Angst und Vertrauen

  • Semir sah deutlich, wie sehr Chris mit sich rang. Obwohl seine Miene relativ unbeweglich blieb, sagten die kleinen Gesten weit mehr:
    Augen, die sich vor der Welt verschlossen,…
    Arme, die sich schützend um seinen Körper schlangen,…
    das abwehrende Wegdrehen seines Körpers,…
    das fröstelnde Erschaudern,…
    die unregelmäßige Atmung…
    Es war mehr als offensichtlich, welch ein enormer Kampf in Chris tobte.


    Erwartungsvoll schaute er ihn an und Hoffnung keimte in ihm auf. In seinen Gedanken sprach er ihm Mut zu: ‚Komm schon, Chris! Trau Dich!... Bitte…!’
    Als Chris in diesem Moment tief Luft holte und sich ihm langsam zuwandte, lag auf Chris’ Gesicht ein entschlossener Gesichtsausdruck.


    Gebannt hielt Semir den Atem an. Würde er jetzt endlich etwas über seinen Partner erfahren? Würde Chris sein sonderbares Verhalten erklären? Würde er ihn an seinem Geheimnis teilhaben lassen? Würde er ihm endlich vertrauen?


    Chris öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Denn als er Semirs gespannte Miene registrierte, verließ ihn sein Mut. Schnell blickte er wo anders hin und Semir sah das ängstliche Aufflackern darin. Chris’ linke Hand fuhr fahrig über die gekrauste Stirn.


    ‚Wag es jetzt ja nicht, Dich zurück zu ziehen!’ drohte ihm Semir in Gedanken. ‚Ich rede sonst kein Wort mehr mit Dir…!’
    Als ob ihn sein Partner gehört hätte, holte Chris noch mal tief Luft und strich sich anschließend mit der Hand über den Mund. Mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung nahm er sie weg und seine Stimme klang belegt, als er anfing zu sprechen: „Ich… ähm,… “ Chris hielt inne und räusperte sich.


    ‚Was willst Du mir sagen?… Komm schon, lass es raus!’ flehte Semir unterdessen gespannt.
    Stockend setzte Chris mit rauer Stimme erneut an: „Ich muss…“
    Gequält stieß er seinem Atem aus, presste für einen Moment die Lippen zusammen und schloss krampfhaft seine Augen.


    Was immer Chris ihm sagen wollte, es musste verdammt schwer für ihn sein. Das spürte Semir genau und er wäre ihm gern in irgend einer Weise entgegen gekommen, doch er wusste nicht wie.
    Statt dessen breitete sich in seinen Gedanken ein fragendes, und sogleich erwartungsvolles, ‚Jaaa…?’ aus.
    Diesmal erhob sich Chris’ Stimme zwar leise und mit einem leichten Beben, aber einer deutlich spürbaren Entschlossenheit: „Ich muss Dir etwas erzähl…“


    „SEMIR…! CHRIS…!“

  • Susannes freudiger Ruf ertönte plötzlich neben ihnen und beide zuckten im ersten Moment erschrocken zusammen. Sie hatten nicht bemerkt, wie die Sekretärin aus dem Eingang gestürzt kam und nun mit strahlendem Gesicht auf sie zulief.


    Ohne das schreckhafte Zusammenfahren wahrzunehmen, fuhr Susanne unbeirrt begeistert fort: „Landwehr hat vor wenigen Augenblicken angerufen. Gemeinsam mit der Chefin, haben er und sein SEK zwei Männer festgenommen!… Und jetzt ratet mal, wer einer der beiden Männer ist?“


    Sie ließ ihren erwartungsvollen Blick zwischen Chris und Semir hin und her wandern… und war enttäuscht. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion erwartet. Statt sie mit Fragen zu löchern, starrten die beiden Männer sie wie einen Geist an.


    Nach ein, zwei Wimpernschlägen lösten sie sich aus ihrer Erstarrung.
    Während sich Chris, wie sie meinte zu hören, mit einem erleichterten Seufzer über das Gesicht strich, fuhr sich Semir mit beiden Händen übers Haupt und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Mit einem ärgerlichem Schnauben drehte er sich von der Sekretärin weg. Deutlich konnte sie, besonders in Semirs Gestik, Frustration erkennen.


    „Komme ich etwa ungelegen?“ fragte sie irritiert.
    „Nein, eigentlich nicht“, antwortete Chris leise.
    „Ja, äußerst ungelegen!“ kam es gleichzeitig von Semir ungehalten.


    Zuerst wusste Susanne nicht, wie sie die unterschiedlichen Aussagen deuten sollte und schaute die beiden Männer verwirrt an. Doch keiner der beiden machte Anstalten sie aufzuklären.
    Schließlich versuchte sie es zögerlich noch einmal: „Die Engelhardt und Landwehr haben zwei Männer fest genommen. Einer davon ist Lorenz.“


    Endlich schienen Chris und Semir die Tragweite ihrer Worte verstanden zu haben, denn bei der Erwähnung des Namens Lorenz fuhren ihre Köpfe zu ihr herum.
    Mit weit aufgerissenen Augen bombardierten die Männer sie gleichzeitig mit Fragen:
    „Was?… Wann?“
    „Wie?… Und wo?“


    Entsetzt machte sie einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände: „Genaueres weiß ich nicht! Landwehr hat keine Einzelheiten erzählt, aber das Gespräch liegt noch auf der Leitung. Ihr könnt selber mit ihm sprechen.“


    Chris wollte sofort in die PAST stürmen, doch Semir hielt ihn am Ärmel zurück und sah ihn warnend an. Dann drehte er sich Susanne mit wütend funkelnden Augen zu und raunzte sie an: „Warum hast Du das Gespräch nicht auf eines unserer Handys geleitet? Wie sollen wir da drinnen bei all den Wanzen frei sprechen? Hast Du daran nicht gedacht?“


    Er war noch immer sauer auf sie, da sie in seinen Augen die Chance auf ein Gespräch zwischen ihm und Chris vereitelt hatte…
    Ein Gespräch, bei dem er endlich die Gelegenheit bekommen hätte, etwas über Chris zu erfahren! Endlich hatte er Chris soweit gehabt, das er ihm vertraute. Vielleicht kam diese Gelegenheit nie wieder!


    Susanne hörte den grollenden Ton in Semirs Stimme und sah den ärgerlichen Blick. Da sie nicht wusste, was sie falsch gemacht haben könnte, antwortete sie leicht patzig: „Landwehr hat gesagt, das wir ab jetzt frei reden können. Und wenn Du wissen willst warum, geh rein und frag ihn selbst.“


    Mit einem vernichtenden Blick, den sie ihm strafend zuwarf, straffte sie ihre Schultern, drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand wieder im Gebäude.
    Semir und Chris sahen sich nur einen Augenblick an, dann liefen sie hinter Susanne her.


    An Susannes Schreibtisch versammelten sie sich um das Telefon. Semir schaltete den Lautsprecher an und meldete sich: „Hallo?… Gerkhan und Ritter hier. Herr Landwehr, Sie haben zwei Männer fest genommen? Was können Sie uns berichten?“
    Sofort ertönte Landwehrs Stimme…

  • Während Susanne Chris und Semir holte, ließ das Rattengesicht seinen listigen Blick nicht vom Einsatzleiter und der Chefin. Er wartete auf die richtige Gelegenheit sich ins Gespräch einzubringen. Und er war gewillt, die Chance, wenn sie sich ihm bot, zu nutzen. Er hatte nicht vor, in irgend einem Drecksloch verrotten!


    In seinen Gedanken hatte er eine Idee, wie er sich und seinen Bruder vielleicht relativ unbeschadet aus diesem Dilemma heraus holen könnte. Dabei war es ihm völlig egal, das er Lorenz in den Rücken fiel!


    Die „geschäftlichen“ Beziehungen zu Lorenz wären über kurz oder lang sowieso vor dem Aus gewesen.
    Über seine arrogante Art und seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit, waren er und sein Bruder in den letzten Wochen immer besorgter gewesen. Sie wussten, was aus Menschen wird, die sich ihrer Sache zu sicher sind… Sie werden unvorsichtig! Und genau so war es gekommen!


    Er hatte keine Lust für ihn die Kastanien aus dem Feuer zu holen oder, noch schlimmer, den Prügelknaben zu spielen…
    ‚Lorenz…!’ dachte er verächtlich. In ihm kochte es, wenn er nur an ihn dachte!
    Doch jetzt musste er einen kühlen Kopf bewahren. Er durfte den genauen Zeitpunkt nicht verpassen und konzentrierte sich wieder auf die beiden Personen.


    Er hörte wie der Einsatzleiter mit jemanden durch sein Headset sprach. An den Gesprächsfragmenten meinte er zu erkennen, das die Sekretärin der PAST am anderen Ende der Leitung war.


    Sein Verdacht wurde bestätigt, als sich der Mann in diesem Augenblick mit einem zufriedenen Lächeln an die Engelhardt wandte, ihr mit Daumen und Zeigefinger das ok – Zeichen gab und sagte: „Wir können gleich mit Ihren Kommissaren reden. Ihre Sekretärin holt sie gerade. Schalten Sie auf Kanal vier. Dann können Sie mithören und persönlich mit ihnen sprechen.“


    Zustimmend nickte die Frau und bediente den entsprechenden Knopf an ihrem Gerät. Es dauerte nicht lang und jemand schien sich zu melden. Daraufhin setzte Landwehr denjenigen mit knappen Worten ins Bild.


    Als er endete, schaltete sich die Engelhardt ins Gespräch ein: „Herr Ritter, ich möchte, das Sie so schnell wie möglich hierher kommen. Vielleicht bekommen sie ja etwas aus den beiden Männern heraus.“
    Sie lauschte einen Moment, weil am anderen Ende wohl eine Frage gestellt wurde. Sie warf den Gefangenen einen nachdenklichen Blick zu und grollte anschließend entschlossen: „OK, Ritter... Sie dürfen!“


    Die Ratte meinte zu wissen, um was es ging und sein feiges Herz fing an, schneller zu schlagen. Er hatte mehrfach gesehen, das Ritter mit Gefangenen nicht gerade zimperlich umging und ahnte, dass ihm die gleiche Behandlung nun wohl selbst bevor stand.


    Er war zwar ein Mann, den die Gewalt sehr faszinierte… doch nur solange, wie sie gegen andere gerichtet war. Da er sie aber nicht unbedingt am eigenen Leibe erfahren wollte, wusste er, das er jetzt handeln musste.


    So weit es ihm mit seinen Fesseln möglich war, richtete er sich auf und rief: „Wenn ich Ihnen sage, was ich weiß… Legen Sie dann beim Richter ein gutes Wort für mich und meinen Bruder ein?“


    Augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit aller Beteiligten.
    Lorenz fuhr mit einer wütenden Bewegung zu ihm herum und, während er versuchte nach ihm zu treten, schrie er: „Wag es ja nicht auch nur ein Wort zu sagen! Die bluffen doch nur!“


    Auch die zu ihrer Bewachung abgestellten SEK-Männer reagierten auf die Bewegungen sofort.
    Einer der beiden packte ihn am Kragen und riss ihn zurück auf den Boden. Mit dem schweren Stiefel an seinem linken Fuß, den er auf seine Schulter stellte, fixierte er ihn und legte eine Waffe auf ihn an. Die wachsamen Augen des Mannes zeigen deutlich, das er nicht zögern würde zu schießen, würde er es wagen, sich noch einmal falsch zu bewegen.


    Der andere Mann vom SEK zerrte den um sich tretenden und noch immer fluchenden Lorenz von ihm fort. Das Rattengesicht hörte, wie er immer wieder: „Mieser Verräter!“ und „Elender Feigling!“ schrie.
    Plötzlich ertönte eine bellende Stimme. Augenblicklich war Lorenz still und man hörte nur noch seinen schweren, aufgebrachten Atem.
    Aus den Augenwinkeln sah die Ratte, wie sich der Bewacher von Lorenz mit grimmiger Miene über ihn beugte und den roten Punkt der Zielvorrichtung an seiner Waffe über dessen Gesicht tanzen ließ.


    Mit halben Ohr nahm er gewahr, wie die Engelhardt hektisch ins Mikro rief: „Semir, warten Sie einen Moment! Vielleicht redet einer der Männer!“
    Dann traten sie und der Einsatzleiter an ihn heran. Dieser gab seinem Bewacher einen Wink, worauf der zwar den Fuß von seiner Schulter entfernte und zwei kleine Schritte von ihm weg machte, aber trotzdem die Waffe weiterhin im Anschlag auf ihn gerichtet hielt…





    Anna Engelhardt schmunzelte innerlich als sie sah, wie der eine Gefangene reagierte und wusste, das ihr Plan funktioniert hatte.


    Woher sollte Mann auch wissen, das sie, als sie: „OK, Ritter… Sie dürfen!“ sagte, etwas ganz anderes gemeint hatte. Ritter hatte nur gefragt, ob er jetzt wieder im Einsatz wäre und seine Waffe aus ihrem Schreibtisch holen dürfe!
    Im Hintergrund meinte sie, trotz des Tumultes, zu hören, wie sich jemand mit schnellen Schritten vom Telefon wegbewegte.


    Nachdem die Situation innerhalb von Sekunden wieder unter Kontrolle war, trat sie mit unnahbarer Miene an den am Boden liegenden Mann heran. Unschlüssig, ob sie ihm trauen konnte, sah sie zu ihm hinab und forderte ihn schließlich mit einem Kopfnicken zum Sprechen auf.


    Berechnung lag auf seinem Gesicht, als er vorsichtig fragte: „Können Sie mir eine Strafmilderung garantieren…?“
    „Das hängt davon ab, was Sie mir zu bieten haben“, antwortete die Chefin ernst.
    „Ich kann Ihnen sagen, wo sich Borchert mit seinen Männern und die Geiseln befinden“, ließ sie der Gefangene nach kurzem Nachdenken wissen.


    Lorenz bäumte sich trotz seines Aufpassers und der auf ihn gerichteten Waffe fluchend unter seinen Fesseln auf.
    „Wenn Du das machst, bist Du erledigt! Du und Dein Bruder… Euer Leben wird keinen Pfifferling mehr wert sein! Dafür sorge ich…!“ schrie er aufgebracht.


    Plötzlich war das eindeutige Klicken, wie es beim Spannen einer Waffe zu hören ist, zu vernehmen und ließ Lorenz schnell verstummen. Mit einem wütenden Blick sah er seinen Bewacher an. Dessen unerbittlichen Miene strahlte eine drohende Gefahr aus und die harten Augen blitzten gefährlich. Als dieser dann auch noch ein warnendes Knurren von sich gab, zwang sich Lorenz ruhig zu bleiben.

    Die Engelhardt und Landwehr tauschten während dessen einen schnellen Blick miteinander, dann versicherte sie ihm: „Je mehr sie mir erzählen, um so mehr werde ich mich für Sie einsetzen.“
    An ihrem Tonfall war zu hören, das sie es ehrlich meinte.


    „Und was ist mit meinem Bruder?“ Deutlich war Sorge in der Stimme des Mannes zu erkennen. „Können Sie ihm auch zu strafmildernden Umständen verhelfen? Er wird bestimmt kooperieren.“
    „Ich werde sehen, was ich tun kann… Wo befindet sich Ihr Bruder jetzt?“ wollte Anna wissen.


    „Er ist auf dem Weg zu Borchert. Der braucht ihn für einen weiteren ‚Film’“, antwortete er ohne zu Zögern.
    Anna schwante Böses, als sie, den Atem anhaltend, fragte: „Was für einen weiteren Film?“


    „Was genau sich die beiden ausgedacht haben, kann ich Ihnen nicht sagen“, gab der Mann bereitwillig Auskunft. „Da müssen Sie ihn fragen.“
    Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Lorenz lag. „Er hat sich etwas mit Borchert überlegt, nachdem sie heraus bekommen haben, dass das Weibsstück sie schon wieder angelogen hat. Borchert ist wohl ziemlich sauer und will nun seinen verletzten Stolz an ihr auslassen.“


    Kaltes Entsetzen packte die Chefin. Doch bevor sie weitere Fragen stellen konnte, hörte sie Semirs scharfe Stimme aus dem Kopfhörer: „Chris, warte…!“

  • Während Chris mit eiligen Schritten seine Waffe aus dem Büro der Chefin holte, lauschten Semir und Susanne gebannt dem weiteren Geschehen. Sie hörten gerade, wie ein Mann nach Strafmilderung fragte, als Semir aus dem Augenwinkel mitbekam, wie Chris aus dem Büro der Chefin heraus kam. Noch im Gehen steckte er seine Waffe ins Holster am Gürtel.


    Chris wandte sich nach links und ging in ihr gemeinsames Büro. Dort zog er sich sein Jackett an, kramte aus Semirs Schreibtischschublade den Autoschlüssel, griff nach dessen Jacke und ging zu Susannes Arbeitsplatz zurück. Er warf seinem Partner das Kleidungsstück und die Schlüssel mit einer auffordernden Geste zu und deutete zur Tür.


    Gerade als er an ihm vorbei eilen wollte, hob Semir die Hand.
    „Warte einen Moment!“ sagte er mit leiser Stimme. „Einer der Männer will reden.“
    Mit angespanntem Gesichtsausdruck hielt Chris inne und konzentrierte sich auf die Stimmen aus dem Lautsprecher.


    „Ich werde sehen, was ich tun kann… Wo befindet sich Ihr Bruder jetzt?“ erkundigte sich die Chefin gerade.
    „Komm schon!“ murmelte Semir leicht ungehalten. „Nun frag ihn doch endlich, wo die Geiseln sind!“
    Er wollte unbedingt wissen, ob Hotte und Bonrath wirklich Recht hatten und sie wussten, wo Chris’ Familie gefangen gehalten wird.


    Sie hörten wie der Mann von einem Film sprach. Semir, der aufgestützt über dem Schreibtisch gebeugt stand, richtete seinen Blick auf Chris. Der erwiderte seinen Blick mit schreckensweiten Augen. Beide ahnten, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.


    „… das Weibsstück sie schon wieder angelogen hat. Borchert ist wohl ziemlich sauer und will nun seinen verletzten Stolz an ihr auslassen“, hörten sie den Mann in diesem Moment sagen.
    Entsetzt stieß Chris ein verzweifeltes: „Nein!“ aus.


    In seinem Kopf rasten die Gedanken. Er musste seiner Schwester zur Hilfe kommen,… doch wie?… Und wohin?
    Die gefangenen Männer… sie schienen was zu wissen. Er musste zu ihnen!


    Panisch schaute er sich um. Sein Augenmerk wurde auf Semirs Jacke gelenkt, die Semir auf dem Stuhl vor Susannes Schreibtisch abgelegt hatte. Der Autoschlüssel lag oben drauf.
    Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, griff Chris mit einer schnellen Bewegung nach dem Schlüssel und wollte aus der PAST stürmen, als ihn Semirs scharfe Stimme zurück hielt: „Chris, warte…!“


    Ungeduldig drehte sich Chris zu seinem Partner um und zischte ärgerlich durch zusammen gebissenen Zähnen: „Semir, bitte! Halt mich jetzt nicht auf! Ich muss dorthin. Ich will wissen wo meine Familie ist! Ich…“


    Abrupt wurde er von einem Geräusch unterbrochen.
    Hinter ihm wurde eine Tür aufgerissen und Hartmuts atemlose Stimme schallte durch das Hauptbüro: „Semir…! Semir…! Du hattest Recht! Es ist das richtige Gebäude!“


    Während sich auf Chris’ und Susannes Miene Verwirrung breit machte, wandte sich Semir aufgeregt dem Telefon zu: „Chefin! Wir wissen, wo die Familie von Chris gefangen gehalten wird. Es ist das geschlossene Motel in der Nähe vom neuen Autohof!“
    „Woher wissen Sie das?“ Auch die Engelhardt klang verwirrt.


    „Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen“, wehrte Semir schnell ab. „Ich erzähle es Ihnen nachher. Können Sie ein SEK zum Parkplatz am Autohof schicken? Bonrath erwartet uns dort. Danke!“
    „Bonrath…? Was hat denn jetzt Bonrath damit zu tun?“ hörte man Anna zweifelnd fragen.


    Doch Semir hatte keine Zeit mehr zu antworten. Er hatte sich bereits seine Jacke geschnappt, drehte seinen verdatterten Partner am Arm herum und zog ihn zum Ausgang. „Komm, Chris! Wir befreien jetzt Deine Familie…“, sagte er aufgeregt.
    An Hartmut gerichtet rief er noch, bevor die Tür hinter ihnen zufiel: „Hartmut, Du bist der Größte!“


    Sich zu seiner vollen Länge streckend, lächelte Hartmut Susanne mit strahlenden Augen an: „Hast Du gehört? Ich bin der Größte!“ Und um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, nickte er einmal kräftig.


    Susanne wollte gerade schmunzelnd antworten, als die fordernde Stimme der Chefin dazwischen ging: „Hallo?! Würde mir mal jemand erklären was da los ist?“
    Schnell richtete Susanne ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefon zu und mithilfe von Hartmut erzählten sie ihr, was geschehen war…





    Anna Engelhardt lauschte mit wachsendem Interesse dem kurzen Bericht von Susanne und Hartmut. Auch wenn die beiden nicht alle Details wussten, ergab alles, was sie sagten, durchaus einen Sinn.


    Doch sie wollte ganz sicher sein. Mit wachsamer Miene richtete sie ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, der ihnen Informationen liefern wollte und fragte: „Die Geiseln…? Befinden die sich in dem alten Motel beim Autohof?“


    Eine Antwort wurde überflüssig. Auf dem Gesicht des Mannes zeichnete sich grenzenloses Erstaunen ab.
    Schnell fasste er sich und nickte zur Bestätigung: „Ja, dort hält sich Borchert mit seinen Männern und den Geiseln auf.“


    Vielsagend wechselte Anna mit Landwehr einen Blick. Während der Einsatzleiter keinen Moment zögerte, zu seinem Funkgerät griff und seine Leute zusammenrief, ließ sie den am Boden liegenden Gefangenen mit wohlwollender Miene wissen: „Sie haben mein Wort: Ich werde mich für Sie bei Gericht einsetzen.“


    Auf dem Weg zu den in der Zwischenzeit eingetroffenen Polizisten, gab sie Susanne die Order, das Siggi die Funkstille aufheben und ihr eine Verbindung mit Semir herstellen solle.
    Die weitere Leitung der Untersuchung übergab sie Harald und Lothar, die sofort den anderen Kollegen Aufgaben zuwiesen.
    Von der Spurensicherung verlangte sie einen detaillierten Bericht, bevor sie sich zu den Fahrzeugen des SEK begab.


    Landwehrs Männer saßen bereits in den Autos und kaum hatte sie ihre Tür geschlossen, fegten sie mit quietschenden Reifen, Blaulicht und Sirenen davon…

  • Auf Kurt Janzens Laptop erklang, nachdem er sein Passwort eingetippt hatte, der Erkennungsjingle und gab damit seinem Besitzer zu verstehen, das er betriebsbereit sei. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Tisch und starrte unschlüssig auf das Display.
    ‚Soll ich oder soll ich nicht...?’ grübelte er gedankenverloren. ‚Genügend Zeit wäre ja...’


    Von dem Vollzugbeamten, der ihn ins Zimmer geführt hatte, wusste er, das Gehlen zur Zeit Besuch von seinem Schneider hatte. Bei einer letzten Anprobe sollte der Anzug für die morgige Anhörung angepasst werden. Janzen wusste, das es sich dabei um einen exquisiten Herrenschneider handelte, der nur die besten Stoffe verwendete.
    Gehlens Eitelkeit war trotz der Wochen im Gefängnis ungebrochen und sein Klient hatte sich fest vorgenommen, seinen morgigen Triumph mit weltmännischem Stil und erhabener Eleganz zu erleben!


    Es könnte also noch eine Weile dauern, bis sein Mandant zu ihm gebracht wurde, überlegte er und zögerte kurz. Doch schließlich gewann die Neugier die Oberhand und er gab sich einen Ruck.


    Obwohl sonst niemand im Besprechungsraum war, sah er sich vorsichtig zu allen Seiten um, holte seinen Aktenkoffer unter dem Tisch hervor und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Noch einmal warf er einen skeptischen Blick zur Tür, bevor er die CD herausfischte.


    Schnell verstaute er die Tasche wieder unter dem Tisch, ließ das Laufwerk an seinem Laptop aufspringen und legte die silberne Scheibe hinein. Mit einem Surren begann das Gerät die Daten zu lesen und innerhalb von Sekunden war der Film abspielbar.


    Mit einer zaghaften Geste drückte er auf „Play“, startete das Video und war gespannt, was dort zu sehen sein würde. Der Bote hatte was von Neuigkeiten gesagt, die diesem Ritter endgültig das Genick brechen würden…


    Doch was er zu sehen bekam, ließ ihm zuerst einmal die Farbe aus dem Gesicht entweichen.
    Mit wachsendem Ekel besah sich der Anwalt das bizarre Schauspiel und nachdem der Film endete, schüttelte er sich wie ein nasser Hund.
    Es waren weniger die Bilder die ihn zum Schaudern brachten, als die Vorstellung dessen, was der ‚Doc’ anschließend mit dem Körper des Jungen anstellen würde.


    Mit Grauen dachte er an das letzte Opfer seiner fragwürdigen Operationsexperimente: eine kleine Thailänderin, deren Leichnam vom ‚Doc’ so auseinander genommen worden war, das sich eine Identifizierung später als unmöglich erwies.
    Da es keine Anhaltspunkte gab, von woher das Mädchen überhaupt gekommen war, niemand eine Vermisstenanzeige aufgab und es auch sonst keinerlei andere Hinweise gab, wurden die Nachforschungen zu ihrem Tod von den Behörden recht schnell eingestellt.


    Es wäre ihm ein leichtes gewesen, der Polizei einen entscheidenden Tipp zu geben, doch er würde sich hüten etwas zu sagen! Dafür bezahlte Gehlen ihn zu gut und die aus dieser Zusammenarbeit resultierenden Kontakte waren Gold wert!
    In dieser „Branche“ war ein guter Anwalt immer gefragt… vor allem einer, dem es egal war, mit was sein Klientel ihr Geld verdiente!


    Mit einem letzten Erschaudern konzentrierte sich Janzen zurück auf den Bildschirm. Die Szenerie hatte inzwischen gewechselt und er erkannte die Innenräume der PAST. In allen Einzelheiten konnte er beobachten, wie Ritter und sein Kollege sich die Videobotschaft ansahen.


    Janzen war über die Kaltblütigkeit, mit der Ritter sich das alles anschaute, entsetzt.
    ‚Wenn das mein Neffe wäre, würde ich mich garantiert unentwegt übergeben!’ dachte er fröstelnd.


    Gleichzeitig fiel ihm ein, wie Gehlen voller Hass vor allem von seinen Begegnungen mit Ritter gesprochen hatte.
    Er hatte ihn als kühlen, abweisenden und berechnenden Mann dargestellt:
    als jemand, der ohne Emotionen seine Geschäfte durchzog…,
    der mit regungsloser Miene über die „Ware“ gesprochen hatte, als ob er übers Wetter sprechen würde…,
    der keinerlei Angst zeigte, wenn man ihm drohte…,
    der, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Lauf einer Waffe geschaut hatte…,
    der sich als Freund ausgab und das Vertrauen seines Sohnes erschlichen hatte…,
    der eiskalt seinen Sohn erschossen hatte…


    Gehlens Aussagen bestätigten, was Janzen gerade sah. Allerdings hatte er auch noch in Erinnerung, wie Ritter bei der ersten Nachricht reagiert hatte und er bemerkte in diesem Augenblick dessen unterdrückte Emotionen.
    ‚Ein Mann voller Widersprüche’, schüttelte Janzen in Gedanken den Kopf.


    Nach einem nachdenklichen Moment murmelte er leise: „Doch das ist doch bestimmt nicht gemeint gewesen, als Borcherts Mann von Genick brechenden Fakten sprach…“
    Weibliche Stimmen ließen seinen Blick zurück zum Monitor wandern. Es wurde ein Dialog zwischen zwei Frauen gezeigt und in ihrer Unterhaltung ging es um die Kinder.


    „Ja, die anderen beiden sind die Kinder von Chris“, erklärte die dunkelhaarige Frau der anderen gerade. „Seine Schwester hat sie bei sich aufgenommen, als seine Frau bei einem Unfall ums Leben kam.“
    Als sie den erstaunten Gesichtsausdruck ihres Gegenüber wahrnahm, fragte sie unsicher hinterher: „Hast Du das nicht gewusst?“
    „Nein!“ hauchte die blonde Frau erschrocken.
    Die betretene Miene der Ersten sprach Bände: „Oh,... ich dachte, man hätte Euch das erzählt.“
    Wortlos schüttelte die Zweite den Kopf, blickte zu Ritter und murmelte leise: „Das erklärt einiges!“


    Sekunden später brach das Bild ab und Janzen setzte sich ruckartig aufrecht.
    Er ließ das Gehörte in seinem Kopf Revue passieren. Ein Lächeln breitete sich immer mehr auf seinem Gesicht aus und seine Augen begannen freudig zu glitzern.


    Langsam hob er seinen rechten Zeigefinger, deutete mehrmals auf das dunkle Display und mit einem bestätigenden Nicken kicherte er: „Ja, das erklärt wirklich einiges! Danke meine Damen! Das wird meinem Mandanten gefallen!“
    Erwartungsvoll holte er tief Luft und rieb sich die Hände.


    Anschließend drückte er eine Taste und das Desktop wurde sichtbar. Er öffnete einige Ordner und lehnte sich anschließend auf seinem Stuhl zurück. Auf seiner Miene spiegelte sich der äußerst zufriedene Ausdruck einer satten Katze, die eine besonders fette Beute verspeist hatte. Er leckte sich die Lippen und konnte es nicht abwarten, Gehlen davon zu erzählen…

  • Schnell ein kurzes Stück Lesefutter für Euch, bevor ich endlich ins Bett fallen kann... :O
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    Das Mausgesicht stand in der Schlange und wartete darauf, endlich bedient zu werden.
    Auf dem Weg zurück zum Motel hatte er einen Mordshunger verspürt und da ihm das Essen, welches Borcherts Leute kochten, nicht besonders schmeckte, hatte er sich entschlossen, schnell im Autohof einen Imbiss einzunehmen.


    Leider hatte er das Pech, das kurz zuvor drei Fanbusse des SC Mailand, die auf dem Weg zum Champions League Spiel gegen den HSV waren, ausgerechnet diesen Autohof angesteuert hatten, um eine Pause einzulegen. Dutzende von bunt gekleideten Fans belagerten nun den Thekenbereich und wollten sich vor der Weiterfahrt stärken. Es ging nur sehr schleppend voran, da sich die Italiener teilweise nur mit Händen und Füssen verständigen konnten.


    Langsam wurde das Mausgesicht ungeduldig. Immer wieder warf er einen nervösen Blick auf seine Uhr. Er sollte schon längst bei Borcherts sein.
    ‚Der wird gleich ziemlich ungehalten sein!’ fluchte er in Gedanken.


    Nach, wie es ihm schien, endlos langen Minuten kam er endlich an die Reihe. Schnell bestellte er einen Döner zum Mitnehmen, bezahlte und lief hastig mit schnellen Schritten hinaus.


    Er sah und hörte nicht mehr, wie die Köchin ihren Kopf durch die Durchreiche steckte und die Bedienung mürrisch fragte: „Sind die beiden Polizisten immer noch nicht zurück?“
    Das angesprochene junge Mädchen schüttelte ahnungslos den Kopf, worauf die Köchin verständnislos die Schulter zuckte: „Erst macht der eine hier ein Affentheater und dann kommen sie nicht zurück. Noch länger kann ich denen ihr Essen nicht warm halten.“


    Unterdessen schlängelte sich die Maus ungeduldig durch die vielen Fußballfans, die sich zu ihren Bussen zurück bewegten.
    Dadurch, das er darauf bedacht war niemanden anzurempeln, sah er auch nicht das Polizeiauto, welches in der Nähe des Eingangs parkte.


    Er lief zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Statt den Wegweisern zur Autobahn zu folgen, lenkte er sein Fahrzeug über Nebenwege zum Motel…





    … und im selben Moment, als das Mausgesicht vom Parkplatz bog, brach Bonrath stolpernd aus dem Wald, klopfte sich ein halbes Dutzend vertrocknete Blätter von der Jacke und zog seine Uniform zurecht. Mit langen Schritten ging er zum Parkplatz und wartete aufgeregt auf die Kollegen…

  • Semir jagte den silbernen BMW über die Autobahn und verlangte dem Wagen alles ab. Geschickt lotste er ihn durch den Verkehr und wo man ihnen trotz des Blaulichts nicht schnell genug Platz machte, half er mit hektischen Lichtsignalen oder wildem Gehupe nach.


    Gleichzeitig erklärte er der Engelhardt über die Freisprechanlage seines Handy, wie er an die Informationen gekommen sei.
    „… Bonrath wartet jetzt dort auf uns und gibt uns vor Ort weitere Details“, endete er seinen Bericht, zog schwungvoll das Lenkrad nach links und raste donnernd an einem LKW vorbei.


    „Ich bin mit dem SEK auf dem Weg zu Ihnen. Wir treffen in circa zehn Minuten dort ein. Dann überlegen wir uns gemeinsam das weitere Vorgehen. Und Semir,…“ Annas Stimme nahm einen warnenden Ton an, „…keine Alleingänge! Haben wir uns verstanden?“


    „Schon klar, Chefin!“ rief Semir und unterbrach hastig die Verbindung.
    Chris, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, schaute eine Weile gedankenverloren vor sich hin und sagte schließlich mit leiser Stimme: „Semir,… ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen.“


    Semir warf ihm zwischen zwei Überholmanövern schnell einen vielsagenden Blick zu.
    „Lass mal… Ist schon ok… Dein Verhalten war mehr als verständlich.“ Mit einem schiefen Grinsen schob er hinterher: „Wenn auch nicht immer nachvollziehbar.“
    Betreten senkte Chris den Blick und murmelte: „Ich weiß. Es tut mir leid, wie ich mich benommen habe.“


    Semir hörte ehrliche Reue und leise Verlegenheit in Chris’ Stimme und er empfand Mitleid mit ihm.
    „Schon gut…“, sagte er milde lächelnd und nach einer kurzen Pause fügte er mit einem versöhnlichen Augenzwinkern hinzu: „… Partner!“


    Chris hob den Kopf und sah Semir dankbar an. Der nickte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Nach einer nachdenklichen Pause fragte er plötzlich ohne Vorwarnung: „Was wolltest Du mir eigentlich eben erzählen, bevor Susanne Dich unterbrochen hat?“


    Deutlich hörte Semir, wie Chris die Luft scharf durch die Nase einzog und augenblicklich spürte er, wie sich Chris’ Körper versteifte und eine abwehrende Haltung annahm. Aus dem Augenwinkel gewahr er Chris’ Hände, die vorher noch locker auf den Oberschenkeln gelegen hatten. Sie waren nun zu einer festen Faust zusammen gepresst. Schnell schaute zu ihm herüber und sah Chris’ starren Blick aus dem Fenster.

    Er merkte, das dies vielleicht nicht der richtige Moment war, um noch einmal nachzufragen. Auf der anderen Seite aber konnte und wollte er die Sache auch nicht auf sich beruhen lassen.
    Denn eines war ihm inzwischen klar geworden: Chris war fähig, Vertrauen zu fassen! Vertrauen zu ihm, seinem Partner! Das war doch schon einmal ein gutes Zeichen!


    Allerdings, und das spürte er auch, Chris brauchte noch etwas Zeit… Zeit, die sie in diesem Moment nicht hatten, weil andere Dinge wichtiger waren. Aber die nächste gute Gelegenheit ergab sich hoffentlich noch einmal in nicht allzu ferner Zukunft…


    Daher fügte Semir schnell hinterher: „Hör zu, Chris…! Ich kann verstehen, wenn Du jetzt nicht mit mir darüber sprechen möchtest. Ist vielleicht wirklich der falsche Zeitpunkt. Aber… versprich mir, das Du irgend wann versuchst mit mir darüber zu reden, was Du mir vorhin sagen wolltest.“


    Chris antwortete nicht sofort. Er schloss die Augen und atmete tief ein. In seinen Gedanken wägte er die verschiedenen Möglichkeiten ab. Schließlich fasste er einen Entschluss.
    „OK, Semir, ich verspreche es Dir. Ich werde mit Dir darüber reden“, sagte er mit rauer Stimme. „Aber bitte,… lass es mich tun, wenn ich bereit dafür bin.“
    Semir nickte zustimmend: „Damit kann ich leben. Solange Du mir versprichst, es auch wirklich zu tun, werde ich warten können.“


    In Semirs Stimme lag so viel Ehrlichkeit und Vertrauen, das es Chris ganz leicht ums Herz wurde. Verhalten seufzte er erleichtert: „Danke Semir! Du weißt nicht, was mir das bedeutet!“
    Sanfte Wellen eines wohligen Schauers liefen an seinem Rückgrat entlang. Seine verkrampfte Haltung löste sich und mit einem befreiendem Aufatmen gestand er: „Es ist schon sehr lange her, das ich mit jemandem darüber geredet habe und es fällt mir noch immer schwer, darüber zu sprechen.“


    „Das habe ich gemerkt“, grinste Semir schelmisch und unwillkürlich zeigte sich auch ein zaghaftes Grinsen um Chris’ Mundwinkel.
    „Wir haben also einen Deal?“ hakte Semir nach.
    „Wir haben einen Deal!“ antwortete Chris leise lächelnd.


    Semir zwinkerte ihm aufmunternd zu und richtete seine Konzentration wieder auf den Verkehr.
    Die nächsten Minuten fuhren sie schweigsam und jeder sammelte seine Gedanken für den Einsatz…

  • Nach geraumer Zeit wurde die Tür des Besprechungszimmers geöffnet und Roman Gehlen von einem Wärter herein geführt. Ohne seinen Blick von Janzen zu nehmen, setzte er sich ihm schwerfällig gegenüber.
    Der Beamte ließ seinen wachsamen Blick zwischen Janzens Laptop und dem Gefangenen hin und her wandern, doch nach einem skeptischen Stirnrunzeln ging er hinaus und zog die Tür hinter sich zu.


    Gehlen betrachtete seinen Anwalt eine Zeit lang mit listigen Augen, dann huschte ein hinterhältiges Lächeln über sein Gesicht und er beugte sich leicht nach vorn.
    „Ich sehe Dir an, dass Du gute Nachrichten hast“, sagte er mit seiner kehligen Stimme.


    Der Anwalt nickte zustimmend, drehte den Laptop zu Gehlen herum und, bevor er die Botschaft startete, raunte er verschwörerisch: „Hier, Roman,… genieß die Show und beachte besonders den Schluss!“


    Die Hände fest um das Gerät geklammert, beugte Gehlen seinen massigen Körper begierig vor. Er wollte keinen Moment verpassen. Atemlos verfolgte er das Geschehen und seine Augen klebten am Bildschirm.
    Als der ‚Doc’ bei dem Jungen die Spritze setzte, leuchtete seine Miene sadistisch auf und sein Mund öffnete sich geifernd.
    „Der ’Doc’ versteht sein Handwerk!“ sagte er bewundernd. „Ich würde ihn zu gern einmal auf Ritter und seinen Kollegen ansetzen!“


    Der Anwalt ließ die Bemerkung unkommentiert im Raum stehen. Er ahnte was in Gehlens Kopf vorging und wusste, das dieser sein Ziel so lange verfolgen würde, bis seine Rachegelüste befriedigt waren. Und Gehlen, das wusste er aus Erfahrung, war ein Mensch, der bekam was er wollte! Egal wie…


    Aufgrund der Geräusche und den gesprochenen Worten, wusste Janzen, das sein Mandant sich gerade die Stelle anschaute, wo die beiden Polizisten sich das Video ansahen. Er beobachtete Gehlen, dessen gute Laune deutlich abnahm und enttäuscht reagierte. Zuerst verschwand das freudige Glitzern in seinen Augen, dann verwandelte sich sein gemeines Grinsen zu einem schmollenden Mund.


    Beleidigt blickte er auf und sah seinen Anwalt fragend an. „Was ist denn mit dem los?… War das etwa schon alles?… Hat er diesmal nicht um sich geschlagen?“
    Kurt Janzen legte einen Finger auf seine Lippen und sagte leise: „Warte ab… die nächste Szene ist die Beste!“


    Schnell richtete Gehlen seine Aufmerksamkeit zurück, doch als er die beiden Frauen registrierte, warf er einen stutzigen Blick zu Janzen: „Was soll das werden? Wer sind die beiden?“
    Durch ein leichtes Kopfschütteln und vorgeschobenen Lippen signalisierte er Gehlen leise zu sein.
    Er zeigte bedeutsam auf das Laptop und flüsterte: „Hör genau zu!“


    Damals, als Gehlen noch der Kopf einer gut funktionierenden, wenn auch kriminellen Organisation war, hatte er seine Opfer und Gegner durch seine Handlanger mit ähnlichen Spielchen oft weich gekocht. Doch er hasste es, wenn solche Spielchen mit ihm getrieben wurden.


    Da aber auch sein Anwalt wusste, wie unangenehm er werden konnte, wenn man ihn hinhielt, konnte er sich nicht vorstellen, das Janzen so dumm war. Er schien also seine Gründe zu haben.
    Mürrisch dachte er bei sich: ‚Ich hoffe für Dich, dass es das wirklich wert ist. Wenn dieser Zirkus umsonst war, dann…!’
    Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und konzentrierte sich auf das Gespräch der Frauen.


    Mit vor Erwartung freudig glänzenden Augen betrachte Janzen sein Gegenüber. An dem deutlichen Mienenspiel konnte er sehen, was in Gehlens Kopf vorging. Von himmelhoch jauchzender Euphorie zu Anfang über kalte Ernüchterung bis hin zu bitterer Enttäuschung war dort alles vertreten. Zur Zeit ließen Ratlosigkeit und das Gefühl, auf den Arm genommen zu werden, seine Augenbrauen immer näher zusammenrücken.


    Dann kam die Stelle, auf die Janzen gewartet hatte und er sah seine Hoffnungen sich erfüllen. Denn plötzlich riss Gehlen die Augen auf und hielt vor Spannung die Luft an. Fassungslos besah er sich den Rest des Filmes.
    Auch eine Weile, nachdem das Video zu Ende war, starrte er auf den inzwischen verstummten Bildschirm und das blaue Licht des Monitors warf ein gruseliges Licht auf seinen blassen Teint.


    Langsam hob er den Blick, sah seinen Anwalt über das Display hinweg an und seine Augen verengen sich zu gefährlichen Schlitzen. Ein haifischähnliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.


    Dann setzte er sich aufrecht hin und mit lauernder Stimme sagte er: „So, so,… Es sind also Ritters Kinder…“
    Verächtlich stieß er die Luft aus und schüttelte den Kopf. „Ich fasse es nicht… Und keiner von Lorenz’ Leuten hat was im Vorfeld gemerkt?" fragte er.
    „Anscheinend nicht“, zuckte Janzen mit den Schultern.


    Schnell fasste sich Gehlen, strich sich nachdenklich über das Kinn und murmelte: „Dann lass uns doch mal überlegen, was wir mit dem Wissen anfangen können.“
    Schweigend dachte er eine Zeit lang nach und Janzen meinte in den verträumten Augen zu erkennen, um was sich für Gedankengänge es sich handelte.


    Offensichtlich heckte Gehlen diverse Pläne aus und in seiner Fantasie spielte er verschiedene Szenarien durch. Gelegentlich überflog ein Lächeln seine Mundwinkel, dann mal wieder legte er abwertend den Kopf schief.


    Mit einem Räuspern holte Janzen sein Gegenüber in die Gegenwart zurück. Als dieser ihn fragend ansah, meinte er nüchtern: „Hör zu, Roman…, ich weiß, Das Du nicht gut auf diesen Ritter und seinen Kollegen zu sprechen bist. Aber Du hast ihn gesehen! Der ist fertig! Der hat keine Kraft und Energie mehr und wir haben ihn da, wo wir ihn haben wollten. Außerdem bereiten die Leuten von Lorenz in diesem Moment einen weiteres Druckmittel gegen Ritter vor. Ein Bote sagte was davon, das er diesmal alles mitbekommen soll. Ich weiß nicht, wie sie das machen wollen, aber wenn alles klappt, bekommst Du den filmischen Beweis morgen früh vor der Verhandlung zu sehen. Und wenn die damit erfolgreich sind, wird Ritter es nicht wagen auch nur einmal zu mucken. Glaub mir…, der wird morgen bestimmt keine Aussage gegen Dich zu machen.“


    „Das mag ja sein“, räumte Gehlen ein. „Aber ich will, dass er das erleidet, was ich durchgemacht habe. Das haben ich Dir von Anfang an gesagt.“
    „Du willst Rache?… OK,… Du sollst sie bekommen“, räumte Janzen ein. „Aber warte damit, bis Du auf freiem Fuß bist. Dann kannst Du sie persönlich geniessen! Und denk daran: Zuerst muss die Anklage fallen gelassen werden, sonst…“


    Ein gefährliches Aufblitzen in den Augen Gehlens ließ ihn verstummen. Ärgerlich zischte dieser mit gefletschten Zähnen: „Das ist doch wohl nur noch reine Formsache, oder? Schließlich hast Du gerade gesagt, es wird zu keiner Aussage kommen.“


    Als Janzen nichts erwiderte, fuhr er aufgebracht fort: „Nein…, es geht mir nicht nur darum aus diesem Drecksloch heraus zu kommen.“ Er ballt seine Hände. „Es geht mir in erster Linie darum, dass Ritter merkt, das er sich mit dem Falschen angelegt hat! Ich will ihm meine Macht zeigen… Er soll meinen Zorn zu spüren bekommen… Er soll eine Lektion bekommen, die er so schnell nicht wieder vergessen wird!“


    Wütend hieb er mit der Faust auf den Tisch und registrierte mit Genugtuung, wie Janzen erschrocken zusammen zuckte.
    „Ich will meine Rache und ich weiß auch schon, wie ich ihn am härtesten treffen kann“, grollte er unheilvoll.
    „Was hast Du vor?“ fragte Janzen vorsichtig.
    Mit einem Raubtierlächeln sagte Gehlen: „Richte Lorenz folgende Nachricht aus…“

  • Thorsten Landwehr war während der Fahrt im ständigen Funkkontakt mit seiner Zentrale und den Männern im Van. Er forderte eine weitere Einheit sowie nähere Einzelheiten zum Gebäude, der Umgebung und den Möglichkeiten zur Erstürmung an.


    Als die Kolonne fünfzehn Minuten später das Ziel erreichte, sahen sie Bonrath schon von weiten mit seinen langen Armen winken. Er lotste sie zum hinteren Teil des Parkplatzes, wo bereits Semirs BMW stand.


    Anna Engelhardt sah, wie ihre beiden Kommissare in diesem Moment ausstiegen, an den Kofferraum gingen und ihre Schutzwesten hervor holten. Mit einem Blick und einer Handbewegung verständigte sie sich mit Landwehr, dann stieg sie aus und ging zu ihnen hinüber.


    Während sie an Chris und Semir herantrat, beobachtete sie ihre Männer genau.
    Mit konzentrierten Mienen und routinierten Handgriffen legten sie ihre Westen sowie das Headset an und überprüften ihre Waffen. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich ruhige Entschlossenheit ab.
    ‚Gut’, dachte sie bei sich. ‚Das ist schon mal ein gutes Zeichen!’
    Sie hatte schon befürchtet, das Semir und Chris einfach drauf losstürmen würden.


    Leise lächelnd wandte sie sich mit sanfter Stimme an Chris: „Herr Ritter,… alles klar bei Ihnen?“
    Dabei schaute sie ihm in die Augen und erblickte Sorge und Angst,… aber auch Hoffnung! Chris erwiderte den Blick und nickte stumm.
    „Sie werden sehen… diesmal sind wir rechtzeitig! Bald werden sie Ihre Familie wieder sehen“, sprach sie ihm Mut zu. Wieder nickte Chris ohne ein Wort zu sagen.
    Besorgt tauschte sie einen Blick mit Semir, der ihr aber mit einem Zwinkern und einem leichten Lächeln andeutete, das alles ok ist.


    Beruhigt drehte sie sich zu Bonrath um, der in diesem Augenblick schnaufend angetrabt kam.
    „Hallo, Chefin!“ begrüßte er sie. In Richtung Chris und Semir hob er zum Gruß die Hand.
    Da er die gespannten Blicke, die auf ihn gerichtet waren, bemerkte, begann er sofort in knappen Worten von den Ereignissen, die zur Entdeckung des Aufenthaltsortes der Geiseln führten, zu berichten.


    Als Bonrath endete, wollte die Chefin das Wort ergreifen, doch Chris’ vorwurfsvolle Stimme kam ihr zuvor: „Willst Du uns etwa damit sagen, das dieser Paul, oder wie auch immer der Typ heißt, die ganze Zeit wusste, das hier Kinder festgehalten werden und nichts unternommen hat…? Wieso hat er nicht viel früher die Polizei informiert…?! Verdammt noch mal… Dadurch sind uns wertvolle Stunden verloren gegangen!“


    Alle Augen richteten sich auf ihn und sie konnten ein kurzes, aber wütendes Aufflackern in seinen Gesichtszügen sehen. Bonrath holte erschrocken Luft und suchte verzweifelt nach einer für Chris befriedigenden Antwort. Er öffnete den Mund, aber es kam keine Silbe heraus. Seine Augen gingen Hilfe suchend zwischen Semir und der Engelhardt hin und her, dann blickte er Chris ängstlich an.


    Mit einem Mal ließ Chris die Schultern fallen, atmete schwer aus und hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände. „Es tut mir leid, Dieter!“ sagte er plötzlich. „Ich wollte Dich nicht anraunzen. Es ist…“ Er zögerte kurz, warf einen flüchtigen Blick zu Semir und fuhr dann mit leiser Stimme fort: „Es ist nur, das ich mir große Sorgen um meine Familie mache!“


    Bonrath, der verwirrt dreinschaute, haspelte verdattert: „Schon gut... Kann ich verstehen.“
    Anna, die schon befürchtet hatte, dass es einen weiteren Eklat geben würde, schaute Chris einen Moment erstaunt an. Dann blinzelte sie heftig und wandte sich leicht kopfschüttelnd an Dieter: „Danke, Bonrath. Gute Arbeit!“ Flüchtig lächelte sie ihn zufrieden an.


    Mit einer Hand zeigte sie anschließend zum Van: „Lassen Sie uns zum SEK gehen. Ich sehe gerade, das die angeforderte, zweite Einheit eingetroffen ist. Landwehr und seine Männer haben bestimmt schon nähere Informationen.“
    Die Männer drehten sich um und folgten ihrer Anweisung.


    Als Semir als Letzter an ihr vorbei ging, warf sie ihm einen fragenden Blick zu, den er mit einem vielsagenden Augenzwinkern und einem geheimnisvollen Lächeln beantwortete. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, das etwas zwischen Semir und Chris vorgefallen war. Aber was…?


    ‚Wenn das hier vorbei ist, werde ich wohl mal wieder ein Wörtchen mit den Herrschaften reden müssen!’ dachte sie energisch bei sich. Sie kniff die Augen leicht zusammen und mit einem resigniertem Kopfschütteln ging sie hinterher…

  • „Das ist nicht Dein Ernst!“ Entsetzen spiegelte sich in Janzens Gesicht. „Das kannst Du nicht machen! Dann fährst Du sofort wieder ein!“
    „Mir egal!“ schnaubte Gehlen verächtlich. „Das ist es mir wert!“



    Fassungslos schaute der Anwalt seinen Mandanten an, auf dessen Miene eiskalte Entschlossenheit zu sehen war.
    Noch einmal versucht er ihm die Sache auszureden: „Mensch, Roman! Überleg Dir das noch mal! Wenn Du das wirklich durchziehst, landest Du anschließend wieder hier! Und wenn dann die anderen Gefangenen heraus bekommen, was Du getan hast, kann ich Dir eins garantieren: Deine Zeit hier wird kein Zucker schlecken werden!“
    Auf Gehlens gleichgültigen Gesicht regte sich kein Muskel und er starrte Janzen schweigend an.



    Der wagte einen weiteren Versuch: „Bitte, Roman, sei vernünftig! Aus der Sache werde ich Dich nicht raus hauen können. Dich würde die volle Härte des Gesetzes treffen, denn kein Richter würde Gnade walten lassen. Nicht bei dieser Sache!“ Er sah Gehlen warnend an, als er weiter sprach: „Und Du weißt, wie man mit den Mördern von Polizisten und Kindern im Knast verfährt. Du wärst Freiwild und…“



    Abrupt wurde er unterbrochen, als Gehlen mit seiner flachen Hand auf den Tisch schlug. „Du sollst mir keine Predigt halten!“ fauchte Roman Gehlen aufgebracht. „Du sollst tun was ich Dir sage. Schließlich bezahle ich Dich dafür!… Hast Du das verstanden?“
    Als Janzen betreten schweigend nickte, fuhr Gehlen mit zufriedener Stimme fort: „Gut! Dann lass uns endlich weiter machen. Du hast schließlich einen Anruf zu erledigen.“



    Einen letzten zweifelnden Blick auf Gehlen werfend, wandte er sich mit einem ergebenen Seufzer dem Laptop zu und suchte die benötigten Dateien heraus. Er hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, denn in seinem Hinterkopf hörte er ständig Gehlens Stimme…, eine Stimme voller Hass und Wut, mit der er den Tod von Ritters Sohn forderte…







    Die Stille des Waldes wurde durch das röhrende Dröhnen eines Motors empfindlich gestört. Einige Vögel flatterten verschreckt auf und zwitscherten wütend dem Störenfried hinterher. Von all dem unbeeindruckt lenkte das Mausgesicht das Auto auf der Landstrasse weiter in Richtung Motel. Zwischendurch biss er in seinen Döner und mampfte genüsslich vor sich hin. Hin und wieder warf er zwar einen besorgten Blick zur Uhr, da er aber ohnehin schon spät dran war, hob er mit gleichgültiger Miene eine Augenbraue.
    ‚Borchert bekommt seinen Film noch früh genug’, versuchte er sich zu beruhigen.



    Er bog auf den Parkplatz ein und lenkte den Wagen zu den anderen Fahrzeugen. Mit einer Vollbremsung, bei der er eine mächtige Staubwolke aufwirbelte, brachte er das Auto zum Stehen. Die Maus steckte sich die letzten Krümel der Teigtasche in den Mund, knüllte das Papier zusammen und stieg aus. Mit einer schwungvollen Bewegung schmiss er den Papierball in den Wald, wo dieses hinter einem Gebüsch verschwand. Die Faust in die Luft reckend, stieß er ein triumphierendes: „Toooor!“ aus.



    Er öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine Kiste, die er sich unter den Arm klemmte und holte mit der anderen Hand seinen Rucksack heraus. Kaum hatte er die Haube zugeschlagen, fauchte hinter ihm eine wütende Stimme: „Warum hat das jetzt so lange gedauert? Der Boss tobt wie ein Irrer!“
    „Es ging nicht schneller!“ rechtfertigte sich das Mausgesicht einem bulligen Typen gegenüber. Betont mitleidig seufzte er hinterher: „Und dann erst dieser Verkehr…“



    „Ja, ja… schon gut!“ schnaubte der andere Kerl und hielt ihm die Tür auf. „Aber mir musst Du nichts erzählen. Erklär das lieber Borchert… Der ist auf 180, nicht ich!“ Ein hämisches Grinsen machte sich auf seinem teigigen Gesicht breit, als er hinzufügte: „Und Du weißt, wie er drauf ist, wenn er in dieser Laune ist!“
    Der selbstgefällige Ausdruck im Gesicht der Maus war schlagartig wie weggewischt und er stapfte missmutig durch die Tür des Hintereinganges…





    Hotte und Paul stießen gleichzeitig erleichtert die Luft aus. Als die Papierkugel vor ihren Füssen landete, waren sie erschrocken zusammen gezuckt und hatten versuchten sich noch kleiner hinter dem Strauch zu kauern. Sie befürchteten jeden Augenblick entdeckt zu werden.



    Angestrengt lauschten sie dem Dialog der beiden Männer. Als der Name ‚Borchert’ fiel, hob Hotte freudig den Daumen und hauchte ganz leise: „Das ist einer der Männer, die wir suchen. Wir sind hier definitiv richtig!“
    Kaum waren sie im Gebäude verschwunden, rief Hotte seinen Partner an und erzählte ihm, was sie gehört hatten.


    Durch das Handy hörte er, wie Bonrath die Informationen weiter gab. Nach einigen Sekunden meldete er sich zurück: „Hotte, wir gehen jetzt von hier los und sind in gut zehn Minuten bei Dir.“
    „Alles klar!“ flüsterte Hotte und legte auf. Vorsichtig lugte er zwischen den Ästen des Busches zum Haus hinüber…

  • Kaum hatte das Mausgesicht die ersten Schritte durch die Eingangshalle getan, als Borcherts laute Stimme erschallte: „Wo warst Du so lange?“
    Mit einem frustrierten Stöhnen drehte sich die Maus in die Richtung, aus der die Stimme kam. Borchert stand auf den mittleren Stufen der Treppe, die in die erste Etage führte und schaute ärgerlich auf ihn herab.


    Seinen Blick fest auf Borchert gerichtet, antwortete er genervt: „Du weißt sehr wohl, wo ich war! Zuerst haben ich meinem Bruder geholfen eine CD für den Kunden fertig zu stellen. Dann bin ich zum Treffen mit dem Anwalt gefahren und habe ihm die Ware geliefert. Der wollte einige Dinge wissen und wir haben uns ein paar Minuten unterhalten. Anschließend bin ich hierher gekommen, was aber nicht schneller ging, weil ziemlich viel Verkehr auf den Straßen ist. Aber jetzt bin ich ja da… Zufrieden?“
    Das er zwischendurch etwas essen war, verschwieg er vorsichtshalber.


    Borchert, der in der Zwischenzeit die Treppe herunter gekommen war, blieb vor ihm stehen und schaute dem Mausgesicht in die Augen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt dieser dem Blick stand und fuhr fort: „Ich weiß außerdem nicht was Du hast. Die Geiseln laufen Dir schon nicht weg, oder…? Also beruhig Dich!“
    Mit einem sarkastischen Heben der Augenbrauen fügte er ironisch hinterher: „Und was noch viel wichtiger ist: Du weißt selber, das Du in dieser Verfassung, in der Du Dich gerade befindest, immer Dein Bestes gibst!“


    Sekunden lang verharrten die beiden voreinander und taxierten sich mit ihren Blicke. Der bullige Typ beobachtete die Szene und hoffnungsvoll wartete er auf den Moment, wo der Boss diesem Freak eine reinhauen würde. Denn niemand durfte es wagen, so mit dem Boss zu sprechen! Und schon gar nicht, wenn der Boss schlechte Laune hatte! Das war in der Regel tödlich…!


    Doch nichts geschah…


    Plötzlich blitzte es in Borcherts Augen auf und ein anerkennendes Grinsen machte sich um seinen Mund breit. „Du hast ja Recht!“ gluckste er. „Wohin sollen die Geiseln schon laufen?“
    Die Maus grinste zurück: „Genau!“ Dann wurde er ernst: „Lorenz sagte, Du brauchst mich für einen neuen Film?“


    „Ja“, nickte Borchert und seine Augen fingen an zu leuchten. „Die Frau ist gerade in der richtigen „Stimmung“ und ich habe mir mit Lorenz was ausgedacht. Das gibt einen Mordsspass!“ Er grunzte über sein gelungenes Wortspiel.
    Das Mausgesicht deutete mit dem Kopf in Richtung Speisesaal: „Will Du es dort machen?“


    Als Borchert zustimmend nickte, wandte er sich um und ging auf den Raum zu: „Ich bereite schon mal alles vor. Bin in zehn Minuten fertig. Dann kannst Du loslegen.“
    Nach zwei weiteren Schritten fiel ihm noch etwas ein: „Übrigens,...“ rief er über seine Schulter zurück, „... dieser Anwalt möchte für seinen Mandanten bis morgen früh eine CD mit dem Film haben. Ich habe ihm gesagt, dass das kein Problem darstellt und ihm versprochen bis heute Abend eine in seiner Kanzelei vorbei zu bringen.“


    Borchert warf einen kurzen Blick auf seine Uhr: „Alles klar! Bis dahin sind wir fertig.“
    Die Maus verschwand hinter der Tür zum Speisesaal und Borchert wollte sich zum Gehen wenden, als sein Blick auf den bulligen Tpyen fiel. Der stand mit offenen Mund da und blickte ihn dümmlich an.


    „Was glotzt Du denn so blöd!“ blaffte er ihn an. „Hast Du nichts besseres zu tun?“
    „Wer…? Ich…? Ähm… Doch, klar… ähm… ich muss hinten Wache halten“, stotterte der Typ nervös.
    „Und was machst Du dann noch hier?“ schnauzte Borchert.


    Leise vor sich hingrummelnd, drehte sich der Angesprochene um und während er zurück zum Hintereingang schlurfte, verstand er die Welt nicht mehr.
    Warum hatte der Boss dem Freak keine Lektion erteilt? Jeder andere, der es gewagt hätte so mit ihm zu reden, hätte wahrscheinlich eine Kugel zwischen die Augen bekommen.
    ‚Die Welt ist so ungerecht’, dachte der Wachposten mürrisch und widmete sich seiner langweiligen Aufgabe…

  • Im selben Augenblick, als das Mausgesicht die Eingangshalle betrat, setzte sich Bonrath, gefolgt vom SEK um Thorsten Landwehr sowie von Semir und Chris in Richtung Wald in Bewegung. Sie wollten von der Seite über den Weg, den Paul ihnen gezeigt hatte, an das Gebäude heran kommen.


    Während dessen fuhr Anna Engelhardt mit der zweiten Einheit vom Parkplatz des Autohofes und sie folgten einer kleinen Landstrasse. Ihr Aufgabe war es, die Rückseite des Hauses abzusichern und den Gangstern den Fluchtweg über diese Strasse zu versperren.


    Circa dreihundert Meter vor dem Motel machte die Strasse eine lang gezogene Linkskurve. Die Fahrer der drei Wagen lenkten diese vorsichtig in den Wald und stellten sie zwischen den Bäumen ab. Die Insassen stiegen leise aus, versammelten sich kurz um die Engelhardt.
    Zwei der Männer, die im Vorfeld bestimmt worden waren, gingen ein kleines Stück an der Strasse zurück und beobachteten den Zufahrtsweg. Sie sollten die Gruppe warnen, wenn sich außer dem angeforderten Krankenwagen, jemand anderes dem Motel nähern sollte.


    Nachdem sie das Zeichen gegeben hatte, pirschten sich die Truppe vorsichtig an das Haus heran. Auch dieses Team war hervorragend eingespielt. Die einzelnen Mitglieder verschmolzen mit ihrer Umgebung und nur ein geübtes Auge konnte sie ausmachen. Trotz der vielen Äste, dem trockenem Laub und anderem Gesträuch auf dem Waldboden, gelangten sie geräuschlos und ohne Probleme bis kurz vor das Gebäude. Die Männer verteilten sich auf die ihnen zugewiesenen Positionen und warteten geduldig auf weitere Instruktionen von Landwehr…



    Die Gruppe um Landwehr erreichte im selben Augenblick Hotte und Paul. Die beiden waren ihnen ein Stück des Weges entgegen gekommen, damit sie sich besser unterhalten konnten.


    Lange Begrüßungsfloskeln wurden nicht ausgetauscht, statt dessen wandte sich der Einsatzleiter sofort an Paul und ließ sich von ihm genau jede Einzelheit beschreiben. Der alte Landstreicher musste erklären, wie er ungesehen aus dem Motel gelangen konnte, wo der Treppenaufgang war und wo er die Kinder gehört hatte. Hin und wieder fragte ihn Landwehr nach weiteren Einzelheiten.


    Auf einem Ausdruck des Bauplanes, den sie mitgebracht hatten, verglichen er und ein weiterer Mann seines Teams, die Angaben. Zwischendurch nickten sie zustimmend oder hakten bei einem unklaren Detail nach.
    Bereitwillig gab Paul Auskunft, auch wenn er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte. So viele bis an die Zähne bewaffnete Polizisten um ihn herum machten ihn nervös!


    Außerdem war ihm Chris’ Blick nicht entgangen. Die grimmigen Augen, die schauten, als wollten sie ihn durchbohren und dieser unerbittlich harte Gesichtsausdruck, wirkten auf ihn Furcht einflößend. Er ahnte, dass das der besagte Kollege war, dessen Familie sich in Gefangenschaft befand.
    ‚Ich kann die beiden Wachtmeister gut verstehen, wenn sie sagen, das mit dem nicht gut Kirschen essen ist’, dachte Paul bibbernd.


    Was er Gott sei Dank nicht wusste: Chris hatte große Mühe an sich zu halten!
    Am liebsten würde er den Mann am Kragen packen, ihn schütteln und dann gegen einen Baum pressen…
    mit allem Nachdruck wollte er ihn für die verlorenen Stunden zur Rechenschaft ziehen…
    ihn am liebsten fragen, warum er nicht schon früher die Polizei informiert hatte…
    ihm Vorwürfe wegen seines Versäumnisses machen…
    ihn fragen, ob er sich vorstellen könne, was alle Beteiligten wegen seiner Gleichgültigkeit durchlitten haben…
    ihn verantwortlich machen für alle unnötigen Qualen, die seine Kinder, seine Schwester und er in den letzten Stunden durchgemacht hatten…


    Chris merkte, wie sein aufbrausendes Temperament anfing die Oberhand zu gewinnen. Schnell verschränkte er die Arme vor der Brust, senkte für einen Augenblick den Kopf und atmete tief ein.
    Er rief sich die lachenden Gesichter von Jakob und Johanna ins Gedächtnis und spürte, wie er etwas ruhiger wurde. Gabys sanft lächelnde Miene gesellte sich hinzu. Die drei schauten ihn zuversichtlich an und das friedliche Bild gab ihm neue Kraft.


    Leise Zweifel wollten an ihm nagen, als er an seinen Neffen Richard dachte, doch schnell zwang er sich, seine Gedanken auf die anstehende Befreiungsaktion zu lenken.
    ‚Du darfst jetzt nicht das Ziel aus den Augen verlieren!’ ermahnte er sich selbst. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich dem Einsatzleiter zu und fokussierte seine Konzentration auf ihn.


    Landwehr drehte sich mit ernster Miene zu seinen Männern und wies ihnen ihre Aufgaben zu. Einen Mann bestimmte er dazu, das er bei Bonrath, Hotte und Paul bleiben sollte. Ihm wurde die Sicherung des Seiteneingangs aufgetragen.


    „Gut!“ ergriff Landwehr in diesem Moment das Wort. „Wir gehen vor wie besprochen. Gibt es noch Fragen?“
    Als allgemeines Kopfschütteln zu sehen war, sprach er ins Mikro seines Headset: „Frau Engelhardt, sind sie in Position?… Gut! Wir gehen jetzt rein.“


    Mit einem energischen Nicken gab er das Zeichen und der Trupp bewegte sich lautlos vorwärts. Ungesehen gelangten sie ins Gebäude…


  • Heute Nacht :sleeping: noch schnell ein kurzes Stück. Morgen zwischen 12.00 und 15.30 Uhr geht es weiter!
    Dann kommt Gehlen X( wieder zum Zug...
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    … und zwei Etagen höher erwachte im selben Augenblick Gaby, die vor Erschöpfung eingenickt war, aus einem leichten Schlaf und hob langsam ihren Kopf.
    Das erste, was in ihr Bewusstsein drang, war ein scharfer, süßlich-bitterer Geruch. Leicht irritiert schaute sie sich um und erkannte, das sie noch immer in dem schäbigen Zimmer gefangen gehalten wurde. Ihr Blick fiel auf die Lache mit dem Erbrochenen neben dem Feldbett. Die grünliche Flüssigkeit war zum Großteil bereits in den schmuddeligen Teppich eingezogen.
    Langsam stand sie auf, ging mit steifen Beinen zum Bett, zog das graue Laken herunter und breitete es über dem Erbrochenen aus.

    Ratlos schaute sie sich um und ging anschließend zur Tür. Sie lauschte angestrengt, aber es waren weder Schritte auf dem Flur, noch andere verdächtige Geräusche zu vernehmen.
    Was hatte sie also geweckt?
    ‚Vielleicht ein Donner?’ fragte sie sich und richtete ihr Augenmerk zum vernagelten Fenster. Durch die schmalen Ritzen konnte sie zwar einen grauen Himmel erkennen, sah aber keine Gewitterwolken.

    Resigniert seufzte sie. Irgendwie war es ihr auch egal…
    Mutlos ging sie zurück in die hinterste Ecke und nahm auf dem Weg dorthin das Kissen vom Feldbett mit. Kraftlos ließ sie sich an der Wand herunter gleiten und als sie auf dem Boden saß, drückte sie das Kissen Trost suchend an sich.

    Gerade wollte sie ihren Kopf zurück auf die angezogenen Knie legen, als sie es plötzlich spürte: eine kurze, warme Welle voller Vertrauen durchströmte sie und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie, wie positive Energien in ihr freigesetzt wurden.

    Doch genauso schnell, wie das Gefühl gekommen war, war es auch wieder verschwunden und die Trostlosigkeit ihrer Situation wurde ihr aufs Neue klar. Mit einem erneuten Seufzer lehnte sie ihren Kopf gegen die Wand und spürte, wie Traurigkeit versuchte sie zu übermannen.


    Und doch…

    Sie konnte nicht sagen wieso, aber sie musste plötzlich an ihren Bruder denken und ganz tief in ihrem Innersten glimmte ein Fünkchen Hoffnung auf…

  • Mit einem leisen Klicken schloss Janzen seinen Laptop und Gehlen beobachtete ihn dabei, wie er ihn in den Aktenkoffer legte. Als sein Anwalt den Kopf hob, sah Gehlen ihn eindringlich an. „Und Du weißt noch, was Du Lorenz ausrichten sollst?“ fragte er.
    Janzen sah seinen Klienten flehentlich an, doch sofort erkannte er, das sich Gehlen nicht erweichen lassen würde und er nickte ergeben.


    „Gut!“ lächelte Gehlen, lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und rieb sich die Hände. „Hach,… ich kann es kaum erwarten. Endlich bekomme ich meine Rache!“
    Ihm fiel noch einmal etwas ein und er beugte sich über den Tisch. Mit verschwörerischer Miene blickte er sein Gegenüber an: „Und denk daran, Lorenz auszurichten, das es zwölf Kugeln sein müssen!“
    Janzen lief es eiskalt den Rücken hinunter und er schauderte angewidert. „Oh Mann, müssen es denn unbedingt zwölf sein?“ entfuhr es ihm plötzlich. „Eine reicht doch völlig!“


    Mit einer Schnelligkeit, die man seinem massigen Körper nicht zugetraut hätte, sprang Gehlen auf, packte Janzen mit beiden Händen am Revers und zog ihn halb über den Tisch. Vor Wut schäumend schrie er ihn an: „Nein! Eine Kugel reicht nicht!… Eine Kugel reicht bei weitem nicht!“

    Er stieß Janzen von sich, der zurück auf seinen Stuhl plumpste. Während der Anwalt versuchte seinen Anzug und seine Krawatte zu richten, hob Gehlen fordernd den Zeigefinger und drohte: „Ich will, dass er das gleiche, grausame Ende wie mein Sohn Erik hat! Und in ihm steckten zwölf Kugeln...“ Gallig stieß er die Worte aus und fuhr voller Bitterkeit fort: „Mit zwölf Kugeln aus ihren Waffen haben ihn die beiden Bullen abgeschlachtet.“


    Schwer atmend stützte sich Gehlen auf dem Tisch auf und sah Janzen scharf an. Wie ein zorniger Racheengel fauchte er: „Ich will, das Ritters Sohn ebenfalls durchsiebt wird…er soll mit Blei regelrecht voll gepumpt werden… Und anschließend werft ihr Ritter die Leiche vor die Füße. Er soll spüren, wie es ist, wenn einem das Kind brutal entrissen wird… wenn es einem für immer genommen wird. Er soll den gleichen Schmerz fühlen, den ich verspürt habe, als sie mir Erik genommen haben!“
    Erschöpft ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

    Janzen, der sich inzwischen etwas gefasst hatte, fragte mit belegter Stimme: „Das macht Erik auch nicht lebendig… Das weißt Du so gut wie ich!“ Ratlos breitete er die Hände aus: „Wenn das erledigt ist,… was dann? Hmm…? Bist Du dann mit Deiner Rache durch oder was hast Du als nächstes vor?“


    „Mit meiner Rache bin ich erst durch, wenn ich die beiden eigenhändig umgebracht habe“, stieß Gehlen gepresst hervor und, um seine Worte zu unterstreichen, pochte er energisch mit seinen Fingern auf den Tisch. Nach einer Sekunde fuhr er mit eiskalter Stimme fort: „Sag Lorenz, dass, sobald ich frei bin, die beiden Bullen haben will! Er soll sich schon mal überlegen, wie er sie am besten schnappen kann.“
    Ein sadistisches Leuchten flammte in seinen Augen auf: „Und er soll mir den ‚Doc’ besorgen!“
    Während Janzen vor Entsetzen die Augen weit aufriss, schaute Gehlen zur Decke und fuhr mit träumerischer Stimme fort: „Ja…, und dann werde ich mich in die erste Reihe setzen und zusehen!Ich werde mich an ihren schmerzhaften Qualen weiden…, ihr wimmerndes Betteln wird wie Musik in meinen Ohren klingen…, ich werde es geniessen, ihre schiere Angst zu riechen…, ich möchte spüren, wie das Leben Stück für Stück aus ihnen heraus gesogen wird,... und ich will es sein, der das Messer beim finalen Stich führt, um ihrem elendigen Leben ein Ende zu setzen!… Ja…, ich werde den süßen Geschmack der Rache schmecken und auskosten…“



    Eine bedrückende Stille legte sich über den Raum, als Gehlen aufhörte zu sprechen. Eine Minute lang sagte keiner der beiden etwas. Schließlich stand Janzen auf, nahm seinen Aktenkoffer, ging um den Tisch herum und legte Gehlen eine Hand auf die Schulter.
    Mit einem leichten Drücken sagte er: „Ich kann Dich gut verstehen, aber glaub mir: Du machst einen großen Fehler. Ich hoffe für Dich, dass das gut ausgeht.“
    Dann schlug er Gehlen einmal aufmunternd auf den Rücken. „Wir sehen uns morgen früh.“

    Nachdem er mit einem Klopfen dem Wärter das Zeichen gegeben hatte, wurde ihm die Tür geöffnet und er ging hinaus. Kaum hatte er die JVA durch die Sicherheitsschleuse verlassen, marschierte er zu seinem Wagen, setzte sich hinein und atmete tief durch.
    Nachdenklich schaute er durch die Windschutzscheibe und betrachtete den riesigen Gefängniskomplex. Irgendwo dort drinnen saß sein Mandant und wartete darauf, das er ihn morgen dort herausholte. Seufzend kramte er sein Handy hervor und wählte die Nummer von Lorenz…

  • Geht ja schon weiter, Elli... :D Nicht immer so ungeduldig.... :D


    ----------------------------------------------



    Chris warf einen kurzen Blick nach hinten und im Licht der Taschenlampe beobachtete er, wie der Mann, der die Nachhut bildete, lautlos die Tür hinter ihnen schloss. Danach richtete er den Lichtkegel wieder nach vorn und sein Augenmerk galt den Männern, die vorne weg gingen.


    Er musste den Männer höchste Professionalität zugestehen. Schon oft hatte er im Laufe der Jahre Sonderkommandos bei ihrer gefährlichen Arbeit beobachten können und alle waren sie gut gewesen. Landwehrs Gruppe machte da keinen Unterschied. Ohne ein Geräusch oder anderen Laut schlichen sie zügig durch den Keller und stets waren sie darauf bedacht, sich zu allen Seiten abzusichern.


    An einer Tür am Ende des Ganges mussten sie warten. Landwehr deutete auf zwei seiner Leute, die unverzüglich durch die Tür schlüpften. Sie sollten die Lage auf dem Flur in der ersten Etage sondieren.


    Chris war nervös. Auf der einen Seite fühlte er freudige Erregung. Bald konnte er mit ganz viel Glück seine Schwester und die Kinder befreien! Er sehnte sich danach, sie endlich in den Armen halten zu dürfen… besonders seine Kinder!


    Auf der anderen Seite breitete sich beklemmende Angst in ihm aus… Angst vor dem, was sie dort oben eventuell vorfinden würden. Wie ging es seinen Kindern? Und was war mit seiner Schwester? Hoffentlich lebten sie noch…


    Er musste an Richard und seinen grauenhaften Tod denken. Schnell verscheuchte er die grässlichen Bilder. Er musste sich konzentrieren… auch wenn es ihm schwer fiel!
    Um sich abzulenken, kontrollierte er zum wiederholten Male die Waffe in seiner Hand.


    Semir, der neben Chris stand, bemerkte dessen Nervosität und seinen unruhigen Gesichtsausdruck. Besorgt berührte er ihm am Oberarm und als Chris ihm den Kopf zuwandte, fragte er stumm: ‚Alles klar mit Dir?’
    Obwohl sein Partner nickte, spürte Semir die Anspannung in ihm. Aufmunternd zwinkerte er ihm lächelnd zu und drückte fest seinen Arm. „Ich verspreche Dir… Alles wird gut!“ flüsterte er kaum hörbar.
    Chris antwortete ihm mit einem unsicheren, aber dankbarem Lächeln. Schweigend warteten sie gespannt darauf, das sie mit dem SEK weiter vorrücken konnten…




    Unter den erwartungsvollen Blicken der anwesenden Männer, baute die Maus das Equipment auf. Sie wussten, was gleich passieren würde und aufgeregte Stimmung machte sich unter ihnen breit. Endlich mal wieder etwas Abwechslung!
    Borchert, der nach einer Weile ebenfalls den Raum betrat, gab seinen Leuten Anweisungen. Kaum wusste jeder, was er zu tun hatte, kam Bewegung in die Meute und jeder ging seiner Aufgabe nach.


    Kurz darauf deutete das Mausgesicht Borchert mit einem Kopfnicken an, das er fertig sei. Borchert warf einen kontrollierenden Blick in die Runde, lächelte zufrieden und gab einem seiner muskelbepackten Männer einen Wink.
    Mit einem gemeinen Grinsen drehte der sich sofort auf dem Absatz um und ging hinaus. Trotz seines wuchtigen Körpers, lief er leichtfüßig die Treppe hinauf und ohne einen Blick nach rechts zu werfen, bog er nach links ab und folgte dem Gang.


    So bemerkte er in seinem breiten Rücken nicht, wie zwei SEK-Beamte in diesem Augenblick lautlos durch die schwere Eisentür auf den Flur traten, sich in einem der Zimmer versteckten und erleichtert aufatmeten…





    „Scht!“ Hektisch winkte Johanna mit ihrem linken Arm und presste ihr Ohr noch fester gegen die Tür. Angestrengt lauschte sie den Schritten, die draußen zu hören waren.


    Jakob, der sofort mit seiner Arbeit unterbrochen hatte, legte das Metallstück auf den Boden und schlich zu seiner Schwester.
    „Was ist los?“ flüsterte er.
    „Ich glaube, da kommt jemand die Treppe hoch!“ sprach sie flüsternd zurück.


    Schnell beugte sich Jakob nach vorn und legte sein Ohr ebenfalls an die Tür. Er konnte nur noch hören, wie sich die Tritte von ihnen entfernten.
    „Die wollen anscheinend nicht zu uns“, atmete er erleichtert auf. Dann tätschelte er seiner Schwester die Schulter und lobte sie: „Das hast Du gut gemacht! Weiter so!“


    Während sie ihn strahlend hinterher lächelte, ging Jakob bereits zurück zum Fenster, um seinem Bestreben, das nächste Brett zu lösen, einen Schritt weiter zu kommen.
    Johanna schaute ihm einen Moment zu, dann begab sie sich wieder in ihre Lauschposition…

  • Gaby stockte der Atem als sie die schweren Schritte auf dem Gang hörte. Mit schreckensweiten Augen starrte sie die Tür an und ihr Herz fing an zu rasen. Sie hörte wie jemand immer näher kam und in der Nähe ihrer Tür stehen blieb.
    ‚Oh Gott!’ dachte sie entsetzt und Borcherts Miene grinste ihr in Gedanken verlangend entgegen. ‚Er kommt, um dich zu holen!’


    Panisch sah sie sich um, doch es gab keine Möglichkeit zu entfliehen oder sich zu verstecken. In ihrer Verzweiflung rutschte sie tiefer in die Ecke hinein und kauerte sich noch weiter zusammen. Inständig hoffte sie, das der Mann wieder weg ging.


    Plötzlich hörte sie, wie gegen eine andere Tür gebollert wurde und eine tiefe Stimme rief: „Hey, Doc! Du sollst gleich runter kommen. Der Boss braucht Dich!“
    Einige Sekunden war es still, dann hörte Gaby, wie eine Tür geöffnet wurde.
    Eine kalte Stimme blaffte: „Warum? Was ist los?“


    „Der Boss will sie…“ an der Betonung erkannte Gaby, das sie damit gemeint war, „… sich jetzt vornehmen und Du sollst mit Deinen Giftfläschchen in der Nähe sein. Vielleicht wirst Du gebraucht“, antwortete die tiefe Stimme.
    „Das ist im Moment schlecht“, kam es zögerlich zurück. „Ich muss hier erst etwas zu Ende bringen. Richte Deinem Boss aus, dass ich, sobald ich hier fertig bin runter komme. Bin in ein paar Minuten da.“


    „OK!“ brummte die tiefe Stimme und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Und zieh Dir bloß ein sauberes Hemd an… Von dem vielen Blut wird einem ja ganz schlecht!“
    Ein krankes Lachen ertönte: „Was ist…? Bist Du etwa empfindlich?“
    Dann wurde die Tür geschlossen.


    Grummelnd stieß die tiefe Stimme einen obszönen Fluch aus. Gaby hörte ein, zwei schlurfende Schritte, dann wurde der Schlüssel zu ihrem Zimmer umgedreht. Mit einer schwungvollen Bewegung wurde die Tür aufgestoßen und ein Hüne, mit den Ausmaßen eines Schrankes, füllte den Rahmen aus.
    Kaum hatte er einen Schritt ins Zimmer getan, da prallte er schlagartig zurück… so als ob er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen wäre! Angewidert verzog er das Gesicht und schlug seine linke Hand vor Nase und Mund.


    „Bäh!“ schrie er angeekelt. „Was ist denn hier passiert? Hier stinkt es ja wie Hund…!“
    Mit seinen Augen suchte er nach der Quelle des Gestankes und sich noch immer Nase und Mund zuhaltend, bewegte er sich mit langsamen Schritten ins Zimmer. Dann sah er das Laken auf dem Boden liegen. Zögerlich streckte er seine rechte Hand vor und mit spitzen Fingern hob er es leicht an. Als er erkannte, worum es sich handelte, entschlüpfte ein würgendes Geräusch seiner Kehle und schnell ließ er das Tuch fallen.

    Obwohl die Frage überflüssig war, wollte er missbilligend wissen: „Bist Du das etwa gewesen?“
    Als Gaby zur Antwort zaghaft nickte, rastete der Hüne plötzlich aus. Mit einem Riesenschritt stand er mit einem Mal vor ihr, packte sie am Kragen und riss sie dank seiner muskulösen Arme mühelos, aber unsanft auf die Beine.
    Erschrocken und ängstlich schrie Gaby auf und hob schützend ihre Hände vors Gesicht. Sie hatte die riesigen Prankenhände gesehen und fürchtete sich vor den Schlägen, die nun wohl kommen würden. Doch der Kerl blitzte sie mit wütenden Augen an.


    „Sag mal, was soll der Mist?“ fauchte er gereizt und um seine Worte zu unterstreichen, schüttelte er sie wild. „Glaubst Du etwa, Du bekommst jetzt ein anderes Zimmer…? Das kannst Du gleich vergessen!“
    Dann schleuderte er sie herum und stieß sie brutal von sich. Von der Heftigkeit überrascht, stolperte Gaby in Richtung Tür und fiel nach vorn auf die Knie. Im letzten Moment fing sie sich mit den Händen ab. Schmerzhaft stöhnte sie auf. Doch sie hatte keine Zeit, sich weiter mit dem Schmerz zu befassen. Sofort spürte sie, wie sie mit einem groben Griff am Arm gepackt wurde und hoch gezogen wurde.


    Fluchend zerrte der Mann sie aus dem Raum: „Mach das Du raus kommst! Das hält ja keiner hier drin aus!“
    „Es tut mir leid!“ entschuldigte sich Gaby schluchzend und versuchte die Tränen zu unterdrücken. „Es war ein Versehen!“
    Doch der Kerl geriet immer mehr in Wut: „Versehen… Pah, ich gebe Dir gleich ein Versehen…! Hör lieber auf zu quatschen!… Und sieh zu, das Du endlich vorwärts kommst!“


    Er gab ihr einen kräftigen Stoß und Gaby taumelte gegen die Wand. Sie fing sich mit beiden Armen ab und bemühte sich aufrecht stehen zu bleiben. Es blieb ihr aber keine Zeit, Kraft zu sammeln. Mit eisernem Griff umfasste der Mann ihr Handgelenk, ging mit energischen Schritten zur Treppe und zog sie unbarmherzig hinter sich her. Stolpernd versuchte Gaby Schritt zu halten.


    „Bitte etwas langsamer!“ bettelte sie. „Ich kann nicht so schnell!“
    „Dann wird es Zeit, das Du schneller wirst!“ blaffte er sie über seine Schulter an und ohne Gnade stieß der Hüne sie anschließend den Gang entlang vor sich her…

  • Johanna hörte die polternden Geräusche auf dem Flur und spitzte noch mehr die Ohren. Irgend etwas ging dort draußen vor und ihre Neugier wuchs. Sie hörte eine laute, ärgerliche Stimme.
    „Jakob, komm mal her“, raunte sie ihrem Bruder zu. „Hör Dir das mal an.“
    Mit einem Seufzen ging Jakob wieder zu seiner Schwester. Er würde nie fertig, wenn sie ihn andauernd wegen irgend welchen Geräuschen rief!
    „Was ist es denn diesmal?“ wollte er wissen.
    „Stimmen! Da sind Stimmen auf dem Flur!“ erklärte sie ihm mit ernster Miene, ohne ihr Ohr von der Tür zu nehmen.


    Jetzt nahm Jakob auch etwas wahr und für ihn hörte es sich wie Kampfgeräusche an:
    wütend gesprochene Worte,…
    schwere Schritte,…
    stolpernde Füße,…
    ein ängstlicher Schrei,…
    ein fallender Körper,…
    ein bettelndes Schluchzen,…
    eine gereizte Antwort,…
    eine leise, flehende Stimme…

    Erstaunt sahen sich die Geschwister an. Hatten sie gerade richtig gehört?
    War das nicht die Stimme ihrer Tante gewesen?


    Johanna hielt es nicht länger aus und bevor Jakob sie aufhalten konnte, schlug sie mit der flachen Hand an die Tür und schrie: „Hallo? Bist Du das, Ta…?“
    Entsetzt sprang Jakob vor und hielt seiner Schwester den Mund zu. „Scht!“ zischte er ängstlich. „Bist Du verrückt!? Fast hättest Du uns verraten!“
    Erschrocken riss Johanna ihre Augen auf, doch sie gab den Versuch, sich bemerkbar zu machen, nicht auf. Vehement wehrte sie sich gegen Jakobs Hand auf ihrem Mund und versuchte sich aus seinem Griff herauszuwinden.


    Plötzlich hielten beide inne. Wurde nicht nach ihnen gerufen…?
    „Johanna…? Bist Du das? Johanna…? Jakob…?“ Es war eindeutig die Stimme ihrer Tante!
    Hastige Schritte, die sich in ihre Richtung bewegten, waren zu hören.
    Einen kurzen Augenblick war Jakob unaufmerksam und Johanna schlug aufgeregt die Hand ihres Bruders weg und schrie: „Hier…! Hier sind wir!“
    „Joha... Arrgh!“ Ein schmerzhafter Schrei erklang und im selben Moment brüllte eine tiefe Stimme: „Du bleibst hier!“


    Jemand schien ihre Tante wegzuzerren, denn sie konnten hören, wie sie sich wehrte. Noch einmal hörten sie ihre Stimme, wie sie nach ihnen rief, als ihr Rufen von einem klatschenden Geräusch unterbrochen wurde.
    „Klappe jetzt!“ ertönte die Männerstimme ungehalten. „Du kommst mit mir!“
    Ein dumpfer Aufprall war zu vernehmen, ein leiser Aufschrei und dann stolpernde Schritte, die sich die Treppe hinunter bewegten. Das letzte, was sie von ihrer Tante hörten, war ihre ängstliche, schmerzerfüllte Stimme, die sich immer weiter von ihnen entfernte.
    Dann war es mit einem Mal wieder totenstill…




    Im Nachbarzimmer verständigten sich unterdessen die beiden SEK-Beamten mit Handzeichen. Sie hatten genug Informationen, um Landwehr einen Lagebericht zu geben. Leise huschten sie zurück zur Eisentür. Einer schlüpfte hindurch und verschwand im Treppenhaus. Der andere schloss geräuschlos die Tür hinter seinem Partner und schlich zurück in das Zimmer. Er würde hier oben auf die anderen warten und sie warnen, sollte sich die Lage verändern oder weiter zuspitzen.
    Von nebenan hörte er leises Weinen…




    Tränen waren in Johannas Augen gestiegen und bekümmert hatte sie sich in Jakobs Arme geworfen.
    „Was haben die mit Tante Gaby vor? Was machen die mit ihr?“ fragte sie immer wieder voller Sorge zwischen den verzweifelten Schluchzern.
    Doch Jakob wusste keine Antwort. Er hatte zwar eine Vermutung, aber er würde sich hüten, sie seiner Schwester zu sagen! Während er sie versuchte zu trösten, schwor er sich noch einmal, dass er das Leben seiner Schwester unter allen Umständen retten würde. Und wenn es ihm das eigene kosten würde…

  • Inzwischen war der Hüne mehr als nur sauer!
    Er hatte es satt, das dieses Weibsstück ihm auf der Nase herum tanzte. Als sie versuchte zum Zimmer ihrer Kinder zu gelangen, hatte er ihr vor Wut schnaubend eine schallende Ohrfeige verabreicht, sie am Kragen ihres Pullovers gepackt und die Treppe hinunter geschleift. Es war ihm vollkommen egal, das sie mehr fiel als ging. Mit seinen kräftigen Armen fing er sie immer letzten Moment so weit auf, das sie nicht hinschlug.


    Unten angekommen, durchquerte er mit ihr die Eingangshalle, stieß mit der freien Hand die Tür zum Speisesaal auf und schleuderte die Frau hinein. Krachend fiel sie gegen einen Tisch und stürzte zu Boden, wo sie wimmernd liegen blieb.
    An Borchert gewandt, fauchte er : „Da hast Du das Miststück!“


    Sein Boss, der gerade der Maus das Zeichen gab, die Kamera laufen zu lassen, schaute ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugierde an.
    „Was hat die denn mit Dir gemacht?“ wollte er verblüfft wissen. „So kenne ich Dich ja gar nicht!“
    Der Riese war eigentlich dafür bekannt, das ihn so schnell nichts aus der Ruhe brachte… egal was er tat!
    Meistens umgab ihn eine Aura von kühler Gelassenheit.


    Schwer atmend starrte der Hüne Borchert an und für einen Bruchteil zögerte er. Wenn er jetzt die Wahrheit sagte, war sein hartes Image im Eimer.
    Er galt unter den Männern nach dem ‚Doc’ als am brutalsten… wobei er, im Vergleich zum ‚Doc’, mehr körperliche Brutalität ausübte. So machte es ihm beispielsweise nichts aus, jemanden windelweich zu prügeln,… er konnte jemandem, ohne mit der Wimper zu zucken, die Knochen brechen,… er konnte literweise Blut sehen,… es machte ihm auch nichts aus, die zerlegten ‚Experimente’ des ‚Doc’ zusammen zu suchen und zu entsorgen…


    Doch was er auf den Tod nicht ab konnte, war der Geruch von Erbrochenem!
    Böse Erinnerungen an seine Kindheit kamen dabei in sein Gedächtnis. Erinnerungen an das miserable Essen im Kinderheim, wovon ihm regelmäßig schlecht geworden war und er sich ständig übergeben hatte. Die Erzieherin hatte ihn oft daraufhin gezwungen, tagelang die Kleidung zu tragen, über die er sich erbrochen hatte.
    Noch Jahre später hatte er den Ekel erregenden Geruch in der Nase gehabt!


    Nein,… diese Schwäche durfte er auf keinen Fall zugeben!
    Schnell dachte er nach und sagte dann wütend: „Die wollte doch tatsächlich auszubüchsen und hat versucht zu ihren Kindern zu kommen!“


    „So, so,… hat sie das“, antwortete Borchert nachdenklich, verschränkte die Arme vor der Brust und warf der zitternden Gestalt am Boden einen nachdenklichen Blick zu. Mit einer auffordernden Kopfbewegung gab er nach einer Weile seinen Männern ein Zeichen.
    Aus der Gruppe lösten sich zwei, gingen zu der Frau hin und hoben sie auf. Sie setzten sie auf einen Stuhl, zogen ihr die Arme nach hinten und banden ihr die Hände an der Rückenlehne fest. Kaum hatten sie ihre Aufgabe erledigt, gesellten sie sich zurück zu den anderen Männern und warteten vorfreudig darauf, das Borchert loslegte…




    Als der SEK-Beamte endlich nach einer halben Ewigkeit, zumindest erschien es Chris so, wieder zurück kam, erstatte er Landwehr leise einen Bericht. Chris konnte nicht verstehen, was der Mann sagte und wurde unruhig. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen, an seinen Handinnenflächen bildete sich klammer Schweiß und ein angstvolles Zittern durchlief seinen Körper. Die steile Sorgenfalte wurde wieder sichtbar und verbissen presst er die Lippen aufeinander. Er wollte wissen was Sache war! Unbewusst entwich ein leises Grollen seiner Kehle.


    Plötzlich spürte er eine vorsichtige Berührung an der Schulter: Semir hatte seine Hand darauf gelegt und übte mit seinen Fingern einen leichten Druck aus. Im matten Licht der Taschenlampe konnte Chris erkenne, wie die braunen Augen ihn besorgt ansahen. Doch Semir konnte nicht weiter nachhaken, denn endlich drehte sich der Einsatzleiter zu seiner Truppe um, sah Chris und Semir an und flüsterte:


    „Die Kinder befinden sich noch immer in dem Zimmer, in dem sie heute früh waren. Es sind keine Wachen aufgestellt, so das es keine Probleme bei der Befreiung der Kinder geben dürfte. Allerdings haben die Kerle eine Frau, bei der es sich offensichtlich um Ihre Schwester handelt, vor wenigen Minuten ins Erdgeschoss gebracht. Zur Zeit wissen wir nicht, wo sie sich dort befindet. Es sollte uns aber ein Leichtes sein, das herauszufinden. Meine Männer werden das in die Hand nehmen. Doch zu allererst wollen wir versuchen, die Kinder von hier weg zu bringen. Dazu benötigen wir Ihre Hilfe.“


    Landwehr schaute Chris direkt an. „Sie müssen mit den Kindern reden und ihnen klar machen, das wir hier sind, um sie zu befreien. Wenn ich meine Männer ohne Warnung reinschicke, schreien sie womöglich. Dann wären die Gangster gewarnt. Meinen Sie, Sie bekommen das hin?“
    Fest entschlossen erwiderte Chris den Blick und nickte ernst.


    „Gut!“ sagte Landwehr nur und wandte sich wieder seinen Leuten zu. Durch kurze, knappe Befehle gab er ihnen zu verstehen, was er von ihnen verlangte und alle nickten zur Bestätigung. Dann sprach er leise in sein Mikro: „Können wir hochkommen?“ Ein kurzes Knacken in der Leitung reichte als Antwort.


    Sofort setzte sich die Gruppe in Bewegung und einer nach dem anderen verschwand im Treppenhaus.
    Semir warf Chris einen letzten, besorgten Blick zu. Auf der Miene seines Partners spiegelten sich die unterschiedlichsten Emotionen. Am deutlichsten waren Furcht, Nervosität und Anspannung zu sehen. Für Chris eine gefährliche Mischung, doch noch schien er sich im Griff zu haben...

    ‚Hoffentlich bleibt das so!’ dachte Semir sorgenvoll bei sich, dann schlich auch er die Treppe hinauf. Dicht hinter sich hörte er, wie Chris ihm folgte. Als sie die Tür zur ersten Etage erreichten, betraten sie lautlos den Gang. Semir ging mit den geschmeidigen Schritten einer Katze vor Chris her und sie wurden in ein Zimmer gelotst, in dem sich bereits die meisten von Landwehrs Leute befanden.
    Bevor sie hinein gingen, warf Chris einen flüchtigen Blick zu der Tür, hinter der er seine Kinder vermutete. Es fiel ihm schwer, nicht einfach schnurstracks hinzugehen, die Tür einzutreten, um endlich seinen Sohn und seine Tochter in die Arme nehmen zu können!


    Drei der Männer, die vorne weg geschlichen waren, bezogen nun Positionen beim Treppenabgang oder postierten sich auf dem Flur im gegenüber liegenden Gang. Ein vierter Beamter verschwand um die Ecke und tastete sich vorsichtig die Treppe hinunter. Als er sah, das sich niemand im Eingangsbereich aufhielt, lief er in gebeugter Haltung zum ehemaligen Empfangstresen und ging dahinter in Deckung. Einen Moment lauschte er.


    Doch bis auf Stimmen, die hinter zwei großen Schwingtüren zu vernehmen waren, blieb alles ruhig. Niemand schien ihr Eindringen bemerkt zu haben. Raunend machte er Meldung…

  • Borchert schritt langsam auf Gaby zu, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor ihr nieder. Er streckte seine Hand aus und im ersten Augenblick zuckte sie ängstlich zurück. Doch sie konnte seiner Berührung nicht entfliehen.
    Mit vorsichtigen Gesten strich er ihr die Haare aus dem tränenbenetzten Gesicht und sah sie dabei mitleidig an.


    Einer der Männer reichte Borchert einen feuchten Waschlappen und mit sanften Streichen reinigte er ihr Antlitz. Zum Schluss tupfte er es mit einem weichen Handtuch ab. Als er fertig war, legte er das Tuch beiseite, beugte sich leicht nach vorn und stützte sich mit seinen Unterarmen auf seinen Oberschenkeln ab. Er faltete seine Hände und schaute Gabys verwirrte Miene sorgenvoll an.


    In Gabys Kopf dagegen rasten die Gedanken und ihre Emotionen fuhren Achterbahn. Besonders seit sie die Stimme von Johanna vernommen hatte und sie wusste, das sie noch lebte, wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte,… was sie fühlen sollte,… was sie machen sollte,… alles wirbelte durcheinander.
    Sie erinnerte sich daran, das sie alles über sich ergehen lassen würde, solange die Kerle dafür die Kinder in Ruhe lassen.


    Doch die Strapazen der letzten Stunden forderten ihren Tribut. Außerdem hatte sie Schmerzen am ganzen Körper und sie fühlte sich müde, erschöpft, ausgelaugt…
    Alles in ihr lechzte nach Erholung, Wärme und Geborgenheit! Wie gut taten da die liebevollen Gesten, die ihr Peiniger ihr zukommen ließ!
    Ihr Verstand warnte sie und mahnte sie zur Vorsicht! Doch sie wollte endlich mal wieder etwas Positives empfinden und schlug die Warnung in den Wind!


    ‚Vielleicht haben sie ja eingesehen, das es der falsche Weg ist’, versuchte sie sich einzureden. Vorsichtig hob sie den Blick und sah den Mann an.
    Auf dessen Gesicht lag ein ruhiges Lächeln. Gaby sah ihre hoffungsvolle Sehnsucht bestätigt und entspannte sich etwas.
    Gerade, als sie sein Lächeln vorsichtig erwidern wollte, fragte der Mann mit lauerndem Ton: „Erinnerst Du Dich noch daran, was ich Dir gestern bei unserer ersten Begegnung gesagt habe?“ Dabei zog er seine rechte Augenbraue erwartungsvoll nach oben.

    Gabys Magen krampfte sich zusammen und ihre Entspannung wandelte sich langsam in Anspannung um.
    Nie würde sie diesen Moment vergessen können!
    Sie erinnerte sich an den harten Schlag in ihr Gesicht und wie das warme Blut aus der Nase tropfte. Sie hörte seine eiskalte Stimme in ihrem Kopf: „Um mal eins klar zu stellen: Ich bin hier der Boss! Und wenn ich eine Frage stelle, erwarte ich auch eine Antwort. Und wer nicht hören kann, muss fühlen. Haben wir beide uns jetzt verstanden?“

    Borchert sah ihr an, das sie sich erinnerte und sein Lächeln wurde breiter, aber nicht herzlicher. „Gut! Ich sehe, wir verstehen uns!“ meinte er hinterhältig. „Ich stelle Dir jetzt noch mal einige Fragen und diesmal erwarte ich ehrliche Antworten von Dir... Was passieren kann, wenn Du es nicht tust, hast Du ja miterleben dürften. Ist das soweit bei Dir angekommen?“

    Mechanisch nickte Gaby.


    „Wunderbar! Dann lass uns gleich loslegen.“ Seine Stimme war voller Begeisterung, als er sich aufrecht hinsetzte, seine Hände rieb und mit einem erwartungsvollen Seufzer weiter sprach: „Fangen wir mit Deinen Kindern an…“
    An der Art und Weise, wie der Mann die Betonung setzte, wusste sie, das er etwas zu ahnen schien und der Schreck fuhr ihr in die Glieder.
    Mit Genugtuung sah Borchert, wie Panik in ihren Augen aufstieg…





    „Ok! Bleiben sie in Position und geben sie Meldung, wenn sich etwas verändert!“ sagte Landwehr in sein Headset und nickte seinen Leuten zufrieden zu. „Es geht los!“
    Mit Chris an seiner Seite eilte er hinaus, dicht gefolgt von Semir. Leise überquerten sie den Flur.

    Während sich Landwehr rechts neben die Tür stellte und somit auch seine Männer im Treppenabgang im Blick hatte, nahm Semir links von der Tür Aufstellung. Nach einem letzten kontrollierten Blick in die Runde, gab Landwehr Chris das OK. Chris sah zu seinem Partner und dessen Blick sprach ihm Mut zu.
    Nach einer kurzen Überlegung sicherte Chris seine Waffe und steckte sie ins Holster. Er wollte seine Kinder nicht erschrecken, indem er mit gezückter Waffe vor ihnen stand! Gespannt hielt er die Luft an, als er sich leicht nach vorne beugte und vorsichtig an die Tür klopfte. Seine belegte Stimme krächzte vor Aufregung: „Jakob? Johanna? Hört Ihr mich…?“

  • Kaum hörte Johanna das zaghafte Klopfen neben ihrem Ohr, da zuckte sie wie vom elektrischen Schlag getroffen zusammen. Als dann noch ihr Name fiel, rutschte sie erschrocken von der Tür weg und starrte sie ungläubig an. Nach einigen Sekunden schalt sie sich selbst: ‚Das kann nicht sein! Du musst dich verhört haben!’


    Sie schüttelte in Gedanken den Kopf und ihre Neugier gewann wieder die Oberhand. Gerade wollte sie sich zurück begeben, als es erneut klopfte und eine Stimme nach ihr fragte. Diesmal einen Tick lauter. Jetzt war sie sich sicher, das sie sich nicht verhört hatte. Jemand war an der Tür!
    Johanna verlor die Beherrschung, sprang auf und lief zu ihrem Bruder. Sie zerrte an seinem T-Shirt und deutete hysterisch zur Tür: „Da ist jemand!“
    An ihrer aufgelösten Miene konnte Jakob erkennen, das sie es ernst meinte. „Wer?“ fragte er, während er das Metallstück aufs Fensterbrett legte und einen Arm um Johannas Schulter schlang. „Ich weiß es nicht. Ich habe niemanden kommen hören!“ antwortete sie und sah ihn panisch an. „Meinst Du, es ist ein Geist?“
    Trotz der ernsten Lage, huschte Jakob ein Lächeln übers Gesicht. Doch es erlosch sofort, als auch er in diesem Augenblick ein dumpfes Geräusch an der Tür wahrnahm. „Jakob? Johanna? Seid Ihr da drinnen?“ flüsterte jemand dumpf. Langsam trat Jakob näher an die Tür heran. „Wer sind Sie?“ wollte er wissen.„Jakob!? Gott sei Dank!“ kam es kaum wahrnehmbar von der anderen Seite. „Ist Johanna auch bei Dir?… Hier ist Euer Vater!“


    Johannas Gesicht strahlte plötzlich vor Freude und sie wollte sich mit einem Jubelschrei zur Tür stürzen, als ihr Bruder sie mit einem warnenden Blick zurück hielt. „Warte! Vielleicht ist das eine Falle!“ dämpfte er flüsternd ihre Euphorie und auf ihren fragenden Blick hin erklärte er ihr: „Vielleicht versuchen die so an Informationen über Papa zu gelangen.“
    Er war sich eigentlich recht sicher, das die Stimme vor der Tür nicht seinem Vater gehören konnte. Die war normalerweise lauter, sonorer und rauchiger. Und sie hatte, wenn er mit ihnen sprach, einen liebevollen Unterton. Dieses leise Getuschel war niemals ihr Vater!
    Zur Tür gewandt sagte er vorsichtig: „Ja, Johanna ist auch hier. Aber Richard und unsere Mutter sind nicht da.“Sekundenlang herrschte Stille, dann kam es kaum hörbar zurück: „Ich weiß…“ Eine zweite Stimme fügte raunend hinzu: „Wir sind mit einer Spezialeinheit der Polizei hier, um Euch zu befreien. Seid jetzt bitte ganz leise. Wir knacken jetzt das Türschloss und kommen zu Euch rein.“


    Jetzt war sich Jakob sicher, das es eine Falle sein musste. Er hatte schon viele Polizeifilme gesehen und wusste Bescheid! Immer wenn im Film eine Spezialeinheit Geiseln befreite, waren sie stets mit Rauchbomben, Tränengas und schwerem Geschütz aufgefahren. Dabei wurden Türen eingetreten, Scheiben eingeschlagen und laute Kommandos gerufen. Meist fand auch ein Schusswechsel statt und die Polizisten wurden durch einen Hubschrauber, aus denen sich Bundesgrenzschützer auf das Dach abseilten, aus der Luft unterstützt. Doch nichts dergleichen war zu hören. Das konnte nur eine Falle sein!


    Seinen Zeigefinger warnend an die Lippen legend, sah er sich schnell um. Dann fasst er einen Entschluss… Er musste sich beeilen, denn jemand machte sich bereits an dem Schloss zu schaffen. Er führte Johanna hinter das Bett und deutete ihr an, das sie sich verstecken solle. Hastig schärfte er ihr ein: „Hör zu! Ich werde versuchen die Kerle abzulenken!… Und egal, was mit mir passiert: Versprich mir, dass Du, sobald Du die Gelegenheit bekommst, wegläufst und Hilfe holst!… Machst Du das?“ Eindringlich sah er sie an und völlig verschreckt nickte seine Schwester. „Gut!“ antwortete Jakob erleichtert. Am liebsten hätte er ihr noch einen Abschiedskuss gegeben, doch dafür war jetzt keine Zeit mehr.
    Mit einer schnellen Drehung wandte er sich um, ergriff das Brett, welches er bereits abgeschraubt hatte und eilte mit großen Schritten zurück. Gerade noch rechtzeitig stellte er sich neben die Tür, als die Klinke heruntergedrückt wurde und sie sich einen Spalt öffnete. Wild entschlossen, seine Schwester zu retten, holte Jakob schwungvoll aus und legte seine ganze Energie in den Schlag …


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    :P Fortsetzung morgen zwischen 15.00 - 16.30 Uhr! :D

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