„Jakob?… Johanna?“ flüsterte Chris und seine Stimme klang vor Nervosität ganz heiser. Langsam betrat er das Zimmer und schaute sich suchend nach seinen Kindern um.
Aus den Augenwinkeln nahm er plötzlich eine Bewegung wahr und im letzten Moment erkannte er, wie ein Brett auf ihn zugesaust kam. Reflexartig hob Chris seine Arme, um nicht am Kopf getroffen zu werden. Mit einem dumpfen Knall prallte das Stück Holz an seine Unterarme. Noch bevor Chris weitere Gegenmaßnahmen ergreifen konnte, holte der Angreifer augenblicklich zu einem weiteren Schlag aus. Zwischen seinen erhobenen Armen erkannte er seinen Sohn und wollte ihn gerade auf sich aufmerksam machen, als plötzlich Landwehr und Semir mit gezogenen Waffen ins Zimmer stürmten.
Mit Schrecken registrierte Jakob die auf ihn gerichteten Pistolen und bremste den Schlag zehn Zentimeter vor den zum Schutz gehobenen Armen seines „Opfers“ ab. Sein entsetzter Blick fiel auf den Einsatzleiter, der in seinem schwarzen Outfit, den schweren Stiefeln und der dicken Schutzweste furchteinflößend wirkte. Dann richtete er sein Augenmerk auf Semir und erkannte ihn sofort.
Die Kinnlade fiel ihm herunter und entgeistert schaute er auf die Person, auf die er eingeschlagen hatte.
„Papa?“ fragte er ungläubig.Langsam senkte er das Brett und auch Chris nahm seine Arme herunter, so das sein Sohn ihn erkennen konnte.
„Papa!“ stieß Jakob erstaunt aus und riss die Augen auf. „Papa! Du bist es wirklich!“
Er ließ das Brett fallen, machte einen Schritt auf seinen Vater zu und warf sich in seine Arme. Chris umschlang seinen Sohn und drückte ihn fest an sich. „Ja, ich bin es wirklich!“ flüsterte er an seinem Ohr und schloss erleichtert die Augen.
Hinter dem Bett erschien zaghaft Johannas Kopf und sie lugte vorsichtig aus ihrem Versteck hervor. Kaum erkannte sie ihren Vater, sprang sie auf, lief um das Bett herum und wollte sich vor Freude quiekend auf ihn stürzen.Semir, der inzwischen seine Waffe gesenkt hatte, machte einen schnellen Schritt auf sie zu und legte ihr verschwörerisch die Hand auf den Mund.
„Scht!“ raunte er warnend und sah sie eindringlich an. In ihren Augen blitzte ein kurzes Erschrecken auf, doch dann nickte sie. Das Mädchen hatte verstanden. Semir nahm mit einem verständnisvollen Lächeln die Hand herunter und sagte leise, mit dem Kopf in Richtung Chris deutend: „Geh zu Deinem Vater.“
Das ließ Johanna sich nicht zweimal sagen. Sie hastete zu Chris und umfasste ihn in Bauchhöhe mit ihren Armen.
Chris spürte die Berührung, öffnete die Augen und sah in das freudestrahlende Gesicht seiner Tochter. Er löste seinen rechten Arm von Jakob, senkte sich auf das rechte Knie herab und nahm seine Tochter in den Arm. Seine Stimme versagte ihm fast den Dienst, als er ihren Namen aussprach: „Johanna!“
Fest drückte er die Kinder an sich und schloss erneut seine Augen. Tief sog Chris die Luft ein und nahm den für sie typischen Geruch wahr. Unendliche Erleichterung durchströmte ihn und er spürte, wie ein schwerer Stein von seinen Herzen plumpste! Es fiel ihm schwer, doch am liebsten hätte er seine Freude hinaus geschrieen: Er hatte seine Kinder wieder!
Die Sorgen und Anspannungen der letzten Stunden fielen etwas von ihm ab und sein Herz schlug vor Freude schneller. Er spürte einen dicken Kloß im Hals, schluckte schwer und räusperte sich anschließend.
„Gott sei Dank! Euch geht es gut!“ stieß er heiser hervor und gab ihnen einen Kuss auf die Wangen. „Endlich habe ich Euch gefunden. Ich habe Euch so sehr vermisst!“
Sekundenlang verharrten sie in enger Umschlungenheit und man hatte das Gefühl, sie wollten einander nie wieder los lassen. Besonders die Kinder klammerten sich verzweifelt an ihn.
Vorsichtig lockerte Chris nach einer Weile seine Umarmung und betrachtete die Gesichter seiner Kinder. Trotz der Freude, die sie zum strahlen brachte, konnte Chris in ihren Mienen die Folgen von Kummer und Leid deutlich sehen.
„Geht es Euch gut?“ fragte er besorgt. „Seid Ihr ok?“ Johannas Augen füllten sich langsam mit Tränen und ihr Kinn bebte. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und fing plötzlich an zu weinen: „Oh Papa, wir hatten solche Angst. Die Männer waren so gemein zu uns.“
Chris spürte ihr Zittern und um ihr das Gefühl von Sicherheit zu bieten, drückte er sie noch fester an sich. Mit einer sanften Wiegebewegung versuchte Chris seine Tochter zu beruhigen. „Ich weiß, meine Süße, ich weiß“, tröstete er sie und streichelte ihr besänftigend über den Rücken. „Ich bin ja jetzt da!… Ich werde Euch beschützen!“
Fragend sah er Jakob an: „Was ist passiert?“
Mit knappen Worten umriss der Junge die Geschehnisse. Besonders als er mit brüchiger Stimme von Richard sprach, konnte Chris in seinen schreckensweiten Augen sehen, das er ahnte, dass seinem Cousin etwas schreckliches passiert sein musste. Kurz darauf schloss er seine Erzählung mit den Worten: „… und vor wenigen Minuten haben sie Tante Gaby nach unten gebracht. Sie haben…“ Jakob stockte.
Chris sah, das seinen Sohn etwas bedrückte. Sanft strich er ihm mit der freien Hand über die Haare. Er spürte, das sein Sohn zitterte und legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. Fest sah er ihm ins Gesicht. „Sie haben… was?“ wollte er wissen.
Ängstlich blickte ihn Jakob an, dann hauchte er erschüttert: „Ich glaube, sie haben sie geschlagen!“
Chris hörte aus den Worten seines Sohnes sehr viel Furcht und Angst heraus. Er wusste, das Jakob seine Tante abgöttisch liebte und seinen Cousin als Bruder betrachtet hatte. Dann sah er das verzweifelte Flehen in seinen Augen und wusste was ihn quälte!
Er ließ Johanna los, zog seinen Sohn an sich, umarmte ihn und versicherte ihm: „Es ist nicht Deine Schuld, hörst Du?… Es ist nicht Deine Schuld!… Du hättest nichts tun können.“
Mit beiden Händen umfasste er seine Schultern und sah ihm fest in die Augen. Dann versprach er ernst: „Keine Angst. Wir werden Tante Gaby da heil wieder raus holen… Sie wird nicht sterben!… Ehrenwort!“
Dankbar sah Jakob ihn an, nickte verhalten und flüsterte: „Danke!“
Während Chris seine Kinder noch einmal in den Arm nahm, um ihnen Trost und Geborgenheit zu spenden, räusperte sich Landwehr und machte zu Semir eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Semir verstand und ging zu seinem Partner.
„Chris“, flüsterte er, „es wird Zeit die Kinder von hier weg zu bringen.“
Zustimmend nickte Chris und wandte sich an seine Kinder: „OK, hört mir jetzt gut zu. Wir bringen Euch jetzt nach draußen in Sicherheit. Ihr müsst ganz still sein. Meint Ihr, Ihr schafft das?“
Als die Kinder nickten, stand Chris auf, nahm Johanna an die Hand und legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes.
Semir sah seinen Partner an, steckte seine Waffe weg und nach einem aufmunternden Zwinkern zu den Kindern flüsterte er: „Dann kommt mal! Je eher wir Euch in Sicherheit gebracht haben, umso eher können wir uns um Eure Tante kümmern.“ Er hielt ihnen seine Hand hin und nach kurzem Zögern ergriff Johanna sie lächelnd, nachdem sie ihrem Vater einen bittenden Blick zugeworfen hatte.
Landwehr betrat den Flur, sah sich zu allen Seiten um und winkte ihnen, das sie raus kommen können. Leise schlichen sie hinaus, wandten sich nach rechts und gingen vorsichtig den Gang entlang.
Doch kaum hatten sie ein paar Schritte getan, als plötzlich über Funk eine Warnung kam: „Achtung! Es nähern sich zwei Männer der Treppe. Sie wollen zu Euch hoch kommen!“
Während Chris und Semir sich mit einem kurzen Blick verständigten und die Kinder sofort in das nächstgelegene Zimmer zogen, gab Landwehr mit zwei Fingern ein Zeichen und innerhalb von Sekunden waren seine Männer verschwunden, so das es auf dem Flur aussah, als wäre nie jemand da gewesen.
Unterdessen führten Chris und Semir die Kinder in den hinteren Teil des Raumes, in dem sie Zuflucht gesucht hatten. Sie deuteten ihnen an, dass sie sich in eine Ecke kauern sollten.
„Ganz leise! Keinen Ton!“ raunte Semir kaum hörbar, während er sie beschwörend ansah. Verschreckt taten sie, was man ihnen sagte, doch sie wussten nicht, was los war. Angstvoll umklammerten sie sich.
Auf ihren fragenden Blick hin, legte Chris seinen Finger an seine Lippen: „Scht! Ganz ruhig! Habt keine Angst! Euch passiert nichts… Ich bleibe bei Euch!“ Er hockte sich vor ihnen auf den Boden, wandte ihnen den Rücken zu und nahm seine Pistole zur Hand. Auf seinem Gesicht zeigte sich Entschlossenheit: Wer zu den Kindern wollte, musste erst an ihm vorbei!
In der Zwischenzeit war Semir leise zurück zur Tür geschlichen. Vorsichtig zog er ebenfalls seine Waffe und lugte durch einen Spalt hinaus.
Plötzlich hörte man schwere Schritte in den Gang einbiegen und eine Stimme fragte: „Hast Du den Schlüssel?“…