Angst und Vertrauen

  • „Jakob?… Johanna?“ flüsterte Chris und seine Stimme klang vor Nervosität ganz heiser. Langsam betrat er das Zimmer und schaute sich suchend nach seinen Kindern um.


    Aus den Augenwinkeln nahm er plötzlich eine Bewegung wahr und im letzten Moment erkannte er, wie ein Brett auf ihn zugesaust kam. Reflexartig hob Chris seine Arme, um nicht am Kopf getroffen zu werden. Mit einem dumpfen Knall prallte das Stück Holz an seine Unterarme. Noch bevor Chris weitere Gegenmaßnahmen ergreifen konnte, holte der Angreifer augenblicklich zu einem weiteren Schlag aus. Zwischen seinen erhobenen Armen erkannte er seinen Sohn und wollte ihn gerade auf sich aufmerksam machen, als plötzlich Landwehr und Semir mit gezogenen Waffen ins Zimmer stürmten.


    Mit Schrecken registrierte Jakob die auf ihn gerichteten Pistolen und bremste den Schlag zehn Zentimeter vor den zum Schutz gehobenen Armen seines „Opfers“ ab. Sein entsetzter Blick fiel auf den Einsatzleiter, der in seinem schwarzen Outfit, den schweren Stiefeln und der dicken Schutzweste furchteinflößend wirkte. Dann richtete er sein Augenmerk auf Semir und erkannte ihn sofort.
    Die Kinnlade fiel ihm herunter und entgeistert schaute er auf die Person, auf die er eingeschlagen hatte.


    „Papa?“ fragte er ungläubig.Langsam senkte er das Brett und auch Chris nahm seine Arme herunter, so das sein Sohn ihn erkennen konnte.
    „Papa!“ stieß Jakob erstaunt aus und riss die Augen auf. „Papa! Du bist es wirklich!“
    Er ließ das Brett fallen, machte einen Schritt auf seinen Vater zu und warf sich in seine Arme. Chris umschlang seinen Sohn und drückte ihn fest an sich. „Ja, ich bin es wirklich!“ flüsterte er an seinem Ohr und schloss erleichtert die Augen.



    Hinter dem Bett erschien zaghaft Johannas Kopf und sie lugte vorsichtig aus ihrem Versteck hervor. Kaum erkannte sie ihren Vater, sprang sie auf, lief um das Bett herum und wollte sich vor Freude quiekend auf ihn stürzen.Semir, der inzwischen seine Waffe gesenkt hatte, machte einen schnellen Schritt auf sie zu und legte ihr verschwörerisch die Hand auf den Mund.
    „Scht!“ raunte er warnend und sah sie eindringlich an. In ihren Augen blitzte ein kurzes Erschrecken auf, doch dann nickte sie. Das Mädchen hatte verstanden. Semir nahm mit einem verständnisvollen Lächeln die Hand herunter und sagte leise, mit dem Kopf in Richtung Chris deutend: „Geh zu Deinem Vater.“



    Das ließ Johanna sich nicht zweimal sagen. Sie hastete zu Chris und umfasste ihn in Bauchhöhe mit ihren Armen.
    Chris spürte die Berührung, öffnete die Augen und sah in das freudestrahlende Gesicht seiner Tochter. Er löste seinen rechten Arm von Jakob, senkte sich auf das rechte Knie herab und nahm seine Tochter in den Arm. Seine Stimme versagte ihm fast den Dienst, als er ihren Namen aussprach: „Johanna!“


    Fest drückte er die Kinder an sich und schloss erneut seine Augen. Tief sog Chris die Luft ein und nahm den für sie typischen Geruch wahr. Unendliche Erleichterung durchströmte ihn und er spürte, wie ein schwerer Stein von seinen Herzen plumpste! Es fiel ihm schwer, doch am liebsten hätte er seine Freude hinaus geschrieen: Er hatte seine Kinder wieder!



    Die Sorgen und Anspannungen der letzten Stunden fielen etwas von ihm ab und sein Herz schlug vor Freude schneller. Er spürte einen dicken Kloß im Hals, schluckte schwer und räusperte sich anschließend.


    „Gott sei Dank! Euch geht es gut!“ stieß er heiser hervor und gab ihnen einen Kuss auf die Wangen. „Endlich habe ich Euch gefunden. Ich habe Euch so sehr vermisst!“


    Sekundenlang verharrten sie in enger Umschlungenheit und man hatte das Gefühl, sie wollten einander nie wieder los lassen. Besonders die Kinder klammerten sich verzweifelt an ihn.



    Vorsichtig lockerte Chris nach einer Weile seine Umarmung und betrachtete die Gesichter seiner Kinder. Trotz der Freude, die sie zum strahlen brachte, konnte Chris in ihren Mienen die Folgen von Kummer und Leid deutlich sehen.


    „Geht es Euch gut?“ fragte er besorgt. „Seid Ihr ok?“ Johannas Augen füllten sich langsam mit Tränen und ihr Kinn bebte. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und fing plötzlich an zu weinen: „Oh Papa, wir hatten solche Angst. Die Männer waren so gemein zu uns.“


    Chris spürte ihr Zittern und um ihr das Gefühl von Sicherheit zu bieten, drückte er sie noch fester an sich. Mit einer sanften Wiegebewegung versuchte Chris seine Tochter zu beruhigen. „Ich weiß, meine Süße, ich weiß“, tröstete er sie und streichelte ihr besänftigend über den Rücken. „Ich bin ja jetzt da!… Ich werde Euch beschützen!“


    Fragend sah er Jakob an: „Was ist passiert?“
    Mit knappen Worten umriss der Junge die Geschehnisse. Besonders als er mit brüchiger Stimme von Richard sprach, konnte Chris in seinen schreckensweiten Augen sehen, das er ahnte, dass seinem Cousin etwas schreckliches passiert sein musste. Kurz darauf schloss er seine Erzählung mit den Worten: „… und vor wenigen Minuten haben sie Tante Gaby nach unten gebracht. Sie haben…“ Jakob stockte.
    Chris sah, das seinen Sohn etwas bedrückte. Sanft strich er ihm mit der freien Hand über die Haare. Er spürte, das sein Sohn zitterte und legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. Fest sah er ihm ins Gesicht. „Sie haben… was?“ wollte er wissen.


    Ängstlich blickte ihn Jakob an, dann hauchte er erschüttert: „Ich glaube, sie haben sie geschlagen!“
    Chris hörte aus den Worten seines Sohnes sehr viel Furcht und Angst heraus. Er wusste, das Jakob seine Tante abgöttisch liebte und seinen Cousin als Bruder betrachtet hatte. Dann sah er das verzweifelte Flehen in seinen Augen und wusste was ihn quälte!



    Er ließ Johanna los, zog seinen Sohn an sich, umarmte ihn und versicherte ihm: „Es ist nicht Deine Schuld, hörst Du?… Es ist nicht Deine Schuld!… Du hättest nichts tun können.“
    Mit beiden Händen umfasste er seine Schultern und sah ihm fest in die Augen. Dann versprach er ernst: „Keine Angst. Wir werden Tante Gaby da heil wieder raus holen… Sie wird nicht sterben!… Ehrenwort!“
    Dankbar sah Jakob ihn an, nickte verhalten und flüsterte: „Danke!“


    Während Chris seine Kinder noch einmal in den Arm nahm, um ihnen Trost und Geborgenheit zu spenden, räusperte sich Landwehr und machte zu Semir eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Semir verstand und ging zu seinem Partner.
    „Chris“, flüsterte er, „es wird Zeit die Kinder von hier weg zu bringen.“



    Zustimmend nickte Chris und wandte sich an seine Kinder: „OK, hört mir jetzt gut zu. Wir bringen Euch jetzt nach draußen in Sicherheit. Ihr müsst ganz still sein. Meint Ihr, Ihr schafft das?“


    Als die Kinder nickten, stand Chris auf, nahm Johanna an die Hand und legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes.
    Semir sah seinen Partner an, steckte seine Waffe weg und nach einem aufmunternden Zwinkern zu den Kindern flüsterte er: „Dann kommt mal! Je eher wir Euch in Sicherheit gebracht haben, umso eher können wir uns um Eure Tante kümmern.“ Er hielt ihnen seine Hand hin und nach kurzem Zögern ergriff Johanna sie lächelnd, nachdem sie ihrem Vater einen bittenden Blick zugeworfen hatte.



    Landwehr betrat den Flur, sah sich zu allen Seiten um und winkte ihnen, das sie raus kommen können. Leise schlichen sie hinaus, wandten sich nach rechts und gingen vorsichtig den Gang entlang.
    Doch kaum hatten sie ein paar Schritte getan, als plötzlich über Funk eine Warnung kam: „Achtung! Es nähern sich zwei Männer der Treppe. Sie wollen zu Euch hoch kommen!“


    Während Chris und Semir sich mit einem kurzen Blick verständigten und die Kinder sofort in das nächstgelegene Zimmer zogen, gab Landwehr mit zwei Fingern ein Zeichen und innerhalb von Sekunden waren seine Männer verschwunden, so das es auf dem Flur aussah, als wäre nie jemand da gewesen.


    Unterdessen führten Chris und Semir die Kinder in den hinteren Teil des Raumes, in dem sie Zuflucht gesucht hatten. Sie deuteten ihnen an, dass sie sich in eine Ecke kauern sollten.
    „Ganz leise! Keinen Ton!“ raunte Semir kaum hörbar, während er sie beschwörend ansah. Verschreckt taten sie, was man ihnen sagte, doch sie wussten nicht, was los war. Angstvoll umklammerten sie sich.



    Auf ihren fragenden Blick hin, legte Chris seinen Finger an seine Lippen: „Scht! Ganz ruhig! Habt keine Angst! Euch passiert nichts… Ich bleibe bei Euch!“ Er hockte sich vor ihnen auf den Boden, wandte ihnen den Rücken zu und nahm seine Pistole zur Hand. Auf seinem Gesicht zeigte sich Entschlossenheit: Wer zu den Kindern wollte, musste erst an ihm vorbei!



    In der Zwischenzeit war Semir leise zurück zur Tür geschlichen. Vorsichtig zog er ebenfalls seine Waffe und lugte durch einen Spalt hinaus.
    Plötzlich hörte man schwere Schritte in den Gang einbiegen und eine Stimme fragte: „Hast Du den Schlüssel?“…

  • Zur gleichen Zeit, als Chris an die Zimmertür klopfte, in dem seine Kinder gefangen gehalten wurden, schwebte Borcherts verbissene Miene unangenehm nah vor Gabys Gesicht.


    „Willst Du etwa immer noch behaupten, dass das dort oben Deine Kinder sind?“ funkelte er sie gefährlich an. Er stand direkt vor ihr, stützte sich mit seinen Händen auf den Knien ab und an seiner gepressten Aussprache konnte man deutlich hören, das er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Mit zittriger Stimme antwortete Gaby schwach: „Ja.“

    In den Augen von Borchert blitzte Fassungslosigkeit und aufschäumende Wut auf. Er bohrte seinen Blick in den ihren und er war sich sicher, das er dort nackte Angst, lähmende Furcht, kalte Panik und tiefe Verzweiflung sah. Er wusste, er hatte sie soweit,… er hatte ihren Widerstand gebrochen,… sie weich gekocht…Trotzdem blieb die Frau bei ihrer Behauptung, dass das ihre Kinder seien!… Warum?



    Er hatte sie mit dem Wissen konfrontiert, das der Junge und das Mädchen die leiblichen Kinder von ihrem Bruder seien und das er Beweise dafür hätte. Sie hatte ihren Schreck nicht verbergen können und Borchert wusste, das die Entdeckung von Lorenz richtig war. Und doch wich sie kein Stück von ihrer Aussage ab…



    Langsam kochte es in ihm über und mit einem aggressiven Schnauben, richtete er sich auf und schaute wütend von oben auf die gefesselte Frau herab. Die Adern an seinen Schläfen traten wild pochend hervor. „Du willst es anscheinend nicht anders“, meinte er nach einer Weile kalt. „Dann nehmen wir uns eben das nächste Balg vor.“ Er wandte sich langsam um und machte Anstalten, den Männern ein Zeichen zu geben.



    „Nein!“ stieß Gaby ängstlich hervor. „Bitte nicht!… Bitte nicht noch eines von den Kindern!“ Flehentlich fragte sie leise hinterher: „Warum nehmen Sie nicht mich?“
    Ruckartig drehte er sich zu ihr um, packte grob ihr Gesicht mit seiner linken Hand und krallte seine Nägel in ihre Wangen. Drohend fauchte er sie an: „Du willst, das wir die Kinder in Ruhe lassen?… Dann sag mir endlich die Wahrheit!“ Er löste seinen Griff und erwartungsvoll starrte er in ihr Gesicht.


    Ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann flüsterte sie mit brüchiger Stimme: „Es stimmt… Es sind die Kinder meines Bruders.“ Ein triumphierendes Lächeln wollte sich auf Borcherts Gesicht schleichen. Doch es erstarb sofort, als er bemerkte, wie sich das Gesicht der Frau verhärtete und sich die traurigen Tränen in Tränen aus Zorn verwandelten.



    Trotzig schob Gaby das Kinn nach vorn und mit verhaltener Wut sagte sie: „Aber es sich auch meine Kinder! Und das schon seit mehr als zehn Jahren… Schließlich habe ich sie großgezogen! Ich habe sie getröstet, wenn sie traurig waren! Ich habe mich all die Jahre um sie gekümmert! Ich war immer für sie da! Ich habe für die Kinder vieles geopfert und aufgegeben! Ich… ich…“

    Schluchzend hielt sie inne und während ihr die Tränen über das Gesicht kullerten, versuchte sie seinem erstaunten Blick standzuhalten. Ihr Atem ging stoßweise und sie zitterte am ganzen Leib. Borchert, der mit offenem Mund dastand, fasste sich und blinzelte zweimal heftig. „Ach, guck mal an!… So siehst Du das also?“ meinte er ironisch. „Kann es sein, das die Kinder Deines Bruder jetzt als Ersatz für Deinen toten Sohn herhalten sollen?“



    Gaby antwortete nicht. In ihren Augen zeichneten sich schmerzhafte Erinnerungen ab und tief in ihrer Seele erkannte sie mit Schrecken, das der Mann mit seiner Vermutung ein kleines bisschen Recht hatte. Beschämt senkte sie den Blick. Borchert spürte, das er sie tief getroffen hatte und gab nicht nach: „Oder hör ich da vielleicht auch ein bisschen Wut auf den Bruder heraus?“



    Wieder zuckte Gaby seelisch zusammen, als der Mann einen weiteren wunden Punkt traf. Sie war innerlich so aufgewühlt, das sie ihre Gefühle kaum noch beherrschen konnte. Ihr Atem ging immer schneller und ihr Zittern wurde heftiger. Borchert dagegen beobachtete ihre Reaktionen und in Gedanken jubelte er. Jetzt hatte er sie wirklich da, wo er sie haben wollte!

  • Mit einem unterdrückten Grinsen hakte er gefährlich ruhig nach: „So ist es doch, nicht wahr?… Und weißt Du, was ich glaube?“ Er wartete, bis sie ihn ansah: „Ich glaube, Du willst gar nicht, das Dein Bruder Dich und die Kinder rettet… Denn was ist, wenn er es tut,... hm? Es könnte doch passieren, das dann die Kinder für immer bei ihm bleiben wollen?… Schließlich wäre er ihr Retter, ihr Held!… Doch was wäre dann mit Dir? Du wärst plötzlich ganz allein,… nicht wahr?“


    Er sah, wie sie verzweifelt die Augen schloss und den Kopf hängen ließ. Ihre langen Haare fielen wie ein Schleier herunter und verbargen ihr Gesicht. Borcherts Grinsen wurde noch fieser. „Dein Bruder und ein großer Held…“ Mit einem kurzen, abwertenden Lachen unterstrich er seine Worte. „Na,… wie oft hat er in seinen Erzählungen Menschenleben gerettet? Fünf Mal,… zehn Mal,… zwanzig Mal?… Hm?… Vielleicht ja sogar noch mehr?“ Er machte eine kurze Pause und fügte hämisch hinterher: „Tja, nur schade, das ihm Euer Leben anscheinend nicht so wichtig ist!“


    Gabys Herz krampfte sich zusammen. Sie wusste, das er sie mit seinen kalten, abwertenden Worten versuchte zu verletzen… Um so höllischer tat es ihr weh, die Worte, die sie noch vor einigen Stunden selbst gedacht hatte, aus dem Mund ihres Kidnappers zu hören. Er konnte ja nicht ahnen, dass er das aussprach, was sie empfand! Sie fühlte sich wie eine Verräterin!


    Unterdessen strich sich Borchert nachdenklich über das Kinn, bevor er weiter in der seelischen Wunde stocherte, die er gerissen hatte: „Sei doch mal ehrlich… Hat er Dich nicht bitter enttäuscht?… Hat er Dich nicht erbärmlich im Stich gelassen?… Lässt er Dich nicht gerade gnadenlos allein?“ Ein leises, trauriges Stöhnen entwich Gaby. ‚Wie konnte es nur so weit kommen, das ich Chris nicht mehr vertraue?’ fragte sie sich verzweifelt. ‚Meinem eigenen Bruder! Dabei war es früher doch mal so, das wir füreinander durchs Feuer gegangen wären…’


    Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Borchert den Haarschleier teilte, seine Hand unter ihr Kinn legte und ihren Kopf anhob. In gespieltem Mitleid sah er sie an. „Was hast Du erwartet…?“ Spöttisch kamen die Worte aus seinem Mund. „Er ist nur ein Bulle und nicht Superman! Auch wenn er es Dir und den Kindern vielleicht weis gemacht hat… Und eins kannst Du mir glauben: Selbst wenn er Superman wäre, würde er Euch hier nicht finden.“


    In Gaby bäumte sich verzweifelte Hoffnung auf, als sie leise sagte: „Doch… er wir uns finden!“ „Oh,… das glaube ich nicht!“ ließ Borchert sie selbstsicher wissen. „Und sollte er es doch schaffen und herausfinden wo Ihr seid, würden wir durch unseren Informanten rechtzeitig gewarnt. Bevor er hier wäre, säßen wir bereits im nächsten Versteck!“ Deutlich konnte er ihre wachsende Mutlosigkeit sehen. Mit einem weiteren Schluchzer antwortete sie: „Er muss aber kommen… Er schuldet mir noch was!“


    Herzhaft lachte Borchert auf: „Ach, er schuldet Dir noch was? Na, wenn das so ist!“ Seine Worte trieften nur so vor Sarkasmus. „ Was schuldet er Dir denn?… Dankbarkeit dafür, das er seine Kinder bei Dir abladen durfte und Du auf sie aufgepasst hast, während er fleißig Karriere machen konnte?… Ist Dir eigentlich nie in den Sinn gekommen, das er Dich nur ausgenutzt hat?“


    Gabys Miene nahm einen desillusionierten Ausdruck an. „Nein“, flüsterte sie niedergeschlagen. Sie wollte sich noch empören und sagen, das es nicht der Wahrheit entsprach, was er von sich gab,... das die Wahrheit eine ganz andere sei,... das er die Wahrheit zu seinen Gunsten verdrehen würde... Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie konnte sie nicht aussprechen und verwirrt fragte sie sich, warum!


    Plötzlich schien Borchert eine Idee zu haben, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und meinte mit gönnerhafter Stimme: „Aber weißt Du was?… Ich werde Dir einen großen Gefallen tun.“ Sich selbst zustimmend nickte er bestätigend. „Ich werde mich in Deinem Namen an Deinem Bruder rächen!“ Borchert machte eine Pause und ließ seine Bemerkung wirken, doch auf Gabys Gesicht zeichnete sich nur Ratlosigkeit ab. Sie wusste nicht, was er meinte, jedoch schrillten ihre Alarmglocken. Sie ahnte Fürchterliches!


    Borcherts Augen sprühten vor Begeisterung. „Ja,… so machen wir das!“ rieb er sich vorfreudig die Hände. „Ich will doch schließlich nur Dein Bestes und Du sollst merken, das ich es nur gut mit Dir meine.“ Ein erwartungsvollen Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, bevor er sich zu seinen Männern umdrehte und sie befragte: „Was meint Ihr? Wen sollen wir zuerst nehmen: Den Jungen oder das Mädchen?“


    „Den Jungen!“ „Das Mädchen!“ brüllten die Männer durcheinander.


    Gaby stockte der Atem. Panisch riss sie die Augen auf und starrte Borchert und seine Meute entsetzt an...

  • „Nein!“ keuchte sie. „Bitte nicht!… Nicht schon wieder!… Verschonen Sie die Kinder… Bitte!“ Sie versuchte gegen das Geschreie anzukommen, doch es war zwecklos. Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln, doch mit jeder Bewegung schnitten sie ihr tiefer ins Handgelenk. Ohne sich um den Schmerz zu kümmern, flehte sie weiter, doch niemand beachtete sie.



    Auffordernd hob Borchert die Hände und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Er hörte Gabys Flehen und schaute über seine Schulter. Ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, grinste er sie an und beobachtete ihre Bemühungen ihn umzustimmen. Sich zurück an seine Männer wendend, fragte er sachlich: „Jetzt bitte ich mal um Handzeichen. Wer ist für den Jungen?“ Vier der Männer hoben die Hand. „Wer ist für das Mädchen?“ Die anderen vier Männer zeigten auf.


    „Oje, da haben wir wohl eine Pattsituation.“ Enttäuscht drehte sich Borchert zu Gaby um. „Ich befürchte, die endgültige Entscheidung wirst Du treffen müssen!“


    Fassungslos starrte sie ihn an, öffnete den Mund und doch sie bekam kein Wort heraus. Noch immer konnte sie die Ungeheuerlichkeit und Kaltblütigkeit nicht fassen. Sie sollte entscheiden, wer als nächstes sterben sollte! In ihr schrie alles auf: ‚Nein! Das durfte nicht passieren!’
    Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich… ich kann das nicht! Bitte, verlangen Sie das nicht von mir!“ stieß sie gequält hervor. „Mit mir können Sie meinetwegen machen, was Sie wollen. Aber,… bitte,… bitte,… lassen Sie den Jungen und das Mädchen. Es sind doch noch Kinder!“


    Borchert dachte kurz nach. Nach einer Weile blitzte es in seinen Augen auf und deutlich konnte Gaby erkennen, das er eine Eingebung gehabt haben musste. In den Augen loderte plötzlich ein gefährliches Feuer. Aus seiner Hosentasche zog er ein Handy und sah sie erwartungsvoll an. „Gib mir mal die Nummer Deines Bruders“, verlangte er von ihr.


    „Was haben Sie vor?“ hauchte Gaby entsetzt.


    Er hob seine Augenbrauen und sagte verschwörerisch: „Da du Dich ja anscheinend nicht entscheiden kannst, muss es wohl Dein Bruder selber machen.“


    Noch während sich Gabys Miene vor Schreck verzerrte, klingelte plötzlich das Handy in Borcherts Hand. Erstaunt warf er einen Blick darauf und als er erkannte, wer ihn anrief, zeichnete sich auf seiner Miene ein Fragezeichen ab. Er nahm das Gespräch an, schnauzte ein ungehaltenes: „Was wollen Sie denn von mir?“, dann lauschte er eine Zeit lang. Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz herum, ging einige Schritte zur Seite und fluchte: „Was meinen Sie damit, Sie können Lorenz nicht erreichen?… Was weiß ich, was der gerade macht? Bin ich etwa sein Kindermädchen?... Was wollen Sie überhaupt von mir?“


    Wieder hörte er eine ganze Zeit zu. „Gehlen will was?“ entfuhr es ihm breit grinsend. „Na, das ist ja hervorragend! Das erleichtert uns hier so einiges… Was?... Ach, das brauchen Sie nicht zu wissen.“
    Er wollte das Gespräch beenden, als die Stimme ihn zurückhielt. Auf einmal blaffte er: „Ja mein Gott, wo soll er wohl schon sein? Vielleicht schläft er oder ist was essen gegangen… Was weiß ich!?... Wie sollen die Bullen was heraus bekommen haben, hä? Lorenz sitzt direkt an der Quelle. Glauben Sie etwa, er hätte nicht mitbekommen, wenn die was wüssten?... Und jetzt machen Sie sich mal nicht in Ihr maßgeschneidertes Hemd und lassen Sie uns unsere Arbeit machen!“


    Wütend drückte er die Verbindung weg und fluchte: „Anwälte! Warum machen die aus einer Mücke immer gleich einen Elefanten?“


    Als er sich schließlich umdrehte, sah er die Augen aller fragend und neugierig auf sich gerichtet. „Was glotzt Ihr so?“ entfuhr es ihm. „Es ist alles in Ordnung. Das war nur Gehlens Anwalt und viel heiße Luft um nichts!“


    Unruhig murmelnd wandten die Männer ihren Blick von Borchert. Sie wollten ihn nicht noch wütender machen. Das Mausgesicht jedoch lugte hinter der Kamera hervor und hob die Hand. „Soll ich mal meinen Bruder anrufen und mich erkundigen, was da los ist?“ wagte er zu fragen. „Nein!“ sagte Borchert unwirsch. „Jetzt nicht. Das kannst Du machen, wenn wir hier gleich durch sind.“


    Dann schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Frau und ein breites Lächeln entfaltete sich auf seinem Gesicht. „Du hast Glück!“ grinste er sie frech an. „Die Entscheidung wurde uns soeben von unserem Auftraggeber abgenommen.“ Lässig schnippte er mit den Fingern und augenblicklich traten zwei Männer aus der Gruppe vor. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, sagte er eiskalt: „Holt mir den Jungen. Gehlen will, das er dran glauben soll!“


    „Nein!“ stieß Gaby entsetzt aus. Doch ohne zu zögern stiefelten die beiden mit einem Nicken los. Nach ein paar Schritten rief ihnen Borchert hinterher: „Und sagt dem ‚Doc’ noch mal Bescheid. Er soll endlich runter kommen!“, dann verschwanden sie durch die Schwingtür.



    Bei der Erwähnung des ‚Doc’ konnte Gaby sich nicht mehr beherrschen. Sie ahnte, wer damit gemeint war und hysterisch bäumte sie sich gegen die Fesseln auf und bettelte panisch: „Nein!... Bitte nicht!... Tun Sie das nicht!... Bitte!“ Sie bettelte weiter,... sie flehte,… sie wimmerte,… sie weinte,… sie schluchzte … sie tat alles, um Borcherts hartes Herz zu erweichen. Doch es war vergebens.


    Er stand einfach nur da und weidete sich an ihrer Verzweiflung. Schließlich schwanden ihre letzten Kraftreserven und die Schmerzen der wundgescheuerten Handgelenke traten in ihr Bewusstsein. Sie wurde leiser und mit fast versagender Stimme fragte sie: „Warum machen Sie das?... Warum tun Sie uns das an?“


    Langsamen Schrittes kam Borchert auf sie zu. Er ging vor ihr in die Hocke und sah sie nachdenklich an. Nach einigen Sekunden nahm sein Gesicht einen sadistischen Ausdruck an und in seinen Augen glühte es erwartungsvoll. „Weil es mir Spass macht!“ sagte er begeistert. Dann stand er auf, schaute sie selbstsicher von oben herab an, breitete die Arme aus und rief: „Und weil ich die Macht dazu habe!“ Anschließend brach er in ein krankes Gelächter aus…

  • Eine Etage höher bogen die beiden Männer um die Ecke und der eine fragte den anderen: „Hast Du den Schlüssel?“
    Ohne zu antworten fingerte der Angesprochene aus der Brusttasche seines rot-schwarz karierten Hemdes einen Schlüssel und hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe.
    „Ok, soll ich Dir helfen den Jungen zu holen oder kommst Du allein zurecht?“ wollte der erste Sprecher wissen.
    „Hey…“, entrüstete sich der bullige Typ, „…ich werde doch wohl noch mit zwei Gören fertig! Kümmere Du Dich lieber um den ‚Doc’.“ Er wandte sich der Tür zu und steckte den Schlüssel ins Schloss.
    „Alles klar!“ sagte der Erste. „Wir treffen uns dann unten.“


    Während der bullige Typ den Schlüssel umdrehen und sich der andere zum Gehen wenden wollte, geschah etwas, womit die beiden nicht gerechnet hatten!
    Wie aus dem Nichts heraus standen plötzlich vier schwarz gekleidete Männer vor ihnen und ehe sie auch nur im Ansatz reagieren konnten, wurden sie von ihnen gepackt und völlig lautlos überwältigt. Innerhalb von Sekunden waren sie gefesselt und geknebelt. Die Überraschung lag noch auf ihren Gesichtern, als sie in ein Zimmer geschleift und wie zwei Pakete auf den Boden abgelegt wurden. Einer der Männer in Schwarz richtete seine Waffe auf sie und hielt sie in Schach.


    Thorsten Landwehr klopfte seinen Männern anerkennend auf die Schulter und flüsterte: „Gut gemacht!“
    Er nahm mit Anna Engelhardt Kontakt auf und besprach mit ihr die veränderte Situation. Schnell fassten sie einen neuen Plan.







    Zwei Zimmer weiter gab Semir unterdessen mit erhobenen Daumen Entwarnung und sowohl er, als auch Chris atmeten erleichtert auf.
    „Ich gehe mal zu Landwehr und frage, wie er jetzt vorgehen möchte“, raunte Semir. „Ich bin sofort wieder da.“
    Chris nickte zur Bestätigung und sein Partner huschte zur Tür hinaus. Er wandte sich zu seinen Kindern um und schaute sie stolz an.
    „Das war großartig!“ sagte er leise. „Das habt Ihr wirklich toll gemacht! Jetzt kann Euch nichts mehr passieren… Dafür sorge ich!“


    Mit einer zärtlichen Geste streichelte er ihre Gesichter. „Ab jetzt wird uns nichts mehr trennen. Versprochen!“
    Johanna löste sich von Jakob und umarmte ihren Vater. Lächelnd erwiderte Chris die Umarmung und flüsterte zuversichtlich: „Ihr werdet sehen… wir sind hier gleich ganz schnell draußen und dann könnt Ihr bestimmt auch Tante Gaby wieder sehen.“
    Johanna lehnte sich etwas nach hinten, so dass sie ihrem Vater ins Gesicht sehen konnte. „Und was ist mit Richard?“ wollte sie ängstlich wissen.


    Betroffen blickte Chris seine Tochter an. Was sollte er ihr sagen? Wie sollte er es ihr schonend beibringen?… Vor allem wollte er es ihr nicht hier sagen. Dies war nicht der richtige Ort dafür!
    Fieberhaft überlegte er, doch zu seinem Glück erschien in diesem Moment wieder Semir im Zimmer und alle Aufmerksamkeit richteten sich auf ihn.
    Auf Zehenspitzen kam er zu ihnen, legte Chris eine Hand auf die Schulter, beugte sich etwas herab und raunte: „Chris,… die Männer hatten den Auftrag, die Kinder nach unten bringen. Daher will Landwehr mit seinem SEK jetzt so schnell wie möglich stürmen, bevor die da unten misstrauisch werden. Er schlägt vor, dass Du bei den Kindern bleibst und auf sie aufpasst. Ist das ok für Dich?“


    Zustimmend nickte Chris, doch in seiner Miene konnte Semir Sorge erkennen, als er ihn fragte: „Was ist mit meiner Schwester?“
    „Ich gehe mit runter und helfe sie zu befreien“, antwortete Semir. Er sah drei Paar Augen auf sich gerichtet, die ihn flehentlich anschauten. Mit einem zuversichtlichen Lächeln meinte er: „Ich werde alles daran setzen, sie Euch heil zurück zu bringen! Ich werde mich persönlich um sie kümmern.“ Seine Aussage klang wie ein Versprechen und die Kinder lächelten ihn dankbar an.


    Er richtete sich wieder auf, ging zur Tür und wollte gerade hinausgehen, als er eine Berührung am Arm spürte. Chris war ihm gefolgt und stand nun neben ihm.
    „Semir, bitte…“ flüsterte Chris heiser, „… ich…“ Etwas Wichtiges lag ihm auf der Seele, doch er wusste nicht wie er es Semir sagen sollte.
    Doch es war auch nicht nötig. Semir konnte in seinem Gesicht deutlich erkennen, was in ihm vorging und was er ihm sagen wollte.
    „Chris, ist schon gut“, versicherte er ihm. „Ich weiß, wie viel Dir Deine Schwester bedeutet und ich verspreche Dir, ich bringe sie Dir zurück. Das schwöre ich Dir!“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Keine Angst… Landwehrs Männer sind gut. Es wird schon alles gut gehen… Vertrau uns!“ flüsterte er beruhigend.
    Chris atmete tief durch, nickte und sagte leise: „Ich weiß, Semir. Danke.“
    Sein Partner blickte ihn ernst an: „Dank mir erst, wenn Du Deine Schwester sicher in den Armen hältst.“ Dann schlich er schnell zu Landwehrs Truppe.


    Chris sah ihm hinterher und beobachtete, wie er mit den Männern um die Ecke verschwand. Trotz Semirs Versprechen, fiel es ihm schwer ruhig zu bleiben.
    Am liebsten würde er mitgehen und helfen, Gaby zu befreien. Er war so nah an ihr dran und wollte sie endlich in Sicherheit wissen! Doch er wollte seine Kinder auch nicht wieder aus den Augen lassen. Sie waren ihm mindestens genauso wichtig! Er fühlte sich hin und her gerissen! Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und atmete tief ein.
    ‚Gaby! Halt noch ein bisschen aus’, sprach er seiner Schwester in Gedanken Mut zu. ‚Nicht mehr lang und wir haben Dich auch befreit!’


    Mit einem verhaltenen Seufzer trat er zurück ins Zimmer und lehnte die Tür leicht an. Einen schmalen Spalt ließ er offen, so dass er immer mal wieder einen Blick in den Flur werfen konnte. Seine Aufmerksamkeit wurde auf die Kinder gerichtet, die ihn gespannt mit großen Augen ansahen und plötzlich musste er lächeln.
    „Johanna…“, schmunzelte er, „…lass mal die Hand Deines Bruder los. Seine Finger sind schon ganz blau!“
    Blinzelnd lösten sich die Geschwister aus ihrer Gebanntheit und glucksend ließ Johanna die Hand ihres Bruders los. Kichernd sprachen sie leise miteinander weiter. Eine Zeit lang beobachtete Chris seine Kinder liebevoll und auf seinem Gesicht zeigte sich aufkeimende Erleichterung, als er feststellte, das sie anscheinend nicht zu traumatisiert waren.


    Er richtete seine Konzentration zurück auf den Flur und warf einen Kontrollblick in den Gang. Alles war ruhig… Gut!
    Chris entspannte sich etwas und ließ seinen unbewusst angehaltenen Atem langsam durch die Nase entweichen. Sein Herzschlag wurde gleichmäßiger und Zuversicht breitete sich in ihm aus.
    Er blickte flüchtig auf seine Uhr und überlegte, ob Landwehrs Männer nicht langsam unten sein müssten. Nebenher lauschte er mit einem Ohr in den Gang. Wenn das SEK stürmen würde, würden sie das bestimmt hier oben hören. Jeden Augenblick müsst es eigentlich soweit sein!



    Doch statt dessen hörte er plötzlich ein Geräusch, mit dem er hier nicht gerechnet hätte und es ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren…

  • Hier Elli,nur für Dich... ;) Du wolltest doch wissen, was Semir macht...
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    Das SEK um Thorsten Landwehr verteilte sich in der Eingangshalle und bezog Positionen in der Nähe der Schwingtüren. Semir, der sich etwas im Hintergrund hielt, versteckte sich hinter einer Säule. Eine laute Stimme war aus dem Speisesaal zu hören und er konnte an der ungehaltenen Tonart erkennen, das der Sprecher über irgend etwas nicht erfreut war.
    ‚Lass uns nicht zu spät sein’, flehte Semir in Gedanken, wobei er sorgenvoll an die Worte denken musste, die Jakob gesagt hatte. ‚Hoffentlich lässt Borchert Gaby in Ruhe.’


    Sein Blick wurde auf die beiden SEK-Männer gelenkt, die sich in der Nähe der Tür zum Speisesaal postiert hatten und nun mit Hilfe eines Endoskopähnlichen Gerätes die Lage im Raum sondierten. Mit Handzeichen zeigten sie an, was sie auf dem kleinen Monitor erkennen konnten. Wenn Semir es richtig deutete, befanden sich mindestens zehn Männer in dem Raum.
    Unbewusst musste er schlucken und dachte besorgt: ‚Doch so viele!’
    Irgendwie hatte er gehofft, das die Aussage des alten Landstreichers übertrieben gewesen sei. Aber dem schien nicht so zu sein.
    ‚Egal wie viele es sind, wir haben den Überraschungsmoment auf unserer Seite’, versuchte er sich Mut zu machen.


    Vorsichtig zogen die Beamten den dünnen Schlauch unter dem Türspalt hervor und ließen das Gerät verschwinden. Alle Augen richteten sich auf Landwehr, der seinen Männer mit Gesten Befehle erteilte, die nur sie verstanden. Dann schaute er Semir fragend an.
    Der nickte kurz und gab mit seinen Fingern das OK-Zeichen. Semir wusste, das es seine Aufgabe war sich um Gaby zu kümmern, wenn das SEK die Lage unter Kontrolle hatte. Er hatte Chris und den Kindern dieses Versprechen gegeben und er würde alles daran setzen, es einzuhalten.
    Unruhig trat Semir von einem Bein auf das andere. Er wollte so schnell wie möglich zuschlagen und die Sache zu Ende bringen.


    Über sein Headset bekam Landwehr just in diesem Moment von der Engelhardt die Meldung, das die äußere Einheit vorgerückt und bereit sei, durch die hinteren Ausgänge und Fenster einzudringen.
    Landwehr sah sich um, bemerkte das alle bereit waren und hob zum Signal die Hand…

  • So, sisi, dann will ich Dir und allen anderen des Rätsels Lösung präsentieren... :D
    ----------------------------------------------------------------------------------------------


    Zur selben Zeit, als sich das SEK leise nach unten begab, wischte der ‚Doc’ seine Hände an einem Tuch ab, warf es in eine Ecke und trat an den Jungen heran. Mit den Fingern seiner rechten Hand strich er ihm eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht. Zärtlich glitt sein Blick über das fahle Gesicht, schaute versonnen in die leeren Augen und schnurrte: „Für den Moment ist es genug, mein Lieber! Ruh Dich aus und erhol Dich ein wenig. Nachher bin ich zurück und heute Abend machen wir weiter.“ Sanft streichelte er dessen Wangen und deckte den Jungen anschließend mit einem weißen Laken sorgfältig zu.


    Er streifte sich den blutbeschmierten Kittel ab, strich sein Hemd glatt und mit der linken Hand brachte er seine Haare etwas in Ordnung. Nach einem überprüfenden Blick in seine Tasche, nahm er sie lächelnd vom Tisch und verließ froh gelaunt das Zimmer. Während er mit federnden Schritten und ein Liedchen pfeifend den Gang entlang schlenderte…




    ... kämpfte Chris gegen das blanke Entsetzen an, welches sich eiskalt in ihm ausbreitete. Das konnte unmöglich sein!... Nein!... Das konnte nicht wahr sein! Dieses Pfeifen… Diese Melodie…
    Augenblicklich stürzten die grauenhaften Erinnerungen aus der Vergangenheit über ihn herein und plötzlich hatte er das Gefühl, wieder in Gefangenschaft zu sein. Noch einmal liefen die grausamen Szenen wie aus einem schlechten Film vor ihm ab:


    Er sah sich wieder in diesem dreckigen, kalten Kellerloch sitzen,… gefesselt an einen Stuhl und vor Kälte zitternd. Man hatte ihn hungern und dürsten lassen,… ihn mit Fäusten geschlagen,… mit Stöcken und Ketten auf ihn eingeprügelt,… ihn mit glühenden Zigaretten und Stromstößen gefoltert…
    Seine schmerzerfüllten Schreie waren an den nackten Betonwänden abgeprallt und waren auf abgestumpfte Ohren gestoßen. Er hatte Richard Lemercier angebettelt, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, doch seine flehenden Worte zeigten keinerlei Reaktion auf Lemerciers teilnahmslosen Gesicht.


    Statt dessen hatte ihm Lemercier einen Arzt besorgt. Einer, so versprach er Chris, der ihn versorgen würde,… der sich um seine Wunden kümmern würde,… der ihm die Schmerzen lindern würde,… der ihm etwa geben würde, damit er neue Energien schöpfen könnte…
    Zu diesem Zeitpunkt hatte jede einzelne Faser von Chris’ Körper nach Erlösung gelechzt… daher hatte er nicht weiter darüber nachgedacht, woher Lemercier einen Arzt bekommt, der keine Fragen stellen würde.


    Dann war er gekommen,… der so genannte ‚Arzt’… und nie würde er vergessen, wie er schon auf dem Weg zu ihm dieses Lied pfiff. Mit seinen blendend weißen Zähnen hatte er ihn angelächelt, sich als ‚Doc’ vorgestellt und dabei das perfekt gestylte Haar mit einer koketten Bewegung seines Kopfes aus dem Gesicht geworfen. Mit sanft geflüsterten Worten hatte er ihm eine Spritze gesetzt: „Wirst sehen. Ab jetzt wird es für Dich leichter!“
    Schon während der ‚Doc’ zustach, ahnte Chris das dies kein normales Schmerzmittel war. Er wusste, das die nur selten intravenös gegeben wurden…


    Dann hatte er das Brennen verspürt und Millisekunden, bevor er den ersten Flash bekam, wusste er, was man ihm gespritzt hatte! Sein letzter Gedanke war schiere Panik gewesen, dann hatte sich seine Welt in ein Panoptikum aus grellen Farben und wilden Formen verwandelt…
    Sein Atem ging schwer, als Chris mit Schrecken an die darauf folgenden Tage und Stunden zurückdenken musste…
    Tage, in denen er zwischen jauchzender Euphorie und extremen Angstzuständen schwankte,…
    Stunden, in denen er von mehreren Horror-Trips heimgesucht wurde,…
    Tage, in denen das Hochgefühl nicht enden wollte, weil man ihn regelmäßig mit Drogen versorgte…
    Stunden, in denen er grausam hingehalten wurde und er erst was bekommen sollte, wenn er etwas verraten würde,…
    Tage, an denen er auf den heiß ersehnten Kick durch eine höhere Dosis wartete,…
    Stunden, in denen die Schmerzen oft unerträglich waren und er sich verzweifelt die Seele aus dem Leib geschrieen hatte…
    Tage, an denen er drauf und dran war alles zu verraten was er wusste, nur um seinem Martyrium zu entkommen…
    Stunden, in denen er darum gefleht hatte, sterben zu dürfen…


    Und stets wurden die Ereignisse begleitet von der gepfiffenen Melodie des ‚Doc’, deren Klang sich auf immer und ewig in Chris’ Hirn brannte…
    Er erinnerte sich an seine zwiespältigen Emotionen, die er verspürt hatte, sobald er das Pfeifen gehört hatte: himmelhohe Vorfreude und höllische Angst! Er war wie ein ausgehungerter Hund gewesen, der sich darauf freute von seinem Herrchen Fressen zu bekommen, obwohl er wusste, das der ihn schlagen würde.


    Und dieser Mensch gewordene Alptraum war anscheinend zurück gekehrt… nein, viel schlimmer... er war hier... hier in diesem Gebäude!
    Chris hatte redliche Mühe, sich von den furchtbaren Bildern zu befreien, die seine Seele quälten. „Nein!… Nein, das darf nicht wahr sein!“ hauchte er entsetzt und löste sich aus seiner Starre.
    Er hörte nicht mehr, wie Jakob besorgt fragte: „Papa...? Was ist los?“


    Wie unter Zwang öffnete Chris die Tür, trat einen Schritt in den Flur und schaute in die Richtung, aus der die Melodie kam. Niemand war zu sehen, aber deutlich waren Schritte zu hören. Dann sah er einen Schatten um die rechte Ecke kommen und mit seinen Augen versuchte er das schummerige Licht auf dem gegenüber liegenden Gang zu durchdringen.
    Die Person wurde langsamer, als sie Chris bemerkte. Doch auch sie schien ihn nicht richtig erkennen zu können. Die Schritte wurden zaghafter und das Pfeifen wurde erst leiser, dann verstummte es ganz. Die Person tat einen weiteren Schritt nach vorn und trat in einen Lichtkegel, der aus einer geöffneten Zimmertür in den Flur fiel.


    Mit schreckensweiten Augen erkannte Chris seinen Folterknecht von damals und zog scharf die Luft ein. Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit verzerrten seine Miene, als er mit erstickter Stimme hervor stieß: „’Doc’…!?“
    Angst, Panik und Übelkeit breiteten sich in ihm aus, sein Herz raste wie wild und er war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Stolpernd machte er einen Schritt nach hinten und kämpfte verzweifelt gegen den sich in ihm regenden Fluchtreflex an.
    Gleichzeitig wusste er, was er eigentlich zu tun hatte. Wie oft hatte er sich schließlich in den vergangenen zwei Jahren gewünscht, diesen Mann zu fassen…


    Doch jetzt, wo er fast greifbar war, konnte er sich nicht bewegen! Er war wie gelähmt…

  • Landwehrs erhobene Hand sauste nach unten und gleichzeitig rief er in sein Mikro: „Los!“ Augenblicklich stürmten die Männer in den Saal…



    … und Gaby wusste nicht, wie ihr geschah. Gerade noch hatte sie Borcherts irres Lachen in den Ohren, als plötzlich die Hölle um sie herum ausbrach.
    Während die Schwingtüren mit lautem Knall aufflogen, brachen mehrere Fenster mit klirrendem Scheppern und von allen Seiten kamen plötzlich dunkel gekleidete Gestalten in den Raum. Sie hielten Waffen in den Händen, brüllten Befehle und überwältigten diejenigen, die Anstalten machten zu entfliehen. Doch die meisten von Borcherts Männern waren so geschockt, das sie fast ohne Gegenwehr überrumpelt werden konnten.


    Der Einzige, der sich augenblicklich von seinem anfänglichen Schrecken erholte, war Borchert selbst. Rasch nahm er seine Arme, die er immer noch in Triumphpose nach oben hielt, nach unten und war mit zwei Schritten hinter Gaby. Schnell umfasste er mit seinem linken Arm ihren Hals und zog sie an sich heran.
    Gaby wollte vor Angst aufschreien, doch Borchert würgte sie mit seinem Arm so fest, das sie keinen Ton heraus bekam. Panisch sah sie, wie mehrere Waffen auf sie gerichtet wurden und entsetzt dachte sie: ‚Oh Gott! Die schießen auf uns!’
    Sie hörte, wie eine energische Stimme dröhnend rief: „Geben sie auf, Borchert! Lassen Sie die Frau los. Sie kommen hier nicht raus!“


    Doch Jens Borchert dachte nicht im Traum daran sich einfach zu ergeben. Blitzartig griff er mit seiner freien Hand nach hinten und zog eine Waffe aus dem Gürtel. Bevor er sie jedoch im Anschlag hatte, peitschten Schüsse durch die Luft und er wurde von zwei Kugeln getroffen. Durch den Einschlag der Geschosse wurde sein Oberkörper ruckartig nach hinten gerissen und er fiel, den Arm immer noch um Gabys Hals, zu Boden.


    Gaby wusste im ersten Moment nicht, was passierte, als sie mitsamt dem Stuhl auf Borchert fiel. Während des Falls lockerte sich sein Arm und ein schriller Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Dann kippte sie zur Seite weg und sie spürte, wie die Lehne des Stuhls auf ihrem rechten Arm prallte. Schmerzhaft stöhnte sie auf. Verzweifelt rollte sie sich auf den Bauch, um dem Schmerz zu entkommen und versuchte sich gleichzeitig von dem Stuhl zu befreien. Doch die fest angebunden Hände verhinderten das.



    Auf einmal waren Schritte bei ihr. Jemand kniete sich neben ihrem Kopf ab und sie fühlte, wie sich eine Hand zwischen ihre Schultern legte. Aus Angst vor weiteren Misshandlungen, krümmte sie sich ängstlich und misstrauisch zusammen.
    „Ganz ruhig, Gaby,… ganz ruhig! Es ist vorbei!“ hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme…

  • Der ‚Doc’, der seit Sekunden in seiner Position verharrte, starrte zu Chris herüber und versuchte sich an ihn zu erinnern. Er konnte die Person nicht richtig erkennen, aber etwas seltsam Vertrautes löste der Anblick bei ihm aus. Nur was…? Verhalten warnte ihn sein Instinkt und vorsichtig machte er einige Schritte nach hinten.

    Chris sah, dass sich der ‚Doc’ rückwärts bewegte und immer weiter entfernte. Doch er konnte nicht reagieren… Noch immer war er wie blockiert!
    Erst der plötzlich losbrechenden Tumult eine Etage tiefer riss ihn endlich aus seiner Starre. Er zog seine Waffe, legte an und schrie „Bleiben Sie stehen, ‚Doc’!“


    Doch der ‚Doc’ war bereits in die schützende Dunkelheit des Ganges zurück gewichen und rannte in den linken Flur.
    Augenblicklich setzte Chris zu einem Sprint an und lief den langen Gang entlang. Er hörte nicht mehr, wie seine Kinder leise hinter ihm herriefen,… er nahm nicht mehr das Getöse wahr, welches von unten nach oben drang,… er registrierte nicht mehr die Schüsse, die das Gebrüll übertönten…
    Sein Fokus lag einzig und allein darin den ‚Doc’ zu schnappen! Hier, heute und jetzt wollte er es zu Ende bringen! Koste es was es wolle!


    Als Chris an der Ecke ankam, um die der ‚Doc’ verschwunden war, hielt er kurz inne. Er bemühte sich, seinen Atem und seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen, dann lauschte er angestrengt. Nichts war zu hören.
    Mit der Waffe im Anschlag ging er vorsichtig um die Ecke und versuchte sich zu orientieren. Dieser Flur führte zu den Zimmern an der Vorderseite des Motels. Chris meinte sich zu erinnern, das es dort Balkone gab und er ahnte, was der ‚Doc’ vorhatte. Langsam bewegte er sich vorwärts und warf dabei in jeden Raum, an dem er vorbei kam, einen schnellen Blick.


    Weiter vorn war auf einmal ein Geräusch zu hören und Chris eilte mit leisen Schritten in die Richtung. Wieder war etwas zu hören und es schien aus dem letzten Zimmer auf der linken Seite zu kommen.
    Chris stellte sich neben den Türrahmen, atmete tief ein und mit einer Hand öffnete er vorsichtig die Tür, die leise quietschte.
    „Kommen Sie raus, ‚Doc’!“ rief er. „Es ist vorbei…“ Doch alles blieb still.


    Mit nach vorn gerichteter Waffe, betrat Chris den Raum und er erkannte sofort, wohin der Flüchtige verschwunden war. Mit ausgreifenden Schritten durchquerte er das Zimmer, betrat den Balkon und sah jemanden zwischen den Bäumen des schmalen Waldstreifens zur Autobahn hin verschwinden.
    Fluchend legte Chris an, zielte… und senkte seine Waffe aber sofort wieder ab. Er warf einen prüfenden Blick in die Tiefe, schätze die ungefähre Höhe und fasste einen Entschluss. Hastig steckte er seine Waffe ins Holster, griff mit beiden Händen das Geländer und schwang sich geschmeidig darüber.
    Kaum berührten seine Füße den Boden, rollte er sich ab und war augenblicklich wieder auf den Beinen. Ohne inne zu halten rannte er hinter dem ‚Doc’ her.


    Er konnte zwischen den Bäumen sehen, wie sich dieser halsbrecherisch zwischen den dahinrasenden Autos hindurch schlängelte und in diesem Moment über die mittlere Leitplanke kletterte.
    Verbissen lief Chris weiter... immer den ‚Doc’ fest im Blick. Er merkte nicht, wie sich scharfe Dornen in seine Hose krallten und kleine Löcher rissen oder ihm Zweige sirrend ins Gesicht peitschten.
    ‚Ich muss ihn einholen!… Er darf nicht entkommen!’ war das Einzige, was er denken konnte. Dieser Gedanke setzte letzte Kraftreserven in ihm frei und trieb ihn unbeirrbar vorwärts.


    Endlich hatte er die Autobahn erreicht und hastig versuchte er über die Fahrbahn zu gelangen. Wie aus weiter Ferne hörte er quietschende Reifen und das ärgerliche Gehupe einiger Autofahrer. Erst das bedrohlich näher kommende Brummen eines LKWs brachte ihn in die Realität zurück und nur durch einen beherzten Sprung zurück, konnte er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.


    Chris rappelte sich auf und suchte hektisch mit seinem Blick die andere Seite der Autobahn ab. Er konnte den ‚Doc’ nirgendwo mehr sehen! Verzweifelt setzte zu einem weiteren Versuch an. Als er endlich die gegenüberliegende Seite erreichte, musste er mit Ernüchterung erkennen, das er den ‚Doc’ verloren hatte. Zwar rannte er noch ein kleines Stück in den angrenzenden Wald hinein, aber schnell merkte er, das es zwecklos war.


    Schwer atmend stand Chris eine Zeit lang da und versuchte außer seinem wilden Herzschlag, dem Rauschen der Bäume und den vorbei fahrenden Autos noch etwas anderes zu hören. Er konnte jedoch nichts verdächtiges wahrnehmen.
    Frustriert stieß er einen kehligen Schrei aus und stampfte zornig mit dem Fuß auf.
    Wut machte sich in ihm breit… Wut auf sein Zögern,… Wut auf sein Versagen,… Wut auf sich selber! Wie hatte er sich so beeinflussen lassen können?


    Seine ganze angestaute Verzweiflung in die Stimme legend, brüllte er plötzlich: „Ich kriege Dich, ‚Doc’!… Eines Tages kriege ich Dich!… Das schwöre ich Dir!… Hörst Du mich?… Ich kriege Dich!“
    Chris lauschte, doch der Wald schwieg behäbig. Fahrig fuhr Chris sich durch die Haare, atmete tief durch und sammelte seine Gedanken.
    ‚Oh Gott!…Gaby!… Die Kinder!’ durchzuckte es ihn plötzlich siedend heiß. Schnell drehte er sich um und sprintete zurück…




    Keine zehn Meter von Chris’ letztem Standort lag der ‚Doc’ unter einer aus dem Boden ragenden Wurzel eines vom Wind gefällten Baumes und zitterte wie Espenlaub.
    ‚Das war verdammt knapp gewesen!’ dachte er erschrocken bei sich und versuchte sich durch ein mehrmaliges tiefes Durchatmen zu beruhigen.

    Als er sicher war, das Chris sich wirklich entfernt hatte, fing er an zu lächeln. In seinem Kopf klang Chris’ Fluch nach und ein sadistisches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des ‚Doc’ aus.
    ‚Zuerst musst Du mich kriegen!’ lachte er in Gedanken. ‚Und selbst wenn du mich bekommst… Dann stellt sich immer noch die Frage, ob ich Dir nicht mehr schaden als nutzen kann!’


    Fünf Minuten später krabbelte er, sich vorsichtig nach allen Seiten umblickend, aus seinem Versteck und kurz darauf hatte das Dickicht des Waldes ihn vollkommen verschluckt…

  • Gaby glaubte im ersten Moment einem Trugschluss zu erliegen, als sie meinte, Semirs Stimme zu erkennen. Zu oft hatte sie auf eine Rettung durch Chris gehofft, so dass das hier nicht wahr sein konnte! Verzweifelt versuchte sie zu entkommen.
    „Scht, es ist alles ok!… Ich bin es,… Semir!“ versuchte die Stimme sie zu überzeugen und gleichzeitig zu beruhigen. „Bleib ganz ruhig… Jetzt wird alles gut!… Wir befreien Dich sofort von Deinen Fesseln.“


    Semir machte sich an den Kabelbindern zu schaffen, doch schnell erkannte er, das er sie nicht ohne weiteres lösen konnte. „Verdammt, ich brauche ein Messer!“ rief er plötzlich laut.
    Das Gewünschte aus dem Stiefel ziehend, trat ein SEK-Beamter, der in der Nähe stand, auf ihn zu und reichte ihm ein gezacktes Jagdmesser. Mit zwei schnellen Schnitten löste Semir die Plastikbänder, entfernte den Stuhl und legte ihn zur Seite.
    Behutsam fasste er Gaby an den Schultern und half ihr vorsichtig in eine sitzende Position. Er spürte ihr ängstliches Zusammenzucken, als er sie berührte und wie sie vor Furcht zitterte. Besänftigend sprach er auf sie ein: „Keine Angst, Gaby!… Alles ist gut!… Es ist vorbei!… Du bist in Sicherheit!“


    Langsam hob Gaby den Kopf, so als könne sie immer noch nicht glauben, was da gerade passiert war. Sie wagte es nicht, ihren Blick auf die Person zu richten, die vor ihr saß.
    Konnte es denn wirklich wahr sein?…
    War sie wirklich gerettet worden?…
    Was aber, wenn sie das alles nur träumte?…
    Was, wenn sie gleich aufwachte und sich in der furchtbaren Realität wieder finden würde?…
    In einer grausamen, schmerzhaften Realität?…
    Worte voller Fürsorge erreichten ihr Ohr und ein kleiner Funken Hoffnung glimmte in ihr auf. Er schenkte ihr Mut und Vertrauen. Wie ein verlorenes Schiff auf hoher See, das dem rettenden Leuchtfeuer am Ufer folgte, lauschte sie der Stimme und folgte ihrem Klang.
    Mit einem Mal schaute sie in Semirs braune Augen, die zwar besorgt auf sie gerichtet waren, aber auch voller Wärme und Güte waren. Zitternd berührte sie mit einer Hand sein Gesicht und als sie spürte, das es real war, wusste sie augenblicklich, das jetzt alles gut werden würde!
    Mit ungläubigem Staunen hauchte sie: „Semir…“


    Sanft nahm Semir ihre Hand in die seine und drückte sie leicht. „Ja, ich bin es“, bestätigte er und lächelte sie aufmunternd an. „Chris ist auch hier. Er ist bei den Kindern…“ Er bemerkte ihr ängstliches Aufflackern und beruhigte sie sofort: „Keine Angst! Jakob und Johanna sind wohlauf und es geht ihnen gut!“
    Erleichtert schloss Gaby für einen Moment die Augen. Sie beugte sich nach vorn und zaghaft lehnte sie ihren Kopf an Semirs Schulter. „Danke!“ flüsterte sie erschöpft.
    Semir umarmte sie sanft, streichelte mit einer Hand ihre Haare und murmelte leise Trost spendende Worte.
    Als sie nach einer Weile ihren Kopf hob, sah sie Semir mit fragendem Blick an. „Kann ich die Kinder sehen?“ wollte sie mit zitternder Stimme wissen.


    Bevor Semir antworten konnte, trat Anna Engelhardt hinzu und ging neben ihnen in die Hocke. Mit einem gütigen Lächeln schaute sie Gaby an, berührte sie sachte am Arm und sagte: „Sie sind bestimmt die Schwester von Herrn Ritter. Ich bin Anna Engelhardt, seine Vorgesetzte. Ich rufe Ihnen erst einmal einen Arzt, der sich um Sie kümmern wird. Ich sage Ihrem Bruder Bescheid, das es Ihnen gut geht und er wird dann gleich mit den Kindern zu Ihnen herunter kommen. Anschließend bringen wir sie in ein Krankenhaus. OK?“
    Dankbar nickte Gaby langsam.


    Während Anna über Funk einen Arzt anforderte, tauschte sie mit Semir einen besorgten Blick und er wusste was sie meinte. Neben den vielen sichtbaren Verletzungen hatte Gaby offensichtlich einen schweren Schock und der musste dringend behandelt werden!


    Unterdessen ließ Gaby ihren Blick in die Runde schweifen. Geistesabwesend nahm sie das Geräusch von Sirenen wahr, welche mit einem Mal draußen zu hören waren. Blaues Licht fiel tanzend an die Wände und verlieh dem Raum in eine unruhige Atmosphäre. Einige Polizisten schwärmten herein und gemeinsam mit dem SEK führten sie die Kidnapper einzeln in Handschellen nach draußen.


    Hinter sich hörte sie jemanden in dringendem Tonfall nach einem Sanitäter fragen und wollte sich der Stimme zuwenden, als sie spürte, wie sie an den Oberarmen gefasst und sanft an der Bewegung gehindert wurde. Wie durch einen dicken Nebel hörte sie Semir sagen: „Hey, Gaby, schau nicht dahin! Sieh lieber mich an!“ Ein neckisches Grinsen überflog sein Gesicht, bevor er wieder ernst wurde. „Es ist vorbei, hörst Du? Du hast es geschafft und es kann Euch nichts mehr passieren“, versicherte er ihr.


    Eine einsame Träne fiel aus Gabys Augen. „Ich will hier weg!“ flüsterte sie heiser.
    Zuerst wollte Semir sie dazu bewegen auf den Arzt zu warten und warf einen Hilfe suchenden Blick zur Chefin. Doch Gaby schaute so traurig, das beide ein Einsehen hatten. Mitfühlend nickte Anna und winkte einen SEK-Beamten herbei. Gemeinsam halfen sie ihr vorsichtig auf die Beine und von starken Armen gestützt verließ Gaby den Ort des Schreckens…

  • Gehetzt kam Chris am Motel an. Schon von weitem bemerkte er das zuckende Flackern mehrerer Blaulichter, so das die umstehenden Bäume zeitweilig in ein grelles, gespenstisches Licht getaucht wurden. Schnell rannte er um das Gebäude herum und sah, wie die ersten Männer in Handschellen herausgeführt und zu einem Transporter gebracht wurden. Neben mehreren Einsatzfahrzeugen standen zwei RTW mit offenen Türen in der Nähe des Einganges und mit bangem Zögern ging er darauf zu.


    Doch bevor er einen Blick hineinwerfen konnte, hörte er, wie sein Name gerufen wurde: „Herr Ritter!“
    Er wandte sich um und erkannte den Einsatzleiter, der erstaunt fragte: „Wo kommen Sie denn her und was machen Sie hier unten? Ich dachte, Sie wären bei Ihren Kindern!?“
    „Ich habe jemanden verfolgt“, antwortete Chris knapp. Landwehrs Blick meidend, schaute er an ihm vorbei auf den Boden und öffnete die Klettverschlüsse seiner Schutzweste.
    „Wen?“ wollte Landwehr alarmiert wissen.


    Nur für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Chris, dann sagte er ausweichend, während er sich das schwere Kleidungsstück über den Kopf zog: „Ich weiß nicht, wer es war. Auf jeden Fall hatte sich dieser Jemand in einem der hinteren Zimmer versteckt und konnte entkommen.“
    „Wohin ist derjenige entkommen? In welche Richtung ist er geflohen? Vielleicht können wir ihn noch festsetzen“, hegte der Einsatzleiter eine leise Hoffnung.
    „Nein!“ schüttelte Chris entschieden den Kopf. „Der ist weg.“
    „Verdammt, Ritter!“ fluchte Landwehr. „Warum machen Sie keine Meldung? Warum haben Sie keine Verstärkung angefordert?“
    „Weil dafür keine Zeit war und Sie mit der Erstürmung beschäfftigt waren!“ brauste Chris ungehalten auf und feuerte die Weste in einen in der Nähe stehenden Streifenwagen. „Wo ist überhaupt meine Schwester?“


    Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um, hastete zum Hintereingang und war verschwunden.
    Landwehr blickte ihm für einen Augenblick wütend hinterher und in seinen Augen blitzte es zornig auf. Deutlich konnte man erkennen, was er von Chris’ Verhalten dachte. Dann kommandierte er einen seiner Männer ab und befahl ihm die Zimmer der ersten Etage zu durchsuchen…






    Chris stürzte in die Eingangshalle und prallte fast mit der Chefin zusammen. Erstaunt sah sie ihn an, doch bevor sie fragen konnte, wollte er besorgt wissen: „Wo ist meine Schwester? Geht es ihr gut?“ Dabei flammte in seiner Miene offene Angst auf.
    Anna legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm, lächelte kurz und öffnete den Mund. Sie kam aber nicht dazu, ihm zu antworten.


    „Chris!“ Ein freudiges und zugleich verzweifeltes Rufen war zu hören und ließ Chris’ Kopf herumfliegen.
    Dann sah er sie endlich… seine Schwester!
    Mehrere Wogen der Erleichterung brandeten über ihm zusammen und sein Herz fing freudig an zu schlagen.
    Gott sei Dank,… sie lebte!
    „Gaby!“ stieß er aufatmend hervor und eilte zu ihr hin.


    Sich von den Männern lösend, die sie stützten, reckte Gaby ihrem Bruder die Arme entgegen und machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu. Doch ihr ausgelaugter Körper, ihre müden Muskeln und ihr erschöpfter Geist hatten keine Kraft mehr. Ihre Knie gaben nach und sie sackte in sich zusammen. Sie fühlte, wie Chris’ Hände sie sacht auffingen und er sie sanft auf den Boden setzte. Er kniete sich neben sie und mit einem Seufzer sank sie in seine Arme.


    „Chris,… Du bist wirklich gekommen“, flüsterte Gaby, während sie ihren Kopf an seine Brust legte und ihn mit ihren Armen umschlang.
    „Aber natürlich!“ antwortete Chris mit zitternde Stimme. „Du weißt doch: Durch die Hölle und zurück!“ Er umarmte sie ebenfalls und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seinen Mundwinkel.


    Als die Geschwister sich gegenseitig spürten, schlossen beide erleichtert die Augen. Eng umschlungen saßen sie mitten in der Eingangshalle des schäbigen Motels. Positive Emotionen durchströmten sie und sie saugten sie auf, wie vertrocknete Erde den ersten Regen. Völlig vergessend, wo sie waren, blieb für sie einen magischen Moment lang die Zeit stehen...


    Durch ihre innige Umarmung fühlten sie, wie ihre Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit gestillt wurde,... etwas, wonach sie sich in den letzten Stunden so häufig gesehnt hatten.


    Die warme Berührung spendete ihnen neuen Mut und neue Hoffnung,... etwas, was ihnen fast verloren gegangen war.


    Das sichere Gefühl, sich anlehnen zu können,… es gab ihnen Trost und Kraft, so das sich neue Zuversicht in ihnen ausbreitete.


    Die gegenseitige Bestätigung, das der andere noch lebte und es ihm einigermaßen gut ging, ließ sie die Qualen vorübergehend vergessen…


    Sie hatten sich wieder,… alles würde gut werden… Und nur das zählte in diesem besonderen Augenblick!

  • Anna Engelhardt und Semir, die in einem gebührenden Abstand standen, sahen sich an. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Erleichterung, das am Schluss alles ein gutes Ende genommen hatte und sie atmeten befreit auf. Ein Notarzt, der in diesem Augenblick hinzu kam, um sich um Gaby zu kümmern, wurde von der Chefin mit einem leichten Kopfschütteln aufgehalten.
    „Geben Sie den beiden noch einen Moment“, murmelte sie leise. „Ich glaube, dass das die beste Medizin ist, die wir ihnen zukommen lassen können.“
    Nach einem kurzen Blick auf die beiden Personen am Boden, räumte der Arzt ein: „OK, aber nur für eine Minute.“ Dann trat er einen Schritt zurück, öffnete seinen Arztkoffer, legte schon einmal einige Utensilien parat und wartete.


    Langsam löste sich Chris aus der Umarmung, nahm Gabys Kopf behutsam in seine Hände und strich ihr vorsichtig das Haar aus dem Gesicht. Während er seinen Blick über ihr geschundenes Antlitz gleiten ließ, zuckte er unmerklich zusammen. Zu schrecklich war die Vorstellung dessen, was sie mitmachen musste, damit ihr Gesicht so aussah, wie es aussah!
    Chris spürte Wut in sich hoch kochen, doch er unterdrückte mit viel Mühe seine Emotionen. Gaby brauchte ihn jetzt und das war wichtiger!


    Gerade wollte er zum Sprechen ansetzen, als das Getrappel junger Füße und kindlichen Stimmen ihn ablenkte. Jakob und Johanna kamen schnell die Treppe herunter gelaufen, schlängelten sich durch die umstehenden Personen hindurch und ungestüm fielen sie Gaby und Chris um den Hals.
    Freudentränen stiegen in Gabys Augen, als sie die Kinder sah. Abwechselnd gab sie ihnen einen Kuss, streichelte ihre Gesichter oder flüsterte zärtlich ihre Namen. Sie war so glücklich…


    „Oh,… Tante Gaby, da bist Du ja! Es geht Dir gut! Ich habe mir solche Sorge um Dich gemacht“, sprudelte es aus Johanna heraus. „Jakob hat Papa gegenüber behauptete, Du wärst geschlagen worden. Stimmt das? Haben das die Männer mit Dir gemacht? Haben sie Dich geschlagen? Uns haben sie die ganze Zeit allein gelassen und nicht gesagt wo Du bist! Und keiner wollte uns erzählen was mit R…“
    „Johanna!“ wurde sie von ihrem Vater unterbrochen, der sie dabei eindringlich ansah. Chris versuchte ein mildes Lächeln und meinte: „Warte mit Deinen Fragen, bis Deine Tante sich etwas erholt hat, ok?“
    „Ja, aber…“, protestierte Johanna, während sie ihn leicht trotzig anschaute.
    „Nein, Johanna,… nichts aber…“, fuhr Chris warnend dazwischen und der Gesichtsausdruck seiner Tochter wandelte sich in irritiertes Erstaunen. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht haben sollte und machte einen Schritt nach hinten.
    Erneut setzte sie zögerlich an, wobei man deutlich ihre Verwirrtheit heraus hören konnte: „Ich wollte doch nur wissen, was mit…“
    Semir, der hinter sie getreten war, legte einen Arm um ihr Schulter. Sie hob den Kopf, schaute ihn fragend an und verstummte augenblicklich. Etwas in seiner Miene sagte ihr, das dies nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war.


    Inzwischen wurde Gaby klar, was Johanna sagen wollte und schlagartig veränderte sich ihre Miene. Ihre freudig leuchtenden Augen wurden dunkel und der lächelnde Mund erstarrte. Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten, als sie zuerst Johannas verwirrten Gesichtsausdruck registrierte. Ihr Blick wanderte zu Jakob, der unsicher auf seiner Lippe kaute und in dessen Augen sich leise Angst spiegelte. Sie bemerkte Semirs betretene Miene und blickte zum Schluß in Chris’ trauriges Gesicht... und die schreckliche Realität holte sie wie ein Keulenschlag ein. Gehetzt schaute sie sich suchend um.


    „Richard!“ hauchte sie entsetzt und plötzlich ging ihr Atem stoßweise. „Richard… Sie haben… sie haben ihn…!“
    Ein verzweifeltes Aufstöhnen erklang aus ihrer Kehle und dicke Tränen rollten ihr übers Gesicht.
    Schnell legte Chris seine Arme tröstend um ihre Schultern und drückte sie an sich. „Ich weiß,… ich weiß!“ flüsterte er. Besänftigend wiegte er sie hin und her.


    Doch ihr Weinen wurde immer heftiger. Sie presste ihr Gesicht an seine Brust und krallte ihre Finger in sein Hemd. Tief in ihrem Inneren löste sich der unsägliche Schmerz über den Verlust ihres Sohnes und Gabys Tränen wandelte sich in ein klagendes Weinen.
    „Sie haben ihn mir genommen!… Sie haben ihn mir einfach genommen!... Und es ist alles meine Schuld!“ wiederholte sie immer wieder zwischen ihren herzzerreißenden Schluchzern.


    Anna, die über einige Bemerkungen Johannas irritiert nachdachte und dadurch eine kurze Zeit abgelenkt war, realisierte mit Schrecken die plötzliche Wendung, welche die Ereignisse genommen hatten. Sie sah, wie Chris vergebens versuchte seine Schwester zu beruhigen. Doch sie spürte, dass die Frau einen Weinkrampf hatte und wusste, das er nichts würde ausrichten können.
    Gerade wollte sie dem Arzt einen Wink geben, als der sich in diesem Augenblick schon neben Gaby nieder ließ und ihr eine Spritze verabreichte. Es dauerte nicht lange und Gaby wurde ruhiger. Ihr heftiges Weinen ging in ein Wimmern über.


    Chris, der sie noch immer fest in seinen Armen hielt, half den beiden Sanitätern, die eine Trage herein gebracht hatten, sie darauf zu legen. Während er mit der einen ihre Hand hielt, strich er ihr mit der anderen über den Kopf und redete leise tröstend auf sie ein.


    Unterdessen überprüfte der Arzt mit routinierten Griffen ihre Vitalfunktionen und sein Assistenz legte einen Zugang, um eine Infusion anzuschließen. Schließlich wandte er sich an die Chefin: „Sie hat mehrere Verletzungen, wovon auf den ersten Blick keine lebensgefährlich ist. Aber sie hat einen Schock und der bedarf dringend einer Behandlung. Wir bringen die Frau ins St.Nikolaus-Krankenhaus. Das liegt am nächsten!“
    Anna nickte zur Bestätigung und der Arzt schaute Chris an: „Wenn Sie möchten, können Sie und die Kinder mitkommen. Dann können wir sie dort auch gleich untersuchen lassen.“
    Chris warf einen bittenden Blick zur Chefin, die ihn mit einem Nicken ermunterte: „Fahren Sie ruhig, Herr Ritter. Ihre Familie braucht sie jetzt. Wir erledigen hier den Rest und kommen anschließend zu Ihnen ins Krankenhaus.“ Stumm dankte Chris ihr mit den Augen.
    Ohne Umschweife packte der Arzt seine Sachen zusammen und auf sein Zeichen hin wurde Gaby zum Krankenwagen gebracht.


    Der Fahrer, ein äußerst erfahrener Mann, der wusste, das Kinder in solchen Situationen besonderen Zuspruch brauchten, nahm Jakob und Johanna zu sich nach vorn. Er lenkte sie damit ab, indem er ihnen einige der Knöpfe und Schalter erklärte. Mit großen Augen und offenen Mündern hörten sie ihm gespannt zu.
    Ein zweimaliges Klopfen an der Trennscheibe bedeutet ihm, das die Patientin gesichert sei und sie abfahren konnten. Er startete den Motor und mit einem schiefen Grinsen zeigte er auf einen Schalter.


    „Junger Mann, Du bist jetzt mein Beifahrer und musst mir assistieren“, sagte er zu Jakob. „Drück den mal. Dann kommen wir schneller vorwärts!“
    Jakob tat wie ihm geheißen und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als das Martinshorn ertönte. Im selben Moment gab der Fahrer Gas und brauste los…

  • Anna Engelhardt und Semir schauten dem Wagen nach, wie er mit schrillem ‚Tatütata’ hinter der Kurve verschwand. Erleichtert atmete Semir auf: „Na, da ist ja am Ende noch mal alles gut gegangen.“
    „Hmm“, meinte die Engelhardt gedankenverloren und blickte weiterhin in die Richtung, in die der Krankenwagen verschwunden war. Das Martinshorn war kaum noch zu hören und verstummte schließlich ganz.


    Semir schaute sie skeptisch von der Seite her an. „Was ist?… Woran denken Sie?“ wollte er vorsichtig von ihr wissen, doch er bekam keine Antwort.
    Nach einer Weile murmelte er: „Nun ja,… wie auch immer… Ich gehe mal rein und erkundige mich, wie es dem Angeschossenen geht. Vielleicht kann mir Landwehr auch schon sagen, um wen es sich handelt.“
    Anna, noch immer in Gedanken versunken, hob zur Bestätigung die Hand und mit einer winkenden Bewegung zeigte sie ihm an, das es ok ist. Seine Schulter resignierend zuckend drehte sich Semir um und wollte zurück ins Motel gehen. Er hatte kaum zwei Schritte getan, als ihn die Chefin zurückrief: „Semir…“


    Ihre Arme vor der Brust verschränkend, drehte sich Anna zu ihm herum und mit einem Lächeln, das verschmitzt ihre Mundwinkel umspielte, fragte sie: „Wie lange wissen Sie eigentlich schon, das die Kinder zu Herrn Ritter gehören?“
    Überrascht hob Semir seine Augenbrauen: „Wie bitte?… Was meinen Sie?“
    „Ach, kommen Sie, Semir!“ empörte sich die Chefin. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm! Ich bin nicht blind… und vor allem bin ich nicht taub! Das Mädchen hat ganz eindeutig ‚Papa’ zu Herrn Ritter gesagt!“
    „Ach so,… das…“, murmelte Semir ausweichend.
    „Ja, genau… das!“ Ungeduldig trommelte die Chefin mit den Fingern auf ihrem Arm. „Also,… wie lange wissen Sie es?“
    Semir zögerte kurz, dann gab er klein bei. „Seit gut drei Wochen“, gestand er und in groben Zügen erzählte er seiner Vorgesetzten von der Begegnung mit Chris’ Familie. Er hatte gerade geendet und Anna wollte zu einer Antwort anheben, als ihre Aufmerksamkeit zurück aufs Gebäude gelenkt wurde.


    Thorsten Landwehr stand in der Tür, winkte hektisch zu ihnen herüber und rief: „Frau Engelhardt, kommen Sie schnell. Einer meiner Männer hat ein weiteres Kind gefunden!“
    Erschrocken tauschten die beiden einen Blick, dann gingen sie mit schnellen Schritten auf Landwehr zu.
    „Wo haben Sie es gefunden? Ist es der Junge?“ erkundigte sich Semir verhalten, während er an ihm vorbei ins Motel trat.
    „Ja, es handelt sich vermutlich um den vermissten Jungen“, gab der Leiter des SEK zur Auskunft. Er lenkte Semirs und Annas Schritte in Richtung Treppe, deutete nach oben und fügte hinzu: „Er lag in einem der hinteren Zimmer auf der ersten Etage.“
    Semir blieb abrupt stehen. Sein Gesicht wurde blass und er stieß einen gepressten Fluch aus.
    Landwehr bemerkte seine Reaktion und fügte schnell hinterher: „Oh, missverstehen Sie mich nicht. Er lebt!“


    „Was?“ stießen Semir und Anna aus einem Munde aus, wobei auch Anna diesmal wie angewurzelt stehen blieb.
    „Ja, er lebt“, wiederholte Landwehr und sah von einem zum anderen. „Ein Arzt ist gerade bei ihm und untersucht ihn.“
    „Wo?“ wollte Semir atemlos wissen. „Wo ist er?“
    „Die Treppe rauf und dann links“, erklärte Landwehr und zeigte in die Richtung.
    Ohne zu Zögern sprintete Semir die Treppe hinauf und hörte noch so gerade, wie Landwehr ihm hinterher rief: „Am Ende des Ganges müssen Sie rechts. Es ist die letzte Tür…“


    Während er den Flur entlang rannte, schickte er ein banges Stoßgebet zum Himmel: ‚Richard!… Bitte lass es Richard sein!’
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie einige Polizeibeamte ihm erstaunt hinterher schauten, als er an ihnen vorbeihetzte. Kaum war er um die Ecke gebogen, sah er den Menschenauflauf vor der Tür und mit einem warnenden Ausruf hielt er darauf zu. Erschrocken wich man ihm aus und automatisch wurde eine kleine Gasse für ihn frei gemacht.


    Das erste, was Semir bemerkte, als er den Raum betrat, war ein kleiner Tisch. Auf dem standen in einem Gestell mehrere blutgefüllte Reagenzgläser, an denen bunte, von Hand beschriftete Etiketten klebten. Daneben reihten sich unterschiedliche Flaschen mit verschiedenen Lösungen auf, deren Inhalte wohl medizinischer Herkunft waren. Zumindest vermutete Semir das auf den ersten Blick, da ihm die lateinischen Namen nichts sagten. Viele benutzte Spritzen und ein Berg von blutverschmierten Tupfern lagen wild verteilt herum und rundeten das Bild des Schreckens ab.


    Einen Würgreiz unterdrückend, richtete Semir schnell seinen Blick auf den Arzt. Der kniete neben einer kleinen Person, die auf einer Matratze am Boden lag und leuchtete ihr mit einer Lampe in die Augen. Da er nicht das Gesicht erkennen konnte, weil der Arzt davor saß, trat er weiter ins Zimmer und ging hastig um ihm herum.
    Sofort erkannte er Chris’ Neffe und erleichtert atmete er auf: „Richard! Gott sei Dank!“
    Er hockte sich daneben und sah den Arzt ängstlich fragend an: „Was ist mit ihm?… Geht es ihm gut?“


    Der Mediziner warf ihm einen zuversichtlichen Blick zu und lächelte leicht: „Dem Jungen geht es den Umständen entsprechend gut. Er wird noch eine ganze Zeit schlafen, aber spätestens morgen früh ist er wieder auf dem Damm!“
    Ein Sanitäter, der Blutdruck und Puls gemessen hatte, gab dem Arzt die Werte und dieser nickte bestätigend: „OK, er ist stabil. Wir können ihn jetzt transportieren.“
    Während Richard auf die Trage gelegt und festgeschnallt wurde, trat Anna zu Semir und sah ihn fragend an.
    „Es ist der Sohn von Chris’ Schwester und es geht ihm gut“, setzte Semir sie ins Bild. „Er wird jetzt ins Krankenhaus gebracht.“
    „Bringen Sie ihn ins St.Nikolaus-Krankenhaus“, wies Anna den Arzt an. „Dort befindet sich seine Mutter und die restliche Familie.“
    „Ist gut!“ nickte der Mediziner zustimmend.


    Das brachte Semir auf einen Gedanken und nach kurzem Zögern fragte er: „Kann ich mit dem Jungen mitfahren? Ich würde gern Chris die Nachricht persönlich überbringen.“
    Anna sah Semir eine Weile nachdenklich an. ‚Es wird dem Verhältnis der beiden nur zuträglich sein’, dachte sie schließlich und gab lächelnd ihr Einverständnis. „Das ist eine gute Idee, Semir. Machen Sie das. Aber versprechen Sie mir, das Sie und Herr Ritter das Krankenhaus nicht verlassen! Ich will nachher noch etwas mit Ihnen beiden besprechen.“


    „Danke, Chefin!“ atmete Semir erleichtert aus und kurz darauf fuhr er mit der Ambulanz, die Richard an Bord hatte, davon...

  • Heute kommt leider der wohl schwächste Abschnitt meiner Story und ich entschuldige mich schon einmal im voraus dafür! :| Es kommt einfach nicht so rüber, wie ich es gern möchte... :S
    Aber nachdem ich seit Tagen daran sitze und letzte Nacht um 3.40 Uhr endgültig das Handtuch geworfen habe, müsst Ihr es leider so, wie es jetzt ist, über Euch ergehen lassen... Sorry!


    Diesmal dürft Ihr die Feeds gern vergessen!
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    Anna Engelhardt, die Semir bis in die Eingangshalle begleitet hatte, schaute auf ihre Uhr: 16.27 Uhr. Seufzend drehte sie sich um und besah sich einen Moment, das auf den ersten Blick wirkende, chaotische Gewusel der Einsatzkräfte.
    Sanitäter, Ärzte, Polizeibeamte in Zivil oder in Uniform, SEK und die in der Zwischenzeit eingetroffenen Männer der KTU liefen hin und her. Die Abteilungsleiter teilten ihren entsprechenden Teams Aufgaben zu und untereinander tauschten sie ihre Ergebnisse aus. Es sah nach einem heillosen Durcheinander aus, doch dem geübten Auge der Engelhardt entging nicht die Präzision und Effizienz, mit der jeder Mann arbeitete. Es erfüllte sie ein bisschen mit Stolz, mit solchen Leuten zusammenarbeiten zu dürfen.


    Heftig blinzelte sie gegen die plötzlich aufkommende Müdigkeit an und konzentrierte sich zurück auf die bevorstehenden Aufgaben. Sie wusste, das die Zeit drängte!
    Morgen war Gehlens Verhandlung und wenn sie bis dahin mit einem hieb- und stichfesten Beweis aufwarten konnten, das er seine Finger bei dieser Entführung mit im Spiel hatte, wäre das ein zusätzlicher Trumpf für die Staatsanwaltschaft. Bei dem Gedanken an die Schrankmann verzog sie zwar ungewollt ihre Miene, aber sie musste nun mal über die Vorkommnisse informiert werden.

    ‚Später…’ schob Anna in Gedanken den unangenehmen Anruf vor sich her und mit einem ergebenen Seufzer begab sie sich zu einer Gruppe der Spurensicherung, die im Speisesaal bei der Beweisaufnahme war. Sie ließ ihre Augen über das Durcheinander schweifen, als sie plötzlich die Videokamera sah.
    Hastig tippte sie den nächststehenden Mann in einem weißen Overall an, zeigte auf das Gerät und fragte: „Haben Sie schon geprüft, ob da was drauf ist?“
    Nach einem Blick auf die Kamera, nickte der Mann und antwortete: „Ja. Wir haben einen Schnelldurchlauf gestartet und man konnte die Ereignisse vor der Erstürmung erkennen.“
    „Kann ich mir das mal ansehen?“ wollte Anna wissen.
    „Warum nicht?!“ zuckte der Mann mit den Schultern. „Ich weiß nur nicht, ob etwas darauf ist, was Ihnen hilft.“


    Er reichte ihr die Kamera, schaltete sie ein und die Chefin richtete ihr Augenmerk auf den ausgeklappten Bildschirm. Das Bild war klein, aber klar und der Ton war zwar leise, aber deutlich. Sie trat drei, vier Schritte zur Seite, damit sie sich ungestört den Film anschauen konnte…
    Die Szenen, die sie zu sehen bekam, brachten ihr Blut erneut in Wallung. Sie war schockiert über die perfide Art, wie dieser Borchert mit der Schwester von Chris Ritter umging. Sie konnte diesen Schlag Menschen auf den Tod nicht ab…
    Menschen, die ihre Machtposition ausnutzten, um auf Schwächeren herum zu trampeln,…
    Menschen, die anderen wehtaten, nur um sich eine Form der Befriedigung zu holen,…
    Menschen, denen es egal war, was sie mit ihrem Tun ihren Opfern antaten…
    Konnte man so jemanden überhaupt als ‚Mensch’ bezeichnen…?
    Es fiel ihr schwer, keine abschätzige Bemerkung zu machen.


    Ihre Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als sie meinte den Namen Gehlen gehört zu haben. Sie stutzte einen Moment, spulte zurück und wiederholte die Sequenz. Tatsächlich… sie hatte richtig gehört!
    Während sie den Rest des Filmes mit halben Ohr weiterschaute, fingen ihre Gedanken an, sich um die alleinige Frage zu rotieren: War das der Beweis, mit dem sie Gehlen endgültig das Genick brechen konnten? Eine Idee durchzuckte sie…


    Schnell senkte sie die Kamera, blickte sich suchend um und ging schließlich eilig zu Landwehr.
    „Sind die Gefangenen noch hier oder bereits abtransportiert worden?“ fragte die Chefin ohne Umschweife.
    „Ein Teil ist schon weg“, gab Landwehr zur Auskunft. „Die anderen werden gerade in den Transporter gebracht. Warum?“
    „Weil ich dringend den Mann brauche, der diesen Film gedreht hat!“ sagte Anna nachdrücklich.
    Ohne etwas zu erwidern, ging Thorsten Landwehr eilig nach draußen und kam ein paar Minuten später schmunzelnd mit dem Mausgesicht zurück.
    „Wir haben Glück. Er war noch hier. Zwar behauptet er, mit dem Video nichts zu tun zu haben, aber die Ähnlichkeit zu seinem Bruder ist doch frappierend. Finden Sie nicht auch?“


    Ein flüchtiges Lächeln überflog Annas Gesicht und sie musste dem Einsatzleiter Recht geben: Wenn das keine Brüder waren, war sie nicht mehr die Chefin der PAST!
    Dann wurde sie ernst und wandte sich an den Gefangenen: „Wir haben Ihren Bruder bereits an der gesperrten Raststätte festgenommen. Er hat mir garantiert, das Sie mit uns kooperieren werden. Im Gegenzug werde ich ein gutes Wort für sie beide einlegen.“
    „Woher weiß ich, das Sie nicht bluffen?“ wollte das Mausgesicht vorsichtig wissen.
    Engelhardt überlegte einen Moment, dann zückte sie ihr Handy. Nach dem zweiten Anruf hielt sie es dem Mann mit den Worten hin: „Hier… Ihr Bruder!“


    Ungläubig starrte er sie an, nahm schließlich das dargebotene Handy und lauschte in den Hörer. Nachdem er sicher war, das es wirklich sein Bruder war und er mit ihn eine Zeit lang gesprochen hatte, reichte er der Chefin das Handy zurück: „Was wollen Sie wissen?“
    An seiner Stimme konnte sie erkennen, das er keine hinterhältigen Gedanken hatte und forderte ihn auf: „Was hat es mit diesen Filmen auf sich?“
    Bereitwillig erzählte das Mausgesicht alles, was er wusste. „… und dieser Film sollte heute Abend noch zu Gehlens Anwalt in die Kanzlei“, endete er schließlich und deutete auf die Kamera, die Anna noch immer in ihren Händen hielt.
    Betreten hob die Chefin das Gerät hoch und seufzte: „Tja, mit dem Material werden Sie nicht mehr allzu viel anfangen können. Man sieht deutlich die Erstürmung.“


    Das Mausgesicht druckste etwas herum, dann wagte es vorzuschlagen: „Lassen Sie meinen Bruder und mich das machen. Ich versprechen Ihnen, wir bekommen das hin, ohne das Gehlen was merkt.“
    Zögernd wiegte Anna den Kopf hin und her. Sie tauschte einen Blick mit Landwehr, der mit den Schultern zuckte. Seine Miene zeigte deutlich genug, was er von der Sache hielt: Ein Versuch wäre es wert!
    „OK“, sagte sie plötzlich entschlossen zum Mausgesicht. „Wir bringen Sie zu Ihrem Bruder und sie können es versuchen. Und denken Sie daran: Wenn Sie gute Arbeit leisten, werde ich mein Versprechen einhalten!“
    Stumm nickte der Mann und ließ sich von Landwehr abführen, nachdem dieser die Kamera von Anna übernommen hatte. ‚Hoffentlich geht das gut!’, dachte sie, während sie ihnen hinterher schaute.


    Kaum waren die Männer verschwunden, holte sich die Chefin von den einzelnen Abteilungen die neusten Informationen. Sie merkte, das es für sie hier nichts mehr zutun gab und entschloss sich zum Krankenhaus zu fahren. Doch bevor sie sich auf den Weg machte, sprach sie den einzelnen Gruppen noch ein ehrlich gemeintes Lob aus, verlangte aber von allen möglichst schnell einen Bericht.


    Nachdem sie die Verantwortung einem Kollegen übertragen hatte, ließ sie sich von Hotte und Bonrath zum Krankenhaus fahren.
    Eigentlich hatte sie vorgehabt, Gerkhan und Ritter vorzuschlagen, eine Vertagung der Verhandlung zu beantragen, damit sie sich erholen könnten. Doch sie wusste nicht, wie lange sie vor Gehlen seinen gescheiterten Plan geheim halten konnten. Und sie wollte nicht riskieren, das er eine neue Gelegenheit bekam seine Handlanger auf ihre Kommissare anzusetzen!


    Unterwegs führte sie einige Telefonate. Unter anderem rief sie in der PAST an und teilte einer erleichterten Susanne mit, das alles gut ausgegangen sei.
    Zuletzt telefonierte sie mit der Staatsanwältin. In groben Umrissen erklärte sie ihr, was vorgefallen war und meinte zum Schluss: „… Gerkhan und Ritter sind zur Zeit im Krankenhaus bei der Familie. Da ich den beiden nicht noch mehr Strapazen zumuten möchte, bitte ich Sie, auch dort hin zu kommen. Alles weitere erfahren Sie dann.“
    Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte sie die Verbindung weg und warf das Handy in ihre Tasche.


    Bonrath, der den Wagen fuhr, schaute in den Rückspiegel und grinste: „Da wird die Frau Staatsanwältin bestimmt nicht glücklich drüber sein.“
    „Pfft“, schnaubte Anna Engelhardt ungehalten. „Das ist mir im Moment so etwas von egal! Jetzt erfährt sie mal wie es ist, wenn sie so mit einem redet.“ Erschöpft schloss Anna ihre Augen und lehnte sich mit einem müden Aufstöhnen nach hinten. Den Rest des Weges versuchte sie etwas zur Ruhe zu kommen und ihre Gedanken zu sammeln…

  • In der Notaufnahme musste Chris die Hand seiner Schwester, die er seit ihrer Abfahrt am Motel festhielt, schweren Herzens loslassen. Ein freundlicher, aber resoluter Pfleger bat ihn, in der Aufnahme zu warten und versicherte ihm, das er ihn sofort holen würde, sobald er zu ihr könnte.


    Doch Chris wollte nicht untätig warten. Als er sah, wie Jakob und Johanna in ein anderes Untersuchungszimmer gebracht wurden, ging er mit ihnen mit. Die Kinder nahmen auf einer Liege, die mitten im Raum stand, Platz. Chris stellte sich dahinter und legte ihnen seine Hände auf ihre Schultern.
    Es war eine vertraute Geste,… eine Geste mit der er ihnen zeigte, dass er bei ihnen war und sie nicht allein waren.
    Doch auch für Chris war es eine Beruhigung, sie zu spüren. Denn er merkte, wie sich erneut Unruhe in ihm ausbreitete… eine ängstliche Unruhe…


    Angst vor den Fragen…
    Fragen, die seine Kinder ihm stellen würden,…
    Fragen, auf die sie Antworten wollten,…
    Antworten, auf die sie ein Anrecht hatten,…
    Antworten, vor denen er Angst hatte sie ihnen zu geben…


    Und ihm graute vor den Fragen, die er ihnen stellen musste. Fragen, die er ihnen nicht als Vater stellen durfte, sondern die er ihnen als Polizist stellen musste
    Ihm schauderte es bei dem Gedanken was für Antworten er zu hören bekommen würde! Antworten, die ihm deutlich machten, was seine Kinder erlebt hatten… Erlebnisse, die er ihnen hatte ersparen wollen…


    Doch am meisten fürchtete er sich vor den Vorwürfen,... vor den Anklagen,... vor den Anschuldigungen... besonders vor denen seiner Schwester!
    ‚Sie wird mich bestimmt für alles verantwortlich machen… und sie hat vollkommen Recht damit!’ dachte Chris voller Traurigkeit und Verzweifelung.


    Eine Stimme riss ihn aus seinen dunklen Gedanken: „Herr Ritter?“
    Die freundlich lächelnde Schwesternschülerin, die sie herein geführt hatte und deren Namensschild sie als 'Schwester Sandra' ausgab, sah ihn fragend an.
    „Was?… Wie bitte?“ haspelte Chris verwirrt.
    Verständnisvoll lächelnd wiederholte die Schwester ihre Anfrage: „Ich benötige einige Daten von Ihnen.“
    „Oh, klar doch“, stammelte Chris verlegen. „Was wollen Sie wissen?“


    Während er die erforderlichen Auskünfte erteilte, tippte die junge Frau die Daten in einen Computer ein, der auf einem schmalen Pult etwas Abseits in der Ecke stand. Anschließend warf sie einen kurzen Blick auf Jakobs verletzte Hände und fragte ihn interessiert, wo er sich denn diese Schnitte und Kratzer weggeholt hätte. Nicht ohne ein bisschen Stolz in seiner Stimme erzählte Jakob, wie es dazu gekommen war.


    „Dann bist Du ja ein richtiger Held!“ sagte Schwester Sandra anerkennend und strich ihm durchs Haar. Jakob grinste verlegen und setzte sich unbewusst noch gerader hin. Er fühlte, wie die Hand seines Vaters seine Schulter etwas fester drückte. Einen Blick über die Schulter werfend, sah er, das er ihn ebenfalls stolz anschaute.
    „Ja, das ist er“, murmelte Chris leise und Jakobs Augen strahlten.


    Schwester Sandra ging zu einem Schrank, legte für den Arzt schon einmal die benötigten Dinge bereit und meinte abschließend: „Der Doktor kommt gleich zu Euch.“ Dann verschwand sie aus dem Raum und sie mussten warten.


    Die Kinder tauschten einen verstohlenen Blick untereinander. Jakob erkannte, das seiner Schwester wieder Tausende von Fragen auf der Zunge brannten, die sie ihren Vater stellen wollte. Doch mit einem unmerklichen Kopfschütteln hielt er sie davon ab. Jakob spürte, das es seinem Vater im Moment nicht so gut ging und er wollte verhindern, das es ihm noch schlechter ging.


    Er kannte diese versteinerte Miene,... den mahlenden Unterkiefer,… die geblähten Nasenflügel,… diesen in weite Ferne gerichteten Blick,... diese geheimnisvolle, unnahbare Aura...
    Alles Anzeichen, das ihn etwas beschäftigte,... etwas worüber er nicht reden wollte.
    Im Laufe der Jahre hatte er das Verhalten oft bei seinem Vater beobachtet und jedesmal hatte er den traurigen, sorgenvollen Blick seiner Tante bemerkt.
    Jakob wusste, dass es jetzt das Beste war, seinem Vater Ruhe zu gönnen. Doch irgendwie schien sein Vater keine Ruhe zu bekommen…


    … denn nach einigen Minute stand Chris auf und fing an, nervös in dem kleinen Zimmer hin und her zu tigern. Sein Atem ging schneller als gewöhnlich und seine weiter wachsende Unruhe ließ ihn die Luft hin und wieder schnaubend ausstoßen.

    Warten… wieder musste er warten. Er hasste es zu warten! Zu oft hatte er in letzter Zeit warten müssen… warten auf die angstvoll erwarteten Nachrichten der Entführer,… auf die neusten Laborergebnisse,… auf den nächsten Einsatz,… auf positive Meldungen,… auf die erlösende Gewissheit…
    Warten… gab es etwas anderes auf Gottes weiter Erde, was so zeitraubend, so nervenaufreibend und doch so nutzlos war…?


    Fahrig fuhr sich Chris ab und zu mit einer Hand durch die zerzausten Haare, strich sich über das von Bartstoppeln raue Kinn oder rieb sich die müden Augen. Die meiste Zeit jedoch steckten seine Hände zu Fäusten geballt in den Hosentaschen und seine Schultern waren angespannt nach oben gezogen.
    Warten… wie lange musste er denn noch warten? Innerlich fluchte er und seine Ungeduld wuchs. Wenn er wenigstens etwas über den Zustand seiner Schwester erfahren würde!


    Als es endlich klopfte, die Tür geöffnet wurde und der Arzt mit Schwester Sandra eintrat, hatte Chris redliche Mühe, ihn nicht anzufauchen. Er kniff seine Lippen zusammen und erwiderte nur mit einem stummen Händedruck die Begrüßung des Arztes, der sich als Dr. Lambert vorstellte.
    Der Doktor machte sich sofort an die Untersuchung der Kinder. Er stellte ihnen Fragen nach ihrem Wohlbefinden, tastete prüfend ihre Gliedmaßen ab und leuchtete ihnen mit einer kleinen Lampe in die Augen. Zufrieden richtete er sich auf und während er seine Aufmerksamkeit auf Jakobs Wunden richtete, klopfte es erneut an der Tür.


    Chris, der erwartet hatte, das vielleicht noch jemand vom Pflegepersonal herein kommen würde, war umso überraschter, als er plötzlich Semir im Raum stehen sah.
    Erstaunt sah er in an: „Wo kommst Du denn her? Und was machst Du hier?“
    Ohne auf die Frage einzugehen, lächelte Semir die Kinder an.
    „Hallo, Ihr Zwei! Geht es Euch gut?“ erkundigte er sich bei ihnen und als diese nickten, nickte er ebenfalls.
    „Das ist gut zu wissen… Schön!“ meinte er wie zu sich selbst und ein seltsames Lächeln umspielte seinen Mund.
    Dann wandte er sich seinem Partner zu: „Chris,… kannst Du mal kurz mitkommen?“ Dabei machte er eine Kopfbewegung in Richtung Tür.


    Etwas an Semirs Stimme ließ Chris stutzen. Irritiert sah er ihn an. Er warf einen kurzen Blick zu seinen Kindern und versicherte ihnen: „Ich bin gleich wieder da!“
    Kaum hatte Chris hinter Semir das Zimmer verlassen, wollte er besorgt wissen: „Was ist los?“
    Doch Semir war bereits quer über den Flur gegangen und blieb vor einem Zimmer stehen. Er drehte sich zu Chris um und in seinen Augen leuchtete es freudig auf: „Ich habe eine gute Nachricht für Dich… Es geht um Richard… Er lebt!“


    Wie angewurzelt blieb Chris stehen und starrte ihn fassungslos an. „Sag das noch mal!“ stieß er tonlos hervor.
    „Richard lebt!“ betonte Semir lächelnd. Mit seinem rechten Daumen zeigte er über die Schulter auf das Zimmer: „Er liegt dort drin und ein Arzt untersucht ihn.“
    „Semir,… wenn das jetzt ein schlechter Scherz sein soll…“, warnte ihn Chris mit gefährlich funkelnden Augen.
    Abwehrend hob Semir die Hände: „Über so etwas würde ich nie einen Scherz machen… Ehrlich, Chris, ich schwöre!“


    Plötzlich löste sich Chris aus seiner Starre und ohne anzuklopfen öffnete er die Tür zu einem weiteren Untersuchungsraum. Als er seinen Neffen auf einer Pritsche liegen sah, schnappte er unwillkürlich nach Luft: „Richard…“

  • Mit schnellen Schritten war er neben ihm und nahm seine Hand. Sie war warm…
    ‚Sie ist tatsächlich warm!… Das heißt er lebt’, durchfuhr es Chris in Gedanken und eine Welle der Erlösung umspülte sein Herz. Erleichtert atmete er tief durch und schloss er für einen Moment die Augen.
    Als er sie wieder öffnete, schimmerte ein verräterischer Glanz darin. Er wagte es nicht Semir anzusehen, obwohl er ihm am liebsten von ganzem Herzen gedankt hätte. Doch er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals, der ihm die Fähigkeit nahm, ein vernünftiges Wort auszusprechen. Statt dessen richtete er seinen Blick auf Richards blasses Gesicht.
    Aus den Augenwinkeln nahm er einen Arzt wahr und als er ihn anschaute, zeichnete sich auf Chris’ Miene deutlich nur eine Frage ab: „Was ist mit ihm?“


    Mit einem sanften Lächeln erklärte ihm der Arzt: „Keine Angst! Er schläft im Moment und wird es wohl auch in den nächsten Stunden.“
    Der Arzt trat neben die Liege und fühlte den Puls an Richards Handgelenk. Mit einem Nicken fuhr er fort: „Seine Werte sind stabil und ich sehe keinerlei Gefahr für ihn. So wie es aussieht, hat man ihm mehrmals ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt. Wir wissen noch nicht genau, um welches es sich handelt. Das Labor untersucht das Blut gerade und versucht es herauszufinden. Wie viel man ihm gegeben hat, kann ich nur vermuten, aber ich denke, dass er noch mindestens vier bis fünf Stunden schlafen wird.“


    Das Gesicht des Arztes nahm einen ernsten Ausdruck an: „Das einzige, was uns etwas Sorgen bereitet hat, war die Tatsache, das ihm wohl in regelmäßigen Abständen Blut entnommen worden ist.“
    Als er die erschrockenen Mienen von Chris und Semir sah, fügte er schnell hinterher: „Aber keine Angst! Er ist jung und kräftig. Er wird das ganz gut wegstecken. Sie werden sehen: Nächste Woche spielt er wieder Fußball, als wäre nichts gewesen!“


    Endlich fand Chris seine Sprache wieder und er flüsterte ein erleichtertes, leises: „Danke!“
    Er beugte sich zu Richard hinunter, strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und zeichnete mit den Fingern sanft die Konturen seines Gesichtes nach.
    „Hey, Richard“, raunte er kaum hörbar, „da hast Du uns aber einen schönen Schrecken eingejagt, weißt Du das?“


    Die Szenen aus dem Video kamen Chris ins Gedächtnis und plötzlich durchzuckte ihn ein kalter Blitz. Mit Entsetzen wurde ihm klar, wer der Mann mit der Spritze gewesen war: der ‚Doc’!
    Und sein Entsetzten steigerte sich noch, als es ihn bewusst werden ließ, was der ‚Doc’ vielleicht mit Richard gemacht hatte. Die grauenhafte Vorstellung raubte ihm fast den Atem und für den Bruchteil einer Sekunden riss er erschrocken seine Augen auf. Schnell bemühte er sich, seine Panik unter Kontrolle zu bekommen.


    Unter aller größter Mühe versuchte er, so normal wie möglich zu klingen, als er sich an den Arzt wandte: „Doktor,… ähm,… gab es Anzeichen von… ähm,… ich meine, waren Drogen in seinem Blut?“
    Mit leichter Verwirrung schaute der Arzt ihn an: „Nein. Warum fragen Sie?“
    Doch Chris schüttelte nur schnell mit dem Kopf. „Nur so…“ wimmelte er ab und richtete sein Augenmerk zurück auf Richard. Mit versteinerter Miene atmete er vorsichtig auf und hoffte, das keiner merkte, was ihn bewegte.


    Unterdessen warf der Arzt einen fragenden Blick zu Semir. Allerdings spiegelte sich in dessen Miene auch nur Erstaunen.
    ‚Was sollte denn die Frage?’ dachte er verdutzt bei sich. Er sah das kaum merkliche Aufatmen von Chris und Semirs Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. In seinen Augen flackerte der Jagdinstinkt auf. Während er ihn aufmerksam weiter beobachtete, suchte er in Gedanken bereits nach möglichen Erklärungen. Doch so richtig plausibel kam ihm keine vor…


    Chris hatte sich in der Zwischenzeit wieder zu Richard hinunter gebeugt und wisperte: „Du musst bald wach werden. Hier sind ganz viele Leute, die gern Deine wunderschönen, blauen Augen sehen möchten. Allen voran Deine Mutter!“
    Bei der Erinnerung an seine Schwester, versagte erneut Chris’ Stimme und er musste schwer schlucken. Für einige Sekunden schloss er verzweifelt die Augen, atmete tief ein und hielt die Luft kurz an. Dann ließ er sie langsam durch die Nase entweichen und öffnete seine Lider. Sein Gesichtsausdruck war regungslos… er hatte sich wieder im Griff.


    Semir, der die ganze Zeit still bei der Tür gestanden und die Reaktionen seines Partners gesehen hatte, schüttelte in Gedanken den Kopf: ‚Oh, Chris, komm schon!… Lass es raus!… Warum lässt Du Deinen Gefühlen nicht freien Lauf?… Ist doch keine Schande!’

    Ein Bett wurde in diesem Augenblick herein geschoben und Richard vorsichtig hineingelegt. Auf Chris’ Frage, wohin sie seinen Neffen bringen würden, wurde ihm zur Antwort gegeben, das man den Jungen auf Station sechs legen würde. Bis zum Fahrstuhl begleitet Chris Richard noch und nachdem die Schwester das Bett hinein geschoben hatte, blickte er ihm so lange hinterher, bis sich die Aufzugtüren leise rumpelnd schlossen. Durch das schmale Fenster in der Tür konnte er beobachten, wie sich die Kabine langsam nach oben in Bewegung setzte und ganz verschwand.

    Eine Weile starrte Chris, die Hände locker an die Hüfte gelegt, die metallene Tür an. Schließlich senkte er seinen Kopf, fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar und seufzte tief. Er kratzte sich kurz am Hinterkopf und glitt mit seiner Hand anschließend hinunter bis in den Nacken. Während er ihn sich massierte, sammelte er seine Gedanken und beschloss zurück zu Jakob und Johanna zu gehen. Mit einem weiteren, tiefen Seufzer hob er den Kopf und seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Reflexion in der Glasscheibe der Aufzugtür gelenkt.
    Er drehte sich um und bemerkte seinen Partner, wie er an einer Wand lehnte und ihn anschaute. Mit einem müden Aufatmen ging er auf ihn zu, blieb dicht bei ihm stehen und erwiderte seinen Blick.


    „Danke, Semir!“ war das einzige, was Chris heiser hervor brachte.
    In Semirs Augen leuchtete es freudig auf. Es bedurfte keiner großen Worte und doch wusste er, was Chris meinte.
    „Gern geschehen“, gab er schlicht zur Antwort und ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf seiner Miene. Dann blitzte es schelmisch in seinen Augen auf: „Weißt Du, dass Du schrecklich aussiehst?“
    Über Chris’ Gesicht huschte auch ein Lächeln, als er antwortete: „Hast Du denn schon mal in den Spiegel geschaut?… So besonders siehst Du auch nicht mehr aus!“


    Die beiden Männer grinsten sich kurz an, ehe Chris wieder ernst wurde: „Na komm, Semir,… mach für heute Feierabend. Andrea und Aida warten bestimmt schon auf Dich.“
    Seinen Kopf schief legend, schnalzte Semir mit der Zunge. „Tja, das ist zwar gut gemeint von Dir, aber die Chefin ist auf dem Weg hierher. Sie will etwas mit uns besprechen.“
    „Was denn?“ fragte Chris und legte seine Stirn in Falten.
    Ratlos zuckte Semir mit den Schultern: „Das hat sie nicht gesagt. Sie wollte nur, das wir hier auf sie warten.“


    Grübelnd knetete Chris seine Unterlippe und über sein Gesicht zogen dunkle Wolken. ‚Wahrscheinlich wird sie mir wegen meines Verhaltens eine Gardinenpredigt halten’, seufzte er in Gedanken. ‚Mal wieder…’
    Er spürte Semirs Hand auf seinem Oberarm. „Hey,… schau nicht so grimmig!“ schmunzelte er aufmunternd. „So schlimm wird es schon nicht werden.“ Semir gab ihm einen Klaps.
    Chris versuchte ein Lächeln, doch es wirkte gequält. „Ja, Du hast recht… Komm, lass uns zu Jakob und Johanna gehen. Die fragen sich bestimmt schon wo wir bleiben.“
    Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück…

  • Nach einem kurzen Klopfen öffnete Chris die Tür zum Untersuchungsraum und trat, gefolgt von Semir, ein. Er sah seine Kinder noch immer nebeneinander auf der Liege sitzen. Schwester Sandra verband gerade Jakobs Hand, welches Johanna interessiert beobachtete. Der Arzt stand an dem schmalen Pult und tippte etwas in den Computer ein.


    Kaum hatte Johanna ihren Vater gesichtet, hüpfte sie von der Pritsche und sprang ihm mit einem jubelndem: „Papa!“ in den Arm. Freudig drückte Chris seine Tochter innig an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
    „Oh, meine Kleine!“ seufzte er glücklich, worauf er mit Belustigung wahrnahm, dass er von ihr einen kurzen, strafenden Blick erntete. „Wie geht es Dir? Ist alles in Ordnung?“ wollte er wissen.
    Johannas schmollender Mund verwandelte sich in ein Lächeln: „Der Arzt sagt, bei mir ist alles ok. Aber guck mal…“ Dabei zeigte sie auf ihren Bruder: „Jakobs Hand muss verbunden werden.“


    Mit Johanna auf dem Arm trat Chris an die Liege, setzte sie darauf ab und strich seinem Sohn lächelnd über das Haar. „Na, mein Großer? Bei dir auch alles so weit ok?“
    Während Jakob mit einem Lächeln den Blick hob und nickte, bemerkte er sofort die veränderte Miene seines Vaters. Sie war entspannter und seine Augen schauten nicht mehr so traurig und trübe.
    ‚Semir hatte wohl gute Nachrichten für Papa’, schloss er. ‚Nur welche?’ Er überlegte, ob und wie er seinen Vater vorsichtig fragen könnte.


    Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als sich in diesem Augenblick der Arzt zu ihnen stellte und an Chris gewandt die Situation erklärte. Am Ende seiner Ausführungen empfahl er, das die Kinder zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus verbringen sollten.
    Der Doktor bemerkte die ängstlichen Blicke der Kinder, die sie ihrem Vater zuwarfen und fügte schnell hinterher: „Ich könnte dafür sorgen, das Sie ein Eltern-Kind-Zimmer bekommen. Dann können Sie Nacht hier bei ihren Kindern verbringen.“


    Chris sah in die bittenden Augen seiner Kinder und wusste, das es die einzige, sinnvolle Lösung war. Und doch…
    Er hasste Krankenhäuser und die damit für ihn verbundenen grausamen, furchtbaren Erinnerungen… Sie lösten verdrängte Ängste und einen fast unwiderstehlichen Fluchtinstinkt in ihm aus…
    Aber die Vorstellung, seinen Sohn und seine Tochter,… seine Schwester und seinen Neffen… kurzum, seine Familie allein zu lassen, erschreckte ihn viel mehr. Er hatte sie endlich alle wieder und durch nichts und niemand würde er sich heute von ihnen trennen! Das stand für ihn fest…


    „Das wäre eine gute Idee“, nickte Chris mit einem ergebenen, aber erleichterten Aufatmen zustimmend und fühlte im nächsten Moment, wie Johanna ihn dankbar umarmte. Er erwiderte die Geste, hauchte ihr einen Kuss auf den Kopf und wiegte sie sanft hin und her.
    Leise seufzend murmelte er in ihren Haaren: „Ich bleibe bei Euch. Keine Angst… wir bleiben jetzt zusammen.“


    Semir, der als stummer Beobachter an der Wand lehnte, sah, wie ein zufriedenes Lächeln Chris’ sorgenvolle Gesichtszüge weich werden und ein liebevoller Glanz seine Augen erstrahlen ließ.
    ‚Na also, Chris…. Es geht doch!’ dachte er angesichts des trauten Familieglücks und ein verhaltenes Lächeln huschte über sein müdes Gesicht. Mit einem sehnsüchtigen Seufzen verschränkte er seine Arme und dachte an seine eigene Familie…


    An Andrea, seine Frau, die er über alles liebte,… die mit ihrer Fürsorge eine unschätzbare Partnerin war,… mit der er das Glück seines Lebens gefunden hatte,.. für die er bereit wäre, es mit den Ausgeburten der Hölle aufzunehmen,… für die er bereit wäre zu sterben…


    An Aida, seine Tochter,… die ihn an einen Engel erinnerte,… deren Lächeln sein Herz flattern ließ,… die seinem Leben einen tieferen Sinn gegeben hat,… die er vor allem Bösen dieser Welt beschützen würde…
    Hoffentlich konnte er sie auch bald in den Arm nehmen! Er konnte es kaum erwarten…


    Ein Pfleger steckte seinen Kopf zur Tür herein und mit einer zu sich winkenden Handbewegung sagte er: „Herr Ritter...“
    Chris erkannte den jungen Mann sofort: Es war der Pfleger, der ihn holen wollte, wenn er zu seiner Schwester dürfte! Vorsichtig löste er sich von Johanna und sah sie an: „Meine Süße, ich bin gleich wieder da. Ich werde mal schauen wie es Eurer Tante geht.“
    Die beiden Kinder setzten zu einem Betteln an, da sie gern mitkommen würden, doch Chris schüttelte leicht den Kopf: „Ich glaube, dass das im Moment keine so gute Idee ist. Aber ich erzähle Euch nachher, wie es ihr geht und wenn der Arzt es erlaubt könnt Ihr bestimmt auch mal kurz zu ihr. Einverstanden?“


    Mit dieser Antwort waren die Kinder zwar nicht ganz zufrieden, aber sie sahen ein, das ihr Vater Recht hatte. Ergeben nickten sie.
    Unsicher blickte Chris zu Semir. Mit einem Augenzwinkern meinte sein Partner: „Geh ruhig. Ich bleibe bei den Kindern.“
    Schnell murmelte Chris ein leises: „Danke!“, stand hastig auf und verließ mit schnellen Schritten den Raum.


    Vor der Tür wartete ein Arzt, der ihm mit beruhigender Stimme erklärte: „Herr Ritter, Ihrer Schwester geht es den Umständen entsprechend. Sie braucht ein paar Tage Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann wird es ihr auch wieder besser gehen. Wir haben Ihr etwas gegeben, damit sie heute Nacht ruhig schläft. Wenn Sie möchten, können Sie jetzt zu ihr gehen. Wir haben sie bereits auf Station gebracht. Der Pfleger begleitet Sie dorthin.“
    Stumm, aber dankbar, nickte Chris dem Arzt zu und folgte dem jungen Mann. Als sie die Station erreichten, empfing ihn die Stationsschwester und sie führte ihn zu einer Tür am Ende des Ganges…

  • Unterdessen im Untersuchungszimmer drehte sich Johanna neugierig zu Semir: „Was wolltest Du denn eben von Papa?… Und wo ward Ihr?… Hattet Ihr etwas Wichtiges zu besprechen?“
    Zuerst musste sich Semir das Grinsen verkneifen. Das war die Johanna, die er kennen gelernt hatte: forsch, direkt und immer eine Frage auf den Lippen!
    Dann antwortete er ihr: „Wir waren bei Richard.“
    „Richard!?“ riefen die beiden Kinder wie aus einem Mund.
    „Wie geht es ihm?… Wo war er die ganze Zeit?“
    „Was ist mit ihm?… Wo ist er jetzt? Können wir zu ihm?“ bestürmten sie Semir aufgeregt mit ihren Fragen.


    Lachend hob Semir die Hände: „Hoppla, Ihr beiden! Ganz ruhig...“
    Sofort wurden die Kinder leise und als er weiter sprach, hingen sie mit großen Augen an seinen Lippen: „Er befindet sich hier im Krankenhaus auf Station sechs und es geht ihm gut. Zur Zeit schläft er, aber sobald er wach ist, könnt Ihr ihn besuchen.“
    Übermütig fiel Johanna Semir um den Hals und strahlte ihn an: „Das sind wirklich tolle Neuigkeiten! Danke!“ Dann drückte sie ihm einen dicken Kuss aufs Gesicht.
    Ein wenig peinlich berührt blickte Semir zur Seite und bemerkte, wie nun Dr. Lambert und Schwester Sandra ihrerseits sich ein Grinsen verkneifen mussten. Er räusperte sich verlegen und meinte zu Johanna: „Keine Ursache… Euer Vater hätte es Euch jetzt auch erzählt.“


    Zehn Minuten später wurden Jakob und Johanna ebenfalls auf Station sechs gebracht. Ihr Zimmer lag nur wenige Türen von Richards Raum entfernt und während eine freundliche Kinderpflegerin ihnen beim Umziehen und waschen half, versicherte sie ihnen, das sie ihren Cousin später besuchen dürften. Sie brachte ihnen etwas zu Essen und zu Trinken und die Kinder langten ordentlich zu.
    Auch vor Semir, der, wie er es versprochen hatte, bei den Kindern war, stellte sie ein Tablett mit Essen und zwinkerte ihm zu: „Sie sehen aus, als könnten Sie auch etwas vertragen!“


    Obwohl er es wahrscheinlich nicht zugegeben hätte, musste er der Schwester Recht geben: Er hatte einen Mordshunger! Doch durch die Ereignisse, der Hektik und der Anspannung hatte er den ganzen Tag über seinen Hunger zur Seite geschoben und nicht beachtet.
    Gemeinsam aß er mit den Kindern und er bemühte sich darum, dass es eine fröhliche Angelegenheit wurde. Ohne das sie es merkten, befragte er sie so nebenher zu den Geschehnissen.


    Noch während sie ihm freimütig erzählten, wie sie das Ganze erlebt hatten, kam Anna Engelhardt leise ins Zimmer. Sie hörte eine Weile zu und als die Kinder geendet hatten, bat sie Semir zu einem Gespräch nach draußen.
    Nachdem er ihr auf den Flur gefolgt und sie fragend angeschaut hatte, berichtete sie ihm von den neuesten Erkenntnissen, die sie in der Zwischenzeit heraus gefunden hatten.
    Als sie am Schluss erwähnte, das die Staatsanwältin auf dem Weg hierher sei, stöhnte Semir auf: „Die Schrankmann?... Hierher?... Oh, Chefin,... muss das sein? Wir haben heute, weiß Gott, schon genug mitgemacht!“


    Mitleidig lächelte Anna: „Ich weiß, Semir, ich weiß. Aber es muss leider sein. Die gefundenen Beweise und die belastenden Zeugenaussagen einiger Gefangener, können bei der Verhandlung gegen Gehlen von Bedeutung sein. Daher müssen wir schnell handeln.“
    „Ja, aber Chefin,… die Verhandlung findet doch nicht nur morgen statt. Die Beweise und Zeugenaussagen können auch zu einem späteren Zeitpunkt verwendet werden, oder?“ beklagte sich Semir gereizt.
    Erschöpft rieb er sich über das müde Gesicht und seufzte abgrundtief. Verzweiflung klang in seiner Stimme mit, als er weiter versuchte, das drohende Unheil in Form von der Schrankmann abzuwenden: „Bitte, Chefin,… Chris hat seit gestern verdammt viel mitgemacht und er sieht schrecklich aus… Ich persönlich fühle mich wie ein ausgewrungener Schwamm… Wir sind einfach nur noch müde und wollen unsere Ruhe! Können Sie das denn nicht verstehen?“


    Während er sie bittend anschaute, bemerkte er, das auch seine Vorgesetzte müde und erschöpft aussah. Ihre sonst wachen Augen waren rot geädert und ihr normalerweise frischer Teint wirkte blass, fast schon grau.
    Deswegen kam die Antwort, die sie ihm gab, auch nicht überraschend: „Glauben Sie mir, Semir, ich kann Sie sehr gut verstehen. Wir sind alle müde: Sie,… ich,… Hartmut,… die Kollegen… Und wenn ich es könnte, würde ich Sie und Ritter für eine Woche beurlauben! Aber das geht nicht. Ich fürchte nämlich um Ihre Sicherheit.“
    „Aber warum denn?“ wollte Semir ungehalten wissen. „Die Kidnapper sind gefasst, Chris Familie ist in Sicherheit und Sie haben weitere Beweise für Gehlens Mitschuld. Was soll uns noch großartig passieren?“


    Die Engelhardt seufzte: „Ich möchte nicht, das Gehlen eine erneute Chance bekommt Ihnen ein Killerkommando auf den Hals zu hetzen. Im Moment weiß er noch nicht, das sein Plan gescheitert ist und wiegt sich in Sicherheit. Und wir versuchen alles, damit es so bleibt!“
    Irritiert blickte Semir die Chefin an: „Aber wie sollte er es denn heraus bekommen? Wir haben doch alle, die sich im Motel befanden festgenommen.“
    „Nein, nicht alle“, schüttelte Anna mit dem Kopf. „Mindestens einer konnte entkommen. Ritter hat wohl jemanden während der Erstürmung des Speisesaals verfolgt und ihn im Wald verloren.“
    „Und Sie meinen wirklich, dieser Flüchtige würde sofort zu Gehlen rennen, um ihn zu warnen?“ Unterschwelliger Sarkasmus schwang in Semirs Stimme mit, als er sie ungläubig fragte.


    „Vielleicht nicht,“ zuckte die Engelhardt mit ihren Schultern, „aber ich will kein Risiko eingehen.“ Plötzlich fiel ihr siedend heiß etwas ein und in Gedanken machte sie sich eine Notiz.
    Für einen Augenblick sah Semir seine Chefin nachdenklich an, dann seufzte er ergeben und hob resigniert die Hände: „OK, ok,… Sie haben gewonnen! Ich hole Chris, damit wir es so schnell wie möglich hinter uns bringen können.“
    Er drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte trotz seiner kurzen Beine mit weitgreifenden Schritten davon.


    Anna schaute ihm kurz hinterher, dann rief sie mit einem schiefen Lächeln: „Semir…!“
    „Was?“ grummelte Semir ungeduldig und wandte sich zu ihr um.
    „Wissen Sie überhaupt wo Sie hin müssen?“ wollte sie von ihm mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.
    Zuerst blickte er verdattert, dann schnaubte Semir verächtlich: „Ich bin polizeilicher Ermittler… da werde ich doch wohl noch heraus finden, wo sich mein Partner befindet.“
    Unwillkürlich musste Anna leise auflachen: „Versuchen Sie es auf Station sieben in Zimmer 19. Das erspart Ihnen die Mühe… Und Semir,… kommen Sie dann bitte ins Besucherzimmer. Die Stationsschwester hat mir erlaubt den Raum für unsere Besprechung nutzen zu dürfen.“
    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren nickte Semir stumm. Er drehte sich um, ging den Gang entlang und verschwand um die Ecke.


    Kaum war Semir aus ihrem Sichtfeld verschwunden, fiel der Chefin ihre gedankliche Notiz ein. Schnell rief sie Bonrath an, der mit Hotte noch immer vor dem Krankenhaus wartete und bat ihn, zwei Polizisten für die Bewachung von Ritters Familie hierher zu beordern.
    Zuerst boten sich die beiden treuen Seelen selber an, doch sie wimmelte ab: „Sie haben seit gestern auch kaum Schlaf bekommen. Wenn wir hier fertig sind, machen Sie Feierabend für heute.“
    Sie legte auf und überlegte gerade, ob sie noch einmal zu Ritters Kindern gehen sollte, als Frau Schrankmann auftauchte. Mit einem aufgesetzten Lächeln bat sie die Staatsanwältin in den Besucherraum und während sie auf ihre Kommissare wartete, setzte sie sie ins Bild…

  • In dem heutigen Abschnitt steckt sehr viel Herzblut und er bedeutet mir sehr viel! Jeder der mich näher kennt, weiß was ich meine...



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    Die Stationsschwester, die Chris hergeführt hatte, öffnete fast geräuschlos die Tür. Mit einer einladenden Handbewegung deutete sie ins schwach beleuchtete Zimmer.
    „Gehen Sie ruhig zu ihr. Sie schläft jetzt“, sagte sie und lächelte ihn aufmunternd an.
    „Danke!“ antwortete Chris mit belegter Stimme, tat einen zaghaften Schritt in den Raum und blieb furchtsam stehen. Regungslos stand er da,… seinen Blick nach rechts auf das einzige Bett im Raum gerichtet.
    Wie aus weiter Ferne hörte er, wie die Schwester fürsorglich hinzu fügte: „Wenn etwas sein sollte,… ich bin nebenan. Sie können mich jederzeit rufen.“


    Mechanisch nickte Chris. Nach einigen Sekunden spürte er einen zarten Luftzug im Nacken und er hörte, wie die Tür vorsichtig hinter ihm zu gezogen wurde.
    Noch immer starrte er gebannt auf das Bett,… und besonders auf die Person darin. Seine Schwester lag auf dem Rücken und war bis zur Brust mit einem dünnen, weißen Oberbett zugedeckt. Ihr Kopf ruhte auf einem bauschigen Kissen in leicht erhöhter Position und ihre Arme lagen neben ihrem Körper auf der Decke.
    Sie rührte sich nicht und wäre das regelmäßige Piepen des Überwachungsmonitors nicht gewesen, der ihre Lebenszeichen in bunten Kurven und Linien anzeigte, hätte man meinen können, das sie tot wäre. Nur am gleichmäßigen, wenn auch kaum bemerkbaren Heben und Senken des Brustkorbes, konnte Chris mit eigenen Augen erleichtert erkennen, das sie wirklich schlief.


    Noch immer stand er wie festgenagelt da… konnte noch immer keinen Schritt weiter gehen…
    Das Bett,… es wirkte riesig! Und noch nie war ihm seine Schwester so zerbrechlich vorgekommen,… so verletzlich,… so schutzlos!
    Unwillkürlich musste Chris tief durchatmen und er nahm den typischen, sterilen Krankenhausgeruch wahr… jener Mischung aus scharfem Desinfektionsmittel, spießig riechendem Bohnerwachs, bitterer Medizin und milden Seifen. Er hasste diesen Geruch! Zu sehr erinnerte er ihn an seinen Aufenthalt im Krankenhaus nach der Befeiung aus den Händen der Waffenschmuggler. Eine eisige Welle überrollte ihn und schnell schüttelte er sie ab. Er wollte nicht daran erinnert werden… nicht jetzt!


    Schließlich zwang Chris sich weiter ins Zimmer zu gehen.
    Langsam schritt er bis an das Fußende, blieb erneut stehen und legte seine Hände auf den eisernen Griff. Er spürte die metallische Kälte und sie jagte ihm einen fröstelnden Schauer über den Rücken… Gänsehaut kroch über seine Schultern bis in die Arme und ließ ihn frieren. Schnell zog er die Hände weg und schlang seine Arme um seinen Körper, wie um sich selbst Wärme zu spenden.


    Chris ging um das Bett herum, stellte sich an die linke Seite und behutsam legte er seine Hand auf die ihre. Sorgsam achtete er darauf nicht an den Verband zu kommen, der um ihr Handgelenk gewickelt war. Während er sanft ihre Finger drückte, beugte er sich zu ihr hinunter und gab ihr einen zarten, liebevollen Kuss auf die Stirn.
    „Hallo Schwesterherz!“ hauchte er fast unhörbar, legte seine linke Hand vorsichtig auf ihren Kopf und mit dem Daumen strich er ihr sanft über die rechte Stirnseite.


    Ein Stich durchfuhr Chris’ Herz, als er voll Sorge ihr schlafendes Antlitz betrachtete. Das Pflegepersonal hatte es vorsichtig gereinigt, die Platzwunde über dem Auge mit schmalen Pflasterstreifen bedeckt und die spröden Lippen mit einem Balsam eingerieben.
    ‚Ihr Gesicht!… Es sieht so weiß aus,… so anders…’, dachte er erschrocken bei sich.
    Besonders die blauen Flecken, die sich langsam gegen den blassen Teint abzeichneten, traten markant hervor. Das Gesicht war noch etwas geschwollen von den Schlägen, doch Chris wusste, dass das in einigen Stunden vorüber war.
    „Es wird jetzt alles gut“, flüsterte er ihr mit bebender Stimme Mut zu. „Deinem Sohn geht es auch gut! Hast Du gehört, Gaby?… Richard ist nicht tot!… Er lebt!“
    Es kam keine Reaktion. Er hatte auch nicht damit gerechnet… und doch hatte er insgeheim darauf gehofft!


    Mit einem leisen Seufzen setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett, ohne dabei ihre Hand loszulassen.
    „Es wird alles wieder gut“, redete er leise weiter. „Das verspreche ich Dir! Es wird alles wieder so wie früher. Ich lasse Dich jetzt nicht mehr allein… nie mehr! Hörst Du?“
    Vorsichtig hob er ihre Hand hoch und legte sie an seine Wange. Er fühlte ihre weiche Haut und Erinnerungen an ihre Berührungen wurden wach…


    Versonnen schloss er die Augen und Bilder aus der Vergangenheit kamen in ihm hoch:
    wie sie bei der Begrüßung stets sein Gesicht in ihre Hände nahm und ihm Geborgenheit gab,…
    wie sie ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm Trost spendete,…
    wie sie aufmunternd seine Schulter drückte, wenn er niedergeschlagen war,…
    wie sie seine Hände in die ihren nahm und ihm Sicherheit vermittelte…


    Ein Hauch von einem Lächeln überflog seine müde Miene und langsam öffnete er die Lider. Mit seinen Lippen berührte ihre Handinnenfläche und küsste sie.
    Er spürte ihre Wärme und sie weckte in ihm das Bewusstsein, das sie lebte,… das sie in Sicherheit war,… das es ihr gut ging,… das sie bei ihm war!
    Zuversicht und ein befreiendes Glücksgefühl breiteten sich in ihm aus,… ließen seine Atmung ruhiger werden, seinen Puls regelmäßiger schlagen und seine Gesichtszüge wurden milde.


    Und erst jetzt konnte er sich endgültig von allem lösen, was ihn in den letzten Stunden fast an den Abgrund gebracht hatte: von seiner kalten Angst,… von seiner lähmenden Hoffnungslosigkeit,… von seiner schieren Verzweiflung,… von allen hässlichen Gedanken und negativen Emotionen…
    Chris spürte, wie sich sein Herz entkrampfte,… wie sich unendliche Erleichterung in ihm ausbreitete,… wie seine Anspannung und Erschöpfung von ihm abfiel…


    Tränen stiegen ihm in die Augen und leise fielen sie auf seine Hände. Hastig versuchte er sie wegzuwischen und heftig schluckend dagegen anzugehen. Doch seine inneren Dämme waren gebrochen und unaufhaltsam öffneten sich die Schleusen. Sie ließen alles, aber auch wirklich alles, heraus!
    Schließlich nahm Chris die erlösende Aktion seiner gepeinigten Seele an und gab sich ihr dankbar hin. Gabys Hand zurück auf die Decke legend, bettete er seine Stirn auf ihren Unterarm und ließ seinen Tränen endlich freien Lauf.


    Es wurde kein klagendes oder herzzerreißendes Schluchzen, sondern ein, für seine Seele, befreiendes Weinen…
    Ein Weinen, bei dem alles, was ihn belastete weggespült wurde…
    Ein Weinen, von dem er wusste, dass es ihm danach besser gehen würde…
    Es war ein Weinen, wie er es nur in Gegenwart seiner Schwester zulassen konnte…


    So wurde er nicht gewahr, wie es Minuten später leise an der Tür klopfte und Semir vorsichtig ins Zimmer kam…

  • Sekundenlang stand Semir schweigend da und beobachtete Chris. Er konnte sein Gesicht nicht sehen, aber der stoßweise Atem, der zuckende Rücken und die schniefenden Geräuschen zeigten deutlich, was mit Chris los war.
    Aus einem Impuls heraus war er versucht, zu seinem Partner zu gehen, um ihm tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Doch schnell verwarf er den Gedanken und schlich sich so leise, wie er herein gekommen war, wieder hinaus. Nachdem er vorsichtig die Tür zugezogen hatte, lehnte er sich an die Wand, atmete tief ein und schloss seine Augen.
    Er versuchte seinem gedanklichen Chaos eine Richtung zu geben, um das gerade Gesehene zu begreifen:


    Chris…
    dieser wortkarge Eisberg,…
    dieser grimmige Griesgram,…
    dieser von negativen Eigenschaften beherrschte Kotzbrocken,…
    dieser gefühlskalte Granitblock…


    Er weinte!


    Eine Welle von Mitleid wogte über Semir und er wäre am liebsten zurück zu Chris gegangen und hätte ihn getröstet. Doch er ahnte, dass das keine gute Idee wäre.
    Wenn dort Tom sitzen würde,… ja dann,… dann wäre das etwas anderes!
    Wenn er Tom eine Hand auf die Schulter gelegt hätte, hätte der seine Geste als das verstanden, was sie war: Trost!


    Tom hätte verstanden, das er ihm damit das Gefühl vermitteln wollte, nicht allein zu sein…
    Er hätte sie dankbar angenommen, ohne sich zu schämen…
    Er hätte mit ihm sein Herz ausgeschüttet, mit dem Bewusstsein, das Semir ihn nicht verspotten würde…
    Er hätte gewusst, das er sich in Semirs Gegenwart fallen lassen durfte und sein Partner ihn auffing…
    Und Tom hätte vor allem eins gewusst: Semir war nicht nur sein Partner,… er war auch sein Freund!


    Doch dort drin saß nicht Tom… dort drin saß Chris!
    Der Chris, der es nicht mochte, wenn man ihm zu nah kam,…
    der in Gesprächen eine abweisende Haltung einnahm,…
    der Fragen mit Schweigen abwehrte,…
    der jede Form der Annäherung als Angriff auf seine Privatsphäre ansah…


    Semir wusste nur zu gut, dass das alles nur Fassade,… eine Art Schutzwall war.
    Beim Besuch bei seiner Familie hatte Chris ihn an seiner heilen Welt teilhaben lassen und er hatte ihm gezeigt, das er auch anders sein konnte. Semir hatte gesehen, wie er liebevoll lächeln, verständnisvoll reden, geduldig zuhören und sich entspannt zurück lehnen konnte.
    Doch was er gerade gesehen hatte, war ganz sicher nicht für seine Augen bestimmt gewesen und plötzlich schämte er sich ein wenig dafür!


    Nein,… Chris würde nicht wollen, das er ihn so sah und darum entschloss sich Semir seinen Partner allein zu lassen. Er suchte eine der Krankenschwestern und bat sie, Chris in zehn Minuten ins Besucherzimmer auf Station sechs zu schicken. Dann machte er sich schweren Herzens allein auf den Weg zurück…

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