Angst und Vertrauen

  • Ein kaum merkbarer Lufthauch strich über Chris’ Nacken. Sanft wirbelnd glitt er an seinem Rücken entlang und schickte einen leichten, aber nicht unangenehmen Schauer durch seinen Körper. Langsam hob Chris den Kopf und sah Gaby mit tränenverschleierten Augen hoffnungsvoll an.
    Hatte sie sich bewegt…? Hatte er sie vielleicht geweckt…?
    Hastig blinzelte er die Tränen weg und erkannte teils enttäuscht, teils erleichtert, das sie noch immer friedlich schlief.


    Während er sich aufrichtete, blickte er sich irritiert um. Doch er konnte die Ursache für den Luftzug nicht entdecken.
    Mit beiden Händen wischte Chris sich die Tränen aus dem Gesicht und betrachtete Gaby eine Weile. Schließlich lehnte er sich seufzend zurück und warf einen nachdenklichen Blick an die Decke. Auf der einen Seite fühlte er sich glücklich, erlöst, erleichtert und befreit,… aber auf der anderen Seite auch traurig, allein, einsam und leer!


    Er spürte, wie ihm in diesem Moment etwas fehlte,…
    etwas, was er gerade jetzt bräuchte,…
    etwas, was für ihn wichtig wäre,…
    etwas, was er zwar benennen konnte, aber nicht wollte,…
    etwas, wozu ihm sein Stolz im Weg stand…


    Mit einem widerwilligen Aufatmen stand Chris auf und ging zu dem großen Fenster. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mit verschlossener Miene hinaus.


    Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten und in ein paar Minuten würde es vollkommen dunkel sein. Die Sonne war hinter den Wolken bereits am Horizont untergegangen und ihre letzten Strahlen verliehen dem Himmel eine schwache, rötliche Färbung. Es hatte etwas aufgeklart und nur noch vereinzelte dunkle Wolken zogen am Himmel entlang. Die Bäume der Umgebung zeichneten sich schwarz gegen den Abendhimmel ab und die wenigen, verbliebenen Blätter, die sich mit letzte Kraft an den dürren Ästen klammerten, wiegten sich sanft im Wind.


    Vereinzelte Fenster in den umliegenden Häusern waren beleuchtet und an einer Ampel sprang das Signal von Grün auf Rot. An der Straße, die am Krankenhaus vorbeiführte, waren die Laternen aufgeflammt und die Lichtpunkte reihten sich aneinander wie die Perlen einer Kette. Mit den Augen folgte Chris so dem Lauf der Straße, bis sie hinter einem Hochhaus verschwand.


    Sein Blick wurde auf sein Spiegelbild gelenkt, welches sich fahl in der Scheibe reflektierte. Müde Augen, die in tiefen, dunklen Höhlen lagen, schauten ihn an. Sein Gesicht wirkte grau und in seiner Miene sah man deutlich die Strapazen der letzten 32 Stunden.
    Ausdruckslos starrte er sich an…


    War das wirklich er…?
    Sah er wirklich so ausgelaugt,…
    so ausgebrannt,…
    so ausgemergelt,…
    so alt aus…?


    Er fühlte sich wie ein sturmgeplagter Baum, der jeden Augenblick entwurzelt werden konnte,…
    wie ein vom Meer unterspülter Felsen, der drohte bei der nächsten Welle weg zu brechen…
    wie ein verletztes Tier, welches ängstlich und verzweifelt nach Schutz suchte,…
    wie jemand, der durch eine Wüste irrte und die Orientierung verloren hatte…
    Leise, aber vehement meldete sich das Gefühl von Einsamkeit in ihm und ein abgrundtiefes, gequältes Seufzen entwich seiner Kehle...


    Wie gern würde er jetzt mit jemandem reden…!


    „Herr Ritter?“
    Eine vorsichtige Stimme riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Hastig blinzelnd holte er sich in das Hier und Jetzt und mit einem tiefen Atemzug schaute er über die Schulter.
    In der Tür stand die Stationsschwester und richtete ihm die Nachricht von Semir aus. Mit einem Nicken bedankte sich Chris. Er trat zurück ans Bett, beugte sich vorsichtig zu Gaby hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.


    Während er ihre Haare streichelte, murmelte er: „Schlaf ruhig weiter. Ich schaue später noch einmal rein. Vielleicht bringe ich auch die Kinder mit. Wie wäre das?“ Dabei überflog ein zärtliches Lächeln sein Gesicht. Zum Abschied drückte er kurz ihre Hand und entfernte sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer…

  • Während er durch die langen, weißen Flure ging, fiel Chris auf, wie ihm Besucher, Patienten und, allen voran, das Pflegepersonal teils befremdliche, teils neugierige, doch immer missbilligende Blicke hinterher warfen.
    Verstohlen blickte er an sich herunter und konnte verstehen, warum man ihn so anstarrte: angefangen bei seinen vor Dreck starrenden Schuhen, über seine zerrissene Hose bis hin zu dem halb aus dem Bund hängenden Hemd sah er nicht gerade Vertrauen erweckend aus.
    Im Moment würde ihm bestimmt niemand glauben, das er von der Polizei sei!
    Er suchte eine Toilette auf, wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht und brachte seine Haare und seine Kleidung so gut es ging in Ordnung. Etwas erfrischt und der Zivilisation angepasst, setzte er seinen Weg fort.


    Als Chris auf Station sechs ankam, bemerkte er einen jungen, ihm unbekannten Polizeibeamten. Er war gerade dabei, sich einen Stuhl so an die gegenüberliegende Wand zu stellen, das er die Zimmertüren von seinen Kindern und Richard gleichzeitig im Blick hatte. Chris ging auf ihn zu, verlangte seinen Ausweis zu sehen und wollte wissen, was er hier machte.


    Der Polizist ließ seinen abschätzigen Blick an Chris’ heruntergekommenen Erscheinungsbild hoch und runter schweifen und meinte schließlich herablassend: „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
    In Chris’ Augen loderte es gefährlich auf, als er mit grollender Stimme antwortete: „Ich bin Hauptkommissar Ritter.“
    Er hielt seinem Gegenüber seinen Dienstausweis unter die Nase und mit Genugtuung bemerkte er, wie sich vor Schreck dessen Augen weiteten. Energisch zeigte er anschließend auf die Tür und zischte: „Und das dort drin, sind meine Kinder!... Also, noch einmal: Wer hat sie angefordert?“


    Unwillkürlich schluckte der junge Beamte und er musste sich erst räuspern, bevor er antworten konnte: „Polizeioberrätin Engelhardt hat Beamte zum Schutz angefordert. Mein Kollege ist bereits auf Station sieben.“
    Für den Bruchteil eines Wimpernschlags huschte fragendes Erstaunen über Chris’ Miene. Dann zogen sich seine Augenbrauen grimmig zusammen und mit einem unterschwelligen Knurren antwortete er: „Ich hoffe für Sie, dass Sie Ihre Aufgabe ernst nehmen. Denn eines kann ich Ihnen garantieren…“
    Bevor Chris weiter sprach, brachte er sein Gesicht ganz nah an das des Polizisten heran und tief aus seiner Kehle grollte er: „Sollte den Kindern irgend etwas geschehen, wird eine Suspendierung Ihr kleinstes Problem sein…“
    Chris’ Augen funkelten angriffslustig, als er mit drohender Stimme hinzufügte: „Haben Sie mich verstanden?“


    Wieder schluckte der Beamte und mit angehaltenem Atem nickte er schließlich vorsichtig. An seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, das er Chris’ Warnung nicht auf die leichte Schulter nahm.
    Nachdem Chris kurz bei den Kindern herein geschaut hatte und seinen Weg zum Besucherzimmer fortsetzte, blickte ihm der Polizist noch immer verschreckt aus den Augenwinkeln hinterher…



    Am Besucherzimmer angekommen, vernahm Chris von innen erregtes Stimmgewirr. Langsam öffnete er die Tür einen Spalt. Deutlich war die bissige Stimme der Staatsanwältin zu hören: „… brauchen Ihre Männer nicht zu decken, Frau Engelhardt. Das war höchst unprofessionell, was Sie sich da geleistet haben!… Und Sie, Herr Gerkhan,… ich glaube die schlechten Manieren Ihres Partners färben auf Sie ab!“


    „Wie bitte?“ brauste Semir auf und seine Stimmlage zeigte, das er kurz vorm explodieren war. „Was hätten wir Ihrer Meinung nach tun sollen?“
    „Sie hätten heute morgen, als Sie bei mir im Büro waren, mit mir darüber reden können. Uns wäre schon eine vernünftige Lösung eingefallen“, gab die Schrankmann von oben herab zurück.
    Semir schnaubte wütend: „Vernünftige Lösung! Pah…! Wir wurden von den Kidnappern beobachtet,… schon vergessen? Da gab es unserer Meinung nach keine andere Lösung… Wir mussten tun, was die verlangten. Das Leben der Familie meines Partners stand auf dem Spiel! Da konnten wir nichts riskieren! Und wie ernst es die Kidnapper meinten, beweisen ja wohl die Videobotschaften!“
    „Es mag ja sein, dass das Leben von Ritters Familie gefährdet war. Aber nicht das der Ihren!“ kam es als eiskalte Antwort.


    Chris registrierte Semirs entsetztes Schnappen nach Luft und gleichzeitig fing es auch in ihm an zu brodeln. Er konnte nicht glauben, was die Schrankmann gerade andeutete!
    Während Wut in ihm hoch wallte und sich seine Miene versteinerte, hörte er, wie sich sein Partner bei den nächsten Worten stark zusammen reißen musste, als er lauernd wissen wollte: „Was meinen Sie damit?“
    „Sie haben mich schon richtig verstanden, Herr Gerkhan!“ keifte die Staatsanwältin los. „Ihre Familie war doch nicht mehr in Gefahr. Sie hätten mit mir reden können. Sie hätten sich wie ein Polizist verhalten müssen!“


    „Was reden Sie da eigentlich?“ Semirs Stimme überschlug sich fast. „Meine Familie und nicht in Gefahr? Nur weil sie in der Dienststelle waren?… Wie dreist die Gangster waren, zeigt sich ja wohl an den Wanzen und Kameras, die dort versteckt waren. Wer sagt denn, das die nicht auch bis ins Gebäude gekommen wären, um sich zu holen, was sie wollten?“
    „Jetzt übertreiben Sie es aber nicht!“ spottete die Schranke. „Den Kidnappern war doch Ihre Familie zu dem Zeitpunkt schon völlig egal. Die hatten Ritters Familie und somit ein Druckmittel. Das reichte denen!“
    Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus: „Doch durch Ihr unüberlegtes Handeln ist uns wertvolle Zeit verloren gegangen. Mit vereinten Kräften hätten wir diese leidige Angelegenheit ganz schnell aus der Welt schaffen können, um uns besser auf den Fall zu konzentrieren!“


    Das war zuviel für Chris!...

  • So, sisi, ich hoffe, Du schaffst es jetzt noch vor Deinem Abflug, diesen Abschnitt zu lesen. Viel Spaß damit und einen schönen Urlaub! :thumbup:
    Solltest es Du nicht mehr geschafft haben: Willkommen zurück!! ;) :D
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    Wütend stieß er die Tür mit solcher Wucht auf, das diese mit lautem Knall gegen die Wand donnerte. Er machte zwei Schritte in den Raum und blieb mit geballten Fäusten kurz vor der Anwältin stehen, die sich vor Schreck auf ihrem Stuhl duckte. In seinen Augen glühte ein gefährliches Feuer auf und durch seine angespannte Wangenmuskulatur wirkte seine Miene hart und unnachgiebig. Sein Gesicht war weiß vor kalter Wut und an seinem bebenden Körper merkte man ihm unweigerlich an, wie schwer es ihm fiel sich zu beherrschen.


    Anna Engelhardt, die wie die beiden anderen im ersten Moment zusammengefahren war, sprang auf und ging eilig auf Chris zu. Doch bevor sie ihn erreichte, hob dieser drohend seine rechte Hand und zeigte aufgebracht auf die Schrankmann.
    „Wie können Sie es wagen…?“ fauchte er schwer atmend und machte einen weiteren Schritt auf die Staatsanwältin zu.


    Diese rutschte von ihrem Stuhl, stolperte einen erschrockenen Schritt nach hinten und für einen Moment entgleisten ihre Gesichtszüge. Sie hatte schon oft gehört, wozu Ritter in der Lage war, wenn er wütend war und deutlich war Panik in ihren Augen zu sehen. Abwehrend hob sie die Hände.


    Unterdessen packte Anna Chris am Arm und versuchte ihn zurückzuhalten: „Bitte, Herr Ritter, nicht…“
    Rasend vor Wut hörte Chris ihre Worte nicht und schüttelte ihre Hand ab. Seinen grimmigen Blick noch immer auf die Schrankmann fixiert, tat er noch einen Schritt auf sie zu und baute sich vor ihr auf.


    Voller Zorn tobte er: „Sie… Sie egoistisches Biest! Sie… Wie können Sie nur so herzlos sein? Haben Sie nicht gesehen, was die mit meiner Familie gemacht haben?… Haben Sie nicht gesehen, wie brutal die mit meiner Schwester umgegangen sind?… Was für einen Schrecken die den Kindern eingejagt haben?… Wie können Sie es da noch wagen, unsere Vorgehensweise zu kritisieren?“


    Inzwischen war auch Semir an Chris herangetreten und zusammen mit der Engelhardt, taten sie ihr menschenmöglichstes, um ihn davon abzuhalten sich vollends auf die Staatsanwältin zu stürzen.
    Chris jedoch bäumte sich noch einmal mit aller Kraft gegen die beiden auf und schrie in Richtung Schrankmann: „Und wenn Sie es noch einmal wagen, meine Familie als ‚leidige Angelegenheit’ zu titulieren, dann Gnade Ihnen Gott!“


    Claudia Schrankmann sah ihn entsetzt an und sie ahnte, das er seine Drohung ernst meinte. Sie musste schwer schlucken.
    Doch als sie ein paar Sekunden später merkte, dass Gerkhan und Engelhardt es schafften, den Abstand zwischen dem aufgebrachten Ritter und ihr zu vergrößern, straffte sie ihren Rücken. Mit einer energischen Handbewegung zog sie ihr Jackett gerade und zupfte mit spitzen Fingern ihre Haare zurecht. Auf ihrem verkniffenen Gesicht war bereits wieder ihre schnippische Miene zu erkennen. Sie reckte ihr Kinn nach vorn und schaute ihn trotzig an.


    Mit lauter, aber bestimmter Stimme redete die Engelhardt unterdessen auf Chris ein: „Bitte, Herr Ritter, beruhigen Sie sich!… Das bringt doch nichts!… Lassen Sie mich das regeln… Es ist niemandem geholfen, und ganz besonders Ihrer Familie nicht, wenn Sie von der Staatsanwältin unter Arrest gestellt werden.“
    Seinen lodernden Blick noch immer auf die Anwältin geheftet, stieß er stoßweise atmend aus: „Das sollte sie mal wagen! Niemand trennt mich mehr von meiner Familie… Niemand!… Auch eine Staatsanwältin Schrankmann nicht!“
    „Niemand wird Sie von Ihrer Familie trennen, Herr Ritter! Darauf haben Sie mein Wort!“ versprach die Engelhardt eindringlich. „Aber Sie müssen sich beruhigen.“


    „Chris,… bitte,…“, versuchte es nun auch Semir und verstärkte seinen Griff um Chris’ Arm. Dabei sah er ihm fest ins Gesicht und wartete, bis sich die Aufmerksamkeit seines Partners auf ihn richtete.
    Etwas an Semirs Stimme besänftigte Chris’ erhitztes Gemüt und ließ ihn blinzeln. Er versuchte seine keuchende Atmung zu beruhigen und langsam wandte er sich ihm zu.


    Semirs Augen waren fragend, aber auch sorgenvoll und flehentlich auf ihn gerichtet und schließlich sagte er verständnisvoll: „Ich weiß wie Du Dich fühlst, Chris… Glaub mir, noch vor einer Minute wäre ich am liebsten unserer werten Frau Staatsanwältin auch an die Gurgel gegangen.“
    Nach einem kurzem, neckischem Blinzeln fügte er hinzu: „Doch Du konntest ja mal wieder nicht warten…“


    Dann wurde er wieder ernst: „Du und ich, wir haben seit gestern sehr viel durchgemacht. Die Sorge um unsere Familien, die Angst um ihr Leben, die quälenden Stunden der Ungewissheit,… es hat uns beide an den Rand unserer Kräfte gebracht!… Doch gemeinsam waren wir stark und haben uns gegenseitig gestützt und geholfen!… Zusammen haben wir es geschafft, Deine und meine Familie zu retten… Lass uns jetzt auch den Rest gemeinsam durchstehen!“


    Chris hörte Semirs Worte und es waren Worte, die sein Herz ansprachen…
    Worte, die ihm Verständnis zeigten,…
    Worte, die ihm Vertrauen schenkten,…
    Worte, die ihm Sicherheit gaben,…
    Worte, die es ehrlich mit ihm meinten…


    Und er hörte das Wort 'gemeinsam'!


    Semir war also noch immer bereit zu ihm zu stehen. Obwohl er ihn so oft vor den Kopf gestoßen hatte,… trotz seiner abweisenden, schroffen Art…


    Chris spürte Dankbarkeit und seine Miene wurde weicher, während er seinen Blick über Semirs Gesicht wandern ließ. Das gefährliche Funkeln in seinen Augen erlosch und ein tiefes Einatmen zeigte Semir, das sich sein Partner wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Er löste seinen Griff um Chris’ Arm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Mit einem leichten Zittern in der Stimme meinte er: „Lass uns gemeinsam dafür sorgen, das die Morde an Tom und Bernd nicht sinnlos waren!“

  • Bei der Erwähnung von Bernds Namen drehte sich Chris abrupt um. Mit hängendem Kopf ging er zum Fenster und während er seine Hände an die Hüften legte, schaute er mit einem Blick hinaus, der in weite Ferne gerichtet schien.


    Hinter Chris’ Rücken tauschten Anna und Semir einen Blick miteinander. Sie kannten dieses Gebaren von Chris und ahnten, was in ihm vorging. In seinen Gedanken war er bei Erinnerungen an seinen Vorgesetzten und väterlichen Freund. Er sprach nur selten von ihm und was er ihm bedeutet hat.
    Doch immer wenn er an Bernd Simon dachte, legte sich dieser dunkle, traurige Schatten auf sein Gesicht und sein Blick wurde dann meist leer und abwesend. Und wenn er von ihm erzählte, konnte man, wenn man genau hinhörte, aus seinen schroffen, abweisenden Worten die leisen Töne der Einsamkeit und der Suche nach etwas Vertrautem heraushören.


    Semir stellte sich zu Chris und sah ihn von der Seite her an. Chris sah müde und ausgepowert aus. In seinen Augen schimmerte es und Semir musste an die Szene in Gabys Zimmer denken. Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter zur Schrankmann und sah, wie sie ungeduldig ihre Arme vor der Brust verschränkte, mit den Fingern auf ihrem Oberarm trommelte und ihren Kopf mit einer auffordernden Geste schräg legte.
    Es war nur allzu klar, dass sie für solche Fisimatenten (und ihre Augen zeigte ganz deutlich, das sie so darüber dachte!) kein Verständnis hatte.


    Heiße Wellen der Wut wollten in Semir hoch kochen, doch er konnte sich noch so gerade beherrschen.
    ‚Wie kann ein Mensch nur so…, so…’
    Semir gab es auf, nach der treffenden Bezeichnung für den Charakter der Schrankmann zu suchen.
    ‚Wahrscheinlich gibt es keine passende!’ dachte er sarkastisch bei sich.


    Er blickte zurück zu Chris und er schwor sich, das die Schrankmann seinen Partner nicht weinen sehen würde. Nein,… die Schranke würde keine Gelegenheit bekommen, ihn in seinem schwächsten Moment zu erleben! Und wenn es sein müsste, würde er sie persönlich angreifen, um von Chris abzulenken!
    Sacht legte er ihm eine Hand auf den Rücken und sagte leise: „Na komm, Chris, lass uns gemeinsam dafür sorgen, das Gehlen seine gerechte Strafe bekommt!“


    Nach einer Weile strich sich Chris mit einer müden Geste über die Augen, seufzte und drehte sich zu ihm um. Mit einem Nicken gab er zu verstehen, das er Semir zustimmte. Unmerklich atmeten Semir und Anna erleichtert auf.
    Anna wandte sich an die Schrankmann und jede Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden: „Sie sehen ja selbst, das meine Männer müde sind. Daher möchte ich Sie bitten, sich kurz zu fassen.“


    Die Schrankmann setzte dazu an, sich darüber zu empören, dass die Engelhardt Chris für seine verbale und körperliche Attacke ihr gegenüber keine Rüge erteilte. Doch nachdem Anna ihr einen warnenden und Semir einen giftigen Blick zuwarfen, lenkte sie zähneknirschend ein: „Nun ja, gut… wie dem auch sei… Das können wir auch später regeln.“


    Geflissentlich übersah sie die entrüstete Miene der Engelhardt und fuhr mit kühler Stimme fort: „Herr Gerkhan, Herr Ritter,… meinen Sie, Sie schaffen es morgen früh bei Gericht, Ihre Aussagen zu machen? Und zwar so, wie wir sie heute Mittag besprochen haben?“
    Semir nickte entschlossen und der Blick der Staatsanwältin ging zu Chris.


    Der hatte sich wieder dem Fenster zugewandt und sah nachdenklich nach draußen in die Dunkelheit. Es hatte den Anschein, als hätte er ihre Frage nicht gehört. Die Schrankmann wartete ein, zwei Sekunden und als keine Antwort kam, holte sie Luft, um zu einer erneuten Frage anzusetzen. Doch kaum öffnete sie den Mund, meinte Chris in die Stille mit rauer Stimme: „Ich weiß genau, was ich zu sagen habe.“
    Alarmiert vom unterschwelligen Ton seiner Stimme, den sie heute bereits das zweite Mal hörte, warnte sie ihn: „Herr Ritter, ich hoffe für Sie, dass Sie sich morgen an das halten, was wir besprochen haben und sich nicht von Ihren persönlichen Motiven leiten lassen.“


    Langsam drehte sich Chris zu ihr um und auf seinem Gesicht spiegelte sich aufkeimender Groll. „Was meinen Sie damit?“ wollte er wissen.
    „Sie wissen genau, was ich meine“, ereiferte sich die Anwältin. „Sie waren doch von Anfang an nur auf Rache für Bernd Simon aus! Und diese Rache hat sich jetzt, nach der Sache mit Ihrer Familie, wahrscheinlich nur noch intensiviert. Geben Sie es doch zu: Sie wollen die Verhandlung morgen nur dazu nutzen, Ihre eignen Rachegelüste zu befriedigen!“


    Chris’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während es gefährlich darin aufblitzte. Er machte einen kleinen Schritt auf sie zu und stemmte seine Hände an die Hüfte: „So,… Sie glauben also, ich wäre nur auf Rache aus?“
    „Das ist doch wohl offensichtlich!“ antwortete sie schrill.
    Aus den Augenwinkeln nahm Chris wahr, wie Semir etwas sagen wollte. Ohne seine Augen von der Schrankmann abzuwenden, hob er eine Hand und bot Semir damit Einhalt. Der hielt auch prompt inne.


    Mit gefährlich ruhiger Stimme, aber in einem eisigen Ton, den Semir noch nie bei Chris gehört hatte, sagte dieser: „Lassen Sie mich Ihnen eines sagen, Frau Staatsanwältin: Wenn dem wirklich so wäre, wie Sie vermuten, hätten Sie jetzt ein Motel voller Leichen und Gehlen läge tot in seiner Zelle!“

  • So, dann will ich mal der Schrankmann auch einige 'menschliche' Züge verleihen. ;)
    Hoffentlich killt Ihr mich nicht! :cursing:
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    Chris ließ seine Worte für einen Moment wirken und die Schrankmann hielt dem kaltblütigen Blick kurz stand. Doch mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass das, was Chris gesagt hatte, sein voller Ernst war und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Scharf sog sie die Luft durch ihre Nase ein und wich erschrocken etwas nach hinten.


    Bevor sie zu einer entrüsteten Antwort ansetzen konnte, sprach Chris in einem verbitterten Ton weiter: „Aber ich kann Ihnen versichern: Ich will keine Rache,… ich will Gerechtigkeit! Gerechtigkeit für die Menschen, die unter Gehlen gelitten haben,… die von ihm ausgenutzt wurden,… die ihm schutzlos ausgeliefert waren,…die von ihm und seinen Leuten wie Vieh behandelt wurden,… die nach einem Kopfnicken von ihm, durch seine Leute ermordet wurden…“
    Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern vor dem Gesicht der Schrankmann, das diese erschrocken zusammenzuckte: „Einfach so… eiskalt!“


    Chris atmete tief ein, wobei er seinen Körper zur vollen Größe aufrichtete. Nach einem kurzen Seitenblick auf Semir fuhr er sanfter fort: „Und ich will Gerechtigkeit für die zwei Menschen, die sich dem Ziel verschrieben hatten, jemandem wie Gehlen das Handwerk zu legen. Die jedes Risiko in Kauf nahmen und bereit waren, für andere zu sterben…“
    Seine Stimme versagte für einen kurzen Augenblick und er musste heftig schlucken. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über seine brennenden Lider und über die gekrauste Stirn, hinter der sich pochender Kopfschmerz breit machte.


    Nach einem weiteren tiefen Durchatmen, lenkte er seinen Blick zurück auf die Frau vor ihm und sah sie fest an: „Ich für meinen Teil, werde morgen alles daran setzen, das Gehlen bekommt, was er verdient. Können Sie mir versprechen, dass er nie wieder das Gefängnis verlässt?“


    Es war höchst selten, das Claudia Schrankmann sprachlos war und eine Weile lastete eine schwere Stille über dem Raum. Sie schaute in Ritters Gesicht und plötzlich sah sie etwas,… nein, sie spürte etwas,… etwas, was sie nicht genau beschreiben konnte…


    Aber mit einem Mal wurde ihr klar, das Ritter nicht einfach nur ein Zeuge oder Ankläger war,… er war vor allem auch ein Opfer!
    Ein Opfer, dass an Recht und Ordnung glaubte,…
    das darauf baute, dass die Justiz ein gerechtes Urteil verhängte,…
    dass die Härte des Gesetzes den Angeklagten zu einer hohen Strafe verurteilte…


    Alles Ideale, der sie sich als Studentin verschrieben hatte,…
    Ideale, die sie mit allen Mitteln verteidigen wollte,...
    Ideale, die ihr wie ein leuchtender Stern den Weg gewiesen hatten…


    Doch im Laufe der Jahre hatte sie erkennen müssen, das Justitia wirklich blind war und dass das Recht nicht immer siegte. Ihre hohen Ziele waren in den Mühlen der Justiz zerreiben worden und wie Seifenblasen eine nach der anderen geplatzt. Es hatte sie am Ende unnachgiebig, verbissen und mürrisch werden lassen.
    Zwar waren es genau diese Eigenschaften, die ihr bei ihren Gegnern den Ruf eines Rottweilers eingebracht hatten und vor Gericht waren sie von großem Vorteil, aber sie waren nicht das, was sie eigentlich sein wollte.


    Etwas an Ritters Worten hatten sie an ihre alten Vorsätze erinnert und schließlich antwortete sie mit einem Nicken: „Wenn Sie bei Ihrer Aussage bleiben, wird Gehlen nie mehr als freier Mensch herumlaufen.“
    Für einen Moment sah Chris sie abschätzend an. Als er erkannte, das sie es ernst meinte, stieß er ein kurzes: „Gut…!“ aus.


    Ohne sie weiter zu beachten, wandte er sich der Chefin zu: „Frau Engelhardt, brauchen Sie mich und Semir noch? Ich möchte gern zu meinen Kindern gehen und ich denke, Semir würde jetzt auch gern bei seiner Familie sein.“
    Anna, die der Szene zwischen Chris und der Schrankmann mit leicht offenem Mund gefolgt war, schloss diesen und schüttelte irritiert den Kopf.
    Blinzelnd richtete sie ihren Blick abwechselnd auf Chris und Semir: „Nein, ich glaube wir brauchen Sie beide nicht mehr. Gehen Sie zu Ihren Familien und versuchen Sie auch etwas Schlaf zu bekommen. Denken Sie daran, das Sie morgen fit sein müssen.“


    Ohne noch jemanden anzuschauen, drehte sich Chris auf dem Ansatz um, packte Semir am Arm und zog ihn aus dem Raum. Gerade wollte er hinter ihm das Zimmer verlassen, als ihn Annas Stimme zurückhielt: „Ach, und Herr Ritter,… Ich schicke Ihnen morgen früh gegen 8.30 Uhr einen Beamten, der Sie nach Hause fährt, damit Sie sich für die Anhörung frisch machen können.“


    Mit einem Nicken bedankte sich Chris und zog die Tür hinter sich zu...

  • Auf dem Flur sah Semir Chris mit großen Augen an: „Was war das denn gerade?“
    „Was meinst Du?“ fragte Chris unwirsch zurück.
    „Na, das gerade zwischen Dir und der Schranke“, erstaunte sich Semir und deutete mit dem Kopf auf die Tür. „Ist nämlich äußerst selten, das die Gute sprachlos ist! Sonst hat die immer das letzte Wort… Naja, die Engelhardt, die hat es schon mal geschafft… Aber wenn ich daran denke, wie oft Tom und ich versucht haben, ihr Paroli zu bieten und hinterher meist mehr Ärger ha…“


    „Kannst ja wieder rein gehen, wenn Du es unbedingt brauchst!“ fuhr ihm Chris mürrisch über den Mund. „Ich für meinen Teil will nur noch meine Ruhe und zu meinen Kindern.“
    Semir hob abwehrend die Hände: „Hey, ist ja schon gut! Ich sag ja nur…“
    Chris, der merkte, das er zu weit gegangen war, senkte beschämt den Kopf. Mit der rechten Hand rieb er sich über die brennenden Augen und über die gekrauste Stirn, hinter der sich pochender Kopfschmerz meldete.
    „Es tut mir leid“, seufzte er schließlich und sah Semir entschuldigend an. „Ich habe es nicht so gemeint.“


    Semirs Blick, den dieser ihm zuwarf, zeigte eine Mischung aus Mitgefühl und Verständnis. In Chris baute sich augenblicklich eine Mauer auf. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand so ansah. Es zeigte ihm, das er seinem Gegenüber schon wieder eine Schwäche gezeigt hatte.
    Um von seiner schlechten Verfassung abzulenken, zeigte er schnell mit einer ausholenden Handbewegung in Richtung Treppenhaus: „Na komm, Semir, verschwinde… Mach Feierabend, bevor es sich die Engelhardt oder die Schrankmann anders überlegen…“
    Stöhnend verdrehte Semir die Augen.
    „… Außerdem wartet bestimmt schon Deine Familie auf Dich!“ fuhr Chris fort.
    „Ja, bestimmt“, seufzte Semir mit einem versonnen Lächeln. „Ich jedenfalls vermisse sie.“
    „Dann hau endlich ab!“ sagte Chris etwas versöhnlicher.


    Sekundenlang ruhten die Blicke der beiden Männer aufeinander. Chris wusste, wie viel er Semir zu verdanken hatte und das dieser den Dank dafür nie einfordern würde. Er würde es Semir niemals vergessen, was er wie selbstverständlich für ihn getan hatte. Ihre Partnerschaft war durch dieses Ereignis zusammengewachsen und er spürte, wie er in Semirs Gegenwart Sicherheit und Vertrauen bekam. Seine Mauer bröckelte…
    Und trotzdem… er konnte einfach nicht über seinen Schatten springen und aussprechen, was ihn bewegte.


    Semir sah Chris’ ernste Miene und ahnte, was in ihm vorging. Deutlich waren seine Gedanken in seinem Gesicht zu lesen.
    ‚Oh Chris, ob Du es noch mal lernst aus Dir heraus zu kommen?’ fragte sich Semir mit einem innerlichen Grinsen. Er entschloss sich, ihm eine kleine Hilfestellung zu bieten. Seinem Partner die Hand hinhaltend, meinte er schlicht: „Danke, Chris!“
    Chris sah kurz auf die dargebotene Hand, ergriff sie mit einem leichten Kopfschütteln und Semir fest in die Augen schauend, sagte er mit rauer Stimme: „Nein, Semir,… ich habe zu danken!“


    Ein schelmisches Grinsen zuckte plötzlich in Semirs Mundwinkel. Den Kopf leicht schräg legend, neckte er: „Hey, schon vergessen…? Wir sind Partner und Partner tun das füreinander. Da gibt es nichts zu danken!“
    „Wenn das so ist…“, antwortete Chris und ließ Semirs Hand los.
    Stumm schauten sich die beiden an, dann huschte ein breites Lächeln über ihre müden Gesichter. Sie wussten um die Dankbarkeit des anderen und das genügte. Weitere Worte waren nicht nötig…


    „Gute Nacht!“ murmelte Chris schließlich. Ohne auf eine Antwort oder Reaktion zu warten, drehte er sich auf dem Absatz um und ging zum Zimmer, in dem seine Kinder lagen.
    „Gute Nacht!“ rief ihm Semir hinterher. Doch Chris hatte bereits wortlos die Tür hinter sich geschlossen. Mit einem ergeben Seufzer und einem resigniertem Schulterzucken, wandte sich Semir um und ging zum Aufzug.
    Während er auf den Lift wartete, schüttelte er in Gedanken den Kopf: Er würde wohl nie schlau aus Chris werden!


    Vor dem Krankenhaue stieg er in ein Taxi und nannte dem Fahrer seine Adresse. Er wusste von der Engelhardt, dass Andrea und Aida von einem Kollegen bereits nach Hause gebracht worden waren und nun auf ihn warteten.


    Mit einem erschöpften Seufzer lehnte er sich nach hinten in den Sitz, legte seinen Kopf leise lächelnd an die Scheibe und schloss während der Fahrt die Augen.
    In seinen sehnsüchtigen Gedanken freute er sich schon auf sein Zuhause…
    auf die geborgene Wärme und die herzliche Liebe, die er dort fand…
    auf seine Familie…
    auf seine Frau,… auf seine Tochter…
    auf seinen Lebensinhalt…

  • Mit ärgerlichen Schritten marschierte Landwehr den Gang hinunter.
    Gerade hatte er von einem Polizeibeamten den Anruf erhalten, dass die Fahndung nach dem Flüchtigen, den Ritter verfolgt hatte, bisher im Sande verlaufen war. Die alarmierte Hundestaffel, die seine Spur im Wald aufnehmen sollte, hatte aufgrund der einsetzenden Dunkelheit die Suche abbrechen müssen, da das Gelände recht unwegsam war.
    Ob man morgen eine Spur von ihm finden würde, war äußerst zweifelhaft, da sich das fragliche Gebiet über eine beachtliche Größe erstreckte und der flüchtige Gangster einen gewaltigen Vorsprung hatte.
    ‚Ritter,… wenn ich Sie in die Finger bekomme…“, fluchte er in Gedanken.


    Ungehalten öffnete er eine Tür und betrat ungestüm den Technikraum. Hinter mehreren Monitoren ruckten die Köpfe nach oben und verwunderte Augen sahen ihn an. Ohne auf die Blicke zu achten, durchquerte er den Raum und stellte sich an einen breiten Tisch. Darauf befand sich ein heilloses Durcheinander von irgendwelchen Geräten, unzähligen Kabeln und mehreren Stapeln CDs.


    Fragend schaute er die nagetiergesichtigen Brüder an: „Und meine Herren,… haben Sie es hinbekommen?“ An seiner barschen Stimme war deutlich zu hören, das er keine schlechten Nachrichten hören wollte.
    Ohne zu antworten, drehten ihm die Ratte und die Maus einen Monitor zu und drückten den Wiedergabekopf. Je länger sich Landwehr die Aufnahme ansah, desto mehr verschwand sein Ärger. Die beiden hatten wirklich nicht zu viel versprochen und eine sehr gute Arbeit abgeliefert!


    ‚Ausgezeichnet!’ dachte Landwehr bei sich und mit einem anerkennenden Kopfnicken nahm er schließlich die Hülle mit der CD entgegen. Zufrieden lächelnd überreichte er die silberne Scheibe einem Beamten in Zivil, der sich sofort auf den Weg zu Janzens Kanzlei machte…





    Als Gehlens Anwalt später am Abend in sein Büro kam und die CD auf seinem Schreibtisch liegen sah, atmete er erleichtert auf. Anscheinend waren seine Sorgen unbegründet gewesen.
    Da er Lorenz den ganzen Nachmittag nicht erreichen konnte, hatte ihn unweigerlich das Gefühl beschlichen, das etwas schief gelaufen sein musste. Doch die CD zeigte ihm, das er sich umsonst Sorgen gemacht hatte.


    Ein hinterhältiges Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen, als er die Hülle nach einem verstohlenen Blick in alle Richtungen in seinen Aktenkoffer verstaute.
    Nachher, wenn er die Sicherheit seiner eigenen vier Wände verspüren würde, würde er einen Blick auf den Film werfen. Vorfreude stieg in ihm auf und mit federnden Schritten verließ er seine Kanzlei.


    Morgen wird sein großer Tag…

  • Die Dunkelheit der Nacht breitete sich aus und löste die Dämmerung des Abends ab. Wie eine schwere Decke legte sich das Schwarz der Finsternis über NRW. Die Menschen zogen sich nach einem arbeitsreichen, aber für die meisten von ihnen gewöhnlichen Tag, in ihre Häuser zurück und verscheuten den Schrecken des Dunkels, indem sie in ihren Wohnungen das Licht einschalteten.
    Und so viele Menschen es in NRW gab, so vielfältig waren die Bedeutungen, die diese Nacht für die Menschen hatte…



    Dunkelheit…
    Für die einen bedeutete sie Feierabend, so wie sie es für Hartmut und Susanne tat. Hartmut, übergab die Leitung der Nachtschicht an Franz,… aber auch nur, weil die Engelhardt es so angeordnet hatte! Schweren Herzens und nicht ohne einer langen Liste mit dem, was getan werden musste, verließ er das Labor und fuhr in seiner Lucy nach Hause.
    Zur gleichen Zeit legte Susanne die letzten Berichte auf den Schreibtisch der Chefin, fuhr den Computer herunter und machte sich auf den Heimweg…



    Dunkelheit…
    Für andere bedeutete sie Arbeitsbeginn, so wie sie es für die Kollegen der Nachtschicht auf der PAST tat. Sie winkten Susanne zum Abschied noch fröhlich hinterher, als sie sich verabschiedete. Sie wussten, das es eine ruhigere Nacht werden würde, wie die letzte und ließen es gemächlich angehen…



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete trotz Erschöpfung und Müdigkeit keine Ruhe zu finden, wie sie es in diesem Moment für Anna Engelhardt tat. Nachdem sie sich von Bonrath und Hotte hatte zur PAST bringen lassen, hatte sie die beiden mit der strikten Order, sich schlafen zu legen, nach Hause geschickt. Sie war in ihr Büro gegangen und hatte einen kurzen Blick auf die Berichte geworfen. Telefonisch hatte sie sich von Landwehr auf den neusten Stand bringen lassen und bevor sie nach Hause gefahren war, hatte sie der Nachtschicht letzte Anweisungen erteilt.
    Während der Fahrt in ihrem schwarzen Lexus durch die fast leeren Straßen, waren ihre Gedanken ständig um die Geschehnisse des Tages gekreist.


    So auch jetzt, als sie sich ein entspannendes Bad gönnte, dachte sie an nichts anderes. Ihr Sorge galt vor allem der morgigen Gerichtsverhandlung. Sie hoffte, das alles glatt ging und ihre Kommissare das gut durchstehen würden.
    Besonders Ritters wankelmütigen Emotionen machten ihr Kopfzerbrechen. Insgeheim musste sie der Staatsanwältin Recht geben: Auch sie befürchtete, das Chris den morgigen Tag für seine Rache nutzen würde.
    Obwohl wenn er von Gerechtigkeit gesprochen hatte… ein Restzweifel blieb. Dafür kannte sie ihn einfach noch nicht gut genug…
    Und dieser beunruhigende Gedanke ließen sie die halbe Nacht keine Ruhe finden…



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete Überstunden, wie sei es für die Schrankmann und ihr Team tat. Sie hatte ihren Stab auf dem Weg vom Krankenhaus zusammengetrommelt und bis weit nach Mitternacht mussten ihre Leute Akten wälzen, Berichte lesen, Beweise sichten und neue Texte verfassen. Als die Staatsanwältin schließlich den Letzten nach Hause schickte, umspielte das zufriedene Lächeln eines satten Tigers ihre Mundwinkel…



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete nach Hause kommen, wie sie es für Semir tat. Er stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer und ging mit müden Schritten auf die Haustür zu. Bevor er sie erreichte, öffnete sich diese und Andrea stand mit einem strahlenden Gesicht im Rahmen. Glücklich fielen sie sich in die Arme und während Semir die Tür mit dem Fuß zustieß, küssten sie sich innig.
    Anschließend harrten sie noch eine Weile in enger Umarmung und genossen die Nähe des anderen. Andrea, die mit den Tränen der Erleichterung kämpfte, schniefte erlöst, als Semir ihr mit sanfter Stimme ins Ohr flüsterte: „Ich liebe Dich!“


    „Ich liebe Dich auch!“ hauchte sie und gab ihm einen weiteren Kuss, doch diesmal etwas leidenschaftlicher.
    Schweren Herzens löste sich Semir nach einigen Sekunden von Andrea, sah ihr in die Augen und zwinkerte verschmitzt: „Lass mich erst duschen gehen.“
    Sie lächelte und neckte ihn: „OK, aber nicht zu lange…“
    Seinen Arm um ihre Schultern legend, gingen sie gemeinsam die Treppe hinauf. Bevor er sich unter die Dusche stellte, sah er nach seiner Tochter, die bereits friedlich in ihrem Bettchen schlummerte. Es wurde ihm ganz warm ums Herz, als er sie so selig schlafen sah.


    Nach der reinigenden Dusche, bei der er sich all den Stress der letzten zwei Tage von seinem erschöpften Körper schrubbte, legte er sich zu Andrea ins Bett. Eng kuschelten sie sich aneinander und leise unterhielten sie sich eine Weile. Doch schließlich fielen Semir vor Müdigkeit die Augen zu. Während er wegnickte, murmelte er glücklich: „Ich bin so froh, das ich Dich und Aida habe!“
    Er hörte schon nicht mehr, wie Andrea zärtlich flüsterte: „Und wir sind glücklich, das Du bei uns bist!“



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete Erholung, wie sie es für Gaby und Richard tat. In ihrem, durch Medikamente herbei geführten ruhigen Schlaf, heilten ihre verwundeten Seelen und ihre Körper tankten neue Kräfte.



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete Angst und Schrecken, wie sie es an diesem Abend für die Kinder von Chris tat. Denn in ihren quälenden Träumen kamen die schrecklichen Ereignisse zurück und ließen sie unruhig schlafen.
    Johanna, die leise weinend im Schlaf nach ihrem Vater rief, wälzte sich hin und her. Chris setzte sich zu ihr ins Bett, nahm sie vorsichtig in den Arm und wiegte sie mit sanften Bewegungen. Schnell beruhigte sich seine Tochter. Während er sie hielt und ihre schlafende Miene liebevoll betrachtete, nickte auch er kurz darauf vor Erschöpfung ein.


    Aber nur Minuten später wurde er vom angsterfüllten Schrei seines Sohnes aus dem leichten Schlaf gerissen. Jakob saß senkrecht im Bett, atmete heftig und blickte sich panisch um. Vorsichtig löste Chris die Umarmung seiner Tochter und ging schnell zu ihm hin. Fest fasste er ihn an den Schultern und zwang ihn, ihn anzusehen. Besänftigend sprach er auf ihn ein: „Ganz ruhig, Jakob, ganz ruhig! Du bist in Sicherheit und ich bin bei Euch… Es kann Euch nichts mehr passieren!“
    Jakob sah ihn noch immer mit schreckensweiten Augen an. „Tante Gaby…“, stammelte er, „… ich habe gesehen, wie sie Tante Gaby quälen.“


    Voll Mitgefühl schaute Chris seinem Sohn in die Augen. „Du hast geträumt“, beruhigte er ihn. „Tante Gaby geht es gut. Sie ist auch in Sicherheit und schläft jetzt… Versuch auch zu schlafen.“
    Jakob nickte langsam und legte sich hin. Chris deckte ihn vorsichtig zu und fuhr ihm mit seiner Hand über die Haare. Jakob seufzte erleichtert und machte die Augen zu.
    Doch der erholsame Schlaf wollte nicht kommen, denn er warf sich nervös im Bett hin und her.
    Als auch Johanna wieder unruhig wurde und Chris sich am Ende seiner Kräfte fühlte, pfiff er auf die Krankenhausvorschriften und schritt zur Tat…


    Die Nachtschwester, die wenige Minuten später vorbei schaute, um nach den Kindern zu sehen, stellte verdutzt fest, das es sich Chris und die Kinder mit den Matratzen, Decken und Kissen auf dem Boden bequem gemacht hatten. Eng umschlungen lagen sie dicht beieinander und schliefen friedlich. Mit einem gewährenden Lächeln zog sich die Krankenschwester zurück…



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete Sicherheit, wie sie es für den ‚Doc’ tat. Vor den neugierigen Blicken geschützt, hatte er sich klammheimlich in die nächste Ortschaft geschlichen. In einem einsam stehenden Haus bei einer netten, alten Dame hatte er, dank seines Charmes, für die Nacht Unterschlupf gefunden. Seine letzten sadistischen Gedanken galten Chris, bevor er einschlief…



    Dunkelheit…
    Sie bedeutete Warten,… warten auf den nächsten Morgen,… warten auf den nächsten Tag, so wie sie es für Roman Gehlen in seiner Zelle tat. Auf dem Rücken liegend und die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte er durch die Finsternis an die Decke. Das fahle Licht einer Laterne aus dem Innenhof zeichnete das Gittermuster vom Fenster schräg an das gegenüber liegende Mauerwerk.


    In dem dämmerigen Licht, in welches der kleine Raum getaucht war, konnte man schemenhaft Gehlens Gesichtszüge erkennen. Tief in Gedanken versunken, huschte hin und wieder ein gemeines Grinsen darüber und in seinen Augen funkelte es gierig: Er konnte es nicht erwarten hier heraus zu kommen, um seinen Rachegedanken Taten folgen zu lassen…

  • Durch das auf Kippe stehende Fenster war das fröhliche Gezwitscher der Vögel zu hören, die den neuen Morgen begrüßten. Es versprach ein herrlicher Herbsttag zu werden, denn die ersten Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fielen, streichelten warm über Chris’ Gesicht.


    Nur widerwillig wurde er langsam wach, hielt aber die Augen weiterhin geschlossen. Er wollte sich noch etwas der Behaglichkeit und Ruhe dieses Augenblicks hingeben und Energien für den bevorstehenden, anstrengenden Tag sammeln.


    Mit seiner rechten Hand tastete er neben sich und spürte eine Haarsträhne zwischen seinen Fingern. Aufgrund der Länge, wusste er, das diese Johanna gehörte. Ein glückliches Lächeln erhellte seine Miene, während seine Hand zu Johannas Kopf wanderte und er sanft darüber strich. Zufrieden seufzte er und ließ ihre Haare wieder und wieder durch seine Finger gleiten.
    Leise murmelte er: „Na, meine Süße! Noch am schlafen? Das kenne ich ja gar nicht von Dir?“


    Suchend tastete sich Chris’ Hand weiter und fand einen anderen Kopf. An der kurzen, glatten Frisur erkannte er seinen Sohn und legte auch ihm für einen Moment seine Hand auf den Kopf.
    ’Mein Großer!’ dachte Chris voller Stolz.


    Wohlig atmete er tief ein… Innerer Frieden breitete sich in ihm aus und er genoss diesen Moment in vollen Zügen.
    Nach einem ausgiebigen und ruhigen Schlaf, fühlte er sich ausgeruht und bereit, den schweren Aufgaben des Tages entgegen zu strotzen.
    Er wusste seine Kinder, seine Schwester und seinen Neffen in Sicherheit,… es konnte ihnen nichts mehr geschehen,… dafür würde er sorgen! Er fühlte ihre Nähe und sie gaben ihm Kraft!
    Das hier war für ihn das perfekte Glück! Was brauchte er mehr…? Ein weiteres wohliges, zufriedenes Seufzen kam über seine lächelnden Lippen. Was würde er darum geben, das dieser Augenblick nie enden würde…


    Aufdringlich kitzelte die Sonne seine Augen und nach einer Weile drehte sich Chris murrend auf den Rücken.
    ‚Ja, ja,… schon gut! Ich steh ja schon auf!’ gab er schließlich mit einem Lächeln klein bei. Mit den Handballen rieb er sich den Schlaf aus den Augen, strich sich übers Gesicht und öffnete langsam seine Lider. Der Raum war in ein helles, strahlendes Licht getaucht und zuerst musste er gegen die Helligkeit anblinzeln.
    Wie spät war es eigentlich? Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr… und stutzte. Irritiert zog er die Stirn kraus: 7.38 Uhr. Er horchte…


    Warum war es noch so still? Weshalb hörte man keine Türen schlagen oder die Stimmen des Pflegepersonals? Normalerweise herrschte im Krankenhaus um diese Uhrzeit schon das rege Laufen der Krankenschwestern, die die Patienten weckten, bei ihnen Fieber maßen oder ihnen das Frühstück brachten.
    Warum war noch keine Krankenschwester bei ihnen vorbei gekommen? Warum hatte noch keiner nach ihnen gesehen?
    Hier stimmte doch was nicht…


    Vorsichtig richtete Chris sich auf und lauschte angestrengt… Es war ruhig… Zu ruhig…
    Ein Kribbeln macht sich in seinem Nacken bemerkbar und warnte ihn vor etwas… Aber vor was?


    Er horchte noch einmal… Noch immer war auf dem Gang vor der Tür nichts zu hören… Es war sogar verdammt ruhig!
    Sein Herz fing an, schneller zu schlagen und seine Muskeln spannten sich an. Er ahnte das nahende Unheil… Aber von woher würde es kommen?


    Plötzlich herrschte sogar hier im Zimmer Stille… eine erdrückende Stille…
    Ein kalter Schauer rollte an seiner Wirbelsäule entlang und ließ ihn frösteln… Sein Magen krampfte sich zusammen… Die Gefahr war spürbar,… fast greifbar…


    Wieder spitze Chris die Ohren…
    Er hörte nichts… absolut nichts!…


    Noch nicht einmal das regelmäßige Atmen seiner Kinder…
    Alarmiert ruckte sein Kopf zu ihnen herum…


    ... und eisiges Grauen fuhr ihm bis ins Mark seiner Glieder!


    Mit stumpfen, glanzlosen Augen starrten Jakob und Johanna ihn an!
    Ihre Blicke waren gebrochen,…
    ihre Gesichter leichenblass,…
    ihre Mienen regungslos,…
    ihre Körper kalt,…
    beide tot!


    Chris kam es so vor, als würde ein scharfes, gezacktes Messer, das bis zum Heft mitten in sein Herz gerammt worden war, noch einmal gedreht. Er wollte schreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt und bittere Wogen der Übelkeit brandeten über ihm zusammen. Ein würgendes Geräusch drang aus seinem Rachen, während er verzweifelt versuchte, japsend nach Luft zu schnappen.



    „Nein!“ stieß er panisch zwischen den heftigen Atemstößen aus. „Nein!… Das darf nicht sein!?“
    In der Hoffnung, ein Lebenszeichen zu finden, wollte er nach dem Puls zu fühlen. Er beugte sich nach vorn, als plötzlich eine kalte, aber wohlbekannte Stimme hinter ihm ertönte: „Die Mühe kannst Du Dir sparen!“


    Erschrocken fuhr er herum… und mit kaltem Entsetzen sah er seinem Alptraum ins Gesicht!
    „‚Doc’!“ keuchte er.

  • „Ja, ich bin es!“ lächelte der ‚Doc’ und seine weißen Zähne strahlten hell auf.
    Wie sehr Chris dieses Lächeln hasste! Es erinnerte ihn an das Fletschen der Zähne bei einer Raubkatze…
    „Was hast Du getan?“ rief Chris schreckensbleich.


    „Ich habe nur meine Aufgabe zu Ende gebracht!“ erklärte der ‚Doc’ süffisant.
    „Welche Aufgabe?“ wollte Chris mit zitternder Stimme wissen. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt. Er war wie gelähmt… konnte sich nicht rühren.


    Mit seinen erbarmungslosen Augen taxierte der ‚Doc’ Chris. „Dich zu vernichten!“ antwortete er hart. „Und jetzt… Jetzt bist Du an der Reihe!“
    Der ‚Doc’ hob eine Hand und eine kleine Spritze mit leicht trüber Flüssigkeit blitzte im Sonnenlicht darin auf. Langsam bewegte er sie hin und her. Lauernd erkundigte er sich: „Na,… erinnerst Du Dich?“


    Plötzlich erwachte in Chris der instinktive Fluchtreflex und erlöste ihn aus seiner Starre. Abwehrend hob er die Hände und stolperte rückwärts. Furcht überkam ihn… Er musste hier raus! Kopflos blickte er sich um… Wo war die Tür?


    Er taumelte zwei Schritte nach hinten und prallte mit einem massigen Körper zusammen. Brutale Hände packten ihn und drückten seine Arme an seinen Körper. Die arrogante Stimme, die dicht an seinem Ohr ertönte, ließ sein Blut in den Adern gefrieren: „Willst Du uns etwa schon wieder verlassen, Mark Jäger? Schade,… dabei fangen wir doch gerade erst an!“


    Die Angst verlieh Chris ungeahnte Kräfte. Er wand sich aus dem Griff und drehte sich zu dem Sprecher um. Scharf zog er die Luft ein, als er Roman Gehlen erkannte. Mit schreckensverzerrter Miene deutete er auf ihn: „Was machen…? Wieso sind…? Wie… wie kommen Sie hierher?“


    Gehlens kehliges Lachen schmerzte in Chris Ohren. „Oh Mann, Ritter!“ spottete Gehlen. „Haben Sie es denn immer noch nicht kapiert…? Ich habe genügend Beziehungen, mit denen ich Ihnen bis ans Ende Ihrer Tage, ihr elendiges Leben zur Hölle machen kann!“


    Wie, als würde er sich an etwas erinnern, zog Gehlen eine Augenbraue hoch und mit einem hinterhältigen Lächeln, bleckte er seine Zähne.
    „Apropos Hölle… Ich habe Ihnen jemanden mitgebracht“, sagte er verschwörerisch und sein feister Zeigefinger deutete in eine Ecke hinter Chris.


    Im selben Augenblick erklang aus der Richtung eine Stimme mit französischem Akzent: „Hallo Chris!“
    Der reinste Horror durchfuhr Chris. Schwankend drehte er sich um und starrte ungläubig auf die Person, die dort stand. Sein Verräter hatte zum Gruß seine linke Hand, die in einem Handschuh aus schwarzem, glänzenden Leder steckte, erhoben und winkte ihm zu.


    Alles schrie in Chris auf, als er Lemercier erkannte. Ihm versagte fast die Stimme, als er keuchte: „Also doch! Du lebst!“
    „Wie Du siehst!“ grinste Richard Lemercier höhnisch und machte eine leichte Verbeugung.


    Chris empfand nur noch Panik,… schiere Panik und nackte Angst! Er konnte nicht mehr klar denken. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Das musste ein Traum sein!
    Er schloss für einen Moment die Augen und schüttelte seinen Kopf. Doch der Versuch, diesen bösen Traum loszuwerden und einen vernünftigen Gedanken zu fassen scheiterte… Die Männer waren noch immer da!


    Das hier war real!… Er musste von hier fliehen,… von hier weg!
    Weg von diesen Männern,…
    den Männern, die ihm soviel Leid zugefügt hatten,…
    die sein Leben zerstört hatten,…
    die Rache wollten,…
    die ihn töten wollten…


    In der Zwischenzeit waren seine drei Widersacher zusammen getreten und bewegte sich wie eine Mauer auf Chris zu. In ihren Mienen spielte sich abgrundtiefer Hass und feste Entschlossenheit. Sie wollten ihn vernichten… hier und jetzt!


    Chris wollte die Flucht ergreifen und wankte rückwärts. Nicht darauf achtend, wohin er trat, verhedderte sich sein rechter Fuß in einer der Bettdecken am Boden und er verlor sein Gleichgewicht. Wie ein gefällter Baum schlug er hin. Sofort setzte er alles daran, sich wieder aufzurichten, um auf allen vieren hastig von ihnen wegkrabbeln zu können. Doch augenblicklich waren Gehlen und Lemercier über ihm, packten ihn am Kragen und rissen ihn herum.


    Obwohl Chris aus Leibeskräften um sich schlug und sich mit allen Mitteln wehrte, gelang es den beiden, seine Arme zu packen und ihn auf den Boden zu pressen. Lemercier riss den linken Ärmel von Chris’ Hemd der Länge nach auf und legte die Ellenbeuge frei.


    Voller Entsetzten sah Chris aus den Augenwinkeln, wie Lemercier einen braunen Ledergürtel um seinen Oberarm schlang und ihn mit einem brutalen Ruck zusammenzurrte. Die metallische, scharfkantige Schnalle presste sein Fleisch zusammen und schnitt in seinen Muskel. Schmerzvoll schrie er auf.


    Noch einmal bäumte er sich mit aller Kraft gegen seine Widersacher auf, während sich seine Gedanken unkontrolliert überschlugen. Bei der Vorstellung dessen, was seine Gegner mit ihm vorhatten, drehte er fast durch:


    Nein! … Er wollte nicht noch einmal dieses Martyrium durchleben…
    Nein! … Er wollte nicht noch einmal durch die Hölle gehen…
    Nein! … Er wollte nicht noch einmal alle Hoffnung verlieren…
    Nein! … Er wollte nicht noch einmal am Abgrund stehen…
    Nein! …
    Nein!! …
    NEIN!!!


    Schwer atmend versuchte er weiterhin sich zu befreien, als plötzlich Gehlen seine Finger in Chris’ Hals krallte und mit aller Macht zudrückte. Mit hasserfülltem Blick zischte er: „Halt endlich still! Du wirst uns nicht mehr entkommen!“
    Nach einigen Sekunden bekam Chris kaum noch Luft und fing an zu röcheln. Er fühlte, wie seine Kraft schwand…


    Halb benommen sah er, wie der ‚Doc’ sein Blickfeld betrat, sich neben ihn hockte und die Spritze zu seinem Arm führte. Verzweifelt mobilisierte Chris seine letzten Kraftreserven und wand sich unter den harten Griffen Gehlens und Lemerciers. In seinen Augen war deutlich seine Todesangst zu sehen.
    Doch die Drei waren gnadenlos und zogen ihre Rache eiskalt durch.


    Der ‚Doc’ lächelte Chris an und nickte ihm besänftigend zu. Sein Tonfall erinnerte an eine schnurrende Katze, als er meinte: „Bald hast Du es geschafft!“
    Im nächsten Moment stach er zu und Chris fühlte, wie sich das kalte Metall der spitzen Nadel unter seine Haut schob. Die Kanüle traf seine angeschwollene Ader und er hörte das leise, zischende Geräusch, als der ‚Doc’ den Inhalt der Spritze mit gleichmäßigen Druck heraus presste. Augenblicklich spürte er das lodernde, gierige Feuer, das wie eine Feuersbrunst durch seine Adern im ganzen Körper rollte und sein grausames Werk der Vernichtung verrichtete…


    Chris wusste, das dies sein Ende bedeutete und ein angstvoller, verzweifelter Schrei bahnte sich aus seiner Kehle…

  • OK, dann will Euch mal den Gefallen tun und Chris aufwachen lassen... :D



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    Mit einem unterdrückten Schrei schreckte Chris aus seinem unruhigen Schlaf und starrte mit schreckensweiten Augen in die Finsternis. Für eine Sekunde war er völlig orientierungslos und schaute sich irritiert blinzelnd um.
    Verdammt, wo war er? Wo waren seine Peiniger?
    Hastig tastete er mit einer Hand an seiner Ellenbeuge… Da war nichts! Keine Nadel… keine Spritze… nichts!


    ‚Ein Traum… Es war wirklich alles nur ein Traum!’ stellte er erleichtert fest.
    Endlich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er erkannte, wo er war.
    ‚Krankenhaus… Du bist in einem Krankenhaus!’, erinnerte er sich…


    Mit einem Aufstöhnen schlug Chris die Hände vor sein Gesicht. Er hörte seine stoßweise Atmung, fühlte den kalten Schweiß über seine Stirn rinnen und er spürte das Zittern seines Körpers…
    Das wilde Pochen seines Herzens sprengte fast seinen Brustkorb…
    Er brauchte einige tiefe Atemzüge, um sich etwas unter Kontrolle zu bekommen.


    Eine leichte Berührung an seiner Schulter, ließ Chris plötzlich aufschrecken. Doch sofort entspannte er sich: Johanna, die dicht bei ihm gelegen hatte, drehte sich im Schlaf zu ihm herum, kuschelte sich an seinen bebenden Oberkörper und murmelte leise vor sich hin. Vorsichtig legte sich Chris auf die Seite und mit noch immer zitternder Hand strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
    Für den Augenblick eines Wimpernschlags flog ein zärtliches Lächeln über seine Miene. Doch sofort ging sein besorgter Blick zu Jakob, der zusammengekauert unter seiner Decke lag. Aber auch er schien tief und fest zu schlafen. Mit einem erleichterten Aufatmen, sank Chris zurück auf sein Kissen.


    Minutenlang starrte er in die Dunkelheit. Er bemühte sich ruhig zu werden und dem Zittern seines Körpers Herr zu werden. Doch die Bilder seines furchtbaren Traumes verfolgten ihn, sobald er seine Lider schloss. Wieder und wieder strich er sich mit der Hand über die Augen, darauf hoffend, das diese grauenhaften Erinnerungen verschwanden.


    Irgendwann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und die phosphoreszierenden Zeiger kündigten ihm mit 5.24 Uhr den nahenden Morgen an. Ergeben stieß er einen Seufzer aus und warf die Decke zur Seite. An Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken! Dafür war er innerlich zu sehr aufgewühlt!


    Behutsam stand Chris auf, zog seinen Kindern fürsorglich die Bettdecken bis zum Kinn und begab sich leise in das angrenzende Bad.
    Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, lehnte er sich mit einem sorgenvollen Seufzer dagegen. Noch immer raste sein Herz und er hörte das wilde Tuckern in seinen Ohren. Seinen Kopf in den Nacken legend, schloss er die Augen.
    ‚Verdammt!’ fluchte er in Gedanken. ‚Sie sind wieder da…’


    Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit und er erinnerte sich daran, wie oft er in den Monaten nach seiner Gefangenschaft Alpträume gehabt hatte…


    Alpträume, in denen er sein Martyrium immer und immer wieder durchlebt hatte: Der gemeine Verrat,… das höhnische Gelächter,… die harten Schläge,… die starken Schmerzen,… die grausamen Qualen,… die missglückte Flucht,… seinen beinahen Tod…


    Alpträume, in denen er Lemercier ausgeliefert war: Die stundenlangen Verhöre,…die demütigenden Erniedrigungen,… die leeren Versprechungen,… sein fruchtloses Betteln und Flehen um Gnade…


    Alpträume, in denen er stets das Gesicht des ‚Doc’ gesehen hatte: Sein fieses Lächeln,… seine blendend weißen Zähne,… seine erbarmungslosen Augen,… seine manikürten, aber folternden Hände…


    Es war lange her, das er von Lemercier und dem ‚Doc’ geträumt hatte. Aber die Begegnung mit dem ‚Doc’ im Motelflur hatten diese tiefen Erinnerungen wohl wachgerüttelt… Erinnerungen an grauenhafte Alpträume, die die Nacht für ihn zur Qual hatten werden lassen.


    Alpträume, vor denen er sich bereits vor dem Einschlafen gefürchtet hatte,… in denen er den Dämonen aus der Vergangenheit ausgeliefert war,… aus denen er schreiend und schweißgebadet aufgewacht war,… die ihn aufgrund des Schlafmangels zu einem nervlichen Wrack hatten werden lassen…
    ‚Oh Gott!’ dachte er verzweifelt. ‚Ich will das nicht noch einmal durchmachen!’
    Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen und er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er biss die Zähne aufeinander und ging heftig schluckend dagegen an.


    Doch plötzlich verspürte er, wie trotziger Zorn in ihm aufwallte. Mit einer wütenden Geste strich er sich über die Augen, öffnete sie und warf einen entschlossenen Blick an die Decke.
    „Nein!“ sagte er laut. „Nein! Ihr bekommt mich nicht noch mal klein… Diesmal nicht!“
    Er gab sich einen Ruck, ging zum Waschbecken und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Während er das Handtuch, mit dem er sein Gesicht getrocknet hatte, weglegte, richtete er seinen Blick in den Spiegel. Fest sah er sich in die Augen.


    „Dieses Mal nicht!“ wiederholte er mit entschlossener Stimme und seine Miene wurde zu einer undurchdringlichen Maske…
    Jener ausdruckslosen Maske, die nichts von seinem Inneren zeigte,… keine Gefühle,… keine Emotionen…
    Jener regungslosen Maske, die anderen das Gefühl vermittelte, als ob nichts von außen an ihn herankommen könnte,… die ihm Schutz bot,… die ihm Sicherheit gab…
    Die Maske seines alten ‚Ich’…

  • Chris verließ das Badezimmer und nach einem kontrollierenden Blick auf Jakob und Johanna, die noch immer friedlich schliefen, ging er aus dem Zimmer. Das erste, was ihm auffiel, war, dass der Stuhl, auf dem eigentlich der Polizist sitzen sollte, leer war.
    Grimmig schaute er sich um und entdeckte ihn lässig an der Tür zum Schwesternzimmer gelehnt. So wie es aussah, unterhielt er sich heftig flirtend mit einer Person, die sich dort drin befand.


    Als Chris sich mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper auf den Beamten zu bewegte, erinnerte er an einen gereizten Stier, der mit senkten Hörnern auf die rote Muleta des Toreros losging.
    Kaum das er hinter dem jungen Mann stand, fauchte er: „Ist das hier etwa Ihre Vorstellung von Personenschutz?“
    Wie von einem Stromschlag getroffen, zuckte der Beamte zusammen und fuhr stolpernd herum. „Ich… Ja… ähm… Nein! Ich meinte nein!… Es war nur…“, stotterte er, wobei seine Gesichtsfarbe zwischen kalkweiß und tomatenrot hin und her wechselte.


    „Es war nur was?“ wollte Chris mit einem unterschwelligen Knurren in der Stimme wissen. Dabei stemmte er seine Hände an die Hüfte und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen, in denen es gefährlich aufblitzte.
    Nervös nestelte der Polizist an seiner Jacke und rückte seine Pistole im Holster zurecht. „Ich, ähm…, nun ja,…“, haspelte er, „ähm,… es war alles ruhig und ich, ähm,…ja, ich wollte mir nur etwas die Beine vertreten.“
    „Ach…“, die Verachtung in Chris Worten war nicht zu überhören, „… und während Sie sich hier die Beine vertreten, konnte jeder x-Beliebige in den Zimmern, die Sie eigentlich in Auge behalten sollten, ein und aus gehen!“
    „Aber Ihren Kindern konnte doch nichts geschehen. Sie waren doch die ganze Zeit bei Ihnen!“ versuchte sich sein Gegenüber zu rechtfertigen.


    Zorn loderte in Chris’ Miene auf, als er einen Schritt auf den jungen Mann zu tat, sich nach vorn beugte und aufgebracht zischte: „Seit zwei Tagen habe ich so gut wie gar nicht geschlafen, da man mir meine Kinder entführt hatte. Glauben Sie allen Ernstes, ich würde auch noch eine dritte Nacht wach bleiben? Und das, obwohl ich mich doch eigentlich mich darauf verlassen dürfte, das der abgestellte Polizist dafür sorgt, das mir und meinen Kindern nichts passiert?… Glauben Sie nicht, ich hätte auch mal ein paar Minuten Ruhe verdient?“
    Der Beamte schluckte schwer.


    Seine Wut nur schwer unterdrückend, fügte Chris mahnend hinterher: „Und außerdem: Was ist denn mit meinem Neffen? Haben Sie nur einen Augenblick mal daran gedacht?“
    Dem unerfahrenen Polizisten, der während Chris’ Worten immer kleiner geworden war, wurde anscheinend erst jetzt klar, welchen groben Fehler er begangen hatte. Betreten schaute er zu Boden. „Es tut mir leid!“ nuschelte er leise.


    In Chris’ Augen funkelte es zwar immer noch ärgerlich auf, aber sein Ton war etwas milder, als er sagte: „Das nächste Mal, wenn Sie sich die Beine vertreten, behalten Sie das Objekt, welches sie bewachen sollen, im Auge und drehen ihm nicht den Rücken zu. Verstanden?“


    Statt einer Antwort bekam Chris ein eifriges Nicken. Mit einer harschen Kopfbewegung schickte er ihn zurück auf seinen Posten und schnell entfernte sich der Mann. Erleichtert darüber, mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein, ließ er sich auf den Stuhl plumpsen. Doch sofort setzte er sich kerzengerade hin, um den Eindruck von höchster Wachsamkeit zu erwecken.


    Chris wandte sich an die attraktive Nachtschwester und ohne ihren tadelnden Gesichtsausdruck zu beachten, fragte er: „Wie geht es meinem Neffen?“
    Für einen Augenblick hatte Chris den Eindruck, die Schwester wollte ihm ein paar unschöne Worte wegen seines Auftretens an den Kopf knallen. Denn in ihren blaugrauen Augen war deutlich Mitgefühl für den Gerügten und unterdrückter Zorn auf ihn zu erkennen. Doch dann richtete sie ihr Augenmerk auf eine Tabelle über ihrem Schreibtisch, in der alle Vorkommnisse der Nacht eingetragen waren.


    Nach einem kontrollierenden Blick gab sie ihm zur Auskunft: „Ihr Neffe hatte eine ruhige Nacht.“ Während sie sich mit ihrem Stuhl zu ihm herum drehte, fügte sie hinzu: „Es gab keinerlei Probleme. Vor circa zwanzig Minuten war ich bei ihm und alle Werte waren ok. Er müsste eigentlich nachher aufwachen. Wenn Sie möchten, können Sie gern zu ihm hinein gehen.“


    Chris nickte: „Danke! Ich werde kurz nach ihm schauen. Dann gehe ich zu meiner Schwester. Könnten Sie mich rufen lassen, wenn meine Kinder oder mein Neffe wach werden?“
    „Ja, mache ich“, antwortete die Krankenschwester und machte sich eine Notiz. „Ich werde auch der nächsten Schicht Bescheid geben, da ich gleich Feierabend habe. Man wird Sie auf jeden Fall informieren.“


    Wortlos bedankte sich Chris mit einem weiteren Nicken und nachdem er bei Richard vorbeigeschaut hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Schwester Gaby…

  • Vor nicht ganz einer halben Stunde hatte Schwester Ursula, eine kleine, etwas matronenhaft wirkende Mittfünfzigerin, bei ihrem Kontrollgang bemerkt, das die Patientin kurz davor war, aufzuwachen. Sie hatte den Dienst habenden Arzt gerufen und nachdem er die Vitalwerte der Frau kontrolliert hatte, waren sie überein gekommen, dass es das Beste wäre, wenn sie die Geräte entfernen würden.
    Die meisten Patienten reagierten mitunter mit Stress, wenn sie beim Aufwachen das Piepen des Monitors hörten und die vielen Kabel spürten. Hin und wieder gab es auch Patienten, die regelrechte Panikattacken bekamen!


    Schwester Ursula war gerade dabei, die Kabel aus den Haftkontakten, die auf der Haut der Frau angebracht waren, zu lösen. Einen nach dem anderen zog sie vorsichtig aus den Halterungen und legte sie sorgsam über das Gerät.
    Hin und wieder bewegte sich die Frau leicht im Schlaf. Dann unterbrach sie kurz ihre Tätigkeit, legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und sprach leise und beruhigend mit ihr. Dabei schweifte ihr geschulter Blick über das schlafende Gesicht der Patientin.


    Über Nacht waren die Schwellungen etwas zurück gegangen und die Wunde auf der Stirn zeigte keinerlei Entzündungssymptome mehr. Auch das Fieber hatte sich gesenkt und pendelte sich langsam wieder bei normalen Werten ein. Dafür traten die blauen Flecken immer deutlicher hervor und die Verbände an den Handgelenken mussten auf jeden Fall auch wieder gewechselt werden.


    Der Krankenakte hatte sie entnommen, was mit der Frau geschehen war. In ihren mehr als dreißig Jahren als Krankenschwester hatte Schwester Ursula schon viel Elend gesehen und das meiste davon berührte sie nicht mehr. Sie hatte gelernt, diese Dinge nicht an sich heran zu lassen.


    Was sie jedoch noch immer schockierte, war, wenn sie die Verletzungen von Gewalteinwirkungen sah, die Schwächeren, sprich Frauen oder Kindern, zugefügt wurden. Sie würde es nie begreifen, warum stärkere Menschen ihre vermeintliche Macht über jemand anderen, immer durch Gewalt beweisen mussten!


    Sie hatte oft beobachten können, wie diese Opfer litten… und das nicht nur körperlich! Diese Art vonWunden und Verletzungen konnten mit Hilfe von Verbänden, Pflastern oder Salben im Laufe der Zeit geheilt werden. Manchmal blieben auch unschöne Narben zurück, aber für viele der Verletzten war das nur zweitrangig. Die meisten von ihnen waren einfach nur froh, noch am Leben zu sein...


    Was jedoch viel schlimmer wog, und das wusste sie aus jahrelanger Erfahrung, waren die seelischen Schäden. Diese Wunden brauchten viel Zeit und Geduld, bis sie verheilten! Die Narben, die sie bei einigen Menschen zurückließen, waren oftmals nur noch böse Erinnerungen.
    Bei manchen Menschen heilten diese Wunden jedoch nie… und diese Menschen waren für den Rest ihres Lebens gekennzeichnet!


    Nachdem Schwester Ursula das letzte Kabel gelöst hatte, schob sie den Wagen mit dem Überwachungsgerät an die Seite. Sie warf einen prüfenden Blick auf den Tropf, der am Bettgalgen hing, und stellte fest, das dieser fast leer war.
    „Ich hole Ihnen mal eben eine neue Infusion“, sagte sie im lockeren Plauderton und berührte die Frau am Arm. „Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
    Mit einem leisen Seufzen bewegte sich die Patientin etwas, schlief aber weiter.


    Lächelnd verließ die Schwester das Zimmer und nickte dem netten Polizisten, der bereits die ganze Nacht vor der Tür saß, freundlich zu. Sie mochte den Mann, der ungefähr ihr Alter zu haben schien.
    ‚Er hat so etwas Beschützendes… so etwas Ritterliches an sich!’ schwärmte sie in Gedanken und hoffte, das sie nicht rot würde.
    Schnell fragte sie: „Möchten Sie noch einen Kaffee?“, bevor sie weiterging.


    Ein dankbares Lächeln breitete sich über das Gesicht des Beamten aus. „Oh,… dazu sage ich nicht nein! Zwar kommt gleich meine Ablösung, aber so lange muss ich ja noch irgendwie wach bleiben“, schmunzelte er und zwinkerte ihr zu. Dann bückte er sich, griff nach der Tasse, die er unter seinem Stuhl auf den Boden abgestellt hatte und bewegte sich mit schnellen Schritten hinter der Krankenschwester her.


    Am Schwesternzimmer angekommen, nahm Schwester Ursula die Tasse entgegen und füllte sie mit heißem Kaffee auf. Dann reichte sie dem Polizisten, der im Gang geblieben war und seinen Blick ständig hin und her schweifen ließ, das Gefäß hinaus.
    „Müssen Sie noch mal zurück in das Zimmer?“ fragte er, während er einen vorsichtigen Schluck nahm. Seine Augen leuchteten hoffnungsvoll.
    „Ja,“, antwortete Schwester Ursula und ihr Herz machte einen kleinen Freudenhüpfer. „Ich muss nur schnell eine neue Infusion holen.“


    Schnell verschwand sie in den Nebenraum und entnahm dem Medikamentenschrank eine Plastikflasche mit klarer Infusionslösung. Dabei umspielte ein schulmädchenhaftes Grinsen ihre Mundwinkel.
    ‚Du wirst Dich doch nicht etwa…’, schalt sie sich selbst in Gedanken und schüttelte verständnislos den Kopf. ‚Und das in Deinem Alter…! Benimmst Dich hier wie ein Teenager!’
    Nachdem sie den Schrank abgeschlossen hatte, betrachtete sie sich einen Moment in der milchigen Glasscheibe. Einen prüfenden Blick auf ihre Haare werfend, zupfte sie ein, zwei Strähnen zurecht und strich sich anschließend über ihren weißen Kittel.
    ‚Du siehst gut aus!’ bestätigte sie sich selbst und lächelte die Reflexion an.


    Dann ging sie auf den Gang und gemeinsam mit dem Polizisten machte sie sich auf dem Weg zurück. Unterwegs überlegte sie fieberhaft, welche unverfängliche Frage sie ihm stellen könnte. Doch es wollte ihr beim besten Willen keine einfallen!
    Vor der Tür angekommen, warf sie ihm einen verhaltenen Blick zu und für einen verzauberten Moment trafen sich ihre Augen mit den seinen. Ein Funke sprang über und sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. In sich hinein kichernd, wandte sie sich schnell um und verschwand hinter der Tür.


    „So, da bin ich wieder“, gluckste Schwester Ursula verhalten. Sie fühlte sich plötzlich wie ein junges Mädchen…
    Mit routinierten Handgriffen wechselte sie die Infusion und drehte so lange an dem Regler, bis die klare Lösung im richtigen Tempo vor sich hintröpfelte.
    Seit sie das Zimmer betreten hatte, bewegte sich die Patientin wieder unruhig hin und her und murmelte leise in ihrem Schlaf: „Chris… Chris, wo bist Du?“


    Obwohl die Worte kaum vernehmbar und mit einem Zittern in der Stimme gesprochen wurden, konnte die Krankenschwester jedes Einzelne verstehen. Aus einer Notiz in der Akte wusste sie, das es sich bei dem erwähnten Namen um den Bruder handelte und sich dieser ebenfalls hier im Krankenhaus befand.
    Behutsam legte sie der Frau eine Hand auf den Arm. „Ganz ruhig. Ihr Bruder ist auch hier. Wenn Sie wollen, hole ich ihn her.“
    Ein weiteres Murmeln war die Antwort und Schwester Ursula wollte sich gerade umdrehen, als hinter ihr eine raue Stimme zu hören war: „Ich bin schon da.“


    Erschrocken zuckte die Krankenschwester zusammen und schaute mit großen Augen auf die Person, die plötzlich neben ihr stand. Sie hatte ihn nicht reinkommen hören und mit seinem ungepflegtem Äußeren wirkte der schlanke Mann nicht sehr vertrauenswürdig. Unter anderen Umständen hätte sie jetzt bestimmt den Sicherheitsdienst gerufen!
    Aber eine gewisse Ähnlichkeit, die zwischen den beiden nicht zu leugnen war, sowie die Art, wie der Mann mit seinen grün-braunen Augen voller Sorge und Furcht auf die Frau im Bett sah, zweifelte Schwester Ursula nicht einen Augenblick daran, dass dies der Bruder war.


    „Wie geht es ihr?“ erkundigte sich er sich mit rauer Stimme und mit langsamen Schritten bewegte er sich um das Bett herum, bis er ihr gegenüber auf der anderen Seite des Bettes stand.
    In kurzen, knappen Sätzen beschrieb die Krankenschwester die Situation und schloss mit den Worten: „… Sie wird bestimmt jeden Moment wach. Allerdings ist sie sich noch nicht sicher, ob sie das möchte. Daher ihre Unruhe. Aber nach einem solch traumatischen Erlebnis ist das durchaus normal.“


    Sie hielt kurz inne und beobachtete, wie der Mann vorsichtig die Hand der Patientin in die seine nahm. Er schien unsicher zu sein, denn sein Blick schweifte ständig zwischen ihrem Gesicht und dem Tropf hin und her. Daher ermutigte sie ihn mit einem Lächeln: „Am besten ist es, wenn Sie mit ihr reden. Dann wird sie ruhiger und es fällt ihr leichter.“


    Zögerlich nickte der Bruder und nagte verhalten an seiner Unterlippe. Doch er schien nicht recht überzeugt zu sein. Nach einer Weile fragte er leise: „Kann ich ein paar Minuten mit ihr allein sein?“
    „Aber sicher!“ lächelte Schwester Ursula und zog sich aus dem Zimmer zurück…

  • Erneut redete Gaby im Schlaf und fragte ängstlich nach Chris. Ohne das Bett zu erschüttern, setzte sich Chris neben seine Schwester. Ihre rechte Hand, die er noch immer hielt, legte er auf seine Brust in die Nähe seines Herzens. Sie sollte seinen Herzschlag spüren und fühlen, das er wirklich bei ihr war.
    Darauf achtend, das er ihr nicht wehtat, beugte er sich behutsam vor.


    „Hallo Schwesterherz!“ flüsterte er und gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn. „Keine Angst! Ich bin jetzt bei Dir!“
    Mit einer sanften Geste streichelte er über ihr Gesicht und ließ schließlich seine Hand auf ihrer Wange ruhen. Tatsächlich schien Gaby seine Anwesenheit zu bemerken, denn Chris fühlte, wie sie vertrauensvoll ihren Kopf in seine Hand lehnte. Mit einem leichten Seufzer murmelte sie: „Chris…“
    „Ja,…“, atmete Chris unbewusst erleichtert aus, „…ich bin hier.“


    Mit seinen Blicken beobachtete er, wie sich Gabys Miene entspannte und ihre Atmung gleichmäßiger wurde. Auch ihr Schlaf wurde ruhiger und Chris meinte sogar, dass sich ein Hauch von einem leisen Lächeln um ihre Mundwinkel schlich.
    Deshalb verharrte er einige Minuten in dieser Position und während er hin und wieder mit seinem Daumen über ihren Wangenknochen strich, sprach er leise mit ihr: „Alles ist gut… Du bist in Sicherheit… Dir kann nichts mehr geschehen… Auch die Kinder sind wohlauf und es geht ihnen gut… Sie freuen sich schon darauf, Dich zu sehen!“


    In den Minuten, in denen Chris seine leise, einseitige Zwiesprache mit seiner Schwester hielt, regten sich widersprüchliche Gefühle in ihm. Zum einen spürte er grenzenlose Erleichterung, das er bei seiner Schwester sein konnte. Er fühlte das alte Grundvertrauen, das immer zwischen ihnen geherrscht hatte. Ein Vertrauen, welches ihm so oft geholfen hatte und ihm Kraft gegeben hatte.


    Es erfüllte ihn mit Glück, als er nun sah, wie er Gaby mit diesem Vertrauen helfen konnte. Außerdem tat es ihm gut zu sehen, das er durch seine Anwesenheit ihr etwas von dem wiedergeben konnte, was sie ihm während seiner dunklen Zeit oft genug geschenkt hatte: Das Wissen, dass jemand für einen da ist und das Gefühl nicht allein zu sein!


    Doch es regten sich auch leise Zweifel und aufkeimende Wut in ihm.
    In seinen Zweifeln fürchtet er sich vor der Reaktion seiner Schwester, wenn sie gleich aufwachte. Würde sie ihn mit anklagenden Augen anschauen? Würde sie ihm Vorwürfe machen? Würde sie ihm die Schuld an allem geben?


    Gleichzeitig er war wütend,… wütend auf sich selbst! Er hätte auf sein ungutes Gefühl hören sollen, welches er Tage vorher verspürt hatte. Er hatte geahnt, das etwas unheilvolles in den Luft lag, doch er hatte sich von dem Gerede um Vertrauen und dem scheinbaren Gefühl von Sicherheit einlullen lassen. Wie dumm war er doch gewesen! Das durfte und würde ihm nicht noch einmal passieren, schwor er sich in Gedanken.


    Und er hatte Angst davor, sich seiner Schwester rechtfertigen zu müssen: Warum war er nicht früher gekommen? Warum hatte er die versteckte Nachricht nicht eher entdeckt? Warum hatte er sie nicht beschützt? Warum mussten sie und die Kinder all das Schreckliche durchmachen, obwohl doch Chris derjenige war, den die Gangster treffen wollten?


    Es waren Vorwürfe, die er sich selbst machte und automatisch war er sich sicher, das Gaby genauso denken würde. Seine Gedanken drehten sich ständig im Kreis und je länger er nachdachte, desto größer und schmerzhafter wurden seine Zweifel.
    Für den Bruchteil einer Sekunde spielte er mit dem Gedanken, diesen Vorhaltungen aus dem Weg zu gehen und zurück zu den Kindern zu gehen, als sich Gabys Lider mit einem Flattern langsam hoben. Jetzt gab es für ihn kein Zurück mehr und ohne das er es merkte, hielt er nervös den Atem an.


    Zuerst schaute Gaby etwas desorientiert, doch dann fokussierte sie ihren Blick auf ihn. Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ihn erkannte.
    „Chris!“ flüsterte sie freudig, während sie für einen kurzen Moment erneut die Augen schloss und ihren Kopf noch mehr in seine Hand schmiegte.


    Chris streichelte zärtlich mit dem Daumen über ihr Antlitz und drückte sanft ihre Hand. Erleichtert darüber, ihre Stimme zu hören, stieß er den angehaltenen Atem aus und holte tief Luft. Eine warme Welle von unbeschreiblichem Glück durchflutete ihn. Er wollte etwas zu ihr sagen, etwas tröstliches,… etwas aufmunterndes,… doch seine Stimme versagte ihm schlichtweg den Dienst. Statt dessen erwiderte er einfach ihr Lächeln und sah sie liebevoll an.



    Sekundenlang sprach keiner der beiden ein Wort. Sie genossen die beruhigende Anwesenheit des anderen und das stärkende Bewusstsein, nicht allein zu sein. Sie spürten, wie sie sich gegenseitig neue Kraft und Energien gaben und fühlten sich durch die sanften Berührungen geborgen.
    Nach einer Weile entfernte Chris seine Hand behutsam von ihrem Gesicht, strich ihr eine Strähne aus der Stirn und umfasste anschließend ihre rechte Schulter.


    Währenddessen beobachtete er Gabys Mimik genau und er stellte mit wachsender Sorge fest, wie ihr Lächeln langsam erstarb. Dafür zogen sich die Augenbrauen immer mehr zusammen und ihre Stirn legte sich in immer mehr Falten. Schließlich räusperte sich Chris kaum hörbar und fragte zögerlich: „Wie fühlst Du Dich?“


    Sie öffnete ihre Augen und schaute ihn mit einem zurückhaltenden Blick an, den er im ersten Augenblick nicht deuten konnte.
    War es Schmerz, den er dort sah?… Oder war es Enttäuschung?
    War es verhaltene Wut, die er kurz aufleuchten sah?… Oder war es Traurigkeit?
    War es Angst, die dort aufflackerte?… Oder war es vielleicht auch Hoffnung?


    Chris war verunsichert und wartete mit pochendem Herzen auf ihre Antwort. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Gaby endlich sagte: „Es geht so…“
    Ihr ein Lächeln schenkend, versuchte Chris sie aufzumuntern: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Das verspreche ich Dir!“
    Hoffnungslos sah sie ihn an. „Ach Chris,…“, war ihre teilnahmslose Antwort.
    Besorgt warf Chris ihr einen Blick zu. „Hey!“ sagte er schließlich und versuchte ihr ein weiteres Lächeln zu schenken. „Du brauchst keine Angst mehr haben. Du bist in Sicherheit! Alles ist gut!“


    Von einem Augenblick auf den nächsten verdunkelte ein trauriger Schatten Gabys Gesicht und sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
    „Nein, Chris,…“, hauchte sie mit versagender Stimme, „… nichts ist gut. Und es wird auch nie wieder gut werden!“

  • Chris richtete sich etwas auf und sein Gesichtsausdruck brachte seine Verwirrung zum Ausdruck. Nicht wissend, was Gaby meinte, schaute er seine Schwester ratlos an. Plötzlich sah er Tränen in ihren Augen schimmern und bemerkte ihren verzweifelten Kampf gegen sie anzugehen.
    Sie entzog ihm ihre Hand und bedeckte damit ihre Augen. Ein unterdrücktes Schluchzen erklang aus ihrer Kehle und die folgenden Worte kamen mit einem Beben über ihre Lippen: „Wie soll ich denn je wieder glücklich werden, nachdem man mir meinen Sohn genommen hat?“


    Dicke Tropfen der salzigen, klaren Flüssigkeit kullerten unter ihrer Hand hervor, rollten über ihr Gesicht und fielen mit einem leisen ‚Plop’ auf das Kissen.
    „Warum, Chris, warum?“ klagte sie mit erstickender Stimme. „Warum haben die nicht mich bestraft? Ich war doch diejenige, die sich nicht an die Regeln gehalten hat… Warum haben die Richard für meinen Fehler büßen lassen?… Warum?… Kannst Du mir das sagen!?“


    Chris musste schwer schlucken, als er ihren verzweifelten Unterton bemerkte. Ein Stich durchzuckte seine Seele und er war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte mit bitteren Vorwürfen, mit schweren Anschuldigungen oder berechtigten Vorhaltungen gerechnet. Doch nie hätte er erwartet, das sich Gaby selbst die Schuld an allem, was geschehen war gab! Schmerzerfüllt blickte Chris seine Schwester an und fieberhaft suchte er nach tröstenden Worten.


    Doch plötzlich fiel ihm siedendheiß ein, das sie ja noch gar nicht wissen konnte, dass Richard noch lebte! Sie hatte ja gar nichts davon mitbekommen!
    „Gaby, Richard ist nicht tot!“ sagte Chris schnell, doch es kam keine Reaktion von ihr. Sie schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben. Entschlossen umfasste er mit beiden Händen ihre Schultern.
    „Gaby, sieh mich an!“ kam es nun etwas fordernder über seine Lippen. „Sieh mich an und hör mir zu!“


    Wie in Zeitlupe entfernte Gaby ihre Hand und öffnete die Augen. Zögerlich hob sie die Augen und richtete ihren Blick auf ihn.
    Fest schaute Chris seine Schwester an und wiederholte mit einem leichten Kopfschütteln: „Gaby,… Richard ist nicht tot!“
    Zuerst zeigte Gaby keinerlei Reaktion, sondern starrte ihren Bruder nur verständnislos an. Doch dann zeichnete sich Unglaube auf ihrer Mimik ab. Deutlich war zu sehen, wie sehr sie an seinen Worten zweifelte.


    Doch Chris fuhr bereits fort: „Du musst mir glauben! Er lebt! Ich war eben noch bei ihm und es geht ihm gut.“
    „Aber… aber ich habe ihn sterben sehen“, stammelte Gaby verwirrt. „Ich war dabei. Ich habe ihn berührt. Er war tot… Wie kannst Du jetzt behaupten, dass er noch lebt?“
    Noch während Gaby ihre Skepsis zum Ausdruck brachte, schüttelte Chris vehement seinen Kopf. „Nein, Gaby, er lebt!“ versicherte er ihr. „Man hat Dich und uns glauben lassen, das sie Richard umgebracht haben. Aber in Wirklichkeit haben sie ihm ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt.“
    Das Detail, dass an Richard Experimente durchgeführt wurden und vor allem, von wem, verschwieg er ihr. Er wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten.


    Forschend glitt Gabys Blick über Chris’ Gesicht. Irgendwie erwartete sie, das Chris sie mit seinen Worten nur vertrösten oder hinhalten wolle. Doch sie konnte in Chris’ Miene keinerlei Falschheit oder trügerischen Absichten erkennen. Sie suchte nach Anhaltspunkte für den Wahrheitsgehalt der Nachricht, die sie gehört hatte…
    Letztendlich waren es Chris’ strahlende Augen, die ihre Zweifel zum bröckeln brachten und Hoffnung glimmte in ihr auf.


    „Wirklich?… Richard ist nicht tot?“ wollte sie wissen und wagte es kaum zu atmen.
    Chris’ Augen leuchteten auf. „Du kannst es mir ruhig glauben. Dein Sohn ist wohlauf und es geht ihm gut!“ beteuerte er erleichtert lachend seiner Schwester. „Er ist sogar hier im Krankenhaus,… eine Station tiefer.“
    Endlich schenkte Gaby ihrem Bruder Glauben und erwartungsvoll fragte sie: „Er ist hier? Kann ich zu ihm? Kann ich ihn sehen?“
    „Ja, aber sicher doch. Später kannst Du ganz bestimmt zu ihm“, versprach Chris. „Doch zuerst musst Du zu Kräften kommen und dann…“
    Entschieden schüttelte Gaby den Kopf: „Nein, Chris, nicht später… Jetzt!“


    Ihre Worte waren fordernd und Chris wusste: Wenn er Gaby weiter vertröstete, würde sie einen anderen Weg finden, um zu ihrem Sohn zu gelangen. ‚Der typische Rittersche Dickschädel’, dachte Chris amüsiert bei sich und hob beschwichtigend die Hände.
    „OK, ich werde sehen, was ich arrangieren kann“, gab er lächelnd klein bei.


    Im selben Moment klopfte es an die Tür und Schwester Ursula steckte ihren Kopf herein: „Herr Ritter, ich hatte gerade einen Anruf von Station sechs. Ich soll Ihnen Bescheid geben, das ihre Kinder soeben wach geworden sind.“ Sie bemerkte, das Gaby nicht mehr schlief war und kam zu ihr ans Bett.
    „Oh, ich sehe, sie sind auch wach“, sagte sie, während sie mit einer Hand den Puls fühlte. Dann legte sie Gaby prüfend eine Hand auf die Stirn. Nach einigen Sekunden lächelte sie zufrieden: „Schön,… Ihnen scheint es den Umständen gut zu gehen. Haben Sie Schmerzen?“
    Gaby verneinte mit einem Kopfschütteln.
    Zufrieden nickte die Schwester: „Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Der Arzt wird später während der Visite nach Ihnen schauen.“
    Sie warf einen kurzen, prüfenden Blick zum Tropf, nickten den beiden zuversichtlich zu und verließ das Zimmer. Chris, der ihr nachdenklich nachgeschaut hatte, setzte sich plötzlich in Bewegung und lief hinter ihr her.


    Irritiert lag Gaby in ihrem Bett und wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Zu viele verwirrende Eindrücke waren innerhalb kürzester Zeit auf sie eingestürzt und vieles davon konnte sie immer noch nicht glauben. Allein der Gedanke, das Richard wirklich noch leben sollte, erschien ihr irreal. Sie wusste, das sie ihren Sohn erst sehen und in ihrem Arm halten musste, um es endgültig glauben zu können…


    Langsam, und nicht ohne das eine oder andere verhaltene Stöhnen von sich gebend, setzte sie sich in ihrem Bett aufrecht hin und lauschte. Sie hörte Chris vor der Tür mit jemanden reden. Als er nach einer geraumen Zeit wieder zu ihr in den Raum kam, sah sie ihn fragend an. Auf seinem Gesicht war ein zufriedenes Lächeln zu sehen und er rieb sich die Hände.
    „Ich habe mit der Krankenschwester geredet und sie überzeugen können, das Du zu Richard gebracht wirst“, strahlte er sie an. „Sie bringt gleich einem Rollstuhl und dann kannst Du zu deinem Sohn!“


    Wortlos ergriff Gaby Chris’ Arm, zog ihn näher zu sich heran und umarmte ihn. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter und als er ihre Umarmung erwiderte, war ein befreites Aufatmen von ihr zu hören. „Danke, Chris!“ flüsterte sie an seinem Ohr. Stumm drückte Chris seine Schwester noch ein kleines bisschen fester.

  • Minuten später kam Schwester Ursula mit einem Rollstuhl und einem dicken Morgenmantel zurück. Gemeinsam mit Chris halfen sie Gaby in das Kleidungsstück und setzten sie in das Gefährt.
    Chris ließ es sich nicht nehmen, seine Schwester persönlich den Gang hinunter zum Fahrstuhl zu schieben.


    Während sie auf den Aufzug warteten, beobachtete er, wie Gabys Anspannung wuchs. Ihre zitternden Hände lagen fest ineinander verschlungen auf ihrem Schoß und ihr rechtes Bein wippte unruhig. Besänftigend legte er eine Hand auf ihre Schulter und als sich kurz darauf die Tür vom Lift öffnete, hatte zumindest das Wippen des Beines aufgehört.
    Kaum war er mit ihr eine Station tiefer ausgestiegen, lenkte er den Rollstuhl direkt zu Richards Zimmer.


    Als sie in den Raum traten, sahen sie einen junger Pfleger, der neben Richards Bett stand und den Puls des Jungen kontrollierte. Richard, der in einer halbaufrechten Position saß, blickte neugierig an dem Pfleger vorbei, als er ein Geräusch an der Tür hörte. Kaum erkannte er seine Mutter, rief er lachend: „Mama!“


    Am liebsten wäre er aus dem Bett gehüpft und zu seiner Mutter gelaufen. Aber der Pfleger hatte so etwas geahnt und ließ sein Handgelenk nicht los.
    „Hey, hey, junger Mann! Ganz langsam… Du bist noch recht wackelig auf den Beinen! Schon vergessen?“ erinnerte er ihn mit mahnender Stimme, aber auf seinem Gesicht war auch Verständnis zu sehen. Nach einem aufmunternden Klaps auf den Rücken des Jungen machte er den Weg frei, so das Chris den Rollstuhl neben das Bett fahren konnte.


    Sofort warfen sich Mutter und Sohn in die Arme. Während Gaby mit sanften Bewegungen ihren Sohn hin und her wiegte, begannen ihre Sinne alle Signale aufzufangen, die sie imstande waren zu erfassen:
    Sie sah seine vertraute Miene und hörte seinen Atem an ihrem Ohr…
    Sie spürte seine Berührungen an ihrem Gesicht und fühlte seinen warmen Körper…
    Sie nahm seinen kräftigen Herzschlag wahr und roch seinen für ihn typischen Geruch…


    Wieder und wieder strich sie mit ihren Händen durch Richards Haare und über seinen Rücken. Dadurch wurde ihr immer mehr bewusst, das sie wirklich ihren Sohn in den Armen hielt und das ihr Kind noch lebte!
    Fest umschlang Gaby ihren Sohn, atmete voller Freude tief ein und schloss dankbar die Augen: „Oh Richard!… Du lebst… Du lebst wirklich!“


    Ihre betrübte Seele wurde leicht und sie spürte, wie sich das Gefühl, von einem inneren Druck befreit zu werden, in ihr ausbreitete. Alle traurigen Emotionen,… der Schmerz,… die Trauer,… die Angst,… die Sorgen…, die sich wie schwere Eisenketten um ihr Herz gelegt und sie fast erdrückt hatten, wurden mit einem erlösenden Schluchzer weggesprengt. Alles Negative fiel von ihr ab und sie konnte ihren Freudentränen keinen Einhalt mehr gebieten. In Strömen liefen sie über ihre Wangen.


    Nach einigen Minuten löste sich Richard etwas aus ihrer Umarmung und sah seine Mutter an. Während seine Augen über ihr Gesicht wanderten und er ihre Verletzungen betrachtete, nahm Gaby sein Gesicht in ihre Hände und streichelte es sanft.
    „Geht es Dir gut?“ wollte sie besorgt wissen.
    Richard nickte, hob langsam seine rechte Hand, um ihr behutsam ein paar Tränen wegzuwischen und meinte lakonisch: „Mama, natürlich geht es mir gut! Ich habe doch die ganze Zeit geschlafen.“


    Unwillkürlich musste Gaby unter ihren Tränen auflachen. Erleichtert nahm sie ihren Sohn noch einmal fest in den Arm und seufzte leise: „Ach, Richard, ich bin so froh, das Du wieder bei mir bist. Ohne Dich wäre mein Lebens nichts mehr wert gewesen.“
    „Was ist denn mit Jakob und Johanna?“ wollte Richard plötzlich wissen. „Weißt Du wo sie sind?“
    Verneinend schüttelte Gaby den Kopf und meinte: „Am besten fragst Du Onkel Chris. Der weiß es bestimmt.“


    Dabei wandte sie ihren Kopf in die Richtung, in der sie ihren Bruder vermutete. Doch Chris war nicht zu sehen. Irritiert schaute sie sich im Zimmer um.
    Bevor sie sich jedoch weitere Gedanken um seinen Verbleib machen konnte, klopfte es an der Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging diese auf und Johanna kam herein gelaufen.
    „Tante Gaby!… Richard!“ rief sie jubelnd und schlang ihre Arme und die beiden.
    Dicht hinter ihr betraten Jakob und Chris das Zimmer. Auch Jakob begrüßte seine Tante und seinen Cousin mit einem Strahlen in den Augen.


    Es wurde ein freudiges Wiedersehen und nach einigen Minuten fingen die Kinder an, sich gegenseitig auszufragen. Die drei saßen auf Richards Bett und erzählten sich freimütig, wie sie das Geschehene erlebt hatten.
    Chris, der etwas abseits stand, beobachtete die Szene mit einem stillen Lächeln. Nachdem er eine ganze Weile zugehört hatte, atmete er erleichtert auf. Das die Kinder so unverfangen über die Ereignisse sprachen, machte ihm Mut und gab ihm Hoffnung.
    ‚Vielleicht wird doch wieder alles so wie früher’, dachte er mit einem Anflug von Optimismus bei sich.


    Schließlich trat er hinter seine Schwester und legte seine Hände auf ihre Schultern. Mit einem erschöpften, aber glücklichen Lächeln lehnte sie ihren Kopf an ihn und schaute zu ihm auf. Mit ihren Lippen formte sie das Wort ‚Danke’ und nachdem er ihr zugezwinkert hatte, drückte Chris sie sanft.


    Eigentlich hatte er Schwester Ursula versprochen, Gaby nach dem Besuch bei ihrem Sohn wieder zurück auf die Station zu bringen, da sie dringend weitere Ruhe benötigte. Aber als er ihre leuchtenden Augen, ihre zufriedene Miene und das leise, beständige Lächeln sah, brachte er es nicht übers Herz, sie aus dieser friedlichen Situation heraus zu reißen.


    Als eine halbe Stunde später die Stationsschwester zu ihnen kam, überzeugte er sie mithilfe der bettelnden Blicke der Kinder davon, das sie alle in einem Zimmer unterkamen. Nachdem der Raum, in dem vorher Jakob und Johanna unterbracht waren, hergerichtet war, wurden sie dorthin verlegt und gemeinsam nahmen sie das Frühstück ein, welches man ihnen kurz darauf brachte.


    Um viertel nach acht begann sich Chris schweren Herzens von den Kindern zu verabschieden. Zum Schluss setzte er sich auf das Bett, in dem Gaby lag und nahm ihre rechte Hand.
    „Euch kann hier nichts passieren“, versicherte er ihr und drückte zu Bestätigung ihre Hand. „Ein Polizist wird immer vor Eurer Tür stehen und auf Euch aufpassen. Sobald ich bei Gericht fertig bin, komme ich zurück. Das verspreche ich Dir!“


    Gaby blickte ihren Bruder eine Weile stumm an, dann hob sie ihre linke Hand und berührte seine Wange. Sie spürte die harten Bartstoppeln und reagierte mit einem Naserümpfen.
    Unwillkürlich musste Chris innerlich auflachen… Gaby hasste Bartstoppeln!
    „Versprich mir lieber, das Du Dich rasierst, bevor Du zurück kommst“, ermahnte sie ihn mit einem schiefen Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst, sah ihn nachdenklich an und flüsterte: „Geh, und führe Bernds Mörder seiner gerechten Strafe zu. Damit Du endlich Deinen Frieden findest.“
    „Ich habe meinen Frieden bereits gefunden“, antwortete Chris ebenso leise, strich ihr über die Wange und lächelte.
    Zum Abschied gab er ihr einen Kuss auf ihren Handrücken und verließ nach einem letzten Winken zu den Kindern das Zimmer.


    Dem Polizisten, der inzwischen den jungen Kollegen abgelöst hatte, gab er letzte Instruktionen. Dann fuhr er mit dem Aufzug nach unten.
    Während er vor dem Eingangsbereich des Krankenhauses auf die Streife wartete, die ihn abholen sollte, steckte er sich mit heißem Verlangen eine Zigarette an. Gedankenverloren stieß er den Rauch in die Luft und dachte an die bevorstehende Verhandlung.


    Und je länger er an Gehlen und seine Verbrechen dachte, desto versteinerter und härter wurde sein Gesichtsausdruck. Er würde Gehlen heute zur Rechenschaft ziehen und ihn für alles büßen lassen! Das schwor er sich.
    ‚Diesen Tag wirst Du so schnell nicht vergessen!’ dachte Chris grollend bei sich.


    Er sah den Polizeiwagen vorfahren, drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher neben der Tür aus und stieg entschlossen ein…


  • Bevor ich mich in ein paar Stunden für ein verlängertes Wochenende auf den Weg nach Dresden mache, gibt es noch eine Kleinigkeit zu lesen! Viel Spaß damit! :)


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    Aidas fröhliches Krakele aus dem Kinderzimmer weckte Semir um kurz nach sieben Uhr. Im Halbschlaf nahm er wahr, wie sich Andrea behutsam aus seiner Umarmung löste, ihre Bettdecke mit einem leisen Rascheln zurückwarf und murmelnd aufstand: „Ja, mein Schatz, ich komme.“
    Er hörte, wie sie auf ihren nackten Füßen nach nebenan ging und sofort ertönte Aidas vergnügtes Lachen, als sie ihre Mutter erblickte.


    Mit einem behaglichen Seufzen drehte sich Semir auf die Seite und zog sich die Bettdecke über die Schultern. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem ungeduldigen Gequieke, welches Aida von sich gab, während Andrea ihr die Windeln wechselte. Ein erwartungsvolles Lächeln schlich sich auf seine Lippen, denn er wusste, was gleich kommen würde…


    Kaum hatte Andrea ihre Tochter angezogen, setzte sie das lebhafte Kind auf den Boden. Augenblicklich begab sich Aida auf alle viere und krabbelte flink aus dem Zimmer in den Flur. Rasch wandte sie sich nach links und steuerte zielstrebig auf das Schlafzimmer ihrer Eltern zu. Mit ihrer kleinen Hand drückte sie die Tür, die nur angelehnt war, zur Seite und warf einen Blick ins Zimmer.
    Ihre Augen fingen an zu leuchten, als sie ihren Vater entdeckte. Schnell kroch sie zum Fußende des Bettes, zog sich daran hoch und tapste mit vorsichtigen Schritten am Bett entlang.
    Für einen Moment hielt sie inne, als sie am Kopfende ankam und das Gesicht ihres Vaters betrachtete. Dann beugte sie sich vor und patschte ihr Händchen auf seine Wange. „Papa, hmmm…“, brabbelte sie aufgeregt. Noch einmal holte sie mit ihrer Hand aus und diesmal traf sie die Nase. „Papa…“


    Semirs Lächeln wurde breiter. Plötzlich schnellten seine Hände unter der Bettdecke hervor und mit einem: „Hab ich Dich!“ packte er seine Tochter. Lachend schrie Aida auf, als er sie schwungvoll hochhob, sich auf den Rücken drehte und sie an ausgestreckten Armen in die Luft hielt. Aida jauchzte vergnügt, während sie mit ihren Armen und Beinen strampelte.


    Im Kinderzimmer hörte Andrea das fröhliche Lachen von Semir und Aida. Schmunzelnd schüttelte sie die kleine Bettdecke aus Aidas Bett auf und hängte sie sie zum Lüften über das Gitter. Während sie mit gewohnten Griffen einige Spielsachen ins Regal räumte, freute sie sich über Semirs übermütige Stimmung. Sie wusste, sie würde spätestens vorbei sein, wenn ihr Mann an die bevorstehende Gerichtsverhandlung denken würde.


    Gedankenverloren nahm sie die schmutzige Wäsche unter den Arm, brachte sie ins Badezimmer und stopfte sie in den Wäschekorb. Schnell wusch sie sich, schlüpfte in ihre blaue Jeans und streifte sich ein legeres T-Shirt über. Sie machte sich noch etwas zurecht und mit einem Haargummi bändigte sie ihre Locken zu einem lockeren Zopf.


    Als sie aus dem Bad trat, nahm sie Semirs fröhliche Stimme wahr. Mit leisen Schritten ging sie zum Schlafzimmer. Von der Tür aus beobachtete Andrea lächelnd, wie Semir mit Aida noch immer wild herumtollten. Sich an den Rahmen lehnend, sah sie den beiden in Gedanken versunken eine Weile zu.



    Sie war sich sicher, dass es heute ein schwerer Tag für Semir werden würde.


    Es würde wieder ein Tag werden, bei dem viele alte Wunden aufgerissen würden…
    Wunden, die erst dünn verheilt waren…
    Wunden, die auf der Seele zahlreiche Narben hinterlassen hatten…
    Wunden, die noch immer schmerzten…


    Und auch sie spürte den Schmerz einer alten Wunde…


    Andreas Erinnerungen drifteten in die Vergangenheit…
    Es war der Abend nach Toms Ermordung und Semirs Suspendierung. Sie hörte sich mit Semir streiten,… hörte ihre vergeblichen Versuche, ihn zu beruhigen,… ihn mit logischen Argumenten zu überzeugen…
    Doch Semir war so voll heißem Zorn und blinder Wut gewesen, dass er für logische Argumente nicht mehr zugänglich war.


    Er hatte nicht hören wollen, dass der Verdächtige ein Alibi hatte,…
    das er sich vielleicht aufgrund der Dunkelheit und des starken Regens geirrt haben könnte,…
    das er sich irrational verhalten hatte, als er wie ein Irrer Mark Jäger verfolgt hatte,…
    das er von seiner Rache völlig fixiert sei…


    In seiner tiefen Trauer hatte er nach einem Ventil gesucht, einem Schuldigen… und er meinte, ihn in Mark Jäger gefunden zu haben!
    Deutlich hatte sie in seinen Augen die wilde Entschlossenheit gesehen, ihn als Toms Mörder festzunehmen und den festen Willen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen…


    Und dann war sie, seiner Ansicht nach, ihm in den Rücken gefallen: Sie hatte seine Aussage angezweifelt! Nie würde sie den Blick vergessen, den er ihr zugeworfen hatte: sprachloses Entsetzen, geschockte Fassungslosigkeit, tiefer Schmerz, verlorenes Vertrauen… und unendliche Traurigkeit!


    In seiner ohnmächtigen Wut war Semir zornig aus dem Haus gerannt und hatte die Tür heftig zugeschlagen. Sie erinnerte sich an den Stich in ihrem Herzen, den die knallende Tür bei ihr hinterlassen hatte. Es hatte für sie so endgültig geklungen… so, als würde Semir nie wieder zu ihr zurückkommen.
    Sie erinnerte sich, wie sie sich in den folgenden Stunden schreckliche Sorgen um ihren Mann gemacht hatte, wie sie furchtbare Angst um ihn hatte und sich nagende Vorwürfe gemacht hatte…


    Sie war sich wie eine Verräterin vorgekommen!
    Ihre Unruhe hatte sie nicht schlafen lassen und zitternd hatte sie im Wohnzimmer gesessen und gehofft, das er wieder kam.


    Als er dann kurz vorm Morgengrauen müde und kraftlos nach Hause gekommen war, war sie so unendlich erleichtert gewesen, das sie ihm wortlos um den Hals gefallen war. Sie erinnerte sich an Semirs intensive Umarmung: Er war wie ein Ertrinkender gewesen, der sich verzweifelt an einen Balken klammerte und es hatte sie glücklich gemacht, für ihn da sein zu dürfen…


    Aidas schrilles Quieken riss sie aus ihren Gedanken und es fiel ihr schwer, diese ausgelassene Stimmung zu unterbrechen. Doch schließlich stieß sie sich mit einem schweren Seufzer ab, trat an das Bett heran und setzte sich auf die Kante.


    Aida bemerkte ihre Mutter zuerst und rief glücklich: „Mama!“ Das kleine Energiebündel wand sich quirlig aus den Armen ihres Vaters, krabbelte hurtig über ihn hinweg und ließ sich von Andrea hochheben. Sie schlang ihre kleinen Ärmchen um den Hals ihrer Mutter und warf ihrem Vater von oben herab einen siegessicheren Blick zu, als dieser sich mit einem ergebenen Stöhnen zu seiner Frau umdrehte.


    „Na, ihr beiden? Genug getobt?“ fragte Andrea und sah amüsiert von einem zum anderen. „Wie wäre es jetzt mit Frühstück?“
    Während die Kleine vorfreudig auf Andreas Arm hüpfte, als sie was von Frühstück hörte, setzte sich Semir aufrecht ins Bett und blickte seine Frau mit seinen leuchtenden, braunen Augen an. Darin spiegelten sich seine Zufriedenheit, sein Glück und ganz besonders seine unerschöpfliche Liebe zu ihr.


    Mit einem geheimnisvollen Lächeln fragte er neckend: „Darf ich mir was zum Frühstück wünschen?“ Dabei zog er Andrea sachte zu sich hin und gab ihr einen sanften Kuss…
    einen Kuss, der voller Wärme und Liebe war…
    einen Kuss, dessen süße Erinnerungen ein erregendes Kribbeln verursachte…
    einen Kuss, der mit leiser Hingabe und inniger Leidenschaft gespickt war…
    Einen Moment vergaßen die beiden alles um sich herum und gaben sich der sinnlichen Berührung ihrer Lippen hin…

  • Aida schaute ihren Eltern einen Augenblick lang interessiert zu, doch dann wurde es ihr langweilig. Energisch schob sie ihre kleine Hand sich zwischen ihre Gesichter und ließ ein ernst gemeintes „Bah!“ folgen.

    Durch die unsanfte Trennung auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, schauten sich Andrea und Semir einen kurzen Augenblick an, dann richteten sie ihre Blicke auf ihre Tochter. Als Aida sah, dass ihre Eltern ihr wieder ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten, erstrahlte auf ihrem Gesicht ein unschuldiges Lächeln. Unwillkürlich mussten auch Andrea und Semir lachen.


    „Na, komm, mein kleiner Engel!“ sagte Andrea und stand auf. „Dann wollen wir mal sehen, das Du was zu Essen bekommst.“
    An der Tür drehte sie sich noch einmal zu Semir um und lächelte nun ihrerseits geheimnisvoll: „Übrigens, Semir… Das mit dem Frühstück klappt wohl jetzt nicht. Aber wie wäre es heute Abend mit Nachtisch? Das heißt,… wenn Du nicht zu müde bist?“ Sie zwinkerte ihm neckisch zu und verschwand dann um die Ecke.

    Zuerst sah Semir seiner Frau mit funkelnden Augen hinterher, dann ließ er sich innerlich jubelnd mit einem glücklichen Seufzen zurück in die Kissen fallen und breitete die Arme aus. Er atmete tief ein und eine Welle von berauschenden Glücksgefühlen ergoss sich über ihn.


    ‚Ist das Leben nicht herrlich?’ dachte er mit einem breiter werdenden Grinsen. Er fühlte, wie sich seine Seele mit Zufriedenheit füllte und war unendlich froh, eine so tolle Frau wie Andrea und eine so reizende Tochter wie Aida zu haben.


    Erinnerungen an die vielen schönen, gemeinsamen Momente, die er bereits mit ihnen verbringen durfte, ließen sein Grinsen in ein melancholisches Lächeln umwandeln. Einige Sekunden hing er seinen Gedanken nach.

    ‚Eigentlich ist alles perfekt’, dachte er dankbar bei sich und versuchte sich zu erinnern, wann er sich das letzte Mal so zufrieden gefühlt hatte. ‚Richtig, das war bei dem türkischen Sommerfest!’
    In seinem Gedächtnis ertönte das ausgelassene Lachen seiner Gäste, spürte er die laue Brise einer warmen Sommernacht, roch er das gegrillte Fleisch, erklang die orientalische Musik zu der sich Andrea an ihn schmiegte…

    … und aus dem Nichts hallte das peitschende Geräusch eines Schusses in seinem Ohr und Toms regennasses, blasses Gesicht tauchte in seinen Gedanken auf.


    Semirs Lächeln verschwand schlagartig.
    Ein dunkler Schatten legte sich um seine Augen und wie immer, wenn er an seinen alten Partner und Freund dachte, spürte er einen schmerzhaften Stich in seinem Herzen. Unwillkürlich entwich ihm ein tiefer Seufzer und ein eisiger Schauer ließ ihn frösteln. Eng zog er die Arme an seinen Körper und schloss für einen Augenblick gequält seine Lider.

    Es schmerzte ihn immer wieder aufs Neue, wenn er an die letzten Minuten vor Toms Tod dachte:
    an das heftige Gewitter, welches über Köln tobte und die drohende Katastrophe anzukündigen schien,…
    an die halsbrecherische Fahrt zum Kinderheim, bei der er dem Wagen alles abverlangte,…
    an seine ausgestandene Angst, die ihn unterwegs panikartig überfallen hatte,…
    an seine verzweifelte Suche in den endlos erscheinenden Gängen,…


    Päng!…
    Da!…
    Wieder dieser Schuss: kurz,… scharf,… hart,… endgültig!

    Innerlich zuckte Semir zusammen und sein Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Obwohl er unwillkürlich scharf die Luft einzog, hatte er das Gefühl zu ersticken. Auf seiner Brust meinte er plötzlich eine zentnerschwere Last zu verspüren.
    Wie, um sich davon zu befreien, riss er sich mit einem Ruck die Bettdecke vom Körper. Er atmete tief durch, doch es half nichts: Das beängstigende Gefühl blieb.

    Semir schwang seine Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Bettkante. Er stütze seine Ellenbogen auf seine Oberschenkel und verbarg sein Gesicht in den Händen. In einem verzweifelten Versuch, die grauenhaften Erinnerungen zu verdrängen, wischte er sich mit beiden Händen über das Gesicht und bemühte sich um eine ruhigere Atmung. Noch immer meinte er, sein Brustkorb wäre von schweren Eisenbändern umwickelt, die ihm die Luft zum Atmen nahmen.

    Dieses beklemmende Gefühl…

    Es erinnerte ihn an seine Atemlosigkeit, als er die schwere Holztür zum Innenhof des Kinderheimes aufstieß,…
    an den prasselnden Regen, der eisig in sein Gesicht klatschte,…
    an sein blankes Entsetzen, als ein greller Blitz ein Bild in sein Hirn brannte, welches er nie vergessen würde,…
    an einen grollenden Donner, der ihn aus seiner Starre riss,…
    an seine kopflose Wut, mit der er dem vermeintlichen Mörder hinterher schoss,…
    an das kalte Grauen, als er Toms warmes Blut an seinen Händen herunter rinnen sah und es sich mit dem Regen vermischte,…
    an Toms Worte, die er mit letzter Kraft stammelte: „Wer passt denn jetzt auf Dich auf?“

    Sofort hämmerten die gleichen quälenden Fragen auf ihn ein, die er sich seit dem ständig stellte: ‚Warum war ich nicht für meinen Partner da, als er mich brauchte?… Warum habe ich nicht auf ihn aufgepasst?…Warum habe ich nicht gespürt, das mein Freund in Gefahr war?… Hätte ich das Unheil verhindern können, wenn ich schneller da gewesen wäre?’


    Wieder und wieder rotierten Semirs Gedanken um diese Fragen. Doch so oft er auch darüber nachdachte, er fand keine Antwort… Auch heute nicht.
    Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals und eine kleine Träne stahl sich in seinen linken Augenwinkel.
    ‚Ach Tom’, seufzte er in Gedanken traurig. ‚Als Dein Freund habe ich elendig versagt!’

    Dann wischte er sich plötzlich mit einer energischen Handbewegung die Träne fort und mit einer Stimme, die an einen Schwur erinnerte, sagte er leise: „Aber als Dein Partner werde ich heute dafür sorgen, das Gehlen für immer ins Gefängnis wandert!“
    Entschlossen stand er auf und ging ins Bad.

  • Als Semir eine halbe Stunde später in die Küche kam, bemerkte Andrea sofort seine veränderte Mimik und seine gedämpfte Stimmung. Sie ahnte, was in ihm vorging und ohne ein Wort darüber zu verlieren, schenkte sie ihrem Mann mit einem aufmunternden Lächeln eine Tasse Kaffee ein.
    Geistesabwesend nahm Semir einen Schluck, während er mit der anderen Hand nach der Zeitung griff, die auf dem Tisch lag. So wie er es jeden Morgen tat, fischte er sich zuerst den Lokalteil heraus.


    Sofort fiel sein Augenmerk auf eine Schlagzeile, die in fetten, schwarzen Lettern auf der ersten Seite prangte:



    „Brutaler Menschenhändler vor Gericht“.


    Darunter stand in etwas kleinerer Schrift:



    „Heute Prozessauftakt unter größten polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen“.


    In dem folgenden, halbseitigen Artikel wurde von Gehlens Werdegang, seinen Gräueltaten und die Umstände, die zu seiner Verhaftung führten, berichtet. Mitten in den Bericht waren zwei kleine Fotos eingebettet. Das eine zeigte das feiste Gesicht von Roman Gehlen, unter dem die Worte standen: „Menschenhändler Gehlen schreckte auch vor Mord nicht zurück.“
    Das Bild daneben zeigte seinen früheren Partner und darunter konnte Semir lesen: „KHK Tom Kranich wurde im Laufe der Ermittlungen eiskalt erschossen“.


    Semir kannte dieses Bild nur zu gut: Das Gleiche war auch auf Toms Dienstausweis zu sehen gewesen und sein kummervoller Blick blieb einen Moment darauf haften. Er sah das warmherzige Lächeln, die strahlenden Augen, den offenen Blick… und die Erinnerungen an längst vergangene Tage ließen ihn leise aufseufzen.


    Wie lange er auf den Artikel starrte, konnte er nicht sagen. Er spürte nur, wie Andrea hinter ihn trat und sanft ihre Arme um ihn schlang. Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange und flüsterte teilnahmsvoll: „Denkst Du wieder an Tom?“
    Mit einem zustimmenden: „Hmm“, ließ Semir die Zeitung sinken. Er legte seine Hände auf ihre Arme, drückte sie noch etwas fester an sich und lehnte seinen Kopf an den ihren. Gedankenverloren starrte er vor sich hin.


    Andrea musste nichts fragen oder sagen. Sie wusste auch so, was ihren Mann bewegte. Wahrscheinlich erinnerte er sich gerade an die gemeinsame Zeit, die er mit Tom erlebt hatte und dachte an die vielen brenzligen Situationen, in denen sie sich gegenseitig beigestanden hatten.


    Und Andrea wusste auch, das es für Semir das Beste war, wenn man ihn in Ruhe seinen Gedanken nachhängen ließ. Die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass, wenn er reden wollte, er von sich aus beginnen würde.
    Doch sie wusste auch, das ihm sein Stolz oftmals im Weg stand und es ihm schwer fiel, eine Schwäche zuzugeben. Sie befürchtete ein bisschen, das sich Semir deshalb zu sehr in sein Innerstes zurück ziehen würde, wenn sie nicht auf ihn acht gab. Darum entschloss sie sich, ihrem Mann ein wenig entgegen zu kommen.


    Ein, zwei Minuten schmiegte sich Andrea an ihn und vermittelte ihm mit ihrer Umarmung Halt. Schließlich spürte sie, wie sich ihr Mann etwas entspannte und löste vorsichtig sie ihre Arme von ihm. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und während sie sich neben ihn auf einen Stuhl setzte, glitt ihre Hand an seinem Arm entlang, ohne das der Körperkontakt zu ihm abbrach. Auf seinem Unterarm blieb ihre Hand schließlich liegen. Voller Liebe sah sie ihren Mann an.
    „Du weißt, das Du jederzeit mit mir über Tom reden kannst“, versicherte sie ihm. „Auch ich habe einige schöne Erinnerungen an ihn, die ich gern mit Dir teilen möchte.“


    Semir erwiderte ihren Blick und statt einer Antwort huschte ein nachdenkliches Schmunzeln über sein Gesicht. Als er nach einigen Sekunden noch immer nichts sagte, drückte Andrea kurz, aber fest seinen Arm. „Semir, bitte! Rede mit mir!“ bat sie mit einem leisen Flehen.


    Einen tiefen Seufzer ausstoßend, legte Semir den Kopf in den Nacken und schaute kurz zu Decke. Dann richtete er seinen Blick aus dem Fenster und dachte einen Moment nach. Schließlich wandte er sich zu seiner Frau um, legte seine Hand auf die noch immer auf seinem Arm ruhende Hand und starrte auf seinen eigenen Handrücken.


    „Ach Andrea…“, brachte er leise hervor, „… wir beide haben uns doch schon immer über Tom unterhalten… auch zu seinen Lebzeiten. Wir haben unsere Erlebnisse mit ihm ausgetauscht und oft über ihn geschmunzelt.“
    Mit einem leisen Auflachen unterbrach er sich und hing einen Moment seinen zahlreichen Erinnerungen nach.


    Schließlich drückte er sanft ihre Hand und fuhr nachdenklich fort: „Nach Toms Tod haben wir uns den Schmerz geteilt und gemeinsam geweint. Du warst in der traurigen Zeit für mich da,… hast mich gehalten und gestützt. Du hast mir stundenlang zugehört und mich getröstet.“
    Er ergriff ihre Hand, führte sie zu seinen Lippen und während er ihr voller Liebe in die Augen sah, küsste er zärtlich ihre Fingerspitzen. „Und dafür liebe ich Dich!“, flüsterte er.
    So, als wolle er unterstreichen, dass er ihren Halt als tröstlich empfand, umfasste er ihre Hand mit seinen beiden Händen und hielt sie fest.


    Doch dann veränderte sich seine Mimik unmerklich. „Aber…“, begann Semir zögerlich. Sofort wurde er still und sein leerer Blick ging an ihr vorbei.
    „Aber was?“ fragte Andrea nach einer Weile sanft und sah ihn eindringlich an.


    Semirs Miene nahm einen müden, traurigen Ausdruck an und in seinen Augen glimmte Resignation auf. In seinem Herzen breitete sich wieder dieser stechende Schmerz der Trauer aus und ein weiterer, schwerer Seufzer legte sich tonnenschwer auf seine Brust. Doch diesmal weigerte er sich, ihn heraus lassen.


    Denn mit jedem Seufzer wurde der Schmerz, zumindest für den Moment, etwas gelindert. Er wollte aber nicht, das der Schmerz weniger wurde. Denn wenn der Schmerz aufhörte, befürchtete Semir, das die Erinnerungen an Tom zuerst verblassen und schließlich ganz verschwinden würden. Er wollte Tom nicht vergessen… unter gar keinen Umständen!


    Und so sehr ihn auch die Erinnerungen an Tom schmerzten und seine Seele quälten…, es waren Erinnerungen an Tom!
    Etwas, was er in seinem Bewusstsein wie einen Schatz bewahren wollte!
    Eindrücke, die er nicht verlieren wollte!
    Die ihm alles bedeuteten!
    Die ihm etwas von dem gaben, was er zur Zeit bei seiner Zusammenarbeit mit Chris vermisste: eine harmonische Partnerschaft, tiefe Freundschaft, blindes Vertrauen und innere Sicherheit.


    Wie sehr sehnte er sich nach der alten Zeit!


    Andrea beobachtete ihren Mann genau und sie sah in seinen Augen jenen quälenden Schmerz, der ihn bedrückte und den er nicht aussprechen wollte.
    Schließlich nahm sie sich ein Herz und fragte behutsam: „Hast Du schon einmal mit Chris über Tom geredet…? Ihm von ihm erzählt…? Ihn an Deinen Erinnerungen teilhaben lassen…?“


    Als ob ihm Andrea eine schallende Ohrfeige verabreicht hätte, wich er entsetzt zurück. Von der Ungeheuerlichkeit ihrer Frage empört, stieß Semir ein hartes: „Nein!“ aus. Abwehrend, ja fast schon abwertend schüttelte Semir den Kopf: „Warum sollte ich?“


    Er ließ ihre Hand los, stand abrupt auf, ging zum Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit finsterem Blick starrte er hinaus. In seinem Inneren tobte ein zorniger Sturm durch sein Meer an Gefühlen. Alles in ihm sträubte sich bei dem Gedanken, das er seine Erinnerungen an Tom mit Chris teilen sollte.
    ‚Mit jedem anderen…, aber nicht mit Chris!’ dachte Semir trotzig. Seine Miene nahm einen verbohrten Ausdruck an.


    „Ich glaube außerdem nicht, das Chris auch nur annähernd Interesse daran hat, etwas über Tom zu erfahren“, grollte er nach einer Weile verbittert.
    „Bist Du Dir da sicher?“ wollte Andrea mit einem skeptischen hochziehen ihrer Augenbrauen wissen. „Da hatte ich aber gestern morgen einen anderen Eindruck.“


    Irritiert warf Semir über seine Schulter hinweg seiner Frau einen fragenden Blick zu.
    Als sie Semirs fragende Augen bemerkte, fuhr Andrea fort: „Ich hatte ihm erzählt, wie weit ihr beiden, also Du und Tom, bereit ward, füreinander etwas zu riskieren. Und ich hatte dabei den Eindruck, das er durchaus sehr interessiert war, etwas über Tom zu erfahren.“


    Mit einem ungläubigen Schnauben drehte sich Semir zurück. Eine Weile erwiderte er nichts und schaute statt dessen ärgerlich aus dem Fenster in den Garten.


    Doch nach einiger Zeit wurde sein harter Gesichtsausdruck weicher und sein glühender Blick wurde nachdenklich. Irgendwie ahnte er, dass Andrea mit dem, was sie sagte, mal wieder Recht hatte. Aber er konnte nicht genau sagen, warum dem so war.

  • Eindringlich zermarterte er sich den Kopf und seine Gefühle fuhren dabei wie wild Achterbahn. Auf der einen Seite spürte er noch immer wütenden Trotz in sich. Und auf der anderen Seite regte sich leiser Zweifel.
    Erneut ließ er sich Andreas Worte durch den Kopf gehen: „…das er durchaus sehr interessiert war, etwas über Tom zu erfahren.“


    Etwas von dem, was sie gesagt hatte, weckte eine Empfindung in ihm,… eine fast vergessene Erinnerung. Es war eine Erinnerung an ein Gespräch,… aber mit wem hat er es geführt? Wortfetzen huschten durch seinen Kopf,… eine freundliche, weibliche Stimme erklang aus weiter Ferne in seinem Ohr,… aber er kam nicht darauf, von wem sie war. Er schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Er versuchte die Stimme zu erkennen,… ihr ein Gesicht zu geben. Da… da war sie wieder! Nur für einen kurzen Augenblick war sie zu hören und mit seinen Gedanken griff Semir schnell nach dieser Stimme. Hartnäckig hielt er an ihr fest,… folgte ihr,… fügte die Wort- und Bildfragmente zusammen.


    Und plötzlich wusste er es: Gaby! Es war das Gespräch mit Gaby, welches er bei seinem Besuch bei ihr geführt hatte und an das er sich gerade mit leiser Wehmut erinnerte. Wieder hörte er ihre Worte:Sie vermissen Ihren alten Partner... Tom war sein Name, richtig? … Chris hat mir einiges erzählt. Wie es passiert ist und das Sie über den Verlust noch nicht ganz hinweg gekommen sind. Er hat mir auch erzählt, das Sie oft minutenlang aus dem Fenster starren und manchmal gedankenverloren mit einem Stift 'Tom’ irgendwo hin kritzeln... Oder das Sie ihm aus Versehen ein paar Mal Gummibärchen an Raststätten gekauft haben... Das Sie oft das Grab ihres Partners besuchen usw. … Würde es Ihnen was ausmachen mir ein bisschen über ihn, also Ihrem alten Partner, zu erzählen?“


    Ein Lächeln breitete sich in Semir aus, als er sich gedankenverloren daran erinnerte, wie gut ihm dieses Gespräch getan hatte…
    Wie schön es gewesen war, jemandem von Tom zu erzählen…
    Wie durch das Erzählen, alte Erinnerungen lebendig geworden waren…
    Wie glücklich und befreit er sich gefühlt hatte…


    Und trotzdem: Es regte sich noch immer schwacher Widerstand in ihm.
    „Außerdem habe ich Chris von Tom erzählt“, grummelte er nach einer Weile und schmollte hinterher: „Das weiß ich ganz genau!“
    In Gedanken rief er sich die Unterredungen ins Gedächtnis und erinnerte sich an die verschlossene, desinteressierte Miene seines neuen Partners bei ihren Gesprächen. Nein, Chris hatte kein Interesse etwas von Tom zu erfahren. Da war er sich sicher!


    In seinem Nacken begann es zu kribbeln und Semir wusste sofort, das es Andreas Blick war, den er dort spürte. Zuerst versuchte er das Kribbeln zu ignorieren, doch dann drehte er sich zu ihr um. Sofort erkannte er, wie ihre Zweifel ihr deutlich ins Gesicht geschrieben standen.
    ‚Wie schafft sie es nur jedes Mal, mir mit ihrem Blick das Gefühl zu vermitteln, das ich mit meiner Meinung auf dem Holzweg bin?’ knurrte Semir frustriert in seinen Gedanken.


    Gerade öffnete er den Mund, um sich für seine Haltung zu rechtfertigen, als Andrea schlicht fragte: „Und Du bist Dir sicher, das Du mit Chris über Tom geredet hast?… Oder hast Du Chris vielmehr mit Deinem alten Partner verglichen?“


    Erstaunt schloss Semir seinen Mund und für einen Augenblick wusste er nicht, was sie meinte. Leicht verwirrt schüttelte er den Kopf und dachte einen Moment über ihre Worte nach. Schließlich dämmerte es ihm und Teile des Gespräches, welches er gestern mit Chris vor der PAST geführt hatte, erklangen in seinem Ohr: „Bei Tom hat es so etwas nie gegeben!Jeder hat ihn gemochtFür mich war er der perfekte Partner! ... Weißt Du eigentlich, was es heißt, etwas wirklich gemeinsam zu machen?"


    Ganz weit hinten in seinem Kopf meldete sich sein schlechtes Gewissen und plötzlich verstand Semir: Selbst wenn er Chris immer wieder beteuerte, das er ihm vertrauen könne und es ihm auch stetig beweisen würde… All das wäre bedeutungslos, wenn er bei jeder Gelegenheit Chris Vorhaltungen machte… Ihn ständig daran erinnerte, das er nicht wie Tom war!


    Wenn er wollte, das Chris sich als sein Partner wohl fühlte, musste er ihm nicht nur Vertrauen schenken. Er musste ihm auch das Gefühl geben, dass er ihn akzeptierte! Und zwar als der Chris, der er nun einmal war! Mit all seinen Ecken und Kanten,… mit seinen schlechten Gewohnheiten,… mit seinen Geheimnissen…


    Er richtete seinen Blick zurück zu Andrea, die ihn einfach nur anschaute. ‚Wie macht sie das nur immer wieder?’, fragte sich Semir und schüttelte ergeben mit dem Kopf.
    Er setzte sich zurück auf den Stuhl und sah seine Frau mit seinem treuen Dackelblick an. Dann beugte er sich nach vorn, küsste sie zärtlich und murmelte: „Andrea,... Du bist ein Engel!"
    Andrea lehnte sich etwas nach hinten, legte ihren Kopf schräg und mit einem leisen Lachen gab sie zur Antwort: „Das gleiche hat Chris gestern auch zu mir gesagt.“
    „Dann wird da wohl was Wahres dran sein“, erwiderte Semir grinsend und gab ihr einen weiteren Kuss.
    „Hauptsache, Du vergisst das nie!“ murmelte Andrea unter seinen Lippen und grinste nun ebenfalls.


    Sie stand auf, schob ihm die Kaffeetasse zu und deutete auf den gedeckten Frühstückstisch. „Und als Dein Engel sage ich Dir: Es wird Zeit, das Du was isst! Du musst gleich zum Gericht und dafür brauchst Du viel Kraft. Und denk daran: Chris braucht Dich!“
    Ohne zu widersprechen, griff Semir augenzwinkernd in den Brotkorb und bevor sich seine Gedanken der Gerichtsverhandlung zuwandten, nahm er sich vor, Chris bei der nächsten Gelegenheit von Tom zu erzählen.



    Kaum hatte er zu Ende gefrühstückt, klingelte es unerwartet an der Haustür. Als Semir öffnete, stellte er befremdlich fest, das Siggi vor der Tür stand.
    „Hier…“, sagte dieser und hielt ihm klimpernd die Wagenschlüssel vom BMW entgegen. „Einen schönen Gruß von der Chefin. Sie hat dafür gesorgt, das Dein Dienstwagen vom Parkplatz des Autohofes hierher gebracht wurde.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Einfahrt.
    Semir folgte mit seinen Augen in die angedeutete Richtung und stellte fest, das der silberne Wagen tatsächlich dort stand. Noch bevor er etwas sagen konnte, drückte Siggi ihm die Schlüssel in die Hand. „Übrigens: Viel Erfolg bei Gericht!“ sagte er und blickte seinen höhergestellten Kollegen ernst an.
    Fest erwiderte Semir den Blick und nickte schließlich. „Danke!“ antwortete er mit rauer Stimme. Siggi legte zum Abschied seine Hand kurz an den Rand seiner Mütze und ging zurück zur Straße, wo ein weiterer Kollege im Streifenwagen auf ihn wartete.


    Nachdenklich schloss Semir die Tür und ging langsam ein paar Schritte den Flur entlang. Plötzlich erhellte eine Eingebung seine Miene und fest umfasste er die Autoschlüssel. Er hatte einen Entschluss gefasst und er wusste, was er zu tun hatte!
    Keine halbe Stunde später war er auf dem Weg zum Gericht…

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