war der einzige Ausdruck, den Semir noch erkennen konnte.
    Und doch ließ Ben sich von Semir mit zum Ausgang bugsieren, ohne sich zu wehren. Semir wagte es nicht, Bens Arm loszulassen, weder im Aufzug, noch auf dem Weg zu seinem Wagen, den sie schweigend zurück legten. Ben ließ sich einfach von Semir mitziehen. Es schien fast so, als überließe er ihm das weitere Denken und Handeln, selbst nicht mehr in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, nachdem er auch seinen letzten Entschluss nicht in die Tat hatte umsetzen können. Als sie an Semirs Wagen angekommen waren, platzierte Semir Ben zuerst auf den Beifahrersitz. Während er langsam um das Fahrzeug herum ging, ohne seinen Partner dabei aus den Augen zu lassen, nutzte er die Gelegenheit, um kurz Andrea Bescheid zu geben, dass er einen Gast mitbringen würde. Es erschien ihm am Sinnvollsten, Ben erst einmal mit zu sich zu nehmen. Dann würde man weitersehen.


    Als sie bei ihm zuhause ankamen, erwartete sie Andrea bereits an der Haustür. Semir hatte seine Frau zwar schon kurz vorgewarnt, doch sie war keineswegs auf das vorbereitet, was sie jetzt sah. Trotzdem versuchte sie so gut es ging, sich zusammenzunehmen, als Semir einen völlig apathisch wirkenden Mann, der nur noch entfernt an Ben erinnerte, mit ins Haus brachte.

  • „O.K. Ben, wir bringen dich im Gästezimmer unter. Schlaf dich erst mal aus, wir reden morgen dann in Ruhe.“ Semir dirigierte Ben weiter in das entsprechende Zimmer. Er wusste nicht so ganz genau, was er jetzt tun sollte. Konnte er es wagen, Ben jetzt allein zu lassen, oder würde er wieder eine Dummheit begehen? Aber ehrlich gesagt konnte Semir sich nicht ernsthaft vorstellen, dass Ben in nächster Zeit noch einmal die Kraft für eine solche Aktion aufbringen könnte. Also ließ er ihn erstmal allein, schloss die Tür beim Hinausgehen aber nicht ganz und ging zu Andrea.
    Mit einem tiefen Ausatmen ließ er sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Andrea setzte sich neben ihn. Sie sagte nichts, denn sie wusste, dass Semir darüber reden würde, wenn er soweit war. „Er wollte sich das Leben nehmen“, war der erste Satz, den sie zu hören bekam, auch wenn sie dessen Inhalt zuerst nicht ganz glauben konnte. Doch ein Blick in Semirs Gesicht ließ ihre Zweifel verschwinden. „Es war so knapp, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie knapp.“ Semir wurde bei dem Gedanken an die Situation auf dem Dach richtig schlecht. „Wenn ich nur einen Moment später dagewesen wäre…“ Er schwieg. Mehr konnte er dazu im Augenblick noch nicht sagen.
    „Und was machen wir jetzt?“ fragte Andrea vorsichtig nach einer kurzen Pause. „Ich weiß es nicht“, antwortete Semir. „Ich weiß es wirklich nicht“ wiederholte er noch einmal. „In seinem Hotelzimmer lagen haufenweise Medikamente, hauptsächlich Schlaf- und Schmerzmittel. Ich denke, wir müssen ihn morgen erst mal zu einem Arzt schaffen. Eigentlich würde er wohl besser in ein Krankenhaus gehören, aber ich hatte das Gefühl, es wäre besser, ihn hierher zu bringen.“ Andrea nickte. Auch sie war der Meinung, dass Ben jetzt erst einmal in eine vertraute Umgebung gehörte, damit er sich etwas fangen konnte und zur Ruhe kam. Beide hofften, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, da sie so eine Situation bisher noch nicht einmal ansatzweise erlebt hatten.
    Vor allem Semir fühlte sich ziemlich überfordert, zumal er auch das Gefühl hatte, dass er schon viel früher etwas hätte unternehmen müssen. Vor allem fragte er sich, warum er nichts bemerkt hatte, als Ben sich so verändert hatte. Eigentlich müsste er doch wissen, wenn sein Partner in Schwierigkeiten steckte. Sicher, Ben hatte es so gewollt, er kannte Semir gut und hatte genau die richtigen Dinge getan, um seinen Freund von sich zu stoßen, aber hätte er nicht trotzdem Verdacht schöpfen müssen? Semir mochte sich gar nicht vorstellen, wie es Ben dabei ergangen war. Jetzt wusste er auch, dass Ben die Worte, die er ihm in seiner Wohnung an den Kopf geworfen hatte, niemals so gemeint hatte. Es war ein verzweifelter Versuch gewesen, ihm das Leben zu retten. Je mehr Semir darüber nachdachte, desto schlechter wurde sein Gewissen. Das ganze Leid hatte Ben nur auf sich genommen, um ihn zu schützen. War er das wirklich wert?

  • Obwohl die Nacht schon fast vorüber war, konnte Semir keinen Schlaf finden, nachdem er und Andrea endlich ins Bett gegangen waren. Nachdem er sich etliche Zeit hin und her gewälzt hatte, stand er noch einmal auf und ging so leise wie möglich noch einmal zu Bens Zimmer. Vorsichtig sah er durch den schmalen Spalt, den er hatte offen stehen lassen. Der Anblick, der ihm sich bot, beruhigte ihn zumindest etwas. Ben hatte sich aufs Bett gelegt und schien eingeschlafen zu sein. Leise zog Semir sich zurück. Nicht aufgefallen war ihm allerdings der kalte Schweiß, der sich auf Bens Stirn gebildet hatte. Auch das Zittern, das immer stärker zu werden schien, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu bemerken gewesen. Doch Bens Körper verlangte immer stärker nach den Wirkstoffen, die ihm in den letzten Wochen zumindest vordergründig geholfen hatten. So war es dann auch früh am Morgen mit dem kurzen Schlaf vorbei.
    Ben lag auf dem Bett, inzwischen zitterte er am ganzen Körper. Seine Schulter und Hüfte schmerzten, ihm war übel und heiß und kalt zugleich. Er war lange genug Polizist, um genau zu wissen, dass es Entzugserscheinungen waren, unter denen er zu leiden hatte. Und es würde noch schlimmer werden, da konnte er sich keinerlei Illusionen hingeben. Er wusste nicht, wie er es schaffen sollte, damit fertig zu werden. Er konnte einfach nur da liegen und darauf warten, dass das Zittern wenigstens soweit aufhörte, damit er aufstehen konnte. In gewisser Weise war er eigentlich froh, seinen Körper noch zu spüren. Denn ein Teil von ihm, den er mit aller Gewalt verdrängt hatte, hatte nie freiwillig sterben wollen und so langsam gewann dieser Teil wieder die Oberhand. Ben begann über das, was in der letzten Nacht passiert war, nachzudenken. Semir war dagewesen, als er ihn am dringendsten gebraucht hatte. Ben hatte keine Ahnung, wie er ihn gefunden hatte, er war einfach da gewesen und hatte ihn davon abgehalten zu springen. Und nicht nur das, er hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen und auch Andrea hatte ihn mit offenen Armen empfangen, ohne Fragen zu stellen. Dabei war er so sicher gewesen, dass die beiden nur noch Verachtung für ihn übrig hätten. Er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären, er wusste nur, dass es sich gut anfühlte. Zum ersten Mal seit langem hatte er zumindest wieder etwas das Gefühl, nicht ganz alleine da zu stehen. Doch weiter konnte er sich auf diese Gedanken nicht konzentrieren. Die körperlichen Auswirkungen des Medikamentenmissbrauchs forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er war immer noch nicht in der Lage aufzustehen und versuchte so gut es ging, sich zu entspannen und die Übelkeit und die Schmerzen nicht zu beachten. Er konnte weder Semir noch Andrea mit diesen Problemen zur Last fallen, daran war er nun wirklich ganz alleine schuld. Und wenn sie ihm, warum auch immer, schon seine Tat verziehen hatten, konnte er nicht auch noch erwarten, dass sie ihn wieder aufpäppelten. Das musste er selber hinkriegen.

  • Langsam ließ das Zittern nach und Ben fiel noch einmal in einen unruhigen Schlaf, aus dem er erst erwachte, als eine kleine Hand an seinem T-Shirt zupfte. Ben schlug die Augen auf und sah Aida in ihrem Schlafanzug vor seinem Bett stehen. Sie sah ihn mit großen Augen an und fragte: „Ben, wo bist du gewesen?“ Ben schluckte. Wie sollte er der Kleinen erklären? „Weißt du Schatz, ich war krank“, antwortete er also. „Tut dir was weh?“ wollte Aida wissen. „Nein, nein, jetzt ist wieder alles in Ordnung“, entgegnete er. Mit dieser Antwort schien sich die Tochter seines Partners zufrieden zu geben. Sie ging zu ihrer Mutter, die inzwischen in der Tür stand. „Aida, lass Ben noch etwas schlafen, es geht ihm noch nicht so gut“, sagte Andrea zu ihrer Tochter. Sie nahm das Mädchen an die Hand und nickte Ben freundlich zu. „Lass dir Zeit. Wenn du soweit bist, dann komm doch zum Frühstück.“ Sie schloss die Tür und Ben war wieder allein.
    Er wusste nicht so recht, was er von der Situation halten sollte. Zum einen war er froh, dass er hier war, zum anderen empfand er das alles hier so unwirklich. War es tatsächlich erst gestern Nacht gewesen, als auf dem Dach dieses Hochhauses gestanden hatte? Er konnte es kaum glauben, dass sich alles auf einmal so verändert hatte. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er jetzt Semir gegenüber treten sollte. Also stand er erst einmal auf und versuchte, so gut es ging, die rasenden Schmerzen, die sich dabei in seinem Kopf breit machten, zu ignorieren. Doch irgendwie musste er an seine Schmerzmittel kommen, wenn er das auf Dauer aushalten wollte. Die Dosis, die er inzwischen brauchte war so hoch, dass er sich kaum vorstellen konnte, jemals wieder von diesem Zeug los zu kommen. Vorsichtig öffnete er die Tür, stellte aber zu seiner Erleichterung fest, dass sich niemand auf dem Flur befand. Also machte er sich auf den Weg ins Bad. Dort angekommen fand er eine Sporttasche aus seiner Wohnung, in der sich auch einige seiner Sachen befanden. Ob es wohl Semir gewesen war, der sie geholt hatte? Irgendwie konnte Ben sich das nicht vorstellen, eine solche Fürsorglichkeit traute er seinem Partner dann doch nicht zu. Es war wohl eher Andrea gewesen, die sich darum gekümmert hatte. Während er unter der Dusche stand, überlegte er, wann er das letzte Mal in seiner Wohnung gewesen war, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Als er sich endlich wieder halbwegs wie ein Mensch fühlte, stöberte er in den Badezimmerschränken nach der Hausapotheke. Etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein. Im Hängeschrank wurde er fündig. Natürlich, wo auch sonst würde Andrea so etwas lagern, damit Aida nicht heran kam. Es war zwar nur Paracetamol, aber das musste für den Augenblick reichen. Ohne weiter darüber nachzudenken schluckte Ben eine Tablettenportion, die eigentlich für mehrere Tage gereicht hätte. Dann zog er seine Sachen an und ging in die Küche, in der die Familie Gerkan bereits beim Frühstück saß.

  • „Morgen; schön, dass du da bist“, wurde er von Andrea begrüßt. Sie schien sich wirklich zu freuen ihn zu sehen. „Kaffe?“ „Ja, gerne“, murmelte Ben und ließ sich auf einer Stuhlkante nieder. Er traute sich nicht, Semir anzusehen und auch sein Partner sagte nichts, sondern schien nur mit seinem Rührei beschäftigt zu sein. „Onkel Ben, darf ich auf deinen Schoß?“ krähte Aida und war im selben Moment auch schon auf seine Beine geklettert. „Lass Ben doch erst einmal in Ruhe frühstücken“, kam es von Andrea. „Ach lass nur, ist schon gut, sie stört ja nicht“, erwiderte Ben, der froh war, auf diese Weise mit etwas beschäftigt zu sein. Das Essen lief seinen gewohnten Gang, Andrea und Semir besprachen das vor ihnen liegende Wochenende, Aida futterte mit Ben ihr Brötchen und erzählte ihm von ihren Erlebnissen im Kindergarten. Dabei war Ben jedoch nicht wirklich bei der Sache. Die ganze Situation war so irreal, er kam sich vor wie in einem Traum. Gestern Abend hatte er in schwindelerregender Höhe gestanden, um seinem Leben ein Ende zu setzten und wenige Stunden später saß er inmitten der Familienharmonie seines ehemaligen Partners. Das alles erschien ihm so unwirklich; in einer solchen Lage war Ben noch niemals gewesen, obwohl er schon eine Menge seltsame Dinge erlebt hatte.
    Schließlich nickte Andrea ihrem Mann kaum merklich zu, erhob sich und sagte zu ihrer Tochter: „Komm, Aida, es geht los, wir müssen in den Kindergarten. Mama geht dann einkaufen und heute Mittag kochen wir dann was Leckeres.“ Aida drückte Ben einen Kuss auf die Wange und verschwand dann mit ihrer Mutter nach draußen. Ben und Semir waren jetzt allein.

  • Was nun entstand, war ein ziemlich verlegendes Schwiegen zwischen den beiden Männern. Ben wusste nicht, was er sagen, geschweige denn tun sollte, es kam ihm immer alles noch nicht so ganz real vor. Er war so davon überzeugt gewesen, dass Semir und die anderen ihn zutiefst verabscheuen würden und nun saß er hier mit ihm in dessen Küche, hatte gerade mit dessen Familie gefrühstückt und bisher noch kein Wort der Anklage gehört. Das passte für ihn alles irgendwie nicht zusammen. Über das, was gestern Nacht passiert war und vor allem, wie es dazu gekommen war, wollte Ben jetzt noch nicht weiter nachdenken, dazu fehlte ihm die Kraft, erst musste er mit der aktuellen Situation klar kommen. Und in der gab es nur zwei Tatsachen, derer er sich sicher war: Es war Semir gewesen, der ihn gerettet hatte und Ben war darüber sehr froh. Was nun allerdings seine Zukunft betraf, war er einfach nur ratlos. Aber irgendwas würde er schon hinkriegen, damit er Semir nicht weiter zur Last fallen würde. Also durchbrach er die Stille und sagte: „Hör mal Semir, vielen Dank für alles, aber ich denke, es ist für alle besser, wenn ich jetzt wieder verschwinde und…“
    Weiter kam er nicht, denn Semir war aufgesprungen und hatte sich vor ihm aufgebaut. Er schien stinksauer zu sein und fuhr Ben in einem barschen Ton an: „Verschwinden? Nachdem wir dich endlich gefunden haben!? Und was willst du dann machen? Dir das nächste Hochhaus suchen?“ Semir bemerkte sehr wohl, wie Ben bei diesen Worten zusammenzuckte, aber das nahm er in Kauf. Ben musste endlich aufwachen und begreifen, dass er nicht allein war, dass seine Freunde zu ihm standen und immer zu ihm gehalten hatten, auch wenn das in letzter Zeit zugegebenermaßen ziemlich schwierig gewesen war.
    Er machte weiter: „Ist dir eigentlich klar, welche Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Wir wussten nicht, wo du bist, was du machst, wie es dir geht.“ Seine Stimme wurde leiser. „Kannst du dir eigentlich vorstellen, was für eine Scheißangst ich hatte, es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen?“ Erneut machte er eine kurze Pause, als er sich wieder an dieses Gefühl erinnerte. Der ganze Horror der letzten Nacht kam wieder in ihm auf. Während er verzweifelt versucht hatte, so schnell wie möglich auf das Dach zu kommen, waren ihm die ganze Zeit Bilder von Bens zerschmettertem Körper in den Sinn gekommen. Er hatte in seiner Laufbahn schon Selbstmörder gesehen, in deren Körper kein einziger Knochen heil geblieben zu sein schien. Diese Anblicke hatten ihn trotz aller Professionalität immer sehr mitgenommen. Er wusste nicht, ob er es überstanden hätte, Ben so zu sehen. Sein Partner musste endlich verstehen, dass seine Freunde Bescheid wussten und ihm längst verziehen hatten, damit er nie, nie wieder versuchen würde, sich aus seinem Leben davon zu machen. Semir wollte sich gar nicht vorstellen, wie verzweifelt Ben gewesen sein musste, um sich zu diesem Schritt zu entschließen.
    „Aber du warst rechtzeitig da“, kam es sehr leise von Ben. „Ja, und ich bin unendlich dankbar, dass ich es geschafft habe“, antwortete Semir fast ebenso leise. „Ich auch“, sagte Ben und Semir war froh, dass zu hören. Jetzt wusste er, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

  • Etwas beruhigter fuhr er fort. „Wir wissen, dass du erpresst worden bist“, klärte er Ben auf. „Frag’ jetzt nicht wie, das erzähle ich dir mal in Ruhe“ fügte er hinzu, als er Bens Blick sah, der irgendwo zwischen Erstaunen und Fassungslosigkeit schwankte. „Jedenfalls wissen wir auch, dass Wagner dich beschattet hat und wie er dich unter Druck gesetzt hat.“ Er wies auf seinen Arm. „Ich bin dir mehr als dankbar für das, was du für mich getan hast.“ Semir hielt es angesichts des psychischen Zustandes, in dem Ben sich derzeit befand, für angebrachter, es dabei zu belassen. Er wollte Ben jetzt keine Vorwürfe machen; ihn fragen, warum er sich keine Hilfe gesucht hatte. Und warum um alles in der Welt er geglaubt hatte, seine Freunde hätten sich von ihm abgewandt. Dafür war später noch Zeit, wenn Ben sich etwas mehr gefangen hatte. Semir vermutete vielmehr sogar, dass Ben diese Fragen sogar selbst nicht beantworten konnte. Nachdem er einmal in diese Abwärtsspirale geraten war, hatte er sich nicht mehr alleine daraus befreien können. Und Semir wusste, dass es noch nicht vorbei war. Sie durften Ben in nächster Zeit nicht mehr aus den Augen lassen. „Und jetzt werden wir alles in unserer Macht stehende tun, um diese Schweine zu kriegen. Die werden damit nicht durchkommen, das verspreche ich dir“, sagte er mit energischer Stimme.
    Ben war im Augenblick nicht der Lage, irgendetwas zu erwidern. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, doch konnte er keinen davon richtig erfassen. Das einzige, was er begriffen hatte, war die Tatsache, dass er nicht allein war. Dass er es nie gewesen war. Seine Freunde hatten immer zu ihm gehalten. Wenn er das doch nur eher begriffen hätte. Wenn er sich doch nur anders entschieden hätte. Wenn, wenn, wenn…


    „Also, was ist, bist du dabei?“ fragte Semir, dem nicht entgangen war, dass Ben ins Grübeln gekommen war. Er konnte sich schon denken, in welche Richtung Bens Überlegungen führten. Aber Ben musste jetzt endlich wieder aktiv werden, um von seinen selbst zerstörerischen Gedanken los zu kommen. Ben zögerte noch einen Moment, doch dann sagte er mit fester Stimme: „Ja, ich bin dabei.“ Ihm war klar, dass er alles versuchen müsste, um diese Chance zu nutzen, denn eine weitere würde er nicht bekommen. „Und warum sitzen wir dann noch hier?“ fragte Semir und wandte sich zum Gehen. „Los, ab ins Büro.“ „Ins Büro? Jetzt sofort?“ fragte Ben, dem bei dem Gedanken an das Zusammentreffen mit den Kollegen etwas mulmig zumute wurde. Auch Susanne würde da sein. Daran hatte er noch überhaupt nicht gedacht, wie er mit Schrecken feststellte. Wie würde sie wohl auf ihn reagieren? Schließlich war er ohne eine Wort oder eine andere Nachricht einfach so verschwunden. Ob sie vielleicht sogar schon einen neuen Verehrer hatte? In einigen Wochen konnte viel passieren. Da war doch ihr alter Schulfreund, der schon immer ein Auge auf sie geworfen hatte…
    „Also, was ist jetzt, können wir los?“ unterbrach Semir seinen Gedankengang. „Ja, lass uns fahren“ antwortete Ben. Es half alles nichts, irgendwann musste er sich dieser Situation sowieso stellen, und da konnte er es auch gleich hinter sich bringen.

  • Den Weg zur Dienststelle verbrachten sie schweigend. Dort angekommen zögerte Ben noch einen Moment, bevor er aus dem Wagen stieg. Doch dann raffte er sich auf und betrat dicht hinter Semir das Gebäude. Da dieser allerdings ein gutes Stück kleiner war als Ben, konnte er sich nicht wirklich hinter ihm verstecken. Zu seiner Erleichterung war das Büro jedoch nur mit wenigen Leuten besetzt, die auch alle etwas zu tun hatten und ihn scheinbar gar nicht beachteten. Auch Susanne war nicht an ihrem Platz, wodurch er diese Begegnung noch etwas hinauszögern konnte. Er war ehrlich gesagt froh darüber, denn er wusste immer noch nicht, was er ihr eigentlich sagen sollte. In diesem Moment wurden sie jedoch von Dieter und Hotte entdeckt, die soeben von einer Streifenfahrt zurückkamen und Ben ungläubig anstarrten. Ben hob zum Gruß kurz die Hand, doch als die beiden auf ihn zugehen wollten, wurden sie von Semir abgewehrt. „Seid nicht böse, aber das müssen wir auf später verschieben. Wir haben jetzt einen dringenden Termin bei der Chefin.“ Mit diesen Worten zog er Ben in das Büro von Frau Krüger und schloss die Tür. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, die beiden Beamten über die Hintergründe aufzuklären, er wollte dies in einer ruhigen Minute nachholen und nicht hier zwischen Tür und Angel einschieben.
    Nun standen die beiden vor ihrer Vorgesetzten. Semir hatte sie früh am Morgen angerufen und lange mit ihr gesprochen. Er hatte ihr einen Vorschlag unterbreitet und hoffte inständig, dass sie drauf eingehen würde. Seiner Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, damit Ben sein Leben wieder in den Griff bekam. Sie hatte allerdings nicht sehr begeistert geklungen, aber er war sich sicher, dass sie Ben helfen würde, vor allem nach dem, was in der letzten Nacht passiert war. Dass Kim Krügers Gedanken aufgrund dieses Vorfalls in eine ganz andere Richtung gegangen waren, konnte er nicht ahnen.
    „Bitte setzen Sie sich“, sagte sie nach einer kurzen Begrüßung. Semir nahm nur auf der Stuhlkante Platz, Ben hingegen schien in dem Besuchersessel eher versinken zu wollen. Semir wollte etwas sagen, doch Frau Krüger bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. „Herr Gerkan, Sie können gleich noch los werden, was Sie zu sagen haben, aber jetzt möchte ich Sie bitten, mir erst einmal zuzuhören. Ich habe eine Entscheidung getroffen.“ Semir nickte und schwieg. Das hörte sich irgendwie gar nicht gut an.
    Die Chefin wandte sich an Ben. „Herr Jäger, zunächst einmal freue ich mich, Sie wieder hier zu sehen.“ Ben sah sie leicht verwundert an, damit hatte er am Allerwenigsten gerechnet, antwortete aber: „Vielen Dank, ich bin auch froh, hier zu sein“, obwohl das noch nicht so ganz stimmte. Frau Krüger nickte, sie war froh, diese Worte aus seinem Mund zuhören, sie war überhaupt froh, ihn hier zu sehen, denn die ganze Sache hatte sie doch mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte.

  • Während sie Ben so dasitzen sah wurde sie immer sicherer, was ihren Plan anging. Herrn Gerkans Idee, die Sache mit der Erpressung der Staatsanwaltschaft zu melden und Ben somit zu einem Hauptbelastungszeugen zu machen wäre sicherlich nicht schlecht gewesen, aber das hätte nicht ausgereicht, um Ben seinen alten Job wieder zu beschaffen. Sie war bereit, noch einen Schritt weiter zugehen, um die Zukunft ihres Beamten wieder in die richtige Bahn zu lenken. Denn es gab da einen Vorfall in ihrer Vergangenheit, von dem sie noch nie jemandem erzählt hatte und es auch in Zukunft nicht tun würde. Aber die Erinnerung an diese Erfahrung war maßgeblich an ihrer Entscheidung, was das weitere Vorgehen betraf, beteiligt gewesen. Ihre Nichte hatte sich im Alter von zwanzig Jahren das Leben genommen. Es lag schon einige Jahre zurück, doch Kim fühlte sich immer noch schuldig, dass sie es nicht hatte verhindern können. Maren war schon immer sehr labil gewesen und hatte schon in jungen Jahren diverse Therapien hinter sich gehabt. Nach dem Abitur hatte sie mit einem Studium begonnen und schien damit glücklich gewesen zu sein. Zu der Zeit hatte Kim beruflich viel um die Ohren gehabt, so dass sie nicht oft dazu gekommen war, mit Maren zu reden. Als sie dann erfuhr, dass Maren sich vor einen Zug geworfen hatte, hatte sie es zuerst nicht glauben können. Danach hatte sie sich wochenlang Vorwürfe gemacht und immer wieder darüber nachgedacht, was sie hätte tun können. Doch sie hatte nie heraus finden können, was Maren letztendlich zu ihrem Schritt bewogen hatte. Aber heute war die Situation eine andere. Sie hatte die Gelegenheit und war durch ihre Position in der Lage, Ben Connor zu helfen. Die Fehler, die er gemacht und die falschen Entscheidungen, die er getroffen hatte, waren nachvollziehbar und es nicht wert, ihm deswegen jetzt Vorwürfe zu machen.
    „Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen aus ihrer Lage heraushelfen kann. Aber ich denke, dass ich eine annehmbare Lösung gefunden habe.“
    Dass sie diese Lösung mindestens eine Abmahnung kosten würde musste hier nicht zur Sprache kommen, das war allein ihre Entscheidung. „Es gibt noch einige Gefälligkeiten, die ich deswegen einfordern werde.“ Ben und Semir sahen sich neugierig an. Beide konnten sich noch keinen Reim auf Kims Ausführungen machen. „Wir werden Herrn Jäger im Nachhinein zu einem verdeckten Ermittler erklären. Dass dabei einiges schief gelaufen ist, ist nicht zu übersehen, aber trotzdem können wir auf diesem Weg hoffentlich weiterreichende dienst- und vor allem strafrechtliche Konsequenzen für sie vermeiden.“ Bens Augen waren während ihrer Ausführungen immer größer geworden und auch Semir konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Das war um Längen besser als das, was er sich erhofft hatte. Allerdings hatte er nicht die leiseste Ahnung, warum sie das für Ben tat. Er war sich jedoch ziemlich sicher, dass sie ihn diesbezüglich nicht ins Vertrauen ziehen würde. Es schienen private Gründe zu sein, die sie zu diesem Schritt bewogen hatten und die gingen ihn nun wirklich nichts an, auch wenn er ziemlich neugierig war.

  • Während sie Ben so dasitzen sah wurde sie immer sicherer, was ihren Plan anging. Herrn Gerkans Idee, die Sache mit der Erpressung der Staatsanwaltschaft zu melden und Ben somit zu einem Hauptbelastungszeugen zu machen wäre sicherlich nicht schlecht gewesen, aber das hätte nicht ausgereicht, um Ben seinen alten Job wieder zu beschaffen. Sie war bereit, noch einen Schritt weiter zugehen, um die Zukunft ihres Beamten wieder in die richtige Bahn zu lenken. Denn es gab da einen Vorfall in ihrer Vergangenheit, von dem sie noch nie jemandem erzählt hatte und es auch in Zukunft nicht tun würde. Aber die Erinnerung an diese Erfahrung war maßgeblich an ihrer Entscheidung, was das weitere Vorgehen betraf, beteiligt gewesen. Ihre Nichte hatte sich im Alter von zwanzig Jahren das Leben genommen. Es lag schon einige Jahre zurück, doch Kim fühlte sich immer noch schuldig, dass sie es nicht hatte verhindern können. Maren war schon immer sehr labil gewesen und hatte schon in jungen Jahren diverse Therapien hinter sich gehabt. Nach dem Abitur hatte sie mit einem Studium begonnen und schien damit glücklich gewesen zu sein. Zu der Zeit hatte Kim beruflich viel um die Ohren gehabt, so dass sie nicht oft dazu gekommen war, mit Maren zu reden. Als sie dann erfuhr, dass Maren sich vor einen Zug geworfen hatte, hatte sie es zuerst nicht glauben können. Danach hatte sie sich wochenlang Vorwürfe gemacht und immer wieder darüber nachgedacht, was sie hätte tun können. Doch sie hatte nie heraus finden können, was Maren letztendlich zu ihrem Schritt bewogen hatte. Aber heute war die Situation eine andere. Sie hatte die Gelegenheit und war durch ihre Position in der Lage, Ben Jäger zu helfen. Die Fehler, die er gemacht und die falschen Entscheidungen, die er getroffen hatte, waren nachvollziehbar und es nicht wert, ihm deswegen jetzt Vorwürfe zu machen.
    „Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen aus ihrer Lage heraushelfen kann. Aber ich denke, dass ich eine annehmbare Lösung gefunden habe.“
    Dass sie diese Lösung mindestens eine Abmahnung kosten würde musste hier nicht zur Sprache kommen, das war allein ihre Entscheidung. „Es gibt noch einige Gefälligkeiten, die ich deswegen einfordern werde.“ Ben und Semir sahen sich neugierig an. Beide konnten sich noch keinen Reim auf Kims Ausführungen machen. „Wir werden Herrn Jäger im Nachhinein zu einem verdeckten Ermittler erklären. Dass dabei einiges schief gelaufen ist, ist nicht zu übersehen, aber trotzdem können wir auf diesem Weg hoffentlich weiterreichende dienst- und vor allem strafrechtliche Konsequenzen für sie vermeiden.“ Bens Augen waren während ihrer Ausführungen immer größer geworden und auch Semir konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Das war um Längen besser als das, was er sich erhofft hatte. Allerdings hatte er nicht die leiseste Ahnung, warum sie das für Ben tat. Er war sich jedoch ziemlich sicher, dass sie ihn diesbezüglich nicht ins Vertrauen ziehen würde. Es schienen private Gründe zu sein, die sie zu diesem Schritt bewogen hatten und die gingen ihn nun wirklich nichts an, auch wenn er ziemlich neugierig war.

  • Ben hingegen glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Mit einer solchen Wendung hätte er niemals gerechnet. Sicher, er hatte gehofft, nicht ins Gefängnis zu müssen, wahrscheinlich wäre er auch mir einer Bewährungsstrafe davongekommen, aber nun sollte er diesbezüglich gar nichts mehr befürchten müssen? Ob Frau Krüger das wirklich so drehen konnte? Und warum tat sie das für ihn? Er konnte es einfach nicht fassen, wie sich das Schicksal wieder zu seinen Gunsten wendete. Gestern noch hatte er geglaubt, sein Leben sei zu Ende und jetzt drehte sich alles um 180 Grad. Sein Blick schien Bände zu sprechen, denn Frau Krüger lächelte plötzlich und sagte: „Ihrer Reaktion nach zu urteilen, scheinen Sie mit dieser Lösung einverstanden zu sein.“ Ben nickte nur, er war nicht in der Lage, auch nur ein Wort rauszubringen. Auch Semir hatte es ausnahmsweise mal die Sprache verschlagen. „Die Einzelheiten, soweit Sie diese betreffen, werden wir später noch besprechen“, fügte sie dann noch hinzu. „Ihren Dienst können Sie natürlich dann erst wieder aufnehmen, wenn die ganze Angelegenheit geklärt ist. Nutzen Sie die Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen“, sagte sie mit jetzt wieder ernstem Gesichtsausdruck. Mit diesen Worten waren Semir und Ben entlassen und Kim machte sich daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
    „Wow“, meinte Semir nur, als sie auf dem Flur standen. Ben konnte immer noch nichts sagen, nur zustimmend nicken. „Hast du dir schon überlegt, wem du diese Neuigkeiten zuerst mitteilen möchtest?“ fragte Semir nach einer Weile des Schweigens. Ben dachte kurz nach. „Du, sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich brauche jetzt erst mal eine kleine Pause, das war alles ganz schön viel auf einmal, verstehst du? Ich meine gestern, also ich….“, er schluckte. „Ist schon gut“, meinte Semir, der überhaupt nicht darauf erpicht war, noch einmal an die vergangene Nacht zu denken. Außerdem wollte er unbedingt vermeiden, dass Ben sich zu gut an seinen gestrigen Gemütszustand erinnerte. Er war überzeugt davon, dass sein Partner lange noch nicht über den Berg war. Dazu war noch viel zu wenig Zeit vergangen, und Zeit war das, was Ben brauchte, um alles verarbeiten zu können.
    Die Chefin hatte schon recht gehabt, er musste erst einmal wieder auf die Beine kommen. „Willst du in meinem, ich meine unserem Büro warten? Ich kann ja schon mal mit Dieter und Hotte reden“, bot Semir an. „Ich würde eigentlich gerne kurz abtauchen und ein Weilchen allein sein“, kam es von Ben. Semir sah ihn ernst an. „Ben, falls du es noch begriffen haben solltest; ich werde dich auf keinen Fall irgendwo allein hingehen lassen, hast du verstanden? Du kannst auch im Büro allein sein. Los komm, wir gehen rüber.“ Semir drehte sich rum, ging los und hoffte inständig, dass Ben ihm folgen würde. Doch darüber brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Durch seine eindringlichen Worte war Ben in diesem Moment etwas klar geworden. Er begriff, wie sehr er Semir und wahrscheinlich auch die anderen mit seinem Verschwinden getroffen hatte. Von seiner blödsinnigen Idee, von diesem Dach zu springen, ganz zu schweigen.

  • Wie hatte er je auf die Idee kommen können, Semir würde nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen? Sein Partner war sein bester Freund und er war die ganze Zeit für ihn dagewesen, nur er hatte es nicht begriffen. Und so sagte er zu Semir, als dieser sich anschickte, das Büro zu verlassen: „Keine Sorge, ich bleibe schon hier. Ich werd’ schon nicht wieder verloren gehen, versprochen.“ Halbwegs erleichtert machte sich Semir auf den Weg.
    Kurz vorm Ausgang traf er auf Susanne, die gerade von ihrer Pause zurückkam. Fragend sah sie Semir an. „Er ist hier, oder?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Vor diesem Augenblick hatte sie sich gefürchtet. Sie hatte die ganze Zeit so sehr gehofft, Ben endlich wieder zu sehen und jetzt war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie es wirklich wollte. Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihn wiederzufinden, dass sie sich gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, was wäre, wenn sie sich wiedersahen. Immerhin hatte er sie ohne ein Wort verlassen. Sicher, er hatte seine Gründe dafür gehabt, aber trotzdem hätte er sich ihr gegenüber anders verhalten können. „Er sitzt in unserem Büro“, erklärte Semir. „Ich halte es zwar für keine gute Idee, ihn jetzt allein zu lassen, aber ich habe auch noch einen Job, den ich erledigen muss. Und ich will ihm auch nicht auf die Nerven gehen.“ Er schwieg einen Moment. „Ich habe aber auch Angst, dass er wieder eine Dummheit begeht.“ Susanne nickte, obwohl sie Semirs Sorge im Moment nicht wirklich nachvollziehen konnte. Denn weder Andrea, mit der sie am Morgen telefoniert hatte, noch Semir hatten sich überwinden können, ihr zu erzählen, unter welchen Umständen Semir Ben gefunden hatte. „Ich möchte mit ihm reden“, sagte Susanne dann doch, „aber ich glaube nicht, dass hier der richtige Ort dafür ist. Vielleicht brauche ich auch noch ein paar Tage. Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass er wieder da ist und es ihm soweit gut geht, aber schließlich war er derjenige, der gegangen ist. Und das ohne irgendein Wort, ohne irgendeine Nachricht. Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Ich weiß noch nicht, wie und ob es überhaupt mit uns weitergehen soll.“
    Beide bemerkten Ben nicht, der ihr Gespräch mit angehört hatte und sich in diesem Moment wieder zurückzog. Er war Semir gefolgt, weil er ihn noch etwas hatte fragen wollen. Als er dann aber Susanne gesehen hatte, hatte er sich nicht überwinden können, auf sie zuzugehen. Und nachdem, was er gerade gehört hatte, war dies wohl auch die richtige Entscheidung gewesen. Mit Semir konnte er später immer noch sprechen, also ging er wieder ins Büro und schloss die Tür hinter sich. Und so hörte er Susannes letzten Satz nicht mehr. „Mir ist aber auch klargeworden, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann.“ Semir konnte nicht anders und nahm sie kurz in den Arm. „Ihr schafft das schon“, sagte er mit fester Stimme. „Ihr habt schon so viel zusammen durchgestanden, da glaube ich fest daran, dass ihr das jetzt auch hinkriegt.“ Susanne seufzte. „Ich hoffe, du hast recht. So, ich muss wieder an meinen Schreibtisch. Bis später.“ Mit diesen Worten ging sie wieder zu ihrem Platz und Semir machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

  • Ben saß im Büro und dachte darüber nach, was er gerade gehört hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er sich so etwas schon gedacht. Er hatte es auch nicht anders verdient. Trotzdem hatte es verdammt weh getan, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Aber er hatte sich in den letzten Wochen immer wieder und wieder gesagt, dass Susanne ohne ihn sowieso besser dran wäre. Sie sollte einfach nur glücklich sein und er liebte sie so sehr, dass er bereit war, sie gehen zu lassen. Er war sich sicher, dass sie einen Partner finden würde, der besser für sie war als er. Es stellte sich nur die Frage, wie sich hier ihre Zusammenarbeit gestalten würde. Ob sie es schaffen könnten, kollegial miteinander umzugehen? Obwohl, eigentlich konnte Ben sich immer noch nicht vorstellen, dass die Chefin es hinkriegen würde, dass er hier wieder ein Kollege sein könnte.
    Und es gab auch noch etliche andere Baustellen, wie ihm in diesem Moment schmerzlich bewusst wurde. Die Wirkung der Medikamente ließ nach und die Verletzung, die er sich bei dem Autounfall zugezogen hatte, machte sich wieder bemerkbar. Er brauchte unbedingt etwas gegen die Schmerzen. Doch vorerst war nicht daran zu denken, von hier weg zu kommen und fragen wollte er auch niemanden. Wenn die anderen wüssten, dass er noch solche Probleme hatte, würde er bestimmt doch noch bei einem Arzt oder sogar im Krankenhaus landen und das wollte er unbedingt vermeiden. Irgendwie würde er es schon schaffen, von diesem Zeug loszukommen. Jetzt hieß es erstmal Zähne zusammenbeißen und einfach nur durchhalten.
    Nach einer schier endlos scheinenden Wartezeit, die er damit verbrachte, sich mit Semirs Berichten der letzten Wochen abzulenken, betrat die Chefin das Büro. „Also, Herr Jäger, ich habe alles in die Wege geleitet“, kam sie direkt zum Punkt. „Wir müssen jetzt abwarten, die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber das ist für uns ja nichts neues, oder?“ Ben glaubte, den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht erkennen zu können. „Vielen Dank, ich…“, setzte er an, doch weiter kam er nicht, denn Frau Krüger winkte ab und sagte: „Bedanken Sie sich nicht zu früh, wir werden sehen, ob sich das Ganze so entwickelt, wie ich es mir gedacht habe…. Ich kann Sie in nächster Zeit also bei Herrn Gerkan erreichen, wenn Sie nicht hier sind?“ Forschend sah sie Ben an. Dieser fragte sich, wie viel seine Vorgesetzte wohl wirklich wusste, aber da er auf keinen Fall mit ihr darüber sprechen wollte, beließ er es bei der Überlegung und nickte. „Ja, Semir war so nett, mir sein Gästezimmer anzubieten. Und da Andrea so fantastisch kocht, konnte ich nicht nein sagen.“ Die Chefin nickte ebenfalls und verschwand wieder. Ben lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück und versuchte, sich etwas zu entspannen. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, zu wissen, dass er hier so gut aufgehoben war und dass Semir zu ihm stand. Ben wurde nachdenklich. Wie hatte es nur passieren können, dass er gedacht hatte, niemand würde mehr zu ihm halten? Rückblickend fand er keine wirklich stichhaltige Erklärung mehr. Langsam hatte er eher das Gefühl, dass der Zustand, der ihn auf das Dach getrieben hatte, den Medikamenten, die er in rauen Mengen eingeworfen hatte, geschuldet war.

  • Dass er sich jetzt trotz Schmerzen wesentlich besser fühlte, schien ein weiteres Indiz für diese Vermutung zu sein. Er musste es unbedingt schaffen, von diesem Zeug runter zu kommen.
    Doch bevor er sich überlegen konnte, wie er das genau anstellen würde, öffnete sich erneut die Tür und Susanne betrat den Raum. Bens Herzschlag kletterte sogleich um etliche Schläge nach oben, als er sie sah. Er konnte es kaum in Worte fassen, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Es schien ihr gut zu gehen, zumindest sah sie so aus. Das würde es wenigstens leichter machen. Er könnte es nicht ertragen, wenn es ihr seinetwegen schlecht ginge. Ob sie wohl wirklich schon einen neuen Verehrer gefunden hatte? Sie war eine so tolle Frau, bestimmt gab es da jemanden, der sie glücklicher machen konnte als er. Er liebte sie so sehr und wünschte ihr nur das Beste. Und wenn das nun bedeutete, dass für ihn in ihrem Leben kein Platz mehr sein würde, musste er sich damit abfinden.
    „Hallo“, sagte sie leise und kam ein Stück näher. Ben konnte ihren Duft riechen. Er schloss kurz die Augen. Er hatte sie so vermisst.
    „Eigentlich ich wollte erst später mit dir reden, aber du wirst in den nächsten Tagen ja wohl öfter hier sein, oder?“ fragte sie ihn. Ben nickte nur. Es tat gut, ihre Stimme zu hören. „Also würde ich es gerne direkt hinter mich bringen, ist dir das recht?“ fragte sie dann. Eigentlich hatte sie mit diesem Gespräch noch warten wollen, immerhin war Ben gerade erst wieder aufgetaucht. Aber die Tatsache, dass er nur ein Zimmer von ihr entfernt gewesen war, hatte ihr keine Ruhe gelassen. Als sie erneut zum Sprechen ansetzen wollte, kam Ben ihr jedoch zuvor. Er wollte es ihr leicht machen.
    „Zuallererst möchte ich mich bei dir entschuldigen“, begann er. „Es tut mir sehr leid, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Ich weiß, dass es eigentlich unverzeihlich ist, aber ich hoffe, dass du mir irgendwann einmal vergeben kannst.“ Von Susanne kam keine Reaktion, sie wollte erst einmal abwarten, worauf das Ganze jetzt hinauslief. Also sprach Ben weiter, auch wenn ihm das, was er jetzt zu sagen hatte, sehr schwer fiel. „Na ja, jedenfalls hat mein Verhalten gezeigt, wie es um uns bestellt ist. Immerhin bin ich einfach so verschwunden, ohne mich bei dir zu melden. Ich denke, das sagt schon alles aus. So kann eine Beziehung einfach nicht funktionieren. Es ist mir klar, dass du jetzt auch nichts mehr von mir wissen willst, aber ich hoffe, dass wir es schaffen werden, so wie früher zusammen zu arbeiten. Das wird sicher eine Weile dauern, aber so etwas haben auch schon andere hingekriegt. Ist das für dich o.k.?“ Fragend sah er sie an.
    Susanne war viel zu geschockt von seinen Worten, als dass sie sofort hätte antworten können. Anscheinend hatte Ben mit ihrer Beziehung bereits abgeschlossen. Dann hatten sich all ihre Überlegungen erledigt. Sollte er doch selbst zusehen, wie er wieder aus seiner misslichen Lage heraus kam. Sie hatte genug für ihn getan und das war jetzt der Dank dafür. Einfach abgeschoben zu werden, als ob sie nur ein Flirt gewesen wäre. Und das nach all dem, was sie miteinander gehabt hatten. Auf einmal wurde sie unglaublich wütend. Was erlaubte sich der Kerl eigentlich?

  • Sie versuchte, sich zu beherrschen, im Büro wollte sie sich nun wirklich nicht gehen lassen. Also sagte sie mit beherrschter Stimme: „Ich denke, das ist eine akzeptable Lösung. Wie werden ja sehen, wie wir damit zu Recht kommen.“ Sie drehte sich um und wollte gehen, aber Ben sprach sie noch einmal an. „Susanne? Danke.“ Doch sie wollte und konnte darauf nicht mehr reagieren und verließ das Büro. In ihrem Hals hatte sich ein riesengroßer Kloß gebildet. Sie musste unbedingt mit jemandem reden. Und während Ben sich abends wieder mit Semir auf den Weg zu Andrea machte, fuhr Susanne zu ihrer Freundin Jana. Als Jana ihr die Tür öffnete, musste sie gar nicht fragen, zu deutlich war Susanne anzusehen, wie es ihr ging.


    „Mensch Susanne, das tut mir leid“; kam es betroffen von Jana, nachdem sich ihre Freundin alles von der Seele geredet hatte. Sie hatte ja noch nie viel von Ben gehalten, aber dass er so kaltschnäuzig sein würde, hätte selbst sie nicht erwartet. Irgendwie kam ihr die ganze Angelegenheit auch komisch vor, auch wenn sie Ben nicht leiden konnte, musste sie zugeben, dass er sich Susanne gegenüber immer korrekt verhalten hatte. Irgendwie passte es nicht zu ihm, was ihre Freundin erzählte. Doch Jana war nun wirklich nicht diejenige, die sich jetzt auf Bens Seite stellen würde. Dazu war es zu spät, zumal sie sich bei ihren wenigen Begegnungen ihm gegenüber sehr ablehnend verhalten hatte. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, denn anscheinend war er ein anderer Mensch geworden. Was war in diesen wenigen Wochen nur passiert?
    Doch dazu wollte sie jetzt keine Gedanken verschwenden. Es war wichtiger, Susanne zu trösten und ihr zur Seite zu stehen. „Und was hast du jetzt vor?“ fragte sie vorsichtig, nachdem Susanne ihre letzten Tränen weggewischt hatte. „Ach ich weiß es nicht“, kam seufzend die Antwort. „Ich kann meine Gefühle nicht einfach ausschalten und einfach so weitermachen, als wäre nichts gewesen. Und ich kann nicht begreifen, dass er damit anscheinend keine Probleme hat. Es kann doch nicht sein, dass ihm das, was wir miteinander erlebt haben, plötzlich nichts mehr bedeutet.“ Jana überlegte, was sie sagen könnte. Das war eine ganz schön vertrackte Situation. „Willst du denn noch einmal mit ihm reden?“ fragte sie nach einer kurzen Überlegung. „Nein, auf gar keinen Fall!“ kam es entschieden von Susanne. „Das eine Mal hat mir gereicht. Das tue ich mir nicht noch einmal an. So lasse ich nicht mehr mit mir reden!“ Jana merkte, wie sich bei Susanne langsam wieder die Wut einen Weg durch die Trauer bahnte. Das war gut, denn so würde sie leichter damit fertig werden. „Du hast Recht“, bekräftigte sie daher die Äußerung ihrer Freundin. „So etwas hast du nicht verdient, vor allem nachdem, was du alles für ihn getan hast. Versuch in Zukunft einfach, ihm aus dem Weg zu gehen. Vielleicht kannst du ja auch woanders arbeiten?“

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!