Verrat

  • Am Ende des Tages verabschiedete sich der Reporter. „Vielen Dank für ihre Geduld und Ihre Erklärungen. Nach den Berichten meiner Kollegen hatte ich ehrlich gesagt Schlimmeres befürchtet“, grinste er. „Ach, so schlimm sind wir wirklich nicht“, lachte Semir zurück, der insgeheim allerdings sehr froh war, endlich wieder seine Ruhe zu haben. „Dann machen Sie’s mal gut, ich schicke Ihnen den Artikel vorab. Mal sehen, vielleicht komme ich auch noch mal kurz vorbei. Ich denke, ich bin einigen Tagen damit fertig.“ Mit diesen Worten machte Wagner sich auf den Weg. Doch dann wendete er sich noch einmal kurz zu Ben und klopfte ihm augenscheinlich freundschaftlich auf die Schulter. „Man sieht sich“, sagte er nur, um dann endgültig in Richtung seines Wagens zu verschwinden. „Autsch“, sagte Semir nur, als er sah, wie Ben das Gesicht verzog und ziemlich blass wurde. Natürlich schob Semir dies auf seine kaputte Schulter, was Ben nur ganz Recht war. Ihm hingegen hatte Wagner noch einmal sehr deutlich gemacht, dass der eigentliche Zweck seines Besuches keineswegs die Dokumentation ihrer Arbeit gewesen war. Als wenn Ben es nicht längst verstanden hätte! Er würde es nicht wagen, sich Semir jetzt anzuvertrauen. Er hatte viel zu große Angst um dessen Leben. Denn er wusste genau, was passieren würde, wenn er mit ihm redete. Semir würde sich fürchterlich aufregen, wahrscheinlich wäre er sogar wütend, dass Ben ihn nicht eher ins Vertrauen gezogen hatte. Dann würde er versuchen, entweder mit der Chefin oder auf eigene Faust versuchen zu ermitteln. Doch das war es, was Ben um jeden Preis verhindern wollte. Er war sich sicher, dass Semir kaum nachvollziehen könnte, wozu diese Typen fähig waren und welche Macht sie hatten. Ben hatte dies zu Genüge erfahren. Sie hatten sich in ihm den richtigen ausgesucht, irgendwoher schienen sie gewusst zu haben, dass sie ihn überzeugen konnten, für sie zu arbeiten.


    Einige Wochen vorher in der JVA Ossendorf:
    Der Besucher nahm auf einem der schlichten Stühle im Besucherraum Platz. Sein Gegenüber war schon vor ihm hergebracht worden, so war es hier üblich. Der Häftling sah ihn an und sagte ohne Gruß direkt: „Ich habe über Ihr Anliegen nachgedacht. Ich denke, ich kann Ihnen da jemand empfehlen.“ Der Besucher lehnte sich interessiert vor, gerade so weit, dass die anwesenden Beamten nicht eingreifen würden. Er musste aufpassen, denn auf diesen speziellen Insassen wurde ein besonderes Augenmerk geworfen. „Und an wen hatten sie gedacht?“ fragte er neugierig. „Es gibt da jemanden, der mal beim LKA war. Er hat die nötige Sicherheitseinstufung und jetzt auch freien Zugang zum Computer der Kripo. Sein Name ist Jäger. Ben Jäger“, war die Antwort. „Und wie können wir ihn überzeugen?“ kam die Gegenfrage. „Oh, das dürfte Ihnen nicht schwer fallen! Sie müssen ihm nur unmissverständlich klar machen, dass eine Weigerung dazu führen würde, dass es seinem Partner Gerkan an den Kragen geht. Für den würde er alles tun, glauben Sie mir.“

  • Während er das sagte, wurde der Klang seiner Stimme immer bitterer. Sein Gesprächspartner grinste. „Das klingt so, als hätten sie noch eine persönliche Rechnung offen.“ Die Antwort kam prompt: „Oh ja, das habe ich! Diese beiden Bastarde sind dafür verantwortlich, dass ich hier drin sitze.“ Der Besucher nickte verständnisvoll. „Das werde ich in meinen Plänen berücksichtigen.“ Er erhob sich. „Ich hoffe, Sie sind weiterhin mit unserem ‚Service’ zufrieden? Ich muss sagen, dass sich unsere Zusammenarbeit sehr fruchtbar gestaltet.“ Der Häftling nickte. „Sie können jederzeit auf mich zählen, wenn Sie Informationen brauchen.“ Der Besucher wandte sich zum Gehen. „Auf Wiedersehen, Herr Neumann.“ Der ehemalige LKA Beamte erwiderte den Gruß. Mit einem zufriedenen Lächeln wurde er zurück in seine Zelle gebracht.


    Semir hob noch einmal die Hand zum Gruß, als der Reporter an ihnen vorbei vom Parkplatz fuhr. Ben überlegte, ob der Typ wirklich ein Reporter war, aber wie sonst hätte er die Genehmigung für die Berichterstattung erhalten können? Wahrscheinlich war es für eine Verbrecherorganisation gar nicht mal schlecht, so jemanden in ihren Reihen zu haben. Wie Wagner es selbst gesagt hatte; er konnte überall rumschnüffeln, ohne dass jemand Verdacht schöpfen würde. Und bei Problemen konnte er sich einfach auf die Pressefreiheit berufen.
    „Hat’s sehr wehgetan?“ fragte Semir fürsorglich, als sie wieder ins Gebäude gingen. Ben fragte sich, warum er ausgerechnet jetzt so nett sein musste. Ein dummer Spruch wäre ihm jetzt lieber gewesen. Freundlichkeit hatte er, nachdem was er gerade getan hatte, am allerwenigsten verdient. So gab er nur einen undefinierbaren Laut von sich, den man mit viel gutem Willen als „geht schon“ verstehen konnte. „Sollen wir zum Abschluss eines ruhigen Tages noch was Trinken gehen? fragte Semir. „Ne du, danke, aber ich bin heute echt noch nicht so fit“ antwortete Ben und bemühte sich, so normal wie möglich zu klingen. „Das Wochenende steckt mir noch ganz schön in den Knochen.“ Das war nicht einmal gelogen, wie Ben ironisch feststellte. „Ich glaube, ich werde mich früh im Bett verkriechen.“ Semir nickte. Er hatte sich so etwas schon gedacht, Ben war heute ungewöhnlich still gewesen. Der Sturz hatte ihm wohl doch mehr zu schaffen gemacht, als er zugeben wollte. „Ja, das mach’ mal“, antwortete er also. „Wir sehen uns dann morgen.“ Mit diesen Worten schnappte er sich seine Sachen und machte sich auf den Weg zu Andrea.

  • Als Ben an diesem Abend auf der Couch saß, kam er endlich zur Ruhe. Gedankenverloren zupfte er an seiner Gitarre, als ihm auf einmal klar wurde, was in den letzten 48 Stunden geschehen war. Was mit ihm geschehen war. Wozu er geworden war. Langsam wurde ihm das ganze Ausmaß seiner Tat erst wirklich bewusst. Er war zu dem geworden, was ihn am meisten anwiderte. Ein Polizist, der Menschen, die vertrauensvoll mit ihm zusammenarbeiteten, verraten hatte. Einer, der sie Verbrechern ausgeliefert und in Gefahr gebracht hatte. Ben wurde plötzlich dermaßen übel, dass er es nur noch mit Mühe und Not ins Bad schaffte, um sich dort zu übergeben. Danach war er am Ende seiner Kräfte.
    An Schlaf war in dieser Nacht trotz seiner bleiernen Müdigkeit nicht zu denken. Er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Immer wieder spielte er die Ereignisse durch und suchte nach der Stelle, an der er anders hätte handeln können, um das alles zu verhindern. Doch jegliche Alternative lief darauf hinaus, dass er Semir in Gefahr gebracht hätte. Sicher, die Fahrer und Begleiter des überfallenen Transporters hatte er auch gefährdet, aber der Überfall hätte sowieso statt gefunden. Damit konnte er sein schlechtes Gewissen weiterhin wenigstens ein bisschen beruhigen. Denn dass Semir etwas passierte, wollte er um jeden Preis verhindern. Da konnte er sogar mit der Tatsache leben, dass er ein Verräter geworden war. Von diesen Gedanken zumindest etwas beruhigt, schlief er im Morgengrauen doch noch ein.


    In den nächsten Tagen schien alles so wie immer zu sein. Der Überfall auf den Transporter hatte stattgefunden, Ben hatte dies am Rande mitbekommen. Glücklicherweise war der Fall einer anderen Abteilung zugewiesen worden und er versuchte sein Möglichstes, um den entsprechenden Kollegen nicht über den Weg zu laufen. Er hatte sich allerdings vergewissert, dass niemand bei dem Vorfall zu Schaden gekommen war. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er glücklicherweise Recht behalten. Durch seine Informationen war aus Sicht der Räuber alles schnell und reibungslos über die Bühne gegangen. Die überfallenen Kollegen hatten zwar einen gehörigen Schreck bekommen, aber weiter war ihnen nichts passiert.
    Trotzdem fiel Semir auf, dass mit Ben etwas nicht zu stimmen schien. Langsam glaubte er nicht mehr, dass es nur noch die Folgen des Sturzes waren, die Ben zu schaffen machten. Die Kopfverletzung war nur noch zu erahnen und die Schulter war glücklicherweise doch nur stark geprellt gewesen und auch schon fast wieder in Ordnung. Zwar schimmerte sie noch in allen Facetten von blau bis grün, aber das würde auch bald verschwunden sein. Es musste also etwas anderes sein, was Ben beschäftigte.

  • „Sag’ mal, was ist eigentlich los mit dir?“ fragte Semir also Ben, als dieser während einer Autofahrt mal wieder gedankenverloren aus dem Fenster starrte. „Hm? Was meinst du?“ fragte Ben überrascht. „Na, ständig bist du mit deinen Gedanken woanders und vernünftig reden kann man mit dir seit ein paar Tagen auch nicht mehr“, warf Semir ihm vor. Schnell überschlug Ben seine Möglichkeiten. Die unmittelbare Gefahr war vorüber. Aber er kannte Semir. Würde er seinem Partner nun doch anvertrauen, was los war, würde dieser es nicht lassen können, sich auf eigene Faust in die Ermittlungen zu stürzen. Und welche Folgen das dann haben würde, wollte Ben sich lieber nicht vorstellen. Dieses Risiko konnte er auch jetzt nicht eingehen, dann wäre alles umsonst gewesen. „Ach weißt du, mein Vater hat mich mal wieder überreden wollen, in seine Firma einzusteigen“, log er also, froh darüber, dass ihm diese Ausrede so schnell eingefallen war. Semir würde ihm das unbesehen glauben und sich damit auch zufrieden geben. „Aber du hast ihm doch mehrfach unmissverständlich klar gemacht, dass dich sein Geschäft nicht interessiert“, wunderte sich sein Partner, dem nun klar war, warum Ben geistig so abwesend war. „Ja, aber er hat mir diesmal wirklich ein gutes Angebot gemacht“, log Ben weiter und fühlte sich dabei immer schlechter.
    Obwohl; richtig gelogen war diese Aussage nicht. Sein Vater würde ihn mit offenen Armen empfangen, da war er sich sicher. Wenn er genauer darüber nachdachte, könnte das wirklich eine Alternative für ihn sein, denn Ben war sich inzwischen nicht mehr so sicher, ob er es schaffen würde, weiterhin als Polizist zu arbeiten. „Du denkst doch wohl nicht ernsthaft darüber nach, oder?“ fragte Semir erstaunt. Ben hatte sich doch immer dagegen gesträubt, in das Familienunternehmen einzusteigen. Dieser schwieg einen Moment. „Ach, ich weiß nicht so genau, es ist schließlich meine Familie“, antwortete er und diesmal war es sogar keine Lüge. Er wusste es wirklich nicht.
    Semir sagte erst einmal nichts mehr. Es war neu für ihn, dass Ben so dachte, aber er verstand, dass seine Familie ihm wichtig war. Ihm ging es da ganz genauso. Er hatte allerdings das Glück, dass er sich nicht zwischen Beruf und Familie entscheiden musste. Sicher wäre es Andrea manchmal lieber gewesen, wenn er einen Beruf mit regelmäßigeren Arbeitszeiten gehabt hätte, aber sie stand voll und ganz hinter ihm, weil sie wusste, dass etwas anderes für ihn nie in Frage kommen könnte. Semir nahm sich vor, Ben noch einmal auf das Thema anzusprechen, wenn er wieder etwas zugänglicher geworden wäre. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

  • Als sie im Büro ankamen, wurden sie umgehend ins Büro der Chefin zitiert. Auf dem Weg dorthin wurden sie verstohlen von den Kollegen gemustert. Es waren andere Blicke als die, die sie sonst immer begleiteten, wenn Ärger anstand und das war nicht selten. Auch die Stimmung schien anders als sonst zu sein, es schien eine Art Misstrauen in der Luft zu liegen. Als Semir vor Ben das Büro betrat, wusste er dann auch schnell, warum das so war. Frau Aller und Herr Hader von der Internen Ermittlungsabteilung saßen in Frau Krügers Büro. Semir überlegte kurz, ob er in letzter Zeit irgendetwas verbockt hatte, aber ihm wollte nichts einfallen. Zumindest nichts, was die Anwesenheit dieser beiden Ermittler gerechtfertigt hätte. Also wartete er auf eine Erklärung.
    Ben hingegen wusste umso besser, was los war. Wie hatte er auch glauben können, dass man im Zuge der Ermittlungen übersehen würde, dass er auf die Transportdaten, die ihn eigentlich nichts angingen, zugegriffen hatte. So etwas wurde natürlich registriert und gespeichert.
    Nach einer kurzen, förmlichen Begrüßung kam Frau Aller dann auch sofort zur Sache. „Herr Gerkan, Herr Jäger, wie Sie sicherlich wissen, wurde vor einigen Tagen ein Werttransporter überfallen. Der Schutz dieses Transporters lag unter anderem im Zuständigkeitsbereich ihrer Abteilung.“ Semir wusste immer noch nicht, was er und Ben damit zu tun haben sollten, es waren Kollegen gewesen, die sich darum gekümmert hatten. Frau Aller fuhr fort: „Die Räuber hatten detaillierte Kenntnisse über den Ablauf des Transportes und die Sicherheitsvorkehrungen. Haben Sie einer Erklärung dafür?“ Semir schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Warum sollten wir das wissen?“ fragte er zurück. Ben schwieg. „Weil von dem Computer, der im Dienstzimmer von Ihnen und Herrn Jäger steht, am Montagvormittag die entsprechenden Daten herunter geladen wurden.“ „Da muss ein Irrtum vorliegen“, widersprach Semir noch recht entspannt. „Das würde auch gar keinen Sinn ergeben. Wozu sollten wir diese Infos denn auch brauchen?“
    „Weil sie mit diesen Verbrechern gemeinsame Sache machen? Sie wären nicht die ersten…“, warf Herr Hader provozierend ein. „Was fällt Ihnen ein!“ brauste Semir jetzt auf. Er war stinksauer auf diesen Kerl! Was erlaubte der sich eigentlich! „Weder ich noch mein Partner würden so etwas je tun!“ „Sie vielleicht nicht, sie haben die Verantwortung für ihre kleine Familie, welche Sie sehr ernst zu nehmen scheinen, wie man hört“, warf Frau Aller ein. „Aber wie steht es mit Ihnen, Herr Jäger?“ Sie sah Ben herausfordernd an. „Es waren Ihre Passwörter mit denen sich Zugang verschafft wurde“ ließ sie die Bombe platzen. Ben antwortete nicht. Was sollte er auch sagen. Für ihn war es jetzt vorbei.

  • Es war schließlich die Wahrheit, die hier zu Sprache kam. Semir hatte sich während dieser Aussagen noch weiter in seine Wut hineingesteigert. Er war völlig außer sich. „Mein Partner würde niemals so etwas tun, hören Sie!? Niemals! Wissen Sie eigentlich, was ein korrupter Polizist ihm angetan hat?“ Ben schwieg weiter. Er fühlte sich unsagbar schlecht, während Semir ihn so verteidigte. Das war das letzte, was er verdient hatte, aber was sollte Semir auch anderes sagen? Er wusste ja noch nicht, dass dies alles kein Irrtum, sondern die bittere Wahrheit war. „Herr Jäger, ich muss Sie bitten, uns zu begleiten“, sagte Herr Hader. Semir wollte schon wieder loslegen, doch jetzt kam Ben ihm zuvor. „Lass gut sein Semir, ich komme schon klar“, sagte er. Dann wandte er sich an die beiden Ermittler, die sich kurz wissend anblickten. „Wollen wir es dann hinter uns bringen?“ fragte er dann noch resigniert. Die beiden nickten und zu dritt verließen sie das Büro. Ben drehte sich nicht noch einmal um. Zurück blieben ein verständnisloser Semir, dem es förmlich die Sprache verschlagen hatte und eine Chefin, der ausnahmsweise auch einmal jegliche Worte fehlten. Frau Krüger hatte keine Ahnung, was sie von dieser Situation halten sollte. Auch sie verließ gemeinsam mit Semir das Büro, als ihnen Wagner, der Reporter, entgegen kam. Die Chefin stöhnte innerlich auf. Der hatte ihnen jetzt gerade noch gefehlt! „Ah, Frau Krüger, da sind Sie ja, ich wollte Ihnen den Vorabdruck des Artikels vorbei bringen“, sagte er. „Ja, vielen Dank, kommen Sie doch bitte in mein Büro“, antwortete sie hastig und bugsierte ihn schnell in ihr Dienstzimmer. Als Ben mit seinen beiden Begleitern das Büro verlassen hatte, war Wagner auch ihnen begegnet. Dieser hatte die Situation schnell erfasst und Ben einen sehr intensiven, warnenden Blick zugeworfen. Nachdem er vorher noch etwas unsicher gewesen war, wie er sich verhalten sollte, war Ben nach dieser Begegnung allerdings klar, was er jetzt zu tun hatte.
    Er würde den Kopf hinhalten und sich seiner Verantwortung stellen. Das war also das Ende seiner beruflichen Laufbahn als Polizist. So hatte er sich das wirklich nicht vorgestellt. Ob er wohl eine Haftstrafe zu erwarten hatte? Es war ein hoher Preis, den er zahlen musste, aber das war ihm seine Freundschaft zu Semir allemal wert.
    Zügig verließen Ben und die beiden Ermittler das Gelände der Autobahnpolizei. Ben hatte die Blicke seiner Kollegen gespürt, die sich natürlich fragten, was dieser Abgang zu bedeuten hatte. Sie würden es bald erfahren dachte Ben mit Bedauern. Dann würde sowieso niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben wollen. Es wäre dann eigentlich gar nicht mehr so schlimm, nicht mehr hier arbeiten zu können.

  • Semir hingegen konnte zuerst einmal keinen klaren Gedanken fassen. Er verstand überhaupt nicht, was hier gerade passiert war. Doch dann prasselten die Fragen, die er hatte, nur so auf ihn ein. Warum hatte Ben sich nicht verteidigt? Wer hatte die Passwörter gestohlen und warum ausgerechnet die von Ben? Wer hatte sich unbemerkt Zugriff zu dem Computer verschaffen können? Ob das Ganze von außerhalb vonstatten gegangen war? Hartmut könnte das bestimmt herausfinden! Aber warum war Ben einfach mit den Beiden mitgegangen? Hatte er etwas vor ihm zu verbergen? Hatte Bens Abwesenheit der letzten Tage doch einen anderen Grund? Semir stöhnte. Das konnte doch alles nicht wahr sein!


    Als Ben im Verhörraum der Internen Ermittlungsabteilung saß, beschloss er, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Noch bevor die zwei Ermittler mit ihren Fragen beginnen konnten sagte er: „Bevor wir hier lange drum herum reden; ich war es, ich habe die Informationen abgefragt.“ Hader sah ihn verblüfft an. Man konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er damit nicht gerechnet hatte. Normalerweise versuchten die Beamten, die hier auf diesem Stuhl saßen, so lange wie möglich zu leugnen, was sie getan hatten. Manche hielten ihre falschen Geschichten sogar dann noch aufrecht, wenn die Beweise sie schon längst überführt hatten. „Und warum? Was haben Sie mit den Daten gemacht?“ fragte ihn Frau Aller, als sie merkte, dass ihr Kollege mit seinen Gedanken anscheinend woanders war. „Warum? Das würden sie sowieso nicht verstehen“, sagte Ben mit bitterer Stimme. „Was ich damit gemacht habe?“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe sie an die Leute weitergegeben, die dann den Überfall durchgeführt haben.“ Hader und Aller sahen ihn voller Abscheu an.
    „An wen?“ fragte sie Ben kurz angebunden, während er nach draußen verschwand. Ben wusste, was das zu bedeuten hatte. Durch sein Geständnis würde es leicht sein, einen Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung zu erhalten. Ben fragte sich, was man wohl finden würde. Er war sich sicher, dass seine Erpresser etwas Belastendes zurückgelassen hatten. Er erinnerte sich daran, dass der dritte Typ kurz verschwunden gewesen war, als sie ihn überfallen hatten. Da hatte er wahrscheinlich etwas für diesen Fall deponiert. „An wen haben Sie die Informationen weitergegeben?“ wurde er erneut gefragt. „Ich weiß es nicht“ antwortete Ben wahrheitsgemäß. „Man hat mich angerufen.“ Frau Aller sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Das glauben Sie jetzt doch wohl selber nicht.“ Doch Ben schwieg. „Nun gut, ich sehe, dass ihre Kooperation zu Ende ist. Wir werden dann sehen, was der Richter von ihrer Geschichte hält.“ In diesem Moment kam ihr Kollege wieder zurück. „Wir haben das Geld gefunden, Herr Jäger.“ In Gedanken nickte Ben anerkennend. Das war sehr schnell gegangen. Die Interne war wirklich gut organisiert. Hader trat dicht vor Ben, so dass dieser seinen Atem auf dem Gesicht spürte. Er widerstand der Versuchung, sich weg zu drehen. „Sie ekeln mich an. Leute wie Sie sind der letzte Abschaum“, kam es von Hader.

  • Er entfernte sich wieder einen Schritt. „Wenn Sie das schriftliche Geständnis unterschrieben haben, können Sie gehen. Dass Sie sich zur Verfügung halten müssen, brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen.“ Ben nickte nur. Aller sagte noch irgendwas von Anwalt, aber Ben hörte gar nicht mehr richtig hin. Irgendwie war er erleichtert, dass jetzt alles vorbei war.
    Nachdem der Papierkram erledigt war, wollte Ben das Gebäude so schnell wie möglich verlassen. „Haben Sie nicht noch etwas vergessen“, wurde er jedoch von Hader aufgehalten. Ben sah ihn verständnislos an. Was wollte er denn noch? „Ihren Dienstausweis und Ihre Waffe, oder glauben Sie etwa, dass Sie morgen wieder zur Arbeit marschieren können? Sie sind suspendiert“, blaffte Hader ihn unfreundlich an. Ben nickte. Obwohl ihm klar gewesen war, dass dies passieren würde, war es ein komisches Gefühl, als er dem Beamten seine Waffe und Marke aushändigte. Eigentlich sträubte sich alles in ihm dagegen, doch er hatte seine Wahl getroffen und musste das jetzt durchziehen.
    Nachdem auch das erledigt war, verschwand er so schnell wie möglich in seiner Wohnung. Wie sollte es jetzt mit ihm weitergehen? Eigentlich brauchte er Abstand von der ganzen Sache und wäre am liebsten irgendwo untergetaucht. Aber es half alles nichts, er musste sich den Ermittlungen und dem unausweichlichem Prozess stellen. Also würde er hier bleiben. Wozu gab es schließlich den Pizzalieferservice. Während er über seine Zukunft nachdachte, wanderte er in seiner Wohnung auf und ab, nicht in der Lage, auch nur ansatzweise zur Ruhe zu kommen. Er bemerkte kaum, dass es zu dämmern begann; erst als an der Tür klingelte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
    Diesmal sah er durch den Türspion, doch auch als er Wagner und dessen Begleiter erkannte, wusste er, dass es keinen Zweck hatte, sich zu verstecken. Also öffnete er die Tür. Wagner betrat die Wohnung mit seinen Schlägern, die sich sofort hinter Ben positionierten. Ohne Umschweife kam er zur Sache. „Meine Auftraggeber wollen sicher stellen, dass sie weiterhin kooperieren“, sagte er mit drohendem Unterton. Dabei bewegte er mit seiner linken Hand seine Jacke so weit nach hinten, dass die Waffe, die er im Hosenbund trug, sichtbar wurde. „Kooperation?“ fragte Ben. „Erpressung ist wohl das treffendere Wort.“ Er hob beschwichtigend die Hand, als er sah, dass Wagner nach seiner Waffe greifen wollte. So lebensmüde war er dann doch noch nicht.
    Als er wieder zum Sprechen ansetzten wollte, klingelte es erneut an seiner Tür. Wagner warf einen Blick durch den Türspion. „So, so“, murmelte er. „Sorg dafür, dass er verschwindet, sonst werde ich es tun“. Dann nahm er die Waffe nun doch in die Hand und deutete mit ihr auf die Wohnungstür. Er selbst verschwand im Nebenzimmer. Durch den Spiegel im Flur konnte Ben erkennen, dass er mit der Pistole Richtung Tür zielte. Die beiden anderen Kerle waren aus seinem Sichtfeld verschwunden, doch Ben konnte ihre beobachtenden Blicke förmlich spüren. Der noch unbekannte Besucher hingegen ahnte nichts von dieser Bedrohung. Da er kaum eine andere Wahl hatte, öffnete Ben. Es war Semir, der vor ihm stand und einen ziemlich wütenden Eindruck machte.

  • „Hey, was machst du denn hier?“, fragte Ben so teilnahmslos, wie es ihm im Augenblick möglich war. Sein Herz schlug so schnell und laut, dass er fast glaubte, sein Gegenüber müsse es hören können. Dass Semir so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden musste, war der einzige Gedanke, den Ben jetzt noch im Kopf hatte. Wagner würde ihn sonst wirklich erschießen, dass war Ben klar. Er konnte nicht riskieren, jetzt entdeckt zu werden. Wahrscheinlich würde er es sogar so aussehen lassen, als hätte Ben seinen Partner getötet. Irgendein Motiv würde man ihm schon anhängen können, da war sich Ben sicher. Er hatte nur eine Chance. Semir musste sofort gehen und das um jeden Preis. Das Beste wäre, er käme auch nicht noch einmal wieder. Erst dann hätte Ben die Gewissheit, dass man seinem besten Freund nichts mehr antun würde. Das war alles, woran er im Augenblick denken konnte.
    „Was ich hier mache?!“ schnaubte Semir in diesem Moment empört. Er drängte Ben einen Schritt zurück und knallte die Tür mit voller Wucht hinter sich zu, so dass die Scheiben in der ganzen Wohnung zu erzittern schienen. Ben konnte jetzt keinen Blick mehr in den Spiegel werfen, diese Tatsache machte ihn noch nervöser. Semir baute sich vor Ben auf und sah ihm direkt in die Augen. „Von unserem Computer werden mit deinen Passwörtern Daten gestohlen, für einen Raubüberfall missbraucht, die Innere taucht auf und du marschierst ohne jede Erklärung einfach mit denen davon? Weißt du eigentlich, was seitdem im Büro los ist?!“ Er machte einen weiteren Schritt auf Ben zu, so dass dieser etwas zurückweichen musste. Semir war so aufgebracht, dass er das Geräusch einer Pistole, die entsichert wurde, nicht hörte. Ben aber hatte dies sehr wohl bemerkt und wusste, was es bedeutete. Er musste jetzt etwas tun, sonst würde Semir diese Wohnung nicht lebendig verlassen.
    „Ist mir egal, sollen sich doch die anderen das Maul zerreißen“, sagte er. Semir sah ihn völlig entgeistert an. „Was?!“ Er konnte kaum glauben, was er zu hören bekam. „Außerdem haben sie auch allen Grund dazu“, fuhr er fort. Seine Stimme klang zunehmend sicherer, denn jetzt musste er ja noch nicht einmal lügen. „Wie meinst du das?“ fragte Semir, der inzwischen etwas unsicher geworden war. „Weil die Anschuldigungen den Tatsachen entsprechen“, antwortete Ben erst einmal nur. „Und welche genau wären das?“ fragte Semir, der das alles nicht glauben konnte. Er musste es von Ben selbst hören. „Ich habe die Daten gestohlen und weitergegeben, nun sei doch nicht so schwer von Begriff“, kam es von Ben. Semir starrte ihn mit offenem Mund an, ihm hatte es erst einmal die Sprache verschlagen. Doch Ben hielt seinem Blick stand, er schien es tatsächlich ernst zu meinen. „Aber warum?“ fragte er schließlich. Er erkannte seinen Freund nicht wieder. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
    Ben wappnete sich innerlich gegen das, was er als nächstes tun würde. Für ihn schien es in diesem Moment die einzige Möglichkeit zu sein, Semirs Leben zu retten. Er hatte kurz überlegt, ihm einen Hinweis zu geben, um mit ihm gemeinsam die Typen zu überwältigen, aber das Risiko war einfach zu groß.

  • Wagner stand schussbereit hinter ihm und die beiden anderen waren sicherlich auch nicht unbewaffnet. Zudem hatte Ben keine Ahnung, wo sie sich genau befanden. Normalerweise hätte er es mit Semir gegen die drei aufgenommen, aber in der jetzigen Situation war das völlig aussichtslos. Sie hatten keine Chance, schnell genug zu sein.
    Es kam also alles darauf an, überzeugend zu sein, denn nur so konnte er das Leben seines Freundes jetzt noch retten. „Ach komm schon, wir haben doch sowieso keine ernsthafte Chance gegen diese Typen“, begann er. Semir sah ihn mit ungläubigem Gesichtsausdruck an. Ben sprach weiter, er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Ich hab’ keinen Bock mehr, immer auf der Verliererseite zu stehen. Klar, ab und zu kriegen wir mal welche, aber wen kratzt das schon. Ich will auch mal eine Stück vom Kuchen abhaben.“ Er schwieg kurz. „Weißt du eigentlich, was ich alles aufgegeben habe für diesen lausigen Job?“ Jetzt kam der schwierigste Teil. Er musste es schaffen, Semir so vor den Kopf zu stoßen, dass dieser nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Nur so war es langfristig möglich, sein Leben zu schützen. Und Ben war bereit, alles dafür zu tun. Nur wenn ihre Freundschaft keinen Bestand mehr hatte, würde Semir in Zukunft in Sicherheit sein. „Und wofür? Für einen Partner, der mich halbtot liegen lässt, nur um einen Verbrecher zu verfolgen? Nur weil Dieter da war, habe ich überlebt, du hättest mich da verrecken lassen. Nennst du das Freundschaft? Ich habe es so satt! Ich kann das Arbeiten mit dir nicht mehr ertragen, du tust einfach so, als ob nichts gewesen wäre. Verschwinde endlich aus meinem Leben.“
    Semir sah Ben einfach nur an. Er konnte kaum fassen, was Ben ihm da gerade alles an den Kopf geworfen hatte. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, war alles, was Semir noch raus brachte. Er drehte sich um und verließ eiligen Schrittes die Wohnung. Er war völlig aufgewühlt. Konnte es sein, dass sich alle so in Ben getäuscht hatten? Hatte das Erlebnis seiner Entführung und Folter doch solch schlimme seelische Narben hinterlassen, die seine Persönlichkeit verändert hatten? Semir war kein Psychologe, aber er kannte genug Fälle, in denen traumatische Erlebnisse Menschen sehr verändert hatten. Er beschloss, das Ganze erst einmal für sich zu behalten. Er musste erst einmal verarbeiten, was Ben ihm vorgeworfen hatte.


    „Na, das haben sie ja prima hingekriegt“, frotzelte Wagner, der nun wieder neben Ben stand. „Der geht Ihnen nicht mehr auf die Nerven.“ Für ihn war die Sache damit erledigt. Er würde seinem Auftraggeber berichten, dass von dem Bullen keine Gefahr mehr ausginge. So war es für alle eine einfache Lösung. Ein Polizistenmord hätte für unangenehm viel Aufsehen gesorgt. „Ich hoffe für Sie, dass Sie sich an ihre eigenen Worte halten“, sagte er noch, bevor er und die beiden anderen die Wohnung verließen.

  • Nachdem er wieder alleine war, saß Ben einfach nur da und konnte noch selbst nicht so ganz glauben, was er vor wenigen Minuten getan hatte. War da nicht doch die Chance gewesen, Semir irgendeinen versteckten Hinweis zu geben? Ben ging die Situation in Gedanken immer wieder und wieder durch, doch es wollte ihm keine Alternative einfallen. Er war völlig darauf fixiert gewesen, dass Semir die Wohnung verließ. An etwas anderes hatte er in dieser Situation einfach nicht denken können. Er hätte nicht gedacht, dass er zu solchen Gemeinheiten gegenüber seinem besten Freund fähig sein könnte. Lag es etwa daran, dass vielleicht doch ein kleines Körnchen Wahrheit in diesen Worten gelegen hatte? Warum sonst hätte ihm ausgerechnet das einfallen sollen. Schließlich hatte Semir ihn tatsächlich schwer verletzt zurück gelassen, um den flüchtenden Weber zu stellen. Nein, so etwas durfte er nicht denken; rief Ben sich selbst zur Ordnung, als er merkte, was gerade mit ihm passierte. Es gab keine Rechtfertigung für sein abscheuliches Verhalten. Sein Ziel hatte er erreicht, aber was hatte er damit bei Semir angerichtet? Ben dachte an seine Blicke, während er ihm die Vorwürfe an den Kopf geworfen hatte. Man hatte ihm deutlich ansehen können, wie sehr ihn Bens Worte verletzt hatten. Was sollte er nur tun?


    Nachdem er Bens Wohnung verlassen hatte, fuhr Semir ziellos durch die Straßen. Er konnte jetzt noch nicht nach Hause fahren, er war viel zu aufgewühlt. Was sollte er nur Andrea sagen? Dass sich alle in Ben getäuscht hatten und er doch nur der reiche Schnösel war, für den er ihn am Anfang ihrer Zusammenarbeit gehalten hatte? Aber irgendwie wollte das nicht in seinen Kopf gehen, er konnte nicht glauben, dass er sich die ganze Zeit so getäuscht haben sollte. Was war mit den ganzen Situationen, die sie gemeinsam durch gestanden hatten, bedeuteten sie denn nichts mehr? Es hatte ihn sehr verletzt, als Ben ihm vorgeworfen hatte, dass er ihn im Stich gelassen hätte. Ja, er war gegangen, das musste er zugeben, aber auch nur, weil er Ben in guten Händen gewusst hatte. Und er war sich sicher gewesen, dass Ben gewollt hätte, dass sein Peiniger gefasst würde. War das also wirklich der Grund für Bens Handeln, oder steckte noch etwas anderes dahinter? Andererseits hatte Ben zugegeben, das ihm vorgeworfene Verbrechen tatsächlich begangen zu haben. Er war zudem überführt worden, an dieser Tatsache gab es nichts zu rütteln, damit musste Semir nun irgendwie umgehen. In ihm begann die Erkenntnis zu reifen, dass mit diesem Vorfall das Ende ihrer Partnerschaft und wahrscheinlich auch ihrer Freundschaft gekommen war.
    Er beschloss, Frau Krüger darum zu bitten, erst einmal allein weiter arbeiten zu dürfen. Er würde auch ohne Ben zu Recht kommen. So lange hatten sie sich ja doch noch nicht gekannt und miteinander gearbeitet. Semir seufzte, als ihm bewusst wurde, in welche Richtung seine Gedanken gerade abdrifteten. Er versuchte sich einfach nur einzureden, dass alles gar nicht so schlimm sei. Aber in Wahrheit belastete ihn die ganze Sache viel mehr, als er jemals zugeben würde. Vor allem nagten immer noch die Zweifel an Bens Motiven an ihm.

  • Er beschloss, erst einmal nach Hause zu fahren und am Wochenende mit Andrea zu sprechen und in Ruhe über alles nachzudenken. Am Montag würde er dann vielleicht etwas klarer sehen. Doch Andrea hatte nicht wirklich einen Rat für ihn, auch für sie war Bens Verhalten unerklärlich.


    Als Semir dann am Wochenbeginn ins Büro kam, stürmte Susanne sofort auf ihn zu. „Semir, wo ist Ben? Was ist los? Irgendetwas stimmt hier nicht! Keiner sagt mir etwas!“ redete sie auf ihn ein. „Ich kann ihn nicht erreichen und in seiner Wohnung ist er auch nicht! Sag mir bitte, wo er ist!“ Semir atmete tief durch. Er hatte befürchtet, dass es an ihm hängen bleiben würde, Susanne die Wahrheit zu sagen. „Komm mal mit in mein Büro“, forderte er sie auf. Noch bevor sie sich setzten, sprach Susanne schon weiter. „Ben wollte mich gestern vom Flughafen abholen, aber er ist nicht gekommen, sein Handy ist ausgeschaltet und er hat nirgendwo eine Nachricht hinterlassen. Das ist doch nicht seine Art! Ist ihm etwas passiert?“ Semir hob beschwichtigend die Hand. „Ich fürchte, dass es nicht so einfach zu erklären ist“, begann er. „Ich denke, dass es Ben so weit gut geht, aber ich weiß nicht wo er ist.“ Susanne sah ihn besorgt und irritiert zugleich an. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagte er und versuchte dann, ihr die Geschehnisse der letzten Tage in der richtigen Reihenfolge zu erzählen. Während seiner Worte wurde Susanne immer blasser. Was Ben ihm in seiner Wohnung gesagt hatte, gab Semir nicht in allen Einzelheiten wieder, aber Susanne schien auch so zu merken, wie sehr es ihn getroffen hatte. Als er geendet hatte, fehlten ihr zunächst die Worte.
    „Das ist doch nicht Ben“, war erst einmal alles, was sie sagen konnte. Semir schüttelte den Kopf. „Du hast Recht. Es ist zumindest nicht mehr der Ben, den ich kannte. Hör zu, ich hatte in den letzten beiden Tagen genug Gelegenheit, über das alles nachzudenken. Ich habe mich damit abgefunden, dass Ben sich so entschieden hat. Wer weiß, welche Gründe ihn wirklich dazu getrieben haben, aber er hat es nun einmal getan.“ Er schwieg einen Moment. „Ich möchte ehrlich gesagt auch nicht weiter darüber reden. Ich werde erst einmal alleine weiter machen und dann werden wir sehen.“ Dass Semir sich noch längst nicht damit abgefunden hatte, konnte Susanne nur allzu deutlich erkennen. Sie vermutete, dass er sich das selber einredete, um irgendwie mit der Situation klar zu kommen. Deshalb nickte sie, sagte aber: „In Ordnung, ich verstehe deine Haltung. Aber erwarte nicht von mir, dass ich so einfach aufgebe. Ich will unbedingt mit ihm reden!“ Sie stand auf und verließ das Büro. Äußerlich ruhig und gefasst wie immer setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch. Doch an Arbeit war nicht zu denken. In ihrem Kopf schwirrten die verschiedensten Fragen herum. Doch da war eine, die sich immer wieder vor alle anderen drängte: Warum hatte er das getan?

  • Nachdem ein paar Wochen ins Land gegangen waren, in denen niemand etwas von Ben gehört hatte, war augenscheinlich wieder normaler Alltag im Büro eingekehrt. In stummem Einverständnis hatten Semir und Susanne nicht über ihn gesprochen. Sie versuchten beide auf ihre eigene Art und Weise, mit dem Verlust zu Recht zu kommen.
    Semir verrichtete seinen Dienst alleine und dies sollte auch in Zukunft erst einmal so bleiben. Wenn es notwendig war, wurde er von Dieter und Hotte unterstützt, die sich hüteten, ihn auf Ben anzusprechen. Hottte hatte es einmal versucht, doch Semir hatte ihn ziemlich barsch angefahren, so dass er ihn daraufhin in Ruhe gelassen hatte. Mit der Zeit war Semir sogar wütend auf Ben geworden, er fühlte sich mehr und mehr hintergangen und verraten. Dass er es ihm das nicht ins Gesicht sagen konnte machte das ganze noch schlimmer.
    Susanne ging es ähnlich. Sie war sauer, dass Ben sie so einfach sitzen gelassen hatte. Sie hatten sich doch sonst immer alles anvertraut. Was hatte ihn nur dazu gebracht, sich so zu verhalten? Sie zermarterte sich den Kopf, aber es wollte ihr keine zufrieden stellende Antwort in den Sinn kommen. Ihre Versuche, Ben zu finden, hatten auch keinen Erfolg gehabt. Sie hatte sogar verbotenerweise den Polizeicomputer für ihre Zwecke genutzt, aber es hatte nichts gebracht. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Auch Semir konnte doch nicht ernsthaft der Meinung sein, dass Ben sich unbemerkt von ihnen so verändert haben könnte. Aber er schien sich tatsächlich nicht weiter um die Angelegenheit zu kümmern.
    Dass Semir jedoch den größten Teil seiner Freizeit damit verbrachte, in der Raubsache, in die Ben verwickelt war, zu ermitteln, wusste so gut wie niemand. Nachdem er eine Zeitlang erfolglos versucht hatte, die ganze Sache zu verdrängen, hatte er angefangen, sich den Fall näher anzuschauen. Er wollte herausfinden, was wirklich los war. Susanne hatte Recht, das war einfach nicht Ben. Ein Mensch konnte doch nicht so eine Kehrwendung machen, die niemand bemerkte. Bens Worte hatten ihn sehr verletzt und ihm auch zu denken gegeben, aber ihre Freundschaft war zu tief, zu gefestigt, als dass ihn das langfristig aufhalten würde. Er hatte diverse Gefallen eingefordert, da er mit dem Fall eigentlich nichts zu tun hatte, doch bisher hatte er keine neuen entscheidenden Informationen erhalten.
    Eines Abends jedoch, als er gerade Feierabend machen wollte, klingelte sein Telefon. Semir erkannte im Display die Nummer der Kriminaltechnik. Er überlegte kurz, ob er jetzt noch Lust hatte, mit Hartmut zu reden, denn im Moment war ihm so gar nicht nach den Ausschweifungen des KTU Mitarbeiters zumute. Aber es schien sich um etwas Besonderes zu handeln, sonst würde ihn dieser wohl kaum noch um eine solche Uhrzeit anrufen. „Hallo Hartmut“, meldete er sich. „Was gibt es denn noch so Wichtiges?“ „Semir? Gut, dass du noch da bist“, kam die Antwort. „Du musst unbedingt vorbei kommen!“ Die Bitte des Rothaarigen klang dringend. „Was ist los?“ fragte Semir alarmiert. „Kann ich am Telefon nicht sagen. Kannst du kommen?“ kam es zurück. „Ich bin in 10 Minuten da“, versprach Semir und machte sich auf den Weg.

  • Als er kurz darauf bei Hartmut eintraf, erwartete ihn eine Überraschung. „Susanne? Was machst du denn hier?“ fragte er verdutzt. „Hartmut hat mich auch angerufen“, antwortete sie. „Du hast doch wohl nicht etwas geglaubt, dass du der Einzige bist, der versucht heraus zu finden, was los ist.“ Semir schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er wirklich nicht gedacht. Er war in der Tat fest davon überzeugt, dass jeder Ausschau nach Ben halten würde, denn niemand schien wirklich zu glauben, dass Ben eine kriminelle Karriere gestartet hatte. Aber es war wie so oft; niemand traute sich, den ersten Schritt zumachen. Nun ja, mit seinem Verhalten hatte er auch niemanden dazu ermutigt, ihm zu helfen. Aber das sollte jetzt anders werden. Semir beschloss, morgen als erstes die Kollegen in seine Ermittlungen mit einzubeziehen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn Hartmuts Neuigkeiten sollten alles in einem anderen Licht erscheinen lassen.
    „Also“, begann der Techniker, „ ich habe Abhörbänder von einer anderen Dienststelle erhalten, um sie auf Hintergrundgeräusche zu überprüfen. Der Kollege, der das sonst macht ist im Urlaub. Ja, ja, ich komm’ ja schon zur Sache“, beeilte er sich zu sagen, als er merkte, dass Semir bereits ungeduldig wurde. „Die Kollegen hören einen Verdächtigen ab, der in verschiedene Raubüberfälle verwickelt sein soll. Sie hoffen, durch ihn an die Hintermänner heranzukommen. Aber am Besten hört ihr euch das Band selber mal an.“ Er drückte auf einen Knopf und Semir und Susanne konnten die Stimmen zweier Männer hören, die miteinander telefonierten. Hartmut hatte der Stelle des Gespräches begonnen, an der es für sie wichtig wurde.

  • „Und was ist jetzt mit diesem Jäger?“ – „Wer? Ach so, der Bulle?“ Keine Sorge, wir haben jemanden angeheuert, der sich darum kümmert.“ – „Wagner hat diesmal keine gute Arbeit abgeliefert. Was hatte er sich denn diesmal eigentlich ausgedacht? Also ehrlich, ich möchte dem Kerl nicht in die Quere kommen, der hat ja überhaupt keine Skrupel.“ – „Er hat auf den Partner von Jäger geschossen und ihm klar gemacht, das dies jederzeit wieder passieren könne. Der Bulle hatte gar keine andere Wahl, als mitzumachen.“ – „Und wieso hat er nicht seine Kollegen informiert? Das Pack hält doch sonst immer zusammen?“ – „Dazu hatte er gar keine Gelegenheit. Am Abend hat Wagner ihn so zusammenschlagen lassen, dass er am nächsten Morgen sogar zur spät auf seiner Dienststelle war. Und da war Wagner auch schon da. Er macht doch zur Tarnung dieses Reporterding. Das hatte er schon vor Wochen organisiert.“ – „Und was ist dann schief gelaufen?“ – „Der Bulle ist ziemlich schnell aufgeflogen, hat dann auch gleich gestanden. Ist dann suspendiert worden, hat sich mit seinem Partner verkracht. Ging echt schnell, Wagner meinte eigentlich, er hätte alles für seinen Partner gemacht, das hatte ihm dieser Neumann gesteckt. Aber in der Wohnung hat es sich etwas anders dargestellt.“ – „Was ist passiert?“ – „Jäger hat seinem Partner ein paar ziemlich heftige Dinge an den Kopf geworfen, damit er verschwindet. Na ja, war vielleicht auch besser so, sonst hätte Wagner den Typen erschossen. Er hatte die Waffe schon entsichert. Mann, bin ich froh, dass ich nicht bei einem Polizistenmord dabei war. Ich sage dir, dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh.“ – „Und jetzt schnüffelt Jäger doch rum?“ – „Ja, verdammt, er hat noch zu viele Kontakte, er ist kurz davor, raus zu finden, wer der Auftraggeber ist. Das Risiko können wir nicht eingehen.“ – „Was wollt ihr machen?“ – „Wir haben ihn Donnerstagabend zu einem Treffen in die alte Fabrik bestellt. Angeblich soll er dort Informationen bekommen. Aber er wird dort nur einen Unfall haben.“ – „Polizistenmord? Ich denke, dass ist eine so heikle Angelegenheit?“ – „Ach was, er ist nicht mehr im Dienst und seine Kollegen halten ihn für einen Verräter. Dem weint niemand eine Träne nach. Außerdem weiß sowieso keiner, wo er ist. Die werden denken, dass er sich aus dem Staub gemacht hat. Die Leiche wird tief im Baggersee verschwinden.“ – „Na, dann mal viel Erfolg. Der Termin für die Übergabe bleibt bestehen?“ – „Ja, alles bleibt wie besprochen. Wir…“
    An dieser Stelle stoppte Hartmut die Aufnahme und sah seine beiden Besucher an.

  • Es war nicht genau auszumachen, wer von den beiden entsetzter aussah. Semir fand zuerst wieder Worte. „Das heißt, er wurde erpresst? Und er hat das alles nur gemacht, um mich zu beschützen?“ Er griff an seinen Arm, wo ihn eine kleine Narbe an die Schusswunde erinnerte. Hartmut nickte. Semir war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Verschiedene Situationen rasten an seinem inneren Auge vorbei, die im Nachhinein mit seinem jetzigen Wissen in einem ganz anderen Licht erschienen: Bens geistige Abwesenheit, sein Verhalten gegenüber Semir nach seinem Geständnis, sein Verschwinden und viele andere Kleinigkeiten formten jetzt ein ganz anderes Bild der Ereignisse.
    „Hartmut, heute ist Donnerstag“ riss Susannes Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Ja, ich weiß, aber ich habe die Bänder erst heute Nachmittag bekommen und…“ „Hartmut, wo ist diese Fabrik?“ fiel Semir ihm ins Wort. „Ich weiß es nicht ganz genau, aber ich vermute stark, dass es sich um die alte Ziegelei handelt, weil…“ „Wie sicher bist du dir?“ unterbrach ihn Semir erneut. „Ziemlich sicher; weiter vorne auf der Aufnahme…“ Aber Semir war schon aufgesprungen und raus gerannt. Er kannte diesen Ort. Dort hatten er und Ben sich schon oft mit Informanten getroffen. Als er in seinen Wagen eingestiegen war und den Motor startete, öffnete sich die Beifahrertür und Susanne stieg ebenfalls ein. „Ich komme mit“, sagte sie mit entschlossener Stimme. „Das ist viel zu gefährlich“, widersprach Semir. „Das wirst du mir nicht ausreden“, entgegnete sie heftig und sah ihm dabei direkt in die Augen. Semir nickte ergeben. Er verstand, dass er ihr das kaum ausreden konnte und außerdem hatten sie keine Zeit für lange Diskussionen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
    Sie parkten ein Stück von ihrem Ziel entfernt und legten die letzten Meter zu Fuß zurück. Vorsichtig betraten sie das alte, mit baufälligen Gebäuden übersäte Gelände. Hier hatte schon lange niemand mehr gearbeitet. Davon zeugte auch der Zustand des Zaunes, der eigentlich Unbefugte am Betreten hindern sollte. Doch selbst das große Eingangstor hing nur noch an einem Scharnier und würde auch bald am Boden liegen. Zum einen hatten die beiden so die Möglichkeit, sich weitgehend unbemerkt fortzubewegen, zum anderen wurde es so allerdings auch erheblich schwieriger, jemanden zu finden. Wenn sie sich getrennt hätten, wäre es etwas einfacher geworden, doch dieses Risiko wollte Semir nicht eingehen. Er war ohnehin schon ziemlich nervös, da er überhaupt nicht einschätzen konnte, was ihn hier erwarten würde. Dass er auch noch auf Susanne aufpassen musste, machte die ganze Sache auch nicht einfacher. Als er links vor sich einen Schatten zu sehen glaubte, schoss sein Puls in ungeahnte Höhen.
    „Susanne?“ flüsterte er gepresst. „Ja?“ kam es ebenfalls sehr angespannt von ihr zurück. Sie war nicht minder aufgeregt als Semir. Das hier war etwas völlig anderes, als nur im Büro durch den Computer eine Observation zu verfolgen. Für so etwas hier draußen war sie definitiv nicht gemacht, aber es ging hier um Ben, sie konnte jetzt nicht kneifen. „Ich hab’ da was gesehen, bleib du hier in Deckung, ich werd’ mir das mal näher ansehen“, flüsterte Semir.

  • Susanne nickte. Diese Aufteilung war ihr definitiv recht. Auch wenn sie unbedingt dabei sein wollte, war sie froh, dass sie sich in diesem Moment erst einmal zurück halten konnte. Sie duckte sich hinter einen Mauervorsprung. Nur durch eine kleine Ritze in den Fugen konnte sie das vor ihnen liegende, etwas freier liegende Gelände überblicken. Sie beobachtete Semir, der sich vorsichtig an den Gemäuern entlang bewegte. Er schien etwas entdeckt zu haben auf das ihr die Sicht noch verwehrt blieb. Jetzt blieb er stehen.
    Semir schluckte. Auf einem freien Platz, nur wenige Meter vor ihm, stand Ben. Er hatte Semir den Rücken zugedreht und schien auf irgendetwas zu warten. Semir machte einen Schritt auf Ben zu, als er feststellte, dass er nun Kies unter den Schuhen spürte. Es knirschte und von diesem Geräusch alarmiert fuhr Ben herum und starrte Semir an. In Bens Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er konnte es nicht fassen, seinen ehemaligen Partner hier anzutreffen. Warum war er hier? Warum brachte er sich in Gefahr? Er war nicht in der Lage, irgendein Wort raus zu bringen.
    Semir war nicht weniger fassungslos. Bens Anblick erschütterte ihn zutiefst. Obwohl nur wenige Wochen vergangen waren, hatte sich Bens Aussehen sehr verändert. Seine Augen waren rot und es lagen tiefe Schatten unter ihnen. Es sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. Zudem schien er abgenommen zu haben, seine Gesichtszüge wirkten hager. Was Semir aber am meisten verstörte, was der Ausdruck, den er in Bens Augen erkennen konnte. Da war nichts mehr von dem lebensfrohen Partner zu erkennen, der noch vor kurzer Zeit an Semirs Seite gewesen war. Sein Blick war vielmehr von Trauer und Schmerz gezeichnet. Semir war der erste, der die Sprache wieder fand. „Ben, du musst hier verschwinden“, versuchte er so eindringlich wie möglich zu sagen, denn für irgendwelches Vorgeplänkel war jetzt keine Zeit. Ben schüttelte nur den Kopf, während Semir langsam auf ihn zuging. Dieser wollte erneut zum Sprechen ansetzten, doch da bemerkte er einen Wagen, der sich viel zu schnell auf sie zu bewegte. So wollten sie es also machen. Falls die Leiche doch gefunden werden sollte, sähe es nach einem Autounfall aus und kaum jemand würde Verdacht schöpfen, dass es sich um einen Mord handeln könnte. Ben hatte die Gefahr noch nicht bemerkt. Er hatte alles um sich herum ausgeblendet und sah nur wortlos Semir an. Was wollte er hier? Wenn die Typen, die ihn herbestellt hatten, seinen ehemaligen Partner entdeckten, wäre alles umsonst gewesen. Sie hatten ihm eingeschärft alleine zu kommen und eine zweite Chance würde er nicht bekommen. Semir musste in Deckung gehen und zwar so schnell wie möglich. Gerade als er etwas sagen wollte, bemerkte auch er den Wagen, der auf sie zuschoss. Semir war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt. Nein! Das durfte nicht passieren! Ben sprang auf ihn zu und stieß ihn mit aller Kraft zur Seite. Durch die Wucht dieses Aufpralls wurde der von dieser Aktion völlig überraschte Semir ein großes Stück zur Seite geschleudert, so dass er keine Chance hatte, zu verhindern, was dann geschah.

  • Als er sich wieder aufgerappelt hatte und Ben anbrüllen wollte, konnte er nur noch dabei zusehen, dass der Wagen nach einer Vollbremsung herumschleuderte und wieder auf Ben zuhielt. Dieser war jedoch noch nicht wieder ganz auf die Füße gekommen, so dass er kaum eine Chance hatte, dem Fahrzeug auszuweichen. Er versuchte es zwar, doch der vordere Teil der Stoßstange erwischte ihn noch an der Hüfte. Ein dumpfer Schlag war zu hören, bevor Ben zur Seite taumelte. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und wankte mehr, als dass er ging. Er bewegte sich auf einen auf einen etwa 1,50 m hohen Zaun zu, der ursprünglich als Sicherung gedient hatte. Doch das Holz war mit der Zeit morsch geworden und konnte Bens Gewicht nicht mehr halten, als er sich dagegen lehnte. Die Bretter gaben nach und Ben stürzte einen Abgrund hinunter, von dem im Augenblick nicht zu erkennen war, wie tief er hinunter ging.
    Semir bekam zunächst keine Gelegenheit, dies jetzt herauszufinden, denn er war vollauf damit beschäftigt, selber mit heiler Haut davon zu kommen, denn die Typen begnügten sich inzwischen nicht mehr nur mit ihrem Jeep als Mordwaffe, sondern hatten angefangen, auf ihn zu schießen. Semir versuchte, so schnell wie möglich von der freien Fläche runter zu kommen, um zwischen den Gebäuden Deckung zu suchen. Es gelang ihm, sich weit entfernt von Susanne zu verstecken. Er hoffte inständig, dass die Kerle nicht auch noch sie entdeckten würden und Susanne da blieb wo sie war. Verzweifelt überlegte er, was er als nächstes tun könnte, als die Schüsse unvermittelt verstummten und der Wagen scharf bremste.
    Denn von Semir ungehört war im Wagen eine heftige Diskussion zwischen den beiden Insassen entbrannt: „Verdammt, wieso ist da noch einer?“ – „Hast du überhaupt den richtigen erwischt?“ – „Ja, natürlich hab’ ich das!“ – „Bist du sicher? Du weißt, was die mit uns machen, wenn wir das versauen!“ – „Ja Mann, ich hab’ ihn gut getroffen und außerdem ist er darunter gestürzt, der ist bestimmt tot!“ – „Hoffentlich; Wagner macht uns platt, wenn der doch wieder auftaucht!“ – „Nein, der ist hinüber, lass uns hier abhauen, wer weiß, wie viele hier noch rum laufen, vielleicht ist das auch ein Bulle!“ – „O.K., wir verschwinden, aber du bist dafür verantwortlich, wenn was schief gelaufen ist!“
    Der Rückwärtsgang wurde eingelegt, der Wagen wendete und entfernte sich schnell. Semir atmete halbwegs erleichtert auf. Er hatte zwar keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber Hauptsache, sie waren weg. Trotzdem war er noch vorsichtig, als er sich aus der Deckung wagte, doch es war niemand mehr zu sehen. Also rannte er zu dem Zaun, an dem Ben gestürzt war. Auch Susanne kam auf ihn zugelaufen. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie fürchtete sich entsetzlich vor dem, was sie gleich sehen würden. Doch als sie sich vorsichtig über die Reste des Zauns beugten, war von Ben nichts zu sehen. Semir bedeutet Susanne, ihm beim Runterklettern zu helfen. Glücklicherweise war es keine so große Höhe wie befürchtet, die zu überwinden war. Doch auch unten angekommen, konnte Semir keine Spur von Ben entdecken. Er war ratlos.

  • „Semir, ist er irgendwo da unten?“ rief Susanne. „Nein, hier ist niemand!“ rief Semir zurück. „Warte du oben, ich sehe mich hier unten noch genauer um.“ Susanne nickte und begann, sich in der näheren Umgebung umzuschauen. Sie wollte sich nicht zu weit von Semir entfernen, falls er ihre Hilfe bräuchte.
    Aus sicherer Entfernung beobachtete Ben, was Semir tat. Susanne konnte er von seiner Position aus nicht sehen. Er hielt eine Hand auf seine schmerzende Hüfte gepresst, das Adrenalin, das immer noch durch seine Adern pulsierte, verhinderte, dass der Schmerz in seinem ganzen Ausmaß sein Bewusstsein erreichte. Nur deshalb konnte er sich überhaupt noch auf den Beinen halten. Immer wieder klangen Semirs Worte durch seinen Kopf: „Du musst hier verschwinden!“ Eindeutiger hatte Semir ihm seine Meinung gar nicht deutlich machen können. Wahrscheinlich hatte er auch Recht. Ben hatte hier nichts mehr verloren. Langsam humpelte er zu seinem Wagen, den er von einem Bekannten geliehen hatte.
    Mehr schlecht als recht fuhr er zu der Pension, in der er sich eingemietet hatte. Ein Vorteil seines Berufes war, dass man genug einschlägige Häuser kannte, in denen gegen genug Vorkasse keine Fragen gestellt wurden. In seinem Zimmer angekommen legte er sich aufs Bett und schloss die Augen. Nachdem seine Anspannung etwas nachgelassen hatte, dachte er noch einmal darüber nach, was gerade passiert war. Es hatte ihn mehr getroffen, Semir wieder zu sehen, als er gedacht hatte. ‚Verschwinden’; noch immer klang dieses Worte in seinen Ohren. Was Semir dort wohl zu suchen gehabt hatte? Was für ein Zufall, dass sich ausgerechnet dort ihre Wege gekreuzt hatten, wo Ben sich endlich ein paar Antworten erhofft hatte. Nun ja, sie hatten dieses Gelände selbst oft genug für Treffen dieser Art benutzt. Warum sollte Semir es inzwischen anders machen, sein Leben war ja normal weiter gegangen. Ben wünschte ihm sehr, dass er mit seinen Ermittlungen, wozu auch immer, Erfolg hatte.
    Ob Semir inzwischen wohl wieder einen neuen Partner hatte? Oder zog er es jetzt vor, allein zu arbeiten? Es hatte sehr wehgetan, als Semir ihn angeschrien hatte, dass er verschwinden solle. Er selbst konnte ihre Freundschaft nicht so einfach abstreifen, wie Semir es anscheinend getan hatte. Doch er hatte es ja so gewollt. Im Grunde konnte er dankbar sein, dass es so gut funktioniert hatte. Er überlegte, was er als nächstes tun sollte.
    Die Typen, die sich dort mit ihm verabredet hatten, würden ihm wohl nie wieder dieses Angebot machen. Hatte er überhaupt noch eine Chance weiterzuermitteln? Er hatte schon zu viele Gefallen und alte Schuldigkeiten eingefordert. So langsam fiel ihm niemand mehr ein, der ihm noch helfen konnte. Also würde er sich erst einmal weiter hier verkriechen und auf seinen Prozess warten. Aber was würde danach aus ihm werden? Die Menschen, die ihm etwas bedeuteten, hatten sich längst von ihm abgewandt. Er hatte ihnen allen ja auch einen guten Grund dazu geliefert. Jetzt stand er allein da. Er hatte alles verloren. Je länger er darüber nachdachte desto mehr überkam ihn eine bis dato unbekannte Angst vor der Zukunft.

  • Ben konnte nicht wissen, dass dieses Gefühlschaos vor allem eine fatale Nebenwirkung der Schmerz- und Schlafmittel war, die er seit zwei Wochen in immer höheren Dosen nahm, um wenigstens etwas Ruhe zu finden. Ein alter Freund aus Studienzeiten hatte sie ihm besorgt.


    „Also Ben, hier ist der Rezeptblock. Ich habe 10 unterschrieben, mehr kann ich nicht machen, ohne dass es auffällt.“ Ben nickte. Er war froh, dass er Tobias dazu hatte überreden können. Dabei war es dessen Hang zu nicht so ganz legalen Aktionen gewesen, die ihre Freundschaft schließlich beendet hatte. „Geh in verschiedene Apotheken, damit niemand Verdacht schöpft.“ Wieder nickte Ben nur. „Hör zu, das mache ich nur, weil du mir damals aus der Klemme geholfen hast. Das kann mich meine Zulassung kosten. Jetzt sind wir quitt.“ „Ist in Ordnung. Danke Tobias“, antwortete Ben, der immer mehr die Achtung vor sich selbst verlor. Schon wieder war er dabei, gegen das Gesetz zu verstoßen. Doch wie auch schon zuvor wusste er sich nicht anders zu helfen.


    Doch auf einmal wusste Ben, was er jetzt zu tun hatte. Die Lösung war so einfach und hatte die ganze Zeit vor ihm gelegen. Warum war er nicht eher darauf gekommen. Jetzt musste er nur noch einen geeigneten Ort finden und dann wären seine Probleme und die der anderen aus der Welt geschafft. Er nahm einen Stift zur Hand, denn er wollte sich wenigstens anständig verabschieden. Fast erleichtert begann er zu schreiben.



    „Hast du ihn gefunden?“ rief Susanne. „Nein, hier ist nichts!“ kam die Antwort zurück. „Bist du sicher? Er muss doch da irgendwo sein!“ entgegnete Susanne ungläubig. „Ich bin doch nicht blind! Hier unten ist niemand. Ich komme jetzt wieder rauf.“
    „Ich habe mich überall umgesehen“, berichtete Semir, nachdem er wieder oben angekommen war. „Es gibt allerdings etliche Wege, die Ben genommen haben könnte. „Aber der Wagen hat ihn doch mit voller Wucht getroffen“, hielt Susanne entgegen. „Wahrscheinlich sah es schlimmer aus als es tatsächlich war, sonst hätte er ja nicht von hier verschwinden können“, entgegnete Semir leicht genervt. Doch als er Susannes Blick sah, tat ihm das direkt schon wieder leid. „Hör mal, das war nicht so gemeint“, versuchte er sich zu entschuldigen. Susanne erwiderte erst einmal nichts.
    „Wir schaffen das nicht allein“, sagte sie schließlich. Semir musste ihr Recht geben. „Lass uns zur Chefin gehen. Ruf Hartmut an und sag’ ihm, er soll die Bänder vorbei bringen.“ Semir nickte und holte sein Handy heraus.
    Bereits eine halbe Stunde später saßen sie zu viert im Büro von Frau Krüger. Sie hörten sich noch einmal die Aufnahme an, dann berichteten sie ihrer Vorgesetzten was sich danach zugetragen hatte. „Warum hat Herr Jäger nicht um Hilfe gebeten?“ war ihre erste Frage. „Er hatte keine Möglichkeit dazu, ohne Semir in Gefahr zu bringen“ erklärte Susanne. „Zumindest hat er das so gesehen“, fügte sie dann noch hinzu. Die Chefin schwieg. Mit einer Entwicklung in diese Richtung hatte sie nicht gerechnet. Zwar war ihr klar gewesen, dass da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, aber auf diese Erklärung war sie nicht gekommen.

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