Angst und Vertrauen

  • Kaum hatte sie geendet, drehte sie sich um und suchte mit ihren Augen Hartmut. Als sie ihn entdeckte, deutete sie auf ihn und ordnete Lothar an: „Holen Sie sofort Hartmut zu mir! Es ist mir egal, woran er gerade arbeitet. Sagen Sie ihm, das es äußerst wichtig ist!“
    Augenblicklich sprintete Lothar los.


    In Annas Kopf rasten die Gedanken und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen!
    Endlich ergab vieles einen Sinn:


    Die Kidnapper,... die anscheinend gewusst hatten, das ihr Versteck entdeckt worden war,... die so plötzlich geflüchtet waren,... die von der versteckten Botschaft gewusst hatten...


    Borchert,... der wusste, das sie seinen Namen herausgefunden hatten...


    Der Anrufer,... der zu wissen schien, wann Chris Ritter da war oder nicht… der wusste, das sie versuchten ihn mit einer Fangschaltung zu orten… der wusste, das der Lautsprecher an war… der wusste, wo die CD lag…


    Sie dachte an die vielen Informationen, die sie in den letzten zwei Tagen in ihrem Büro ausgetauscht und die die Verbrecher mitbekommen hatten.
    Ihr fiel die Sache mit Volker Klein ein, der im Krankenhaus ermordet wurde. Hatten die Gangster durch sie erfahren, in welchem Krankenhaus er gelegen hatte und konnten deswegen so schnell reagieren?


    Plötzlich ergaben die vielen kleinen Puzzlesteine ein Gesamtbild und es erschreckte sie. Sie wusste, dass sie sofort handeln mussten!
    Doch wie konnten sie das tun, ohne zu verraten, das sie Bescheid wussten?
    Es musste eine Möglichkeit geben, diesen Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln.


    Hartmut kam angetrabt und sein besorgter Blick war auf die Chefin gerichtet.
    „Was ist los?“ fragte er, kaum das er zum Stehen gekommen war. „Der Beamte meinte, es sei dringend!“
    Anna nickte: „Wir haben ein Problem!“ und reichte ihm den Brief. „Unsere Dienststelle ist verwanzt!“


    Hartmuts Augen wurden tellergroß und seine Kinnlade fiel nach unten, dann nahm er den Brief entgegen und begann ihn zu lesen.
    Während er ihn sich durchlas, ging Anna nervös hin und her. Dabei knetete sie in Gedanken ihre Unterlippe und versuchte eine Lösung zu finden.
    Kaum hatte Hartmut geendet, hob er mit offenem Mund den Kopf und sein erstaunter Blick ging zur Engelhardt, die noch immer gedankenverloren herum lief.


    Als sie bemerkte, das er fertig war, sprach sie ihn sofort an: „Was sagen Sie als Experte dazu? Können wir irgend etwas dagegen unternehmen, ohne das es denjenigen, die dahinter stecken, auffällt?“


    Hartmut dachte kurz nach, dann hellte sich seine Miene auf: „Zumindest die Wanzen scheinen laut der Beschreibung drahtlos zu sein. Das heißt, dass Signal muss irgend wohin gesendet werden. Wenn ich die Frequenz heraus bekomme, dann…“
    „Sehen Sie denn eine Möglichkeit, herauszufinden, wohin das Signal gesendet wird?“ unterbrach Anna ihn ungeduldig.


    „Klar!“ Hartmut war leicht beleidigt. Warum unterschätzten alle immer seine Fähigkeiten? Frequenzen herausfinden… Pah! Das war eine seiner leichtesten Übungen! „Ich brauche nur meine Spezialausrüstung und dann kann es losgehen.“


    „Worauf warten Sie dann noch?“ Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete die Chefin ihm, das er sie holen solle.
    Er schaute sie einen Moment verwirrt an und als er verstand, sagte er schnell: „Ich habe sie aber nicht hier. Die muss ich erst aus der KTU holen!“


    Gottergeben stöhnte Anna auf: „Herrgott nochmal! Soviel Zeit haben wir aber nicht!“ Verzweifelt fuhr sie sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Könnten Sie nicht einen Kollegen bitten, der Ihnen das benötigte Equipment zur PAST bringt?“
    „Ja, sicher“, zuckte Hartmut leichthin mit den Schultern. „Das dürfte kein Problem sein. Die Ausrüstung befindet sich in einem Van, den wir immer für die Überwachung von…“


    „Herr Freund!“ Annas zornige Stimme ließ ihn zusammenzucken.
    Erschrocken blickte er sie an, dann machte sich auf seinem Gesicht peinliche Verlegenheit breit. Mit einem entschuldigenden Nuscheln zog Hartmut umständlich sein Handy hervor und rief in der KTU an. Er sprach mit einem seiner Mitarbeiter und nach einer Minute wandte er sich wieder der Engelhardt zu.


    „Die Ausrüstung ist in einer guten halben Stunde da“, teilte er ihr eifrig mit.
    „Gut!“ sagte Anna erleichtert. „Dann lassen sie uns zurück fahren, damit Sie gleich mit der Arbeit beginnen können, wenn Ihre Ausrüstung ankommt.“
    Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte zu ihrem Auto gehen, als sie von Hartmut zurückgerufen wurde.


    „Ähm..., Frau Engelhardt“, haspelte dieser, während er verlegen mir seiner rechten Hand über seine Schulter zeigte, „...wäre es nicht sinnvoll den Kollegen Bescheid zu geben? Ich meine, wenn die jetzt alle Informationen über Funk verbreiten, wissen es die Kidnapper doch auch, oder?“


    Dankbar leuchtete Annas Gesicht auf: „Hartmut, Sie haben vollkommen Recht! Ich werde alles Nötige veranlassen.“
    Während sie Lothar zu sich rief, ihm die Lage und die weitere Vorgehensweise erkärte, stand Hartmut mit stolz geschwellter Brust da und strahlte von einem Ohr zum anderen.

  • Plötzlich wurde er unsanft aus seiner Euphorie gerissen. Anna hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn nun zu ihrem Auto.


    „Kommen Sie! Es wartet Arbeit auf uns! So nah, wie im Moment, waren wir den Kidnappern schon lange nicht mehr.“ Ihre Miene nahm einen entschlossenen Ausdruck an: „Diese Chance will ich nicht wieder verstreichen lassen! Diesmal will ich sie kriegen!“


    Am Wagen angekommen, hielt sie plötzlich inne. Ihr war etwas wichtiges eingefallen. Sie holte ihr Handy hervor und wählte Semirs Nummer.
    Bereits nach dem zweiten Klingeln hörte sie seine vertraute Stimme: „Ja, Semir hier!… Chefin, was gibt’s?“
    Wäre die Situation nicht so ernst, hätte sie gelächelt. Seine flapsige Art einen Anruf entgegen zu nehmen, würde er sich wohl nicht mehr abgewöhnen.


    Statt dessen fragte sie ihn mit ernster Stimme: „Semir, wo sind Sie gerade?“
    „Mit Chris draußen vor der PAST. Er wollte unbedingt ein Rauchopfer darbringen und da ich ja auf ihn aufpassen soll... Doch warum fragen Sie?“ wollte er mit befremdlichen Ton wissen.


    „Gut!“ antwortete Anna Engelhardt erleichtert. „Dann können Sie wenigstes frei reden!… Semir, hören Sie mir jetzt genau zu: Ich habe so eben den wichtigen Hinweis erhalten, das unsere Dienststelle verwanzt ist…“
    „Wie bitte?“ hörte sie Semirs verblüffte Frage, doch sie fuhr unbeirrt fort: „Sie ist nicht nur mit Mikros gespickt, sondern auch mit Minikameras!“


    „Die ganze PAST?“ wollte Semir erschrocken wissen.
    „Nein, nicht das ganze Gebäude“, gab Anna Engelhardt zurück. „Aber mein Büro, das Büro von Ihnen und Herrn Ritter, das Hauptbüro und dort ganz besonders Susannes Schreibtisch sowie die Teeküche.“
    „Ja, aber wer... Sie meinen doch nicht etwa...?“ stotterte Semir.


    „Wer dahinter steckt, können wir im Moment nur vermuten,“ gab die Chefin reserviert zurück, „aber viel wichtiger ist, das wir uns in unseren Räumen vorsichtig verhalten müssen. Es dürfen keinerlei Informationen mehr ausgetauscht werden! Wir sollten diese Leute aber auch nicht merken lassen, dass wir wissen, das sie uns abhören. Weihen Sie also bitte so unauffällig wie möglich die anderen ein und ich würde vorschlagen, das ab jetzt absolute Funkstille herrscht. Den Kollegen hier vor Ort habe ich bereits Bescheid gegeben. Aber Siggi soll das Signal an die Kollegen, die noch draußen sind, schicken. Alle Infos werden ab jetzt auf mein Handy geschickt.“


    „Ist ok, Chefin“, hörte sie ihn noch immer leicht verwirrt sagen. „Und was machen wir in der Zwischenzeit?“
    „Bleiben Sie in der PAST und verhalten Sie sich so unauffällig wie möglich. Gehen Sie Ihrer gewohnten Arbeit nach, trinken Sie einen Kaffee oder sonst was… Aber verhalten Sie sich um Gottes Willen unauffällig!“ beschwor Anna Semir.
    Er konnte ihre Sorge deutlich in ihrer Stimme hören.


    „Ich komme mit Hartmut zurück zur PAST. Er will mit Hilfe eines Ortungsgerätes versuchen herauszufinden, wohin das Signal gesendet wird. Vielleicht entdecken wir so den Aufenthaltsort der Kidnapper“, erklärte Anna Engelhardt weiter.
    „Ja, aber das wären doch gute Nachrichten“, freute sich Semir.
    „Vorausgesetzt es klappt alles“, beschwichtigte sie ihn. „Noch haben wir die Entführer nicht. Und so lange müssen wir uns so verhalten, als ob wir von nichts wissen. Verstanden?“
    „Ist klar, Chefin! Wir machen das schon!“ sagte Semir und legte auf.


    Anna gab Hartmut einen Wink und nachdem sie in ihren Wagen eingestiegen waren, machten sie sich auf den Weg zurück...

  • Mit einem großen Pappbecher in der Hand, gefüllt mit heißem Kaffee, kam Hotte durch den Ausgang des Autohofrestaurants und seine Augen schauten sich suchend um. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er entdeckt hatte, wonach er gesucht hatte.
    Zielstrebig ging er auf Paul zu, der im hinteren Teil des Parkplatzes einen Picknicktisch von Müll befreite und anschließend mit einem Tuch über die Sitzbänke putzte.


    „Paul!“ rief Hotte von weitem und hielt dabei den Kaffeebecher hoch.
    Dieser sah von seiner Beschäftigung kurz auf und als er Hotte erkannte, winkte er ihm zu. Mit einem letzten Schlenker den Lappen über den Tisch fegend, mache er sich auf den Weg, dem Polizisten entgegen zu gehen.
    Unterwegs steckte er das Tuch in seine Hosetasche, wischte sich seine Hände am Hemd ab und als die beiden Männer sich trafen, gaben sie sich zur Begrüßung freundschaftlich die Hand.
    „Tag, Herr Wachtmeister!“ sagte Paul und deutete eine höfliche Verbeugung an. „Wie geht es Ihnen?“


    Hotte schmunzelte in sich hinein. Seit er und Bonrath Paul vor gut zwei Monaten kennen gelernt hatten, konnten sie ihm nicht abgewöhnen, sie so zu nennen. Sie ließen ihn gewähren, denn durch seine nette Art konnte man ihm nicht böse sein.
    „Danke, der Nachfrage. Aber es ist immer das gleiche: Wie immer viel Arbeit!“ Er hielt ihm den Kaffee hin und meinte: „Hier der ist für Sie. Als kleines Dankeschön!“


    Auf Pauls irritierten Blick hin, erläuterte er: „Ihr Hinweis auf das sonderbare Verhalten einiger Brummifahrer, hat uns in einigen Fällen der Autoschieberei einen entscheidenden Schritt nach vorn gebracht. Dadurch ist es bereits zu zahlreichen Festnahmen gekommen.“
    Verlegen schmunzelnd griff Paul nach dem Becher und sagte: „Oh, vielen Dank! Aber das war doch selbstverständlich. Ist doch schließlich meine Bürgerpflicht!“
    Hotte lacht kurz auf: „Leider sehen das nicht alle Leute so!“


    Paul, der seine kalten, klammen Finger um den Becher geschlungen hatte, um sie zu wärmen, nahm einen kleinen Schluck vom Kaffee: „Hmm, tut das gut. ..!“
    Ein seliges Lächeln machte sich auf seinem faltigen Gesicht breit: „Und so wie ich ihn mag: heiß, viel Mich, viel Zucker.“
    Nach einem weiteren Schluck schaute er den Polizisten fragend an: „Wo ist denn Ihr Kollege?“


    Mit einer wegwerfenden Handbewegung stöhnte Hotte auf: „Ach, der...! Der konnte sich eben nicht entscheiden, was er essen möchte. Und während er mit der Frau hinter der Theke noch diskutierte, schnappte ihm jemand seinen Nachtisch vor der Nase weg. Jetzt hofft er, duch seine geballte Polizeipräsenz...“, Hotte prustete in sich hinein, „... dem jungen Mann seinen Nachtisch wieder abzuluchsen!“


    Paul gluckste und zeigte in Richtung Eingang: „Ah, da kommt er ja!... Seinem Gesichtausdruck nach zu urteilen, hatte er kein Glück!“
    Hotte drehte sich um und er musste Paul Recht geben: Sein Partner zog ein schmollendes Gesicht und an seinen langen, wütenden Schritten konnte man erkennen, das sein Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt worden war.


    Kaum hatte Dieter die beiden erreicht, schnaubte er frustriert: „Diese jungen Leute von heute! Die haben einfach keinen Respekt mehr vor einem Mann in Uniform! Hat der doch allen Ernstes behauptet, ich würde meine Stellung missbrauchen, um mir einen Vorteil zu beschaffen?!“
    „Ja, aber hast Du nicht genau das auch versucht?“ gab Hotte zu bedenken.


    „Pah!... So etwas habe ich doch nicht nötig!“ widersprach Dieter entrüstet und fuhr verschwörerisch fort: „Aber, ... ich habe mir sein Gesicht genau eingeprägt!“ Mit seinem linken Zeigefinger tippte er sich dabei an den Kopf. „Sollte der mir noch einmal während einer Verkehrkontrolle über den Weg laufen,...“ Er ginste teuflisch: „... dann werde ich mich rächen!“


    „Ach Dieter, lass gut sein!“ versuchte Hotte seinen Partner zu beruhigen. „Es war doch nur eine Nachtisch.“
    „Nur ein Nachtisch? ... Nur ein Nachtisch?!“ entrüstete sich Bonrath. „Es geht hier ums Prinzip! Und um Respekt!“


    Seufzend gab Hotte klein bei: „OK, wenn Du meinst... Aber könnten wir mit unserer Arbeit weiter machen? Ich habe Hunger und die Köchin hat mir versprochen, in zehn Minuten unser Essen fertig zu haben.“


    Obwohl Bonrath noch immer sauer war und sich gerne weiterhin seiner Schimpferei hingegeben hätte, gab er seinem Kollegen Recht: Je schneller sie ihre Arbeit beendeten, um so schneller konnte sie essen.
    Seufzend wandte er sich Hotte zu und sagte versöhnlich: „Schon ok. Aber das musste mal gesagt werden!“


    Als er sah, wie sich sein Partner und Paul verschmitzt angrinsten, fing er auch an zu grinsen: „Ja, ja, ich weiß,… Ich führe mich wie ein alter Esel auf!“
    „Dieter, Du bist ein alter Esel!“ lachte Hotte und knuffte seinem Freund die Seite. „Aber deswegen mag ich Dich auch so!“


    Sichtlich berührt zog Bonrath seinen Notizblock aus der Tasche und versuchte die Aufmerksamkeit schnell auf ein anderes Thema zu lenken: „Welchen Teil des Parkplatzes willst Du übernehmen. Die Brummi- und Busfahrer oder die Familien?“
    Hotte schaute ihn kurz von unten her an, dann zeigte er in Richtung Spielplatz: „Ich nehme die Familien. Ich hatte letztes Mal die Brummifahrer.“


    Nach einem zustimmenden Nicken von Bonrath, wollten sich die beiden Polizisten zum Gehen wenden, als sie von Paul angesprochen wurden: „Entschuldigen Sie, könnte ich Sie etwas fragen?“
    Dieter und Hotte drehten sich zu Paul um und beide erkannten, das ihm etwas unangenehm war. Er wechselte auf der Stelle von einem Bein aufs andere und sein Blick ging nervös zwischen ihnen hin und her.


    „Ich habe heute morgen eine Beobachtung gemacht, die mir keine Ruhe lässt“, druckste der Landstreicher herum. „Vielleicht ist ja gar nichts dran, aber irgendwie erschien mir die Sache nicht geheuer.“
    „Was haben Sie gesehen?“ wollte Dieter vorsichtig wissen.
    Pauls Verhalten war merkwürdig. Er schien plötzlich nervös.


    Der alte Mann schaute ihn mit seinen grauen Augen an, zog kurz die Schultern nach oben und sagte im verlegenen Ton: „Herr Wachtmeister, Sie wissen ich will keinen Ärger verbreiten. Und wahrscheinlich ist die Sache auch ganz harmlos. Außerdem habe ich heute sowohl in den Zeitungen als auch aus dem Radio versucht herauszufinden, was dahinter steckt. Aber nirgendwo werden vermisste Kinder, eine Entführung oder ähnliches erwähnt... Aber ich finde es schon sonderbar, wenn Kinder in einen Raum eingesperrt werden und von mindestens zehn Männern bewacht werden.“


    Schnell tauschten die beiden Polizisten einen Blick miteinander aus, dann hakte Hotte hinterher: „Wo werden Kinder festgehalten?“
    „In dem alten Motel“, gab Paul zur Auskunft und deutete mit der rechten Hand in die Richtung. „Ich schlafe dort immer und in der letzten Nacht kamen diese Männer.“


    „Was für Männer?“ wollte jetzt Bonrath wissen.
    „Ich weiß nicht was das für Männer sind. Ich weiß nur, das sie vor ein paar Wochen schon einmal da waren und sich umgeschaut haben. Damals habe ich mitbekommen, das sie für einige Tage ein Versteck benötigen.“


    „Und diese Männer… Wann ungefähr sind die gekommen?“ Hottes Miene nahm einen ernsten Ausdruck an.
    Paul dachte kurz nach und antwortete: „Es war schon weit nach Mitternacht. Vielleicht so kurz nach eins. Aber so genau habe ich nicht auf die Uhr geschaut.“


    Während sich Bonrath etwas in seinen Notizblock schrieb, stellte Hotte bereits die nächste Frage: „Wissen Sie, wie viele Kinder es sind? Haben Sie sie gesehen?“
    „Nein, gesehen nicht“, erwiderte Paul, „aber gehört. Ich konnte zwei Stimmen unterscheiden. Es schien sich um einen Jungen und ein Mädchen zu handeln.“


    Enttäuscht blickten sich Bonrath und Hotte an, dann fragte Hotte zur Sicherheit noch einmal vorsichtig nach: „Und es war ganz sicher nur ein Junge? Nicht vielleicht zwei?“
    „Oder war nicht vielleicht noch eine Frau dabei?“ erkundigte sich Bonrath zusätzlich.


    Verwirrt über die Fragen, zog Paul die Augenbraunen zusammen und schüttelte leicht den Kopf: „Ich kann es nicht genau sagen. Dazu war ich nicht nah genug dran. Aber wie ich bereits sagte, ich habe die Kinder nicht gesehen. Es kann aber durchaus sein, das sich noch mehr Personen in dem Raum aufgehalten haben.“
    Er schaute von einem zum anderen und zögerlich fragte er: „Darf ich fragen, warum Sie das wissen möchten?“


    Bonrath wägte einen Moment alle Optionen ab, dann, nach einem kurzen Blick zu Hotte, seufzte er: „Von einem Kollegen ist die Familie entführt worden und wir suchen schon seit gestern nach Hinweisen über ihren Verbleib. Ihre Aussage ist die erste brauchbare seit Stunden.“


    Nachdenklich schauten sich die beiden Polizisten an. „Was meinst Du?“ fragte Hotte. Dieter wiegte seinen Kopf hin und her: „Wir sollten der Sache auf jeden Fall erst einmal nachgehen. Sollte sich herausstellen, das es nichts mit unserem Fall zu tun hat, können wir immer noch die Kollegen aus der Stadt informieren.“


    Dann wandte er sich Paul zu: „Könnten Sie uns das Versteck zeigen?“
    Der Landstreicher nickte: „Klar, ist ja nicht weit von hier. Wenn wir durch den Wald gehen, sind wir spätestens in fünfzehn Minuten da.“
    „Gut! Dann lasst uns gehen.“ Bonrath wollte sich umdrehen und losmarschieren, als Hotte ihn ansprach: „Dieter, sollten wir nicht erst in der PAST Bescheid geben?“


    Zögernd hielt Bonrath inne und überlegte. Schließlich schüttelte er den Kopf: „Lass uns erst mal nachschauen, ob wir auf der richtigen Spur sind. Dann können wir uns immer noch auf der Dienststelle melden.“
    „Du hast vielleicht recht“, stimmte ihm Hotte zu. „Womöglich machen die sich sonst zu große Hoffnungen.“
    Die beiden Polizisten wollten sich in Richtung Wald begeben, als Paul sie noch einmal zurück hielt: „Was ist denn mit Ihrem Essen?“


    Wie angewurzelt blieben Bonrath und Hotte stehen und tauschten unschlüssige Blicke miteinander. Jeder ahnte, was der andere dachte und schließlich seufzte Bonrath abgrundtief: „Ach, wissen Sie, Paul... dieser Kollege, von dem die Familie entführt wurde... Nun ja, wie soll ich es sagen...? Mit dem ist nicht immer gut Kirschen essen.“ Er verdrehte die Augen.


    „Und wenn es sich hier wirklich um seine Familie handelt...“, fuhr Hotte fort, „... und er heraus bekommt, das wir erst Essen waren…“ Er machte eine unheilvolle Miene.
    „Dann wird Hunger unser kleinstes Problem sein!“ stellte Dieter mit traurigem Gesichtsausdruck fest.


    „Oh!“ meinte Paul bedauernd. „So schlimm?“
    Trübsinnig nickten beide Männer.
    „Na, dann kommen Sie mal mit, meine Herren Wachtmeister! Mit etwas Glück sind wir in einer halben Stunde wieder hier und Sie können doch noch Ihr Essen genießen.“


    Mit einer auffordenden Geste übernahm Paul die Führung und, gefolgt von Bonrath und Hotte, zeigte er ihnen den Weg durch das Waldstück zum alten Motel...

  • Nachdenklich nahm Semir sein Handy vom Ohr, drückte die Verbindung weg und starrte vor sich hin. Nach einem letzten Zug von seiner aufgerauchten Zigarette, schnippte Chris den Stummel in einem hohen Bogen weg.
    „Was ist los?“ wollte er besorgt wissen.


    Doch Semir suchte bereits eine Nummer aus dem Telefonbuch seines Handys, wählte sie und während er darauf wartete, das sein Gesprächsteilnehmer abnahm, sagte er zu Chris: „Vielleicht habe ich gute Nachrichten für Dich!“
    Chris’ fragenden Blick beantwortete er mit einem Schmunzeln: „Das war die Chefin. Wir werden abgehört!“


    Den nun irritierten Gesichtsausdruck ignorierend, wandte sich Semir in diesem Augenblick seinem Handy zu.
    Mit eindringlicher Stimme sprach er: „Ja, hallo Susanne,… Semir hier! Sag jetzt bitte kein Wort, sondern hör mir nur genau zu! Und was ganz besonders wichtig ist: Was immer ich Dir jetzt sage, zeige keinerlei Reaktion und antworte in einem neutralen Ton… Hast Du das verstanden?… Schaffst Du das?“
    Aus dem Hörer war ein zustimmendes: „Hmm, mache ich!“ zu hören.


    „Gut!“ Erleichterung zeigte sich auf Semirs Miene. Susanne schien schnell begriffen zu haben, worum es ging. „Folgendes: Unsere Dienststelle ist verwanzt und wir werden mit Kameras beobachtet. Ich persönlich vermute, das Gehlens Leute dahinter stecken. Das heißt, wir müssen uns in unserer Dienststelle vorsichtig verhalten. Wenn wir gleich reinkommen, wäre es gut, wenn Du einfach mitspielst, und uns ein paar Akten in die Hand drücken würdest. Wir können dann so tun, als ob wir uns dadurch arbeiten.“


    „Ja, ich habe verstanden, Chefin“ hörte Semir Susanne sagen und ein Schmunzeln überflog sein Gesicht. „Ich such den beiden die Akten heraus. Sonst noch etwas?“
    Semir dachte kurz nach, dann fragte er: „Siehst Du eine glaubhafte Möglichkeit, Siggi Bescheid zu geben? Er soll die Kollegen informieren, das Funkstille einzuhalten ist. Wer eine wichtige Information hat, soll sie der Chefin aufs Handy schicken.“
    „Ja, kein Problem. Ich erledige das!“ Susannes Stimme klang geschäftig wie immer. „Bis später dann.“
    Mit einem Klicken, war das Gespräch beendet.


    Semir hatte kaum das Handy vom Ohr genommen, als Chris los sprudelte: „Was redest Du da für Zeug von wegen, wir werden abgehört? Und was für Kameras? Wenn da Gehlens Leute hinter stecken, … wie können das gute Neuigkeiten sein?“


    Mit kurzen, knappen Worten setzte Semir Chris ins Bild und erklärte ihm auch den Plan, den die Engelhardt verfolgte. Auf Chris’ unbeweglicher Miene zeigten sich keinerlei Reaktionen, aber Semir sah deutlich ein gefährlichen Leuchten in seinen Augen.


    „Hör zu, Chris...“, mahnte Semir, „... wenn wir da jetzt rein gehen, musst Du Dich unter Kontrolle halten. Meinst Du, Du schaffst das?“
    Doch Chris schien ihn nicht zu hören. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und die leicht zusammen gekniffenen Augen waren ein klares Anzeichen dafür, das er in Gedanken eigene Pläne verfolgte.
    Alarmiert hakte Semir nach: „Hast Du mich verstanden?“


    Geistesabwesend nickte Chris. Er machte ein paar Schritte hin und her und mit seiner linken Hand strich er sich nachdenklich über das Kinn. „Was schätzt Du, wann die Ausrüstung hier ankommt? Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Minuten?“
    Nach einem kurzen Schulterzucken, gab Semir zur Antwort: „Kann ungefähr hinkommen. Warum?“


    Ohne eine Antwort stapfte Chris an Semir vorbei.
    „Chris?… Hey, was hast Du vor?“ Die Panik war in Semirs Stimme nicht zu überhören. „Hast Du mich eben nicht richtig verstanden? Wir sollen uns unauffällig verhalten.“
    Chris öffnete die Tür und bevor er hinein ging, schaute er über seine rechte Schulter und sagte: „Oh ja, ich habe Dich sehr gut verstanden.“ Mit einem lauerndem Lächeln fügte er hinzu: „Dann wollen wir denen mal eine gute Show abliefern!“
    Er betrat das Gebäude und die Tür fiel hinter ihm zu.


    Mit schreckensweiten Augen schaute Semir seinem Partner hinterher.
    „Oh verdammt!“ fluchte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen. „Was hast Du jetzt wieder vor, Chris?“ Er riss die Tür auf und versuchte Chris einzuholen. „Chris!“ rief er gepresst hinter ihm her.
    Doch der war bereits am Ende des Flures und verschwand um die Ecke...

  • Ärgerlich schlug Semir seine Faust in seine flache Hand und biss die Zähne aufeinander. Er hasste es, wenn Chris einen seiner Alleingänge machte, ohne ihn vorher einzuweihen. An ihrer Kommunikation mussten sie noch dringend arbeiten!


    Wütend stampfte er im Eingangsbereich auf dem engen Flur hin und her und überlegte, was er tun sollte. Doch so sehr er auch grübelte, ihm fiel auf die Schnelle nichts ein.
    Mit einem tiefen Seufzer ging auch er hinein und hoffte inständig, dass das, was Chris vorhatte, nicht in die Hose ging.


    Chris durchquerte unterdessen mit weitgreifenden Schritten das Hauptbüro. Als er an Susanne vorbei kam, hielt sie ihn mit einem Wink auf.
    „Stop, Chris!“ rief sie und der Angesprochene blieb abrupt stehen.
    Sie zeigte auf einen Stapel Akten auf ihrem Schreibtisch und sagte: „Hier, die sollst Du Dir vornehmen.“


    Chris trat an den Tisch heran, nahm den obersten Ordner zur Hand und während er ihn öffnete, fragte er: „Sind das noch mehr Unterlagen über Borcherts…?“
    Er hielt inne, öffnete irritiert die nächste Akte, warf einen Blick darauf und richtete seine Augen auf Susanne. Wütend fuhr er sie an: „Was soll denn der Mist? Das muss ja wohl ein Missverständnis sein!… Wo sind die Akten über Borcherts Leute?“


    Susanne warf Andrea, die neben ihr stand, einen Hilfe suchenden Blick zu. Andrea sah Chris fest an: „Auf Semirs Schreibtisch.“
    Chris warf den Ordner, den er in der Hand hielt, zurück auf den Stapel und wollte ins Büro gehen.
    Doch Andrea stellte sich mit entschlossenem Gesichtsausdruck ihm in den Weg: „Nein, Chris. Du scheinst nicht zu verstehen. Die Akten sind nur für Semir bestimmt. Du sollst Dich um die Sachen kümmern.“ Dabei zeigte sie auf den Aktenstapel.


    Chris starrte sie sekundenlang ungläubig an. Mit seinem harten Blick versuchte er sie einzuschüchtern, doch sie blieb standhaft.
    Dann sah er plötzlich etwas in Andreas Augenwinkeln aufblitzen:
    nichts gefährliches,… nichts bedrohliches,…
    Nein, etwas vertrautes,… etwas tröstliches.
    Und im selben Augenblick verstand er!


    Schnell fasste er sich und hoffte, das sie ebenfalls gesehen hatte, das er wusste was sie vorhatte.
    Seinen Blick weiterhin fest auf sie gerichtet, meinte er mit rauer Stimme: „Meine Familie ist da draußen und ich muss sie finden.“
    Er ging zurück zum Stapel, nahm die oberste Akte und hielt sie ihr ärgerlich vors Gesicht: „Und da soll mich um Diebstähle…“, er spukte das Wort regelrecht aus, „… kümmern?… Das ist doch wohl nicht Dein Ernst?!“ grollte er gefährlich.


    Susanne, die seinen immer drohender werdenden Ton mit Sorge wahrnahm, stand vorsichtig auf und stellte sich neben Andrea.
    Mit einem entschuldigenden Blick sagte sie: „Doch, Chris, es stimmt. Du sollst Dich um diese Angelegenheiten kümmern. Die Chefin hat mir gesagt, das Du von dem anderen Fall abgezogen bist und hat mich angewiesen, Dir diese Aufgabe zuzuteilen.“
    Sie hielt ihm einen gefalteten Zettel entgegen. „Hier, lies selbst!“ forderte sie ihn auf.


    In diesem Augenblick kam Semir um die Ecke. Er sah, wie Chris die Frauen zornig anfunkelte, die zwar ängstlich, aber mit entschlossener Miene vor ihm standen. Wachsam näherte er sich langsam der Szene.


    Chris, der ihn nicht bemerkte, schnaubte, riss Susanne den Zettel aus der Hand und fuchtelte ihr damit vorm Gesicht herum.
    „Weißt Du, wie wenig mich dieser Wisch interessiert?“ fauchte er. „Ich habe im Moment andere Sorgen und ich werde alles tun, um meine Familie zu finden. Engelhardt hin oder her… Und um diesen Kleinkram…“, mit einer heftigen Bewegung knallte er die Akte den Frauen vor die Füße, das diese erschrocken einen Schritt nach hinten machten, „…kann sich jemand anderes kümmern!“
    Seine Stimme wurde noch lauter, als er gereizt fort fuhr: „Und jetzt lasst mich in mein Büro!“ Dabei stemmte er fordernd seine Hände in die Hüften.


    Die Frauen bewegten sich nicht. Andreas Augen wanderten zu Semir, der neben Chris trat und ihm eine Hand auf den Arm legte.
    „Komm, Chris, beruhige Dich“, sagte er vorsichtig. „Susanne macht doch nur, was die Chefin ihr aufgetragen hat.“
    Mit einer vorwurfvollen Geste deutete Susanne auf das Blatt Papier in Chris’ Hand.
    „Und wenn er sich das mal durchlesen würde, wüsste er auch, das ich ihn nicht schikanieren will“, meinte sie mit bebender Stimme.


    Für die Dauer eines Wimpernschlags überflog ein Hauch von Mitleid Chris’ Miene, doch als er seinen Blick wieder auf Susanne richtete, war davon nichts mehr zu sehen. Er schaute ihr in die Augen und plötzlich sah er ihre unausgesprochene Bitte darin.
    Langsam hob er die Hand, faltete den Zettel auseinander und las: „WIR WERDEN BEOBACHTET! Das ist nur ein Ablenkungsmanöver! Spiel einfach mit!“


    Susanne ließ nicht ihren Blick von Chris. Sie schaute ihn von der Seite her an und hoffte, in seiner Miene einen Hinweis zu sehen. Etwas, was ihr zu erkennen gab, das er wusste, was auf dem Spiel stand.
    Doch sein Gesicht war wie versteinert.
    Sie sah, wie er einen Augenblick lang die Augen schloss, sich mit der freien Hand über die Stirn strich und anschließend mit einem tiefen Seufzer die angehaltene Luft ausstieß.


    Als er die Augen öffnete, bemerkte sie in seinen Augenwinkeln nur kurz ein Glitzern.
    Was war das: ein gefährliches,… ein wütendes,… ein frustriertes,… ein ärgerliches Glitzern?
    Oder doch ein verstehendes,… ein spitzbübisches,… ein listiges Glitzern?


    Sie konnte es nicht zuordnen und versuchte in seinen Augen zu lesen. Jedoch hielt Chris noch immer seinen Blick gesenkt und starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand.
    ‚Oh, bitte, Chris! Gib mir einen Wink, das Du mich verstehst!’ flehte Susanne in Gedanken.


    Nach endlos langen Sekunden hob Chris seinen Kopf. Demonstrativ knüllte er den Zettel vor ihrem Gesicht zusammen und während er sie mit verzeihenden Augen anblickte, fauchte er laut: „Das weiß ich doch alles selber, was da steht.“
    Unwirsch nahm er mit seiner Linken ihre Hand und legte ihr das Papierknäuel hinein. Bevor er weiter sprach, drückte er leicht ihre Finger und sah sie eindringlich an.


    Für den Bruchteil einer Sekunde lag Unverständnis in ihren Augen, dann bemerkte er ihr verstehendes Aufleuchten darin. Sie hatte verstanden, was er mit den kleinen Gesten bezweckte und atmete innerlich erleichtert auf.
    Anschließend stieß er ihre Hand von sich und blaffte: „Und selbst wenn dieser Erlass vom Papst unterschrieben ist. Es interessiert mich nicht!… Und jetzt lass mich vorbei!“


    Er packte sie grob am Arm, zerrte sie von der Tür weg und stieß sie von sich weg. Andrea und Semir, die das stillschweigende Einverständnis zwischen Chris und Susanne nicht wahr genommen hatten, reagierten entgeistert.


    Susanne, die ein, zwei Schritte rückwärts stolperte, fing sich recht schnell. Andrea schrie erschrocken auf und eilte ihrer Freundin zur Hilfe.
    Auch Semir war über diesen Akt der Gewalt gegenüber Susanne entsetzt und riss Chris am Arm herum. „Sag mal, was sollte das denn jetzt?“ schrie er ihn an.


    Doch bevor Chris zu einer Antwort ansetzen konnte, baute sich Andrea wie eine wütende Furie vor ihm auf. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und in ihren Augen loderte ein gefährliches Feuer.
    „Wag es nicht noch einmal, so mit einem von uns umzugehen!“ zischte sie. „Falls Du es vergessen haben solltest: Wir alle wollen Dir helfen und versuchen Dich unterstützen. Doch wenn Du unsere Hilfe nicht möchtest, dann sag Bescheid. Wir können auch ganz schnell verschwinden!“
    Mit ihrem rechten Zeigefinger tippte sie energisch auf seine Brust: „Habe ich mich klar ausgedrückt?“


    Semir registrierte Chris’ wütendes Gesicht und stellte sich schnell zwischen die Fronten. Beschwichtigend hob er die Hände: „Jetzt werden wir alle mal ganz ruhig.“
    Als Andrea Luft holte, um zu einem Widerspruch anzusetzen, sah er sie energisch an: „Nein, kein Wort mehr!“
    Aufmerksam beobachtete er die beiden, die sich noch immer giftig anfunkelten.


    Susanne, die hinter Andrea getreten war, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter: „Ist schon ok, Andrea. Es ist ja nichts passiert.“
    Semir nickte bedächtig und sagte nach einer Weile: „Genau,… niemandem ist etwas passiert und das wollen wir auch so belassen. Wir sind alle übermüdet, überarbeitet und im Moment extrem gereizt. Keiner meint das, was er im Augenblick von sich gibt, so wie er es sagt.... Stimmt`s?“
    Auffordernd wanderte seinen Blick zwischen den Einzelnen hin und her. Andrea wollte immer noch erbost widersprechen, unterließ es aber, als sie Semirs warnende Handbewegung sah.


    Einige Sekunden herrschte anspannte Stille im Raum.
    Ein verlegendes Räuspern war plötzlich zu hören und alle Köpfe drehten sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
    Siggi stand an Hottes Schreibtisch und hielt eine Akte hoch. Mit unsicherer Stimme wandte er sich an Susanne: „Ich habe gefunden, wonach Du gesucht hast.“


    Langsam lösten sich alle aus ihrer Starre.
    Susanne ging zu Siggi und Andrea setze sich hinter den Schreibtisch, nicht ohne jedoch noch einen letzten bösen Blick in Chris’ Richtung zu werfen.
    Semir schob seinen Partner ins Büro und schloss die Tür hinter sich.


    Susanne beobachtete, wie die beiden Männer sich eine Zeit lang ein hitziges Wortgefecht lieferten, konnte aber nicht verstehen, worum es ging. Nach einer Weile stellte sich Chris mit verschränkten Armen an seinem Schreibtisch und ließ die wütenden Worte von Semir mit unbewegtem Gesicht über sich ergehen.
    Doch je wortkarger Chris wurde, desto mehr schien sich Semir aufzuregen. Wieder und wieder deutete er mit einer Hand zu den Frauen und tobte wie ein HB-Männchen.


    Als Semir einmal Luft holte, um zu neuen Vorwürfen anzusetzen, zeigte Chris plötzlich auf seinen Arbeitsplatz und sagte etwas. Sie sah, wie Semir abrupt mit seiner Schimpferei inne hielt, tief Luft holte und anschließend eine ungehaltene Handbewegung tat.
    Dann setzten sich die beiden Männer an ihre PCs und wendeten sich schweigend den Papieren zu. Die Sekretärin warf Siggi einen bedeutenden Blick zu und beide gingen zurück an ihre Arbeit...

  • Als das Mausgesicht zur selben Zeit auf den kleinen Parkplatz bog, sah er den Wagen von Gehlens Anwalt schon von weitem. Er stellte sein Auto direkt daneben und ließ die Scheibe herunter.


    Auch Janzen ließ die Scheibe an seiner Beifahrertür herunter. Erwartungsvoll beugte er sich vor und blickte das Mausgesicht an: „Und…? Haben Sie was für mich?“
    „Klar!“ schnaubte die Maus und rümpfte die spitze Nase. „Sonst wäre ich wohl nicht hier, oder?“
    Im stillen dachte er bei sich: ‚Warum stellen gebildete Leute immer so dumme Fragen?’


    Mit seiner rechten Hand öffnete er das Handschuhfach, holte eine CD-Hülle heraus und knallte die Klappe wieder zu. Er hielt sie hoch und schwenkte sie ein bisschen hin und her. Mit einem breiten Grinsen sagte er: „Das hier wird Ihrem Kunden gefallen. Wir haben etwas heraus gefunden, was diesem Ritter endgültig das Genick bricht.“
    Dann reicht er die Hülle herüber und Janzen nahm sie mit neugierigem Blick entgegen. „Sagen mir, was darauf zu sehen ist?“


    Ein sadistischen Lächeln breitete sich in den spitzen Gesichtszügen aus: „Lassen Sie sich überraschen. Aber ich kann Ihnen schon einmal verraten: Der ‚Doc’ hat wieder eines seiner Experimente gemacht.“
    Janzens Kopf, der mit seinen Augen die CD betrachtete, zuckte ruckartig nach oben und blickte erschrocken sein Gegenüber an.
    Das Mausgesicht zog bedauernd die Mundwinkel nach unten und schüttelte leicht den Kopf: „Ist nicht schön mit anzusehen. Wirklich nicht!“


    Abwehrend hob der Anwalt die Hand: „Sagen Sie nichts weiter. Ich kann es mir gut vorstellen. Ich habe schon genug Opfer von den so genannten „Experimenten“…“, mit seinen Zeigefingern machte er dabei die Gesten von Anführungszeichen, „… des ‚Doc’ gesehen! Mich wundert nicht, das er seine Zulassung als Arzt verloren hat.“


    Das Mausgesicht grinste schief: „Tja, manche Talente lassen sich leider nicht für legale Zwecke verwenden. Die Erfahrung mussten mein Bruder und ich auch machen.“
    Bedauernd zuckte er mit den Schultern und fuhr dann im Plauderton fort: „Wie dem auch sei… Ich bin jetzt auf den Weg zurück zu Borchert. Er will nachher noch einen Film mit der Frau drehen. Gemeinsam mit Lorenz haben die beiden sich eine neue Gemeinheit ausgedacht.“
    Verschwörerisch fügte er hinzu: „Diesmal wollen sie, das der Bulle alles mitbekommt.“


    Janzen pfiff anerkennend. „Respekt!“ sagte er nur, dann dachte er kurz nach: „Bekomme ich den Film noch vor morgen früh? Gehlens Rachegelüste sind unersättlich und wenn er morgen vor der Verhandlung noch etwas zu sehen bekäme, würde ihm das bestimmt gefallen!“
    „Das lässt sich machen“, nickte die Maus. „Wir lassen Ihnen das Material rechzeitig zukommen.“


    Janzen wollte gerade bestätigend zustimmen, als ihm etwas einfiel: „Ich bin heute den ganzen Nachmittag unterwegs. Bringen Sie das Material in meine Kanzlei. Ich hole es mir heute Abend von dort ab.“
    „Alles klar! Ich richte es Borchert aus“, erwiderte das Mausgesicht, hob zum Abschied die Hand und startete den Wagen.


    Innerhalb von Sekunden war er vom Parkplatz verschwunden und Janzen blickte ihm nachdenklich hinterher. Er hoffte, das Borcherts Leute nicht zu viel versprochen hatten und Gehlen wirklich gefiel, was auf der CD zu sehen war. Sein Mandant konnte, und das wusste er nur zu gut, äußert unangenehm werden.


    ‚Wenn morgen alles glatt geht, ist Gehlen schon bald ein freier Mann’, dachte er zuversichtlich. Mit einem zufriedenen Grunzen malte er sich Gehlens Dankbarkeit aus. Auch wenn mit der alte Gehlen sonst ein harter Geschäftspartner war, der keine Fehler duldete, wusste Janzen aber auch, das er sehr großzügig sein konnte.
    Vorausgesetzt,... alles so lief, wie er sich das vorstellte.


    ‚Das wird schon klappen! Bis jetzt haben Lorenz und Borchert gute Arbeit geleistet“, dachte der Anwalt leise vor sich hinlächelnd, startete sein Auto und fuhr in die andere Richtung davon.





    „Und? Hörst Du was?“ fragte Jakob flüsternd und setzte schwer atmend von seiner Arbeit ab. Johanna nahm ihr Ohr vom Schlüsselloch, schaute ihren Bruder tadelnd an und schüttelte den Kopf.
    „Nein!“ flüsterte sie zurück. „Ich sage Dir schon rechtzeitig Bescheid wenn ich etwas höre.“ Sie machte eine auffordernde Handbewegung: „Und jetzt mach weiter!“


    Jakob warf seiner Schwester einen skeptischen Blick zu, wandte sich aber wortlos wieder seiner Beschäftigung zu. Mit einem Stück Metall, welches er vom alten Bett entfernt hatte, bearbeitete er die Schrauben an den Brettern. Unter größter Kraftanstrengung hatte er bereits zwei gelöst, doch es reichte bei weitem noch nicht.
    Er musste noch mindestens sechs weitere lösen, um wenigstens Johanna die Chance für eine Flucht zu ermöglichen.
    Nur das zählte für ihn im Moment und ließ ihn die Schmerzen an den Händen und in den Armen vergessen. Verbissen arbeitete er weiter…

  • Langsam hob Gaby den Kopf und mit ihrer linken Hand wischte sie sich übers Gesicht, um sich die Tränen zu trocknen. Anschließend fühlte sie tastend nach ihrer Wunde auf der Stirn. Befremdlich stellte sie fest, das sie dort ein Pflaster hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wie es dort hingekommen war.
    Vorsichtig tastete sie weiter und spürte, das die Schwellung etwas zurück gegangen war. Auch der Schmerz war nicht mehr so intensiv und das Fieber schien gesunken zu sein.


    Sie lehnte ihren Kopf gegen die Wand, schloss für einen Augenblick die Augen und seufzte zittrig.
    Sie hatte Angst… schiere, blanke Angst!


    Dieses lähmende Gefühl hatten in den letzten Stunden von ihren Gedanken Besitz ergriffen und hielt sie wie in einem Eisenkäfig gefangen. Das Gefühl der kalten Angst hatte sie fest im Griff!
    Und so sehr sie auch versuchte, an etwas anders zu denken oder sich Mut zuzusprechen, sie scheiterte jedesmal kläglich. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, sich dagegen zu wehren!


    Die empfundene Angst wurde immer stärker,...
    baute sich wie eine unüberwindbare Festung vor ihr auf,...
    ließ sie frösteln,...
    nahm ihr die Luft zum Atmen,...
    machte sie mürbe...


    In ihrem Leben hatte sie schon oft Angst verspürt, doch sie war immer mit der Sorge um andere bestimmt gewesen:
    Um die Kinder, wenn sie krank oder verletzt waren,…
    um ihrem Mann, als er mit dieser schrecklichen Krankheit kämpfte,…
    um die Zukunft, als ihr Mann verstorben war,…
    um ihrem Bruder, als er um sein Leben rang…


    Diese Sorgen hatten sie stets neue Energien frei setzen lassen und ihr Kraft gegeben durchzuhalten. Immer war sie stark geblieben und hatten den Menschen, die ihr so viel bedeuteten, unterstützt,… ihnen Mut gemacht,... ihnen einen festen Halt geboten.
    Immer hatte sie gekämpft, nie aufgeben!


    Als ihr Mann gestorben war, hatte sie erst Angst vor der Zukunft gehabt. Doch für die Kinder hatte sie stark sein müssen. Schnell wurden ihr durch sie neue Perspektiven aufgezeigt und mit dem neuen Ziel vor Augen hatte sie die Aufgabe angenommen.
    Die Zeit hatte die tiefe Wunde geheilt und Chris’ Unterstützung in diesen schweren Wochen war von unschätzbaren Wert gewesen. Schnell war damals die Angst verflogen und Zuversicht gab ihr neue Hoffnung.


    Was sie allerdings im Moment durchmachte, war etwas ganz anderes.
    Diese Angst war bedrohlicher: Es war existenzielle Angst!


    Sie fürchtete sich nicht vorm Sterben.
    Nein,... Angst vorm Sterben hatte sie noch nie gehabt. Sie wusste, dass das Sterben zum Leben gehört wie der Schatten zum Licht. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass das Sterben auch Erlösung bedeuten kann.


    Nie würde sie das sanfte Lächeln ihres Mannes vergessen, das seine Mundwinkel umspielte, als er den letzten Atemzug tat.
    Ein Lächeln, das seinen Sieg über die erlittenen Schmerzen und das durchmachte Leid darstellte.
    Ein Lächeln, das ihr zeigte, das er im Reinen mit sich gestorben war. Es hatte ihr Trost und Zuversicht geschenkt in den ersten, schweren Tagen nach seinem Tod.


    Aber sie hatte Angst davor, in Ungewissheit zu sterben…
    Ungewissheit darüber, was mit den Menschen, die ihr wichtig waren, geschehen war. Wenn sie wüsste, das diese Menschen in Sicherheit waren, könnte sie in Ruhe gehen.
    Doch sie wusste nicht, wo sie waren oder was mit ihnen passiert war.


    Wo waren die Kinder? Lebten sie noch?
    Warum durfte sie Johanna und Jakob nicht sehen? Was war mit ihnen geschehen?


    Wenn sie die beiden noch einmal sehen,... noch einmal in den Arm nehmen,… noch einmal berühren,... noch einmal sprechen dürfte...
    Wenn sie sehen würde, das es ihnen gut ging,... das sie wohlauf waren,... das sie in Sicherheit waren,...
    dann wäre sie bereit, alles über sich ergehen zu lassen!


    Ihre Gedanken schweiften zu ihrem Bruder und sie musste an seine Vergangenheit denken. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie ihre Angst und hoffte für ihn, das er stark blieb,… das er seine private Hölle überwinden konnte.
    Doch sie wusste auch, das er zur Zeit ohne Rückhalt war und sie hatte erlebt, was aus ihm wurde, wenn er sich hilflos fühlte. Sie fürchtete sich um ihn.


    Aber im gleichen Moment kam ihr ihre eigene Situation wieder in den Sinn und neue Fragen fraßen sich durch ihr Innerstes: Wo war Chris? Was tat er gerade? Versuchte er sie immer noch zu finden oder glaubte er, sie seien bereits tot? Hatte er vielleicht schon aufgegeben? Sonst wäre er doch bestimmt schon hier!?


    Ihr nagender Zweifel auf Rettung durch ihren Bruder wurde immer größer... und doch klammerte sie sich an den letzten, verbliebenen Funken Hoffnung wie an einen Strohhalm!


    Nach einer Weile hob sie langsam ihre Lider und ihr Blick ging in Richtung Tür.
    Sie dachte an den Mann, mit den eisblauen Augen, der ihr so entsetzliche Furcht einflößte. Noch nie hatte sie, allein bei dem Gedanken an einen Menschen, so etwas verspürt.


    In ihren Ohren erklang leise seine lüsterne Stimme: „Ich hole Dich nachher und dann werden wir unseren Spaß haben!“ Dabei meinte sie seine verlangenden Finger auf ihrer Haut zu spüren.


    Kaltes Grauen überkam sie, wenn sie daran dachte, das dieser Mann jeden Moment zurück kommen könnte. Was hatte er mit ihr vor?
    Sie wollte nicht darüber nachdenken, aber grauenhafte Bilder stiegen vor ihrem inneren Auge empor. Würde er sich auf sie stürzen und sie vergewaltigen? Oder würde er sie gar den anderen Männern überlassen?


    Ein eiskalter Schauer durchlief sie. Eng schlang sie die Arme um ihren Körper.
    In ihrer Erinnerung sah sie die vielen Männer,... große, kräftige Männer,... Männer, die nicht zimperlich waren,... die vielleicht abartige Phantasien hatte,... die...


    Ein noch viel schlimmerer Gedanke flammte plötzlich hinter ihrer Stirn auf: ‚Johanna! Die Männer könnten sich auch Johanna vornehmen!’
    Gequält stöhnte sie auf. ‚Nein…!’ schrie ihre Seele verzweifelt und etwas versetzte ihrem Herzen einen eiskalten Stich. ‚Nein!… Das darf nicht passieren! Dann sollen sie sich lieber auf mich stürzen.’


    Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht. Lautlose Tränen rannen über ihre Wangen und sie schmeckte den salzigen Geschmack auf ihren Lippen.
    Noch einmal sah sie Richard vor sich, wie er vor ihren Augen umgebracht wurde. Getötet,... nur weil sie sich nicht an die Vorschriften der Geiselnehmer gehalten hatte,... nur weil sie versucht hatte, sich und die Kinder zu retten...


    ‚Wenn die Kidnapper das nächste Mal kommen, läßt Du alles über Dich ergehen. Du wirst nach ihren Regeln spielen. Sie können mit Dir machen, was sie wollen!... Hauptsache, sie lassen Jakob und Johanna in Ruhe!’ schwor sie sich erschöpft.


    Und in diesem Augenblick geschah etwas, was niemand, der sie kannte, für möglich gehalten hätte:
    Sie gab vollends auf!


    Alle Hoffnung versiegte,… alles Vertrauen verflog,… alle Stärke löste sich in Rauch auf…
    Sie spürte nur noch Müdigkeit,… Angst,… Kraftlosigkeit…


    Bevor der letzte Funke Hoffnung wie eine sterbende Kerze in ihr erlosch, dachte sie entmutigt bei sich: ‚Warum bist Du nicht gekommen, Chris? Warum hast Du uns im Stich gelassen?’

  • In dem Augenblick, als Hotte und Bonrath mit Paul den Wald betraten, beendete die Chefin ihr Telefonat mit Thorsten Landwehr. Sie hatte bei ihm ein SEK eingefordert und der Einsatzleiter versprach, innerhalb von zwanzig Minuten persönlich mit seiner Truppe da zu sein.


    Zwei Minuten später bog sie mit ihrem Wagen auf den Parkplatz und stellte das Auto ab.
    Hartmut, der während der Fahrt recht schweigsam gewesen war, blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Etwas beschäftigte ihn, das konnte man deutlich sehen.
    „Woran denken Sie?“ unterbrach Anna seinen Gedankenfluss.


    Blinzelnd drehte sich Hartmut zu ihr: „Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie die Gangster eine einwandfrei Übertragung gewährleisten konnten. Ich kenne diese drahtlosen Geräte. Sie haben nur eine begrenzte Reichweite. Wenn das Signal über eine größere Entfernung gesendet werden soll, läuft das Signal in den meisten Fällen über einen Verstärker. Der wiederum muss sich in der Nähe der PAST befinden, sonst werden die Signale nicht sauber gesendet. Der Empfänger allerdings kann in einer Entfernung von bis zu fünf Kilometer stehen.“


    Annas Augen weiteten sich erschrocken: „Wollen Sie damit sagen, das sich die Kidnapper ganz in der Nähe befinden?“
    Bestätigend nickte Hartmut, dann schaute er sie fragend an: „Ist Ihnen in den letzten Wochen etwas ungewöhnliches außerhalb der Dienststelle aufgefallen?… Ein Handwerker, ein Elektriker, ein Monteur oder ähnliches?… Jemand, der sich an einem Stromkasten oder an den Außenleitungen zu schaffen gemacht hat?“


    Langsam schüttelte die Chefin den Kopf: „Nein, nicht das ich wüsste…“
    Sie zögerte und dachte noch einmal nach. Nach einigen Sekunden flackerte in ihren Augen eine Erinnerung auf. „Obwohl,… wenn ich mich recht entsinne. Wir hatten vor knapp drei Wochen Schwierigkeiten mit unserer Telefonanlage. Susanne hatte einen Techniker angefordert und noch am selben Tag wurde das Problem behoben.“


    „Wissen Sie, was für Arbeiten er getan hat?“ wollte Hartmut wissen.
    Bedauernd antwortete Anna: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. An dem Tag war ich die meiste Zeit bei einer Besprechung im Präsidium. Susanne könnte Ihnen da vielleicht weiter helfen.“
    Sofort holte er sein Handy hervor und rief die Sekretärin an…






    Anhand des Display konnte Susanne sofort erkennen, das Hartmut sie anrief. Mit dem Wissen, das sie beobachtet wurde, nahm sie den Hörer ab und begrüßte ihn mit einem freundlichen: „Hallo, Hartmut!“
    Sie musste leicht schmunzeln, als sie seine gehaspelte Begrüßung hörte. „Was kann ich für Dich tun?“ fragte sie leichthin.


    Während Hartmut ihr erklärte, was er wissen wollte, nickte sie ab und zu. Nach einer Weile stand sie mit den Worten: „Warte mal kurz, ich habe die Unterlagen hier irgendwo.“ auf, ging zu einem Schrank und holte einen Aktenordner hervor. Sie legte ihn auf Bonraths Schreibtisch ab, blätterte suchend darin herum und entnahm schließlich ein Blatt Papier.


    „Ich habe gefunden, was Du benötigst. Soll ich es Dir einscannen und rüberschicken?… OK, mache ich… Bis später, Hartmut!“
    Innerhalb von fünf Minuten schickte sie die benötigten Informationen auf Hartmuts Handy…






    Sein Instinkt schlug Alarm!
    Etwas war anders… nur was?


    Nervöse Unruhe breitete sich in ihm aus. Sie kroch kribbelnd an seinen Nerven entlang und ließ seine Sinne vibrieren. Sein Gefühl warnte ihn, doch er konnte nicht erkennen, wovor es ihn warnte.


    Angespannt legte die Ratte den Kopf schief und betrachtete das Geschehen auf den Bildschirmen. Dieser Gerkhan hatte vor ein paar Minuten seinem Partner Ritter gehörig den Kopf gewaschen. Seitdem saßen sie in ihrem gemeinsamen Büro, schwiegen sich wütend an und würdigten sich während ihrer Arbeit keines Blickes.
    Die Sekretärin nahm weiterhin Anrufe entgegen, tippte gelegentlich etwas in ihren PC oder sortierte Akten.


    Die Frau von Gerkhan war ins Zimmer verschwunden, in dem ihre Tochter schlief und dieser andere Polizist, den sie alle Siggi nannten, saß gelangweilt hinter seiner Funkstation. Ab und zu suchte er der Sekretärin Unterlagen heraus, holte sich Kaffee oder gähnte herzhaft.


    Es war alles wie sonst auch.
    Und trotzdem,... etwas stimmte nicht!
    Da war er sich ganz sicher!


    Zu lange schon beobachteten er und sein Bruder Menschen mit versteckten Kameras. Im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, die Reaktionen der beobachteten Personen gut abschätzen zu können.
    Menschen, die wussten, das sie beobachtet werden, verhalten sich plötzlich anders. Sie versuchen so normal wie sonst auch zu wirken.


    Doch es sind die Kleinigkeiten, die sie verraten: veränderte Stimmlage, unregelmäßiges Atmen beim Sprechen, häufiges Blinzeln, übertriebenes Lachen, ausholende Gesten oder unruhige Augen.
    Und gerade spürte er genau, dass eine Veränderung eingetreten war. Aber welche?


    Nach einigen Minuten holte er eine kleine Box mit CDs hervor. Nachdenklich suchte er mehrere heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.
    Lorenz, der das Treiben der Ratte befremdlich verfolgt hatte, fragte nun: „Was machst Du da?“
    „Ich will mir mal einige Szenen anschauen, die wir in den letzten Wochen zusammengeschnitten haben“, antwortete das Rattengesicht.


    „Warum?“ wollte Lorenz wissen. „Du solltest lieber die Monitore im Auge behalten.“
    „Ja, ja!“ beschwichtigte er Lorenz gereizt. „Ich kann beides. Habe schließlich jahrelange Erfahrung.“
    Lorenz blieb stumm und beobachtete, wie die Ratte die oberste CD nahm und in ein Laufwerk legte...

  • Als die Daten bei Hartmut ankamen und er sie gelesen hatte, nickte er, stieg murmelnd aus dem Auto aus und lief quer über den Parkplatz. Anna, die ihn zum wiederholten Male fragte, was den los sei und keine Antwort bekam, versuchte mit ihm Schritt zu halten. Sie sah, wie er rechts um das Gebäude lief und folgte ihm.


    Kaum bog sie um die Ecke, prallte sie fast mit dem jungen Mann zusammen. Hartmut stand an einem Stromverteiler und öffnete gerade mit seinem Universalwerkzeug, welches er immer bei sich trug, den Kasten.
    „Hartmut!“ entfuhr der Chefin. „Was machen Sie da?“


    Ohne ihr zu antworten, hockte sich Hartmut murmelnd davor und ließ seinen Blick über die vielen, unzähligen Drähte, Kondensatoren, Widerstände, Schalter und Leuchtdioden schweifen. Vorsichtig schob er mehrere Kabelstränge beiseite oder betätigte einige Knöpfe.
    Dann weckte etwas seine Aufmerksamkeit. Hinter einer Kunststoffverkleidung hing eine kleine, schwarze Plastikbox an einem blauen Draht und ein grünes LED-Licht blinkte in regelmäßigen Abständen. Rasch wechselte er an seinem Werkzeug den Aufsatz und mit dem Schraubendreher öffnete er vorsichtig die winzige Box.


    Er hörte, wie ihn die Chefin skeptisch fragte: „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun?!“
    Hartmut unterbrach für einen Augenblick sein Tun und flüsterte verlegen in ihre Richtung: „Das hoffe ich auch!“
    Den panischen Blick, den Anna Engelhardt ihm zuwarf, spürte er deutlich in seinem Nacken.


    Zu seinem Glück bog in dem Moment ein großer, dunkelroter Lieferwagen auf den Parkplatz. Rasch stand er auf und winkte dem Fahrer zu, der das Auto kurz darauf vor Hartmut zum Stehen brachte.


    Hartmut öffnete die Seitentür und stieg in den Van. Während er den Fahrer mit einem freundlichen: „Hallo, Klaus!“ begrüßte, schaltete er die Geräte ein und setzte sich auf einen Hocker.
    Klaus Bering setzte sich neben Hartmut, faltete die Hände und streckte sie von sich. Nachdem es in den Knöcheln mehrmals geknackt hatte, löste er seine Hände, bewegte sie wie ein Klavierspieler in der Luft und legte sie anschließend auf die Tastatur eines Laptops. Erwartungsvoll richtete er seinen Blick auf Hartmut: „Was suchen wir?“


    „Die Frequenz von drahtlosen Wanzen der Marke „Lynx“ und ihren Empfänger“, erläuterte Hartmut.
    Klaus lächelte: „Kinderspiel!“ und seine Finger flogen über die Tasten.
    Anna stand in der geöffneten Tür und beobachtete, wie auf einem der vielen Bildschirme elektronische Spannungsbögen sichtbar wurden.
    Ohne von seiner Arbeit aufzusehen, fragte Klaus: „Hast Du auch eine Typennummer?“
    Eifrig nickte Hartmut: „Der Verstärker stammt auf jeden Fall aus der 9er-Serie.“
    „Wow!“ Anerkennend schnalzte Klaus mit der Zunge. „Das neuste Modell! Schwierig,… aber zu knacken! Das haben wir gleich.“


    Leise summend arbeitete Klaus vor sich hin und Hartmut verglich auf verschiedenen Monitoren endlose Zahlengebilde. Zwischendurch gab er immer wieder neue Daten in den Computer ein, worauf sich die Darstellung der Spannungsbögen ständig veränderten.
    Anna, die von diesen Dingen nichts verstand, schaute ratlos von einem zum anderen. Gerne hätte sie erfahren, was die beiden taten, aber sie wollte die Männer nicht in ihrer Konzentration stören.


    Nach fünf Minuten wurde ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Parkplatz gelenkt, als dort drei dunkle Limousinen und ein schwarzer Kastenwagen auftauchten. Während die Autos geparkt wurden und die Männer des SEK ausstiegen, wandte sich Anna um und ging ihnen mit einem Lächeln entgegen. „Sie haben sich aber beeilt!“ schmunzelte sie.


    Thorsten Landwehr, der im ersten Wagen gesessen hatte, kam mit energischen Schritten auf Anna zu, reichte ihr zur Begrüßung die Hand und lächelte zurück: „Hallo Frau Engelhardt!“ Dann wurde er ernst und fragte: „Sie haben eine neue Spur?“ Dabei nickte er mit dem Kopf in Richtung Lieferwagen.


    Seinen Händedruck erwidernd, antwortete sie ihm mit einem Seufzen: „Ich hoffe es. Herr Freund ist an der Sache dran.“
    Gemeinsam gingen sie zu der geöffneten Tür und der SEK-Leiter steckte den Kopf hinein. „Was haben wir, meine Herren?“ wollte er wissen.


    Klaus warf schnell noch mal einen Kontrollblick auf den Bildschirm. Schließlich wandte er sich mit einem breiten Grinsen um und auch auf Hartmuts Gesicht war ein zufriedener Ausdruck zu erkennen.
    Die beiden Männer tauschten kurz einen Blick miteinander, dann ergriff Hartmut das Wort: „Wir haben durch ein automatisches Suchprogramm die ganze Bandbreite verschiedener Frequenzen abgetastet. Sobald dieses Programm den Bruchteil einer Frequenz erfasst, berechnet es die fehlenden Höhen oder Tiefen und versucht durch Hinzufügen aller Möglichkeiten die richtige herauszufinden. Anschließend wird die Frequenz durch langsames Herantasten übernommen und irgendwann überlagert. So bekommt der Empfänger nichts mit und…“


    „Hartmut!“ zischte Anna hinter einem gequälten Lächeln zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Können Sie uns jetzt sagen, wo die Entführer sind, oder nicht?“
    Verlegen schluckte Hartmut: „Wo sich die Entführer befinden, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen sagen, wo der Empfänger der Wanzen steht.“


    Erwartungsvolle Blicke waren auf ihn gerichtet. Doch als nach einer Pause keine Antwort kam, machte Anna eine ungeduldige Handbewegung: „Ja,… und wo?“
    Endlich begriff der junge Mann und stotterte eine Entschuldigung. Hastig griff er nach hinten, nahm einen Zettel zur Hand und reichte ihn der Chefin.


    Nach einem kurzen Blick darauf, weiteten sich ihre Augen verwundert. „Und Sie sind ganz sicher, dass sie sich dort befinden?“ hakte sie nach.
    Entschlossen bestätigte Hartmut mit einem Nicken.
    Thorsten Landwehr nahm das Blatt Papier, welches sie ihm entgegen hielt, überflog es knapp und fragte: „Sie wissen wo das ist?“


    „Klar!“ Ihr Erstaunen war nicht zu überhören. „Es handelt sich um den Rastplatz keine fünf Minuten von hier entfernt.“ Dabei deutete sie mit einer Hand in die entsprechende Richtung. „Er ist eigentlich wegen Bauarbeiten gesperrt. Das alte Kiosk soll modernisiert und das Außengelände erneuert werden. Ich habe mich schon gefragt, wann die Arbeiten beginnen sollten. Denn außer einigen Baufahrzeugen und einem Bauwagen, die seit gut zwei Wochen dort stehen, ist noch nichts passiert. Ich wollte mich schon bei den zuständigen Behörden erkundigen.“


    „Und es kann sich ganz sicher nicht um den Ort handeln, an dem sich die Entführer aufhalten?“ wollte Landwehr wissen.
    „Nein“, schaltete sich Hartmut wieder ins Gespräch ein und schüttelte den Kopf. „Die Pläne, die wir gefunden habe, sind eindeutig von einem mehrstöckigen Haus.“
    Nachdenklich schauten sich Anna und Landwehr an. „Wir müssen der Sache auf jeden Fall auf den Grund gehen. Es ist unsere einzige Chance!“ seufzte die Chefin.


    „Überlassen Sie das mir und meinen Leuten. Wir machen das schon“, zwinkerte ihr der Einsatzleiter aufmunternd zu. Dann wandte er sich um, rief einen seiner Männer herbei, reichte ihm den Zettel und wies ihn an: „Besorgen Sie uns eine Karte, auf der das Gelände rund um den Rastplatz angezeigt wird sowie einen Bauplan des sich darauf befindlichen Gebäudes.“


    Der Beamte sprintete zum Van, öffnete die hintere Tür und gab den Befahl weiter. Landwehr ging hinterher und winkte den Rest seiner Truppe zusammen. Er erklärte ihnen die Sachlage.
    Er hatte seine Ausführungen noch nicht beendet, als ihm ein halbes Dutzend Papiere gereicht wurden, auf denen alle wichtigen Informationen standen. Nach einem schnellen Blick darauf, teilte er die Männer in Gruppen ein und wies ihnen ihre Aufgaben zu.


    „Noch Fragen?“ wollte er zum Abschluss wissen. Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. „Gut! Dann lassen Sie uns losfahren.“
    Sofort verteilte sich die Truppe auf die Fahrzeuge und die Motoren wurden gestartet.
    Landwehr winkte Anna zu sich. „Wenn Sie möchten, können Sie bei mir mitfahren“, bot er ihr an.


    Sie zögerte einen Moment. Sollte sie Chris und Semir Bescheid geben…?
    Schnell verwarf sie den Gedanken. Sie traute Chris im Augenblick nicht und sie befürchtete das er den Einsatz gefährden könnte. Hier in der PAST war er unter der Aufsicht von Semir und Susanne.
    Sollte sich vor Ort herausstellen, dass das was sie dort vorfanden im Zusammenhang mit der Entführung von Ritters Familie stand, konnte sie ihn immer noch informieren.


    Lächelnd nahm sie das Angebot von Landwehr an und bevor sie ihm folgte, drehte sie sich zu Hartmut und Klaus um und bedankte sich bei den beiden. Keine zehn Sekunden später brauste die Kolonne davon...

  • Lorenz betrachtete vergnügt die Szene auf dem Bildschirm. Dieser Ritter war immer mehr ein nervliches Wrack.
    Er nahm sich Akten vor und nach einem kurzen Blick hinein, warf er sie ungeduldig zurück auf den Stapel. Danach bearbeitete er wütend die Tasten seiner Tastatur und fluchte durch zusammen gebissenen Zähnen, als nicht das gewünschte Ergebnis anzeigt wurde. Mit den Händen rieb er sich hin und wieder übers Gesicht oder raufte sich die Haare.


    Sein Partner warf ihm gelegentlich ärgerliche Blicke zu und auf seiner Miene konnte man deutlich finstere Wolken erkennen. Ansonsten blieb er stumm.


    Das Öffnen eines Laufwerks lenkte Lorenz ab und er richtete sein Augenmerk dem Rattengesicht zu. Der wechselte zum wiederholten Mal die CD und spielte die sich darauf befindlichen Szenen ab.
    „Was machst Du da eigentlich?“ maulte Lorenz.


    Ohne zu antworten, konzentrierte sich die Ratte auf den Monitor. Seine geübten Augen suchten nach Hinweisen, die sein ungutes Gefühl bestätigten. Er prägte sich noch einmal das Verhalten, die Mimik, die Gestik und die Stimmlagen der Einzelnen ein.
    Er konnte in ihren Mienen lesen, wie in einem offenen Buch,… keine der noch so kleinen Gesten blieb ihm verborgen,… keine der feinen Nuancen in den Stimmen entging ihm…


    Und plötzlich sah er es! Da war er… der Beweis das sein Gefühl ihn nicht trog!


    Rasch bediente er einen Knopf und der Film hielt an. Auf dem Bildschirm war eine Szene eingefroren, die vorletzte Woche gemacht worden war. Darauf erkannte Lorenz wie die Sekretärin telefonierte.
    „Warum hältst Du den Film an der Stelle an? Da ist doch nichts besonderes zu sehen“, meckerte Lorenz.


    Wieder antwortete das Rattengesicht nicht. Statt dessen bediente es einen Schalter und auf einem anderen Monitor liefen die Szenen der letzten zwanzig Minuten rückwärts. Als die Stelle zu erkennen war, wie die Sekretärin mit diesem Hartmut telefonierte, ließ er das Band normal ablaufen. Noch einmal verfolgte die Ratte jede Einzelheit.


    Unwillkürlich zog er plötzlich die Luft ein, seine Augen verengten sich und er beugte sich gespannt nach vorn. Mit einem Knopfdruck hielt er auch diesen Film an.
    Da war es wieder!… Jetzt war sich ganz sicher mit seiner Vermutung!


    Lorenz war unterdessen irritiert. Er wusste nicht, was dieses ganze Theater sollte und das sonderbare Verhalten seines Technikers machte ihn langsam nervös. Ungehalten fuhr er ihn an: „Hättest Du mal die Güte, mir zu sagen, was los ist? Warum machst Du hier so einen Aufstand?“


    Ohne seinen Blick von den Szenen abzuwenden, deutete die Ratte auf den zweiten Bildschirm und stieß erschrocken hervor: „Die wissen Bescheid!“

  • Hotte blieb zum wiederholten Male schnaufend stehen, beugte sich nach vorne vor, stützte seine Hände auf die Knie und rang schwer atmend nach Luft. Dieter drehte sich um und sah ihn mitleidig an.
    ‚Körperliche Fitness war noch nie seine Stärke’, dachte er leicht belustigt.

    Keuchend hob Hotte den Kopf und sah Paul fragend an: „Wie weit ist es denn noch? Ich dachte, Sie sagten es sei in der Nähe.“
    Paul schmunzelte: „ Wenn ich allein bin, brauche ich für den Weg normalerweise nur fünfzehn Minuten. Wahrscheinlich sind wir jetzt etwas langsamer, weil wir mehrere Personen sind. Das hält immer auf.“
    Kichernd wandte sich Dieter an Hotte: „Was Paul Dir durch die Blume sagen will ist, das Du mal wieder etwas Sport treiben solltest.“


    Abwehrend hob Paul die Hände und entrüstete sich: „Das habe ich nicht gesagt.“
    Sofort beschwichtigte ihn Bonrath mit einem Lächeln: „Schon ok. Ich wollte meinen werten Kollegen nur ein bisschen aufziehen.“ Dabei grinste er seinen Freund breit an.
    Gequält grinste Hotte zurück und richtete sich mit einem tiefen Atemzug auf. „Wir können weiter gehen“, versicherte er schnaufend.


    Paul nickte und sagte eifrig: „Wir sind auch fast da. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie das Motel durch die Bäume erkennen. Ab jetzt sollten wir versuchen leise zu sein.“ Mit vorsichtigen Schritten setzte er seinen Weg fort.


    Bonrath und Hotte, die mit ihren Blicken das Dickicht zu durchdringen versuchten, nickten und folgten dem alten Landstreicher. Nach etwa einhundert Metern blieb Paul stehen und deutete mit der Hand nach schräg rechts.
    Die beiden Polizisten folgten seinem Handzeichen mit den Augen und jetzt sahen sie das graue Gemäuer durch die Baumreihen.


    „Wenn man jetzt diesen Trampelpfad entlang geht“, Paul zeigte auf einen schmalen Weg, der durch das Unterholz führte, „kommt man bei einem Seiteneingang heraus, der direkt in den Keller führt. Diese Typen scheinen den wohl nicht bemerkt zu haben, denn sie haben dort keine Wachen aufgestellt.“
    „Wissen Sie denn, wo die Wachen stehen?“ hakte Hotte nach.
    Paul zuckte kurz mit den Schultern: „Also letzte Nacht hörte ich einen in der Eingangshalle. Und heute Morgen habe ich einen am Hintereingang bemerkt. Ob die Wachen dort immer noch stehen, kann ich Ihnen nicht sagen.“


    „Und wo befinden sich die Kinder?“ fragte Dieter neugierig, während er seine Augen an der Außenfassade des Gebäudes entlang schweifen ließ.
    Paul zeigte auf die zweite Fensterreihe: „Im ersten Stock.“
    „Und wie gelangt man ungesehen dort hin?“ wollte Dieter weiter wissen.
    „Vom Keller führt ein Gang zum Notfalltreppenhaus und von dort geht auf jeder Etage eine Tür in die Flure“, erklärte Paul.


    Bonrath nickte und schaute seinen Partner an. „Was meinst Du?“ fragte er ihn.
    Der Angesprochene wiegte den Kopf langsam hin und her.
    „Reingehen möchte ich nicht…“, kam es zögerlich von ihm. „Für solche Aktionen haben wir Spezialisten. Wir gefährden hinterher nur die Geiseln. Aber wie bekommen wir heraus, ob es sich eventuell um die Kinder von Ritters Schwester handelt?“


    Ratlos zuckte Bonrath mit den Schultern und unschlüssig blickte er sich um. Sein Augenmerk wurde auf die Autobahn gelenkt, deren Verkehrslärm zu ihnen drang. Er sah durch den schmalen Waldstreifen unzählige Autos vorbeirauschen und ihm kam ein Gedanke.
    Mehr zu sich selbst fragte er: „Wie sind die hierher gekommen? Die Zufahrt von der Autobahn ist doch gesperrt.“


    „Hinter dem Motel befindet sich eine Landstraße“, erklärte Paul und zeigte in die Richtung. „Da stehen übrigens auch die ganzen Autos von diesen Typen.“
    Wieder tauschten die beiden Polizisten einen Blick, dann wollte Hotte wissen: „Kann man sich dort hinschleichen, ohne gesehen zu werden?“
    „Aber sicher!“ nickte Paul und führte Hotte und Bonrath links durch das Dickicht...






    Chris, der immer mal wieder verstohlen auf die Uhr geschaut hatte, stand unter dem Vorwand, eine Zigarette zu rauchen, auf und wollte aus dem Büro gehen. Zuerst hielt ihn Semir auf, doch nachdem er hoch und heilig versprochen hatte, sofort zurück zu kehren, ließ ihn sein Partner gehen.


    Er hatte kaum die Bürotür geöffnet und ein, zwei Schritte getan, als Andrea mit Aida auf dem Arm aus dem Bereitschaftsraum kam. Er verlangsamte seinen Schritt und kam mit einem Ruck zum Stillstand.
    Andrea drehte sich um und blieb ebenfalls stehen, als sie Chris sah. Sie taxierten sich sekundenlang mit ihren Blicken, so das Susanne schon dachte, sie würden sich gleich wieder anfauchen. Gespannt hielt sie unbewusst die Luft an.


    Doch keiner der beiden sagte ein Wort. Ohne einen Ton setzte Chris sich plötzlich in Bewegung und ging mit energischen Schritten an ihr vorbei.
    Andrea blickte ihm hinterher, verdrehte die Augen und murmelte etwas ärgerliches. Dann ging sie in die Teeküche, um für Aida einen Brei vorzubereiten.


    Siggi suchte Blickkontakt mit Susanne und mit einer wedelnden Handbewegung deutete er an, dass das knapp gewesen sei und es fast einen weiteren Streit zwischen den beiden gegeben hätte. Mit einem Nicken bestätigte sie seine Meinung.


    Was aber weder Susanne noch Siggi gesehen hatten, war das flüchtige Augenzwinkern, welches Chris Andrea zuwarf, als er an ihr vorbei ging, noch das sie es mit dem Hauch eines Lächelns beantwortete…

  • Paul hielt immer genug Abstand zum Waldrand, damit sie nicht gehört oder gesehen werden konnten. Nach einer Weile legte er seinen Finger auf die Lippen, schlich sich nach rechts in Richtung Motel und hockte sich nach ein paar Schritten hin.


    Hotte und Bonrath taten es ihm nach. Stumm folgten sie mit ihren Blicken Pauls Finger, der zu einem freien Platz zeigte. Dort waren sechs Fahrzeuge zu sehen.
    Fast gleichzeitig erkannten sie den blauen Jeep und stießen sich gegenseitig an. Sie nickten sich eifrig zu und mit einer Handbewegung deuteten sie an, das sie zurück gehen wollten.


    Kaum waren sie in sicherer Entfernung, grinsten sie breit.
    „Das müssen sie sein!“ war sich Hotte sicher. „Dieser blaue Jeep ist bestimmt der, der gestern unsere Leute auf der Autobahn gerammt hat.“
    Mit einem bestätigenden Kopfnicken fügte Dieter hinzu: „Das sehe ich genauso!“
    „Wir sollten so schnell wie möglich die PAST benachrichtigen“, schlug Hotte vor. „Die Kollegen können der Chefin Bescheid geben. Sie kann das SEK anfordern und alles weitere in die Wege leiten.“


    „Gute Idee!“ Schon kramte Dieter sein Handy hervor und wählte eine Nummer.
    Doch eine Verbindung kam nicht zustande. Statt dessen ertönte nur ein Rauschen in der Leitung.
    „Das ist seltsam!“ murmelte er und an seinen Partner gerichtet sagte er: „Die PAST ist nicht erreichbar. Was machen wir jetzt?“
    „Wie? Ist nicht erreichbar? Das gibt es doch gar nicht!“
    „Aber wenn ich es Dir doch sage!“ begehrte Bonrath auf und hielt Hotte das Handy ans Ohr, damit dieser es selber hören konnte.


    Nachdem Hotte einen Moment gelauscht hatte, zuckte er ahnungslos die Schulter.
    „Wer weiß, wa da los ist. Vielleicht ein techischer Defekt“, mutmaßte er und dachte kurz nach. „Ruf doch Susanne an“, schlug er dann vor.
    Wieder wählte Bonrath eine Nummer und diesmal ertönte das Besetztzeichen.
    „Oh Mann, Susanne! Warum musst Du gerade jetzt telefonieren?“ maulte er.


    Wütend drückte er auf den Tasten seines Handys herum und hielt es sich anschließend ans Ohr.
    „Wen rufst Du denn jetzt an?“ wollte Hotte wissen.
    „Die Che...“, setzte Dieter zu einer Antwort an, unterbrach sich aber selber, nahm das Handy vom Ohr und starrte es ungläubig an.
    „Ja, sag mal, was ist denn da los?“ schimpfte er. „Das hat es ja noch nie gegeben!“


    Paul, der die Szene stumm beobachtet hatte, meldete sich zu Wort: „Warum rufen Sie nicht Ihren Kollegen an? Es ist doch schließlich seine Familie, oder nicht?“
    Die beiden Polizisten schauten sich unentschlossen an, dann hob Dieter abwehrend die Hände: „Also, ich mache es nicht! Du kannst das machen. Dich mag er anscheinend lieber.“
    „Wie bitte?“ empörte sich Hotte. „Wie kommst Du denn auf diese blöde Idee?“
    „Na, immerhin hat er Dir letzte Woche einen Kaffee an den Schreibtisch gebracht“, schmollte Dieter. „Das hat er bei mir noch nie gemacht!“


    „Das hat er doch nur gemacht, weil wir einige Berichte zusammen durchgegangen sind“, rechtfertigte sich Hotte.
    „Ich habe ihm auch schon oft bei den Berichten geholfen. Und trotzdem hat er mir noch nie einen Kaffee gebracht!“ entrüstete sich Dieter.
    „Jetzt mach aber mal halblang!“ ereiferte sich Hotte. „Wenn es Dir denn so viel bedeutet, werde ich Dir morgen so viel Kaffee an deinen Tisch bringen, wie Du möchtest.“
    Eingeschnappt zog Bonrath die Mundwinkel nach unten: „Das ist nicht das selbe!“


    „Dieter,… Du treibst mich noch in den Wahnsinn!“ schimpfte Hotte und wühlte in seiner Jackentasche nach seinem Handy. „Ich rufe jetzt Semir an!“
    „Toll! Das hätte ich auch gekonnt!“ grummelte Bonrath beleidigt und fügte hämisch hinterher: „Pass mal auf!… Ist bestimmt besetzt!“
    Hotte verdrehte die Augen und lauschte in den Hörer. Plötzlich fing er an zu grinsen: „Hallo Semir! Herzberger hier...“






    Chris verließ die Dienststelle just in dem Moment, als das SEK vom Parkplatz fuhr. Verwirrt schaute er den davonbrausenden Wagen hinterher. Dann löste er sich aus seinem Erstaunen und rannte einige Schritte hinter den Autos her, gab aber schnell auf und hob hilflos die Arme.


    Wütend stampfte er mit Fuß auf und fluchte: „Verdammt! Wo wollen die hin? Warum sagen die uns nichts?“
    Er drehte sich um und bemerkte den Überwachungswagen. Mit langen Schritten lief er darauf zu und steckte seinen Kopf durch die Tür.


    Hartmut und Klaus saßen noch immer darin und waren mit ihren Berechnungen und Sondierungen beschäftigt. Sie hofften, auch das Signal von den Kameras auffangen zu können.
    Im Hintergrund konnte man über einen Lautsprecher hören, was sich in der PAST abspielte. Gerade klingelte ein Telefon und anschließend war Susannes Stimme zu hören.


    „War das etwa gerade die Engelhardt, die mit dem SEK weggefahren ist?“ wollte Chris wissen, ohne auf irgend etwas zu achten. Dabei zeigte er mit seiner linken Hand in die Richtung, in der die Kolonne weggefahren war.
    Hartmut, der erschrocken zusammen gezuckt war, als Chris’ Stimme hinter ihm ertönte, nickte verwirrt.
    „Wo wollen die hin?“ hakte Chris nach.


    Während sich Hartmut umdrehte, warf er einen unsicheren Blick zu seinem Kollegen. Der verzog nur sein Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern.
    Klaus hatte von den heftigen Wutausbrüchen des Kollegen Ritter gehört. Vor solchen Menschen hatte er Angst.


    Hartmut überlegte fieberhaft: Durfte er Chris sagen, was er wusste? Oder musste er es für sich behalten? Vor allem, was würde Chris tun, wenn er es erfuhr? Was sollte er tun? Die Engelhardt hat nichts gesagt... Genau! Das war es!
    ‚Sie hat nichts gesagt, also weißt Du auch von nichts!’ sprach sich Hartmut Mut zu.
    Er holte tief Luft und sagte: „Kann ich Dir nicht sagen. Die Chefin hat mir nicht gesagt, wohin sie...“


    Erbost schlug Chris mit der flachen Hand auf die Seitenwand des Lieferwagens.
    „Erzähl mir keinen Bullshit, Hartmut!“ tobte Chris. „Glaubst Du etwa, die Engelhardt fährt einfach so drauf los? Das kannst Du jemand anderes erzählen,... aber nicht mir! Sie muss doch was wissen! Also,... wo ist sie hin?“
    Er starrte den rothaarigen Mann angriffslustig an.


    Hartmut schluckte unwillkürlich und versuchte dem Blick standzuhalten. Er konnte deutlich in Chris’ Augen sehen, das sich dieser mit so einer lahmen Ausrede nicht abspeisen lassen wollte.
    Chris unterdessen überlegte wütend, wie er Hartmut zur Reden bringen konnte, ohne das er dafür anschließend im Gefängnis landen würde, als er Susannes Stimme wahrnahm: „Ja, Chefin, ich richte es ihm aus.“ Man hörte wie ein Hörer aufgelegt wurde.


    Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Lautsprecher. „Kommt das aus der PAST?“ fragte er interessiert und zeigte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
    „Ja“, erklärte Hartmut erleichtert. „Wir haben das Signal isolieren können und jetzt hören wir mit.“
    Er war dankbar, das Chris abgelenkt wurde. Das gefährliche Aufblitzen in Chris’ Augen war ihm nicht entgangen.
    Der lauschte jetzt gebannt, wie jemand aufstand (wahrscheinlich Susanne) und ein paar Schritte ging…





    … „Ja, Chefin, ich richte es ihm aus.“
    Susanne nickte, legte den Hörer auf und vervollständigte ihre Notiz, die sie sich während des Telefonats gemacht hatte. Sie schob ihren Stuhl zurück und ging zu Semir ins Büro.
    Ihre Augen zwischen dem Zettel in ihrer Hand und Semir hin und her schweifend erklärte sie: „Semir, das war die Chefin. Sie ist immer noch bei diesem Unfall. Es dauert wohl noch eine Weile. Sie gibt Bescheid, wenn sie zurück kommt.“
    Dann reichte sie ihm das Blatt Papier.


    „Danke, Susanne!“ antwortete Semir. Er warf einen Blick darauf und las: ‚Die Chefin hat eine Spur. Sie ruft an, wenn sie was genaues weiß.’
    Er nickte zustimmend und wandte sich wieder der Sekretärin zu: „Schon was von den anderen Kollegen gehört?“
    „Nein!“ seufzte Susanne. „Alle sind noch unterwegs oder helfen beim Unfall.“


    „Da scheint es aber mächtig gekracht zu haben.“ Semir versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen.
    „Ja, das hat es wohl“, nickte Susanne. „Von dem, was Siggi über Funk mitbekommen hat, ist es wohl ein sehr schwerer Unfall. Mindestens eine Tote, drei Schwer- und acht Leichtverletzte. Bei der Toten handelt es sich um eine Selbstmörderin. Sie hat sich von der Brücke gestürzt.“


    Semir schüttelte den Kopf. „Schrecklich!“ sagte er nur.
    Gedankenverloren schaute Susanne ihn an. „Ja, schrecklich!“ meinte sie dann. „Wie verzweifelt muss man sein, um sich zu diesem Schritt durchzuringen?“
    „Wahrscheinlich ziemlich verzweifelt!“ zuckte Semir leicht mit den Schultern.
    Mit einem Seufzer nickend, drehte sich Susanne um und verließ das Büro.


    Semirs Blick ging zu dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und eine Frage drängte sich ihm auf: Wie nah stand eigentlich Chris am Abgrund? Würde er noch durchhalten oder würde der nächste Tiefschlag sein Untergang bedeuten? Er war sich da nicht sicher…


    Zweimal hatte er gesehen, wie sich Chris von seinen Emotionen überwältigen ließ. Zweimal hatte er seinen Partner am Boden zerstört gesehen.
    Und genauso oft hatte er erlebt, wie er hinterher mit kühler, abweisender Miene keinerlei Gefühle zeigte. Wie er sein Innerstes vor aller Welt hinter einer hohen Mauer verbarg.


    Wie oft konnte Chris dieses Wechselbad der Gefühle noch ertragen? Würde dann sein aggressives Potenzial wieder aus ihm herausbrechen? Würde er diesmal vielleicht sogar einen Schritt weitergehen und jemanden verletzten?
    Die Veranlagung dazu war da… das hatte man deutlich bei dem Zwischenfall mit Susanne gesehen!


    Doch am meisten irritierte Semir noch immer die von Chris an den Tag gelegte Teilnahmslosigkeit. Besonders nach der zweiten Botschaft war sehr deutlich zu spüren gewesen, das Chris regelrecht neben sich gestanden hatte.


    Noch einmal ließ er die Szenen in seinen Gedanken Revue passieren: Chris’ erster Ausbruch war spontan, voller aggressiver Wut, unkontrollierter Angst und sehr emotionsgeladen gewesen.
    Beim zweiten dagegen hatte Semir zwar auch Chris’ Angst und Wut gespürt, aber sie waren kontrolliert, beherrscht und mit weniger Emotionen geladen.


    Und überhaupt: Sein ganzes Verhalten, als er von Richards Tod erfahren hatte, war seltsam…
    Zuerst bricht er zusammen, kurz darauf nimmt er die Toilettenräume auseinander und keine halbe Stunde später schaut er sich den Film fast teilnahmslos an.
    Da stimmte was nicht! Da war er sich ganz sicher…
    Doch je mehr er darüber nachdachte, desto weniger fiel ihm eine plausible Erklärung ein.


    Semir spürte ein leises Kribbeln,… es begann in den Haarwurzeln,… wanderte anschließend seinen Nacken hinunter,… rollte in kleinen Wellen an seinem Rückrat entlang… und endete mit einem Erschaudern in der Magengegend…
    Es war ein warnendes Kribbeln,… so wie er es immer spürte, wenn er einer Sache auf den Grund gehen wollte.. wenn er eine Spur aufnahm,… wenn ihm sein Instinkt sagte, das was nicht stimmte,… wenn Gefahr lauerte...


    Er nahm sich vor, Chris noch genauer in den nächsten Wochen zu beobachten. Vielleicht bekam er ihn auch bei einer Gelegenheit dazu, mit ihm zu reden.
    Er würde schon noch hinter Chris’ Geheimnis kommen!


    Seine Grübeleien wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. Gedankenverloren nahm er den Hörer zur Hand: „Gerkhan, Kripo Autobahn, wie kann ich Ihnen helfen?... Ach, Hotte, Du bist es… Hä?… Ach so, dass… Ich war gerade mit meinen Gedanken wo anders. Was kann ich für Dich tun...?“

  • Zur gleiche Zeit fuhr das SEK über einen Feldweg von hinten an den Rastplatz heran. In sicherer Entfernung wurden die Autos zum Stehen gebracht und das Team stieg aus.
    Ohne große Worte zogen sich Landwehrs Männer ihre Schutzwesten und -helme an, rüsteten sich mit ihren Waffen ein und standen innerhalb von neunzig Sekunden abmarschbereit. Die eingeteilten Trupps versammelten sich noch einmal um ihren Einsatzleiter, der ihnen die letzten Instruktionen gab.
    Dann gab er das Zeichen und das SEK verteilte sich um das kleine Gebäude.


    Anna Engelhardt folgte in einem sicheren Abstand und suchte hinter einem Bagger Deckung. Sie würde bei der Erstürmung nicht aktiv mithelfen. Der Einsatzleiter hielt mit ihr über ein Headset Kontakt und versprach ihr, sie zu informieren, wenn sie dazu stoßen könne.


    Laut Plan gab es einen Haupteingang, durch den man in den früheren Verkaufsraum des Kiosks gelangte. Rechts davon lag ein weiterer Raum, der als Aufenthaltsraum für die Gäste genutzt worden war. Dort konnten die Gäste die gekauften Speisen und Getränke verzehren. An der linken Längsseite waren die Toiletten.
    Hinter dem Verkaufsraum befanden sich noch ein Lagerraum und ein Büro, die man erreichte, wenn man einen kleinen Flur überquerte. An der hinteren Wand des Lagerraums ging eine Tür nach draußen. Dieser Ausgang wurde während des normalen Betriebes von den Lieferanten genutzt. Ansonsten gab es nur die üblichen Fenster in den einzelnen Räumen.


    Die fehlenden Fluchtwege waren auch ein Grund für die fällige Renovierung. Dem SEK kam dieser Misstand jetzt sehr zu Gute. Die Fluchmöglichkeiten für die Gangster waren äußerst gering.


    Jede Deckung nutzend positionierten sich seine Leute schnell an den ihnen zugewiesenen Stellen und Landwehr wartete darauf, von allen das ‚Ready’ zu bekommen....





    Lorenz schaute verwirrt die Ratte an: „Sag mal, was für dummes Zeug redest Du da eigentlich?… Was meinst Du mit: ‚Die wissen Bescheid!’?“
    Das spitzte Gesicht der Ratte war um Nuancen blasser geworden, als es erkannte, das sie anscheinend entdeckt worden waren. Doch jetzt stieg ihm leichte Zornesröte in die Wangen.


    Er drehte sich zu Lorenz und blaffte ihn an: „Ja, sehen Sie das denn nicht? “
    „Nein, verdammt noch mal!“ fauchte Lorenz. „Was soll ich den sehen?“
    „Na, die Tippse!“ Die Ratte konnte nicht glauben, dass Lorenz das eindeutig Offensichtliche nicht bemerkte.


    Frank Lorenz’ Blick ging zu den Monitoren. „Sie telefoniert... Ja, und?“ Er zuckte geringschätzig mit den Schultern.
    Mit einem Schnauben antwortete die Ratte: „Genau, sie telefoniert. Und zwar mit der gleichen Person!“
    „Das soll vorkommen.“ Ratlos zuckte Lorenz mit den Schultern. „Und was soll daran jetzt so besonderes sein, dass Du glaubst, das die Bescheid wissen?“ wollte er ungeduldig wissen.


    Die Ratte verdrehte ungehalten die Augen und fuchtelte wütend mit der Hand vor den Bildschirmen herum: „Die redet ganz anders! Lauter,... deutlicher,... betonter! Und ihre Gesten:… sie sind ausholender,… gekünstelt,… “
    Skeptisch schaute Lorenz seinen Techniker von der Seite her an. „Das bildest Du Dir bestimmt nur ein!“ meinte er dann.


    Doch das Rattengesicht beobachtete mit nervösen Blicken schon wieder die Monitore. Seine Augen blieben an dem Bildschirm hängen, auf dem das Büro der beiden Kommissaren zu sehen war. Dieser Gerkhan telefonierte mit irgend jemandem.
    „Ja, ja… ich bin noch da“, hörte man ihn hastig sagen. „Ich… ähm… überlege nur gerade, wie wir das der Chefin beibringen sollen.“


    Die Ratte stieß ein triumphierendes: „Ha!“ aus, tippte mit seinem Finger gegen die Mattscheibe und schaute Lorenz erwartungsvoll an. Als er merkte, das dieser ihn anschaute, als ob er den Verstand verlieren würde, rief er fassungslos: „Kommen Sie, Lorenz! Das müssen sogar Sie bemerkt haben! Das konnte ein Blinder sehen!“


    Ungehalten darüber, wie dieser Freak mit ihm sprach, raunzte Lorenz ihn an: „Was denn?“
    Nach einem entnervten Aufstöhnen erklärte die Ratte: „Ist Ihnen nie aufgefallen, wie alle Mitarbeiter der Dienststelle unbewusst reagieren, wenn sie von ‚Der Chefin’ sprechen?“


    Das Fragezeichen, welches sich auf Lorenz’ Gesicht abzeichnete, zeigte der Ratte, das er keinen Schimmer hatte, wovon er gerade sprach und eilig fuhr er fort: „Sie schauen in die Richtung ihres Büros! Meist nur aus den Augenwinkeln, aber sie tun es! Und der hier…“, dabei pochte er auf den entsprechenden Bildschirm, „…hat dies gerade nicht getan. Er hat stur nach vorn geschaut! Das machen die meisten Menschen unbewusst, wen sie wissen, das sie beobachtet wer…“


    „Wie?… Das ist alles? "fuhr ihm Lorenz verächtlich über den Mund. „Das sind Deine Beweise?... Ein vergessener Blick…? Eine Tippse, die freundlicher redet als gewöhnlich…?“ Skeptisch blickte er das Rattengesicht an. „Also, ich kann daran beim besten Willen nichts verdächtiges sehen, geschweige denn, hören.“


    Als die Ratte merkte, das Lorenz ihm nicht glauben wollte, holte er sein Handy hervor. Seine Stirn in Falten legend, fragte sein Gegenüber: „Wen willst Du anrufen?“
    „Meinen Bruder“, erklärte das Rattengesicht, während er hektisch auf den Tasten herum drückte. „Da Sie mir anscheinend nicht glauben wollen, will ich ihn wenigstens warnen!“
    Gerade als er die Verbindung zu seinem Bruder herstellen wollte,...





    …bekam Landwehr von seinem letzten Mann das ‚Ready’ und im selben Augenblick gab er das Signal zur Erstürmung.
    Blendgranaten und Rauchbomben wurden durch die Scheiben geschossen und innerhalb von Sekunden drangen die Männer in das kleine Häuschen ein...

  • Dann will ich Dich mal erlösen, sisi! =)


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    Die Ratte zuckte zusammen, als etwas durch die Scheibe flog. Ein greller Blitz ließ ihn erschrocken seine Arme vors Gesicht werfen und augenblicklich war der Raum voll beißendem Rauch. Hustend und mit tränenden Augen versuchte er sich zu orientieren und aus dem Zimmer zu flüchten.


    Doch im selben Augenblick ertönten laute Stimmen, die ihn anbrüllten sich hinzulegen. Durch den Tränenschleier in seinen Augen bekam er noch mit, wie Lorenz von zwei vermummten Personen gepackt wurde und auf den Boden geworfen wurde.


    Mit erhobenden Händen sank das Rattengesicht auf die Knie und sofort wurde er von zwei schemenhaften Gestalten ergriffen. Sie rissen seine Arme auf den Rücken, banden seine Hände mit Schnellfesseln zusammen und zerrten ihn anschließend aus dem Raum.


    Kaum befanden sie sich außerhalb des Hauses, wurde er auf dem harten Beton abgelegt. Gierig sog er die frische Luft ein und sein Husten beruhigte sich etwas.
    Nachdem er eilig seine Tränen weggezwinkert hatte, ging sein Blick zu den vermummten Gestalten.


    Anhand der Schutzwesten mit dem deutlichem Schriftzug ‚POLIZEI’ und der Art, wie diese Männer sich bewegten, erkannte er sofort, dass das SEK sie geschnappt hatte.
    ‚Verdammt noch einmal! Wie konnten die uns so schnell finden?’ fragte er sich ärgerlich. ‚Die wissen doch auch erst seit kurzem Bescheid.’


    Jemand wurde neben ihn gelegt und er erkannte Lorenz, der vergeblich versuchte seine Fesseln abzustreifen. Als er ihn sah, erinnerte er sich an die vielen Fehler, die Lorenz bei den Telefonaten gemacht hatte und fluchte innerlich. Wenn er gekonnt hätte, wie er wollte, wäre er ihm jetzt am liebsten an die Gurgel gegangen.
    Hätte dieser Kerl auf ihn gehört, wären sie jetzt wahrscheinlich nicht in dieser misslichen Lage! Lorenz und seine Überheblichkeit! Wenn er wenigstens noch seinen Bruder hätte warnen können…


    Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Einsatzkommando gelenkt. Er sah, wie ein Mann aus dem Gebäude trat und zu einem anderen ging, der etwas abseits stand. Er hörte, wie er ihm einen Lagebericht gab: „Alles gesichert. Keine weiteren Personen im Haus. Dafür haben wir reichlich technisches Equipment gefunden, mit dem die PAST ausspioniert wurde. Einer unsere Männer nimmt es sich in diesem Moment genauer unter die Lupe, um zu kontrollieren, ob das Signal noch woanders hin gesendet wird.“


    Innerlich stöhnte die Ratte frustriert auf: ‚Oh Mann,… warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen?’
    Der angesprochene Mann nickte, drückte einen Knopf an seinem Headset und sagte: „Frau Engelhardt... Sie können jetzt kommen. Wir haben die Lage unter Kontrolle.“ Der Mann bekam wohl eine Antwort über seinen Kopfhörer, denn er lächelte kurz.


    ‚Das scheint der Einsatzleiter zu sein’, dachte die Ratte bei sich und sah einen Silberstreif am Horizont. ‚Wenn sich mir die Chance bietet, werde ich versuchen, mit ihm einen Deal auszuhandeln…’
    Verstohlen beobachtete er die Szene weiter...

  • Thorsten Landwehr wandte sich mit stolzer Stimme seinen Leuten zu: „Gute Arbeit, Männer!“ Dabei schaute er jeden einzelnen an und nickte ihnen zufrieden zu. Nachdem er sah, das seine Leute respektvoll lächelten und ihm damit signalisierten, das sie sein Lob annahmen, wurde er wieder ernst.


    Er zeigte auf zwei seiner Leute: „Ihr übernehmt die Bewachung der Gefangenen. Ihr...“, er deutete auf die Angesprochenen, „... holt die Fahrzeuge hierher und der Rest von Euch sucht im Haus nach weiteren Hinweisen. Versucht herauszufinden, wo sich die Kidnapper aufhalten!“
    Augenblicklich drehten sich die Männer um und wandten sich den ihnen zugewiesenen Aufgaben zu.


    Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sich Anna dem Platz näherte und ging auf sie zu.
    „Wir haben zwei Männer im Haus vorgefunden und gefangen genommen. Sie widersetzten sich nicht ihrer Festnahme. Meine Leute suchen jetzt nach Hinweisen zum Verbleib der Geiseln“, gab er ihr einen kurzen Bericht.
    Anna nickte erleichtert: „Gut. Ich habe bereits die Kollegen und die Spurensicherung informiert. Sie werden gleich hier sein.“ Suchend blickte sie sich um und fragte: „Wo sind die Gefangenen?“


    Mit seinem Kopf deutete Landwehr in die Richtung. „Sie liegen dort drüben!“ sagte er und führte die Chefin hin.
    Sie warf einen Blick auf die am Boden liegenden Männer und zischte, als sie Lorenz erkannte: „Also doch! Dann hatte Ritter von Anfang an Recht... Sie stecken da mit drin!“


    Lorenz, der sich noch immer hustend von seinen Fesseln zu befreien versuchte, hielt inne und schaute sie feindselig an. „Sie sollten mich lieber gehen lassen. Oder wollen Sie das Leben der restlichen Geiseln riskieren?“ drohte Lorenz.


    Anna trat neben ihn und beugte sich leicht zu ihm herunter. In ihren Augen sprühten gefährliche Funken.
    „Wollen Sie mir etwa drohen?“ grollte sie. „Ich werde Sie persönlich für alles verantwortlich machen, was ab jetzt mit den Geiseln geschieht“, fügte sie mit bemüht beherrschter Stimme hinzu. „Es wäre besser für Sie, wenn Sie mir gleich sagen würden, wo sich die Familie von Chris Ritter befindet.“


    „Vergessen Sie’s!“ fauchte Lorenz. „Suchen Sie doch selber nach ihnen… Doch bis Sie die finden, ist es zu spät! Bis dahin ist alles gelaufen.“ Ein hämischer Ausdruck zeigte sich auf seiner siegessicheren Miene.
    Mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck richtete sich die Chefin auf, ließ ihren Blick jedoch nicht von Lorenz.


    Der spürte ihre kurze Unsicherheit und sah für sich die Chance, einen weiteren, vermeindlichen Trumpf auszuspielen.
    „Wenn ich mich nicht regelmäßig bei meinen Männern melde,...“ grinste er sie unverschämt an, „... werden die ganz schnell ihr jetziges Versteck verlassen. Dann können Sie noch einmal von vorn beginnen.“


    Anna Engelhardt kniff leicht ihre Augen zusammen und an ihren verbissenen Lippen konnte man erkennen, das sie über mögliche Lösungen nachdachte. Sekundenlang taxierte sie Lorenz mit ihren Blicken und dessen Miene wurde immer selbstgefälliger.


    Von allen unbemerkt trat einer von Landwehrs Männern näher. Er räusperte sich und machte, nachdem er von seinem Vorgesetzten die auffordernde Geste bekommen hatte, Meldung über den Stand der Dinge: „Wir haben das technische Equipment untersucht und sind uns sicher, das die Signale nur hierher geschickt wurden. Es wurden keine weiteren Sender oder Empfänger festgestellt. Das heißt, dass man sich in den Räumen der Autobahnpolizei sowohl frei bewegen, als auch wieder frei reden kann.“


    Landwehr bedankte sich bei seinem Teammitglied und entließ ihn mit einem zufriedenen Nicken.
    Erfreut wandte er sich der Chefin zu, die noch immer ihren Blick nicht von Lorenz genommen hatte. Sie hatte jedes Wort mitbekommen und die Reaktionen auf den Gesichtern der beiden, vor ihren Füssen liegenden Männern, beobachtet.
    Auf Lorenz’ Gesicht war weiterhin das arrogante Lächeln zu sehen. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.


    Der andere Mann jedoch hatte für eine Sekunde die Augen geschlossen… so wie jemand, der seine Chancen schwinden sah. Auch war ihr der feindselige Blick, den er zwischendurch Lorenz zuwarf, nicht entgangen.
    ‚Vielleicht ist das unsere Gelegenheit!’ dachte die Engelhardt und wiegte ihren Kopf gedankenverloren hin und her.


    Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und entschlossen drehte sie sich zu Landwehr um: „Rufen Sie Ritter an. Er soll hierher kommen. Sagen Sie ihm, das wir jemanden haben, der etwas über den Aufenthaltsort seiner Familie weiß, es uns aber nicht sagen will.“


    Verständnislos schaute der Einsatzleiter sie an und zeigte mit einem leichten Schütteln des Kopfes, das er nicht wusste, was sie damit bezweckte.
    Anna lächelte geheimnisvoll und mit einem verschwörerischen Ton meinte sie: „Wenn uns die Herren nichts sagen, werden sie es vielleicht in Gegenwart von Ritter tun.“
    „Pah! Warum sollten wir…!“ höhnte Lorenz.


    „Warten wir es ab“, lächelte Anna ihn freundlich an. „Ich werde Herrn Ritter die Gelegenheit geben, sich mit Ihnen ein paar Minuten allein zu unterhalten…“ Sie machte eine kurze Pause. „…Und wie unangenehm Ritter werden kann, wenn man ihn nicht zurück hält, das sollten Sie doch inzwischen zu Genüge wissen! Sie haben es schließlich mit eigenen Augen gesehen, nicht wahr?!“ Dabei zeigte sie mit süffisanter Miene hinter sich zum alten Kiosk.


    „Glauben Sie etwa, Sie könnten mir damit drohen?“ begehrte Lorenz verächtlich auf. „Das dürfen Sie außerdem gar nicht!“ fügte er etwas zögerlicher hinzu. Auf seinem Gesicht konnte man ganz deutlich erkennen, das seine selbstsichere Fassade anfing zu bröckeln.


    Mit einer ausholenden Handbewegung deutete die Chefin auf den freien Platz: „Wer oder was sollte mich daran hindern? Der Lärm der Autobahn,… das Stimmengewirr im Headset,… die vielen Fragen der Kollegen gleich im Gebäude, wenn wir Spuren sichern… Wie soll ich da irgend etwas mitbekommen?“


    Unsicher schaute Lorenz sie an. „Sie bluffen doch nur!“ stieß er dann hervor.
    „Oh, Frau Engelhardt blufft nicht… Das können Sie mir glauben!“ Thorsten Landwehrs Stimme klang unheilvoll. „Ich jedenfalls habe es noch nie erlebt, das sie blufft. Sie meint immer, was sie sagt!“


    Er verstellte einen Knopf am Kabel seines Headset und sprach ins Mikro: „Zentrale für Landwehr… Ich benötige eine Verbindung mit der PAST… Ja, legen sie es mir auf das Funkgerät… Danke, ich warte.“
    Er bedeutete Anna mit einem nach oben gerichteten Daumen, das sie gleich eine Verbindung mit der PAST bekämen…

  • Zur gleichen Zeit, als das SEK stürmte, hatte Semir alle Mühe sich zu beherrschen.
    „Sag das noch mal“, forderte er ungläubig Hotte auf. „Ihr habt was?“
    Hotte erzählte ihm noch einmal von ihrer Entdeckung und das es sich dabei mit größter Wahrscheinlichkeit um den Aufenthaltsort der Kidnapper handelt.


    Es fiel Semir schwer ruhig zu bleiben. Immer wieder musste er sich in Gedanken daran erinnern, das sie beobachtet wurden. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte die Nachricht durch die ganze PAST gebrüllt. Fieberhaft dachte er nach.


    „Semir,… bist Du noch da?“ ertönte es plötzlich aus dem Hörer.
    „Ja, ja…“, sagte er hastig, „… ich bin noch da. Ich… ähm… überlege nur gerade, wie wir das der Chefin beibringen sollen.“
    „Wieso ‚beibringen’?“ Hottes Stimme klang verwirrt. „Wir haben doch nichts falsch gemacht.… Oder doch?“
    „Du weißt doch wie sie reagiert, wenn man einen Dienstwagen schrottet!“


    Semir musste lächeln, als er Hottes Antwort hörte: „Hä…? Sag mal, Semir, was redest Du da eigentlich für komisches Zeug? Hörst Du mir überhaupt zu?“
    Unbeirrt fuhr Semir fort: „Sag mir noch einmal genau wo genau Ihr seid. Ich komme mit Chris hin und wir holen Euch ab. Er darf die PAST eigentlich nicht verlassen, aber von den anderen Kollegen ist ja keiner da.“
    Er zückte einen Stift und wartete darauf, das Hotte ihm antwortete.


    Doch für den Bruchteil einer Sekunde war es still in der Leitung. Dann polterte der ältere Polizist los: „Du sollst uns hier nicht abholen, Semir! Du sollst der Chefin Bescheid geben und Ihr sollt mit Verstärkung und dem SEK hierher kommen! Und was redest Du da von wegen Chris darf die PAST nicht verlassen…? Was ist denn bei Euch los?“


    „Hotte, ich kann der Chefin keinen Bescheid geben“, ließ Semir ihn wissen. „Sie wurde zu einem Unfall gerufen und ist dort vollauf beschäftigt. Und die anderen Kollegen sind alle unterwegs auf der Suche nach den Entführern von Chris Familie. Das weißt Du doch!“
    „Natürlich weiß ich das!“ brauste Hotte auf. „Ich versuchte Dir schließlich die ganze Zeit zu sagen, das wir sie gefunden haben!“


    „Jetzt sag mir, wo Ihr seid und wir kommen hin“, versuchte Semir ihn zu beruhigen.
    „Wir sind an dem alten Motel, unterhalb des neuen Autohofs“, erklärte Hotte. „Über die Autobahn kommt Ihr da nicht ran. Es gibt eine Zufahrtsstrasse, die könnt Ihr benutzen. Allerdings benutzten die Kidnapper die gleiche Strasse. Am besten kommt Ihr zum Parkplatz des Autohofs. Von da gibt es einen Fußweg hierher. Bonrath kann Euch dort treffen und zeigt Euch den Weg.“


    „Alles klar!“ sagte Semir, während er sich Notizen machte. „Wir sind in fünfzehn,… zwanzig Minuten bei Euch!“
    Dann legte er auf.





    Hotte nahm das Handy von seinem Ohr und schaute es wie einen fremden Gegenstand an.
    „Was ist los?“ wollte Bonrath wissen, als er den merkwürdigen Gesichtsausdruck seines Kollegen bemerkte.
    Kopfschüttelnd richtete Hotte seine Aufmerksamkeit auf Bonrath. „Ich weiß ja nicht, was auf der PAST los ist, aber Semir benahm sich äußerst seltsam. Der hat mir gar nicht richtig zugehört!“ empörte sich Hotte.


    „Du hast ihm aber doch gesagt, wo wir sind?“ vergewisserte sich Dieter bei ihm.
    Seinem Freund einen bösen Blick zuwerfend, schnaubte Hotte: „Hörst Du mir etwa auch nicht zu?… Natürlich habe ich ihm gesagt wo wir sind!“
    „Und,… kommt er her?“ Bonraths Augen leuchteten erwartungsvoll.


    „Ich denke schon“, zuckte sein Kollege ratlos mit den Schultern. „Irgendwie bin ich aus dem Gerede nicht schlau geworden. Aber ich glaube verstanden zu haben, dass Du ihn und Chris am Parkplatz treffen sollst.“
    „Gut“, nickte Bonrath. „Ich mache mich dann mal auf den Weg. Du bleibst am besten hier und beobachtest das Haus. Sobald sich was tut, rufst Du mich an.“
    „Mache ich!“ meinte Hotte.


    Als Bonrath sich umdrehte, um zurück zu gehen, wollte sich Paul ihm anschließen. Doch Hotte hielt ihn auf: „Paul,… Sie bleiben bitte hier bei mir. Sie können nachher den Kollegen noch einmal genauer erklären, wo sich die Kinder befinden und wie sie dort hin gelangen.“
    Stumm nickte Paul, auch wenn er am liebsten zum Autohof zurückgekehrt wäre. Sehnsüchtig sah er Bonrath hinterher, wie er zwischen den Bäumen verschwand…

  • Einen verhaltenen Jubelschrei von sich gebend, löste Jakob, schwer atmend von der Anstrengung, die letzte Schraube und hielt das erste Brett wie eine Trophäe in die Höhe. Mit einem breiten Grinsen und Beifall heischend drehte er sich zu seiner Schwester um.


    „Ich habe es geschafft!“ flüsterte er zufrieden.
    Johanna sprang auf und lief auf ihn zu. Euphorisch strahlte sie ihn an: „Toll!… Jetzt kommen wir hier weg!“
    Jakobs glücklicher Gesichtsausdruck verschwand und langsam ließ er die Arme sinken. „Nein,“ seufzte er, „noch nicht. Dafür ist die Öffnung noch zu klein.“
    „Och, nee!“ schmollte Johanna, machte einen Schritt zum Fenster und lugte durch den schmalen Spalt. Doch sie konnte nur das dichte Grün einiger Kiefern erkennen.


    „Das ist nicht so einfach!“ rechtfertigte sich Jakob unterdessen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Die Schrauben sitzen sehr fest und ich habe nicht das richtige Werkzeug. Wenn ich einen Schraubendreher hätte, wäre es viel einfacher.“
    „Ich dachte, Du bist stark?!“ kam es im tadelnden Ton von seiner Schwester. „Wie lange brauchst Du denn noch dafür?“


    Wäre die Situation nicht so ernst, hätte Jakob wahrscheinlich gelacht, doch statt dessen starrte er sie ungläubig an.
    Das war typisch Johanna! Männliche Personen hatten nun einmal in ihren Augen stark zu sein. War das nicht der Fall, wurde das Bild von ihnen in ihrer Vorstellung empfindlich gestört.


    Als er ihr nach ein paar Sekunden noch nicht geantwortet hatte, drehte sich Johanna wieder zu ihm herum.
    „Worauf wartest Du noch?“ fragte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn Du da stehst und das Brett festhältst, werden wir hier nie wegkommen… Mach weiter!“ Auffordernd zeigte sie auf das nächste Brett am Fenster.


    Dann ging sie schnurstracks zurück zur Tür, setzte sich davor und legte ihr Ohr daran. Mit einem nach oben gerichteten Daumen bedeutete sie ihrem Bruder, das auf dem Flur nichts zu hören sei und er weiter arbeiten könnte.


    Jakob war sprachlos!
    Noch immer starrte er sie entgeistert an.
    Er rackerte und mühte sich ab,… seine Hände und Arme schmerzten,… der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht… und seine Schwester nörgelte trotzdem an ihm herum!
    Das war ungerecht!


    Er löste sich kopfschüttelnd aus seiner Verwunderung, lehnte das Brett an die Wand und betrachtete sorgenvoll seine schmerzenden Hände. Sie sahen ziemlich geschunden aus. Besonders in der rechten Handinnenfläche, mit der er das Stück Metall gehalten hatte, zeigten sich einige Schnitte und sie war etwas angeschwollen. An der linken Hand konnte er mehrere Kratzer und Schrammen erkennen, die entstanden waren, wenn er mit dem Metallstück abgerutscht war.


    Aus seiner Hosentasche förderte er ein Taschentuch zu Tage, wickelte es um das Metall und begab sich mit einem ergebenen Schulterzucken zurück an die Arbeit. In den folgenden Minuten, in denen er sich mit den nächsten Schrauben abkämpfte, musste er stets an das Gleiche denken:
    Frauen…! Würde er jemals sie verstehen…?

  • Während Jakob in dem alten Motel seinen leisen, aber triumphierenden Jubelschrei losließ, wäre Semir am liebsten zur gleichen Zeit mit einem Freudenschrei aufgesprungen und hinausgerannt. So normal, wie es ihm möglich war, stand er auf und ging aus dem Büro.


    An Susanne gerichtet fragte er: „Ist Chris noch draußen?“
    Als diese ein bestätigendes Nicken andeutete, grummelte er ärgerlich: „Wie viele Zigaretten raucht der denn?“
    Grinsend zuckte Susanne ahnungslos mit den Schultern.


    Semir begab sich zum Ausgang. Sobald er meinte, nicht mehr von irgendwelchen Kameras beobachtet werden zu können, rannte er los. Kaum hatte er die Eingangstür der Dienststelle aufgestoßen, rief er laut nach seinem Partner: „Chris!… Chris?… Wo bist Du?”


    Er sah die große Gestalt seines Partners an einem roten Lieferwagen stehend und lief auf ihn zu. Chris drehte sich in diesem Moment mit einem missmutigen Gesicht zu ihm herum, schnippte einen Zigarettenstummel mit einer ärgerlichen Geste weg und hob abwehrend die Hände.


    „Langsam, Semir, ich weiß schon Bescheid!“ sagte er gereizt. „Wir sollen Hotte und Bonrath abholen, weil sie einen Unfall hatten. Und… wo müssen wir hin?“
    Er trat mit seinem Fuß einen kleinen Stein weg und fluchte plötzlich ungehalten: „Verdammt,… warum müssen wir uns überhaupt darum kümmern? Glauben die, wir hätten nichts Wichtigeres zu erledigen?!“


    Semir sah ihn verhalten von der Seite her an. Als Chris den Blick bemerkte, zog er tief durch die Nase Luft ein und schaute ihn entschuldigend an.
    „Es tut mir leid!“ murmelte er leise. „Es ist nur…“, er zeigte auf den Wagen, „Hartmut hat die Frequenz der Wanzen abgefangen. Das ist unsere erste richtige Spur! Ich vermute mal, das die Engelhardt bereits auf dem Weg dorthin ist,… auch wenn Hartmut es mir nicht sagen will.“ Er warf dem Techniker einen finsteren Blick zu.


    Hartmut versuchte eine neutrale Miene aufzusetzen, doch an dem nervösen zusammen ziehen der Schultern konnte Chris erkennen, das er mit seiner Ahnung richtig lag. Ärgerlich fügte er hinzu: „Und ausgerechnet jetzt sollen wir Babysitter für Bonrath und Hotte spielen!“


    Mit einem schrägen Lächeln antwortete Semir: „Vielleicht wirst Du noch froh sein, Babysitter spielen zu dürfen.“
    Semirs Andeutung ließ ihn stutzig werden. „Wie meinst Du das?“ fragte er reserviert.
    „Ich erkläre es Dir gleich“, hielt Semir ihn hin. „Zuerst muss Hartmut etwas für mich herausfinden.“


    Damit wandte er sich dem Lieferwagen zu und hielt dem rothaarigen Mann den Zettel hin, auf dem er sich die Notizen gemacht hatte: „Hartmut, Deine Männer suchen doch noch immer nach dem Haus, dessen Baupläne ihr im sichergestellten Computer entdeckt habt.“


    Als der junge Mann nickte, fuhr Semir fort: „Könntest Du Deine Männer bitten, so schnell wie möglich, die Baupläne dieses Gebäudes zu überprüfen und feststellen lassen, ob es sich dabei eventuell um das gesuchte Haus handelt?“
    „Klar! Gib mir ein paar Minuten, dann kann ich Dir eine genaue Information geben“, antwortete Hartmut eifrig, nahm das Blatt Papier entgegen und rief sofort in der KTU an.


    Chris, der mit wachsender Unruhe zuhörte, packte Semir am rechten Arm. Dieser zuckte kurz zusammen, als Chris aus Versehen seine Wunde berührte. Ohne sich jedoch um das schmerzverzerrte Gesicht seines Partners zu kümmern, drehte er ihn herum und schaute ihn ärgerlich an.


    „Wovon redest Du hier die ganze Zeit?“ verlangte er zu wissen. „Was für Baupläne? Was für ein Computer?… Etwa der, der im verlassenen Versteck gefunden wurde? Ich dachte, die Daten darauf wären gelöscht gewesen?!… Warum weiß ich davon nichts?… Warum sagt mir keiner etwas?“ Chris' Stimme wurde zum Schluss immer lauter.


    Wütend fuhr er auf dem Absatz herum und ging einige Schritte ungeduldig hin und her. Semir sah deutlich, das Chris Mühe hatte, sich zu kontrollieren. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, auf seiner Stirn zeigte sich die markante Zornesfalte und sein Atem ging schwer.
    Plötzlich blieb er abrupt stehen, drehte seinen Kopf ruckartig zu Semir und in seiner Miene war deutlich zu sehen, das ihn ganz offensichtlich eine Erkenntnis getroffen hatte.


    Chris machte zwei Schritte auf Semir zu und starrte seinen Partner ungläubig an.
    „Sag bloß, Du weißt, wo meine Familie gefangen gehalten wird?“ fragte er mit angehaltenem Atem.
    Semir blickte in Chris’ Gesicht und sah neben erwartungsvoller Hoffnung auch einen Hauch von Angst vor Enttäuschung.
    „Vielleicht!“ antwortete er zögerlich und wandte seine Augen von Chris ab. „Lass uns erst abwarten, was Hartmut sagt… Vertrau mir einfach mal!“


    Er wollte die Hoffnungen seines Partners nicht zu hoch schrauben. Schließlich hatten sie in den letzten Stunden schon zu viele Rückschläge einstecken müssen.
    Doch Chris wollte jetzt wissen, was Semir wusste und ließ nicht locker. Als sich dieser wieder Hartmut zuwenden wollte, griff er erneut nach seinem Arm und hinderte ihn an der Bewegung.


    „Semir…! Jetzt sag schon… Du weißt doch bestimmt, wo sie sich befinden!?“
    Seine Stimme klang rau, aber entschlossen und als er sah, dass Semir zögerte, fuhr er bestimmend fort: „Red schon!… Um was für eine Adresse handelt es sich? Wo ist es?… Wo ist meine Familie?“


    Um seine Forderungen zu untersteichen, verstärkte er seinen Griff und am Schluss schüttelte er den Arm sogar leicht. Seine Miene ließ keinen Zweifel daran aufkommen, das er die Information unbedingt haben wollte. Egal, was es koste!


    Semir sah die Entschlossenheit auf Chris’ Gesicht und spürte Ärger in sich aufglimmen…

  • Er schüttelte die Hand von Chris mit einer zornigen Bewegung ab und machte einige Schritte von ihm und dem Lieferwagen weg. Seinen Blick von Chris abwendend, atmete Semir tief durch.
    Diesmal war es an ihm, sich zu beherrschen. Mit zusammen gekniffenen Augen schaute er in die Ferne und dachte nach.
    Nach einer Weile spürte er, wie sich Chris neben in stellte und ein ungeduldiges Knurren von sich gab.


    Mit einem harten Ausdruck auf seinem Gesicht wandte sich Semir ihm wieder zu.
    „Und was gedenkst Du zu tun, wenn ich es Dir jetzt nicht sofort sage?“ fragte er lauernd. „Willst Du es aus mir heraus prügeln?… Oder willst Du mich über den Haufen schießen…?“


    Angriffslustig starrte er ihn an, breitete plötzlich die Arme auffordernd aus und meinte grimmig: „Nur zu!… Du bist größer und stärker! Es sollte doch ein leichtes für Dich sein, mich niederzuschlagen und mir meine Waffe zu entwenden…“


    Semir sah, wie es in Chris’ Augen gefährlich flackerte und dessen Miene einen warnenden Ausdruck annahm.
    Erregt sprach er weiter: „Ja,…ich sehe Dir an, das Du genau das gerne machen würdest und es würde zu Dir passen!“ Ein Hauch von Verachtung war in den letzten Worten zu hören.


    Doch es kümmerte ihn nicht. Semir war jetzt wütend und kam immer mehr in Fahrt.
    Mit funkelnden Augen und wilden Gesten schimpfte er weiter: „Was ist überhaupt Dein Problem?… Ist es etwa immer noch nicht in Deinem verbohrten Dickschädel angekommen, das wir Dir alle helfen wollen?… Alle,… und zwar alle?!… Angefangen von Andrea bis hin zur Chefin! Alle Kollegen sind deinetwegen entweder dort draußen, gehen Hinweisen oder Spuren nach. Oder sitzen da drinnen, wählen sich die Finger wund und wälzen Berge von Akten… Sie versuchen alles menschenmögliche, um Deine Familie zu finden! Und wie dankst Du es ihnen?… Du blaffst sie an oder wirst sogar Susanne gegenüber handgreiflich!… Was denkst Du Dir dabei?“


    Semir machte eine kurze Pause, um schnaubend Luft zu holen. Seinen Blick wandte er nicht von Chris ab, dessen Miene mit einem Mal wie versteinert wirkte.
    In einem etwas ruhigerem, aber vorwurfsvollen Ton fuhr er fort: „Ist Dir noch nie aufgefallen, das einige von Deinen Kollegen Angst haben, mit Dir zu reden oder sich gar davor fürchten, mit Dir zusammenarbeiten zu müssen?… Das plötzlich die Gespräche verstummen, wenn Du das Büro betrittst oder ein erleichtertes Aufatmen zu spüren ist, wenn Du einen Raum verlässt und die Tür hinter Dir schließt?“


    In seinen Augen erschien plötzlich ein feuchter Glanz und mit brechender Stimme sagte er: „Bei Tom hat es so etwas nie gegeben! Er war beliebt und alle haben gern mit ihm gearbeitet. Jeder hat ihn gemocht… und damit meine ich wirklich jeden!“


    Semir drehte seinen Kopf zur Seite, schaute einige Augenblicke gedankenverloren zum Gebäude der PAST, schluckte ein- ,zweimal schwer und mit einem Beben sprach er leise weiter: „Für mich war er der perfekte Partner! Wir haben unsere Fälle gemeinsam gelöst!… Weißt Du eigentlich, was es heißt, etwas wirklich gemeinsam zu machen?“ Er warf Chris flüchtig einen Blick aus den Augenwinkeln zu.


    Dann schweiften seinen Augen zurück zum Parkplatz. Sie blieben an dem leeren Einstellplatz hängen, wo normalerweise der blaue Mercedes stand. In seinen Erinnerungen sah er Tom mit einer geschmeidigen Bewegung in den Wagen einsteigen.


    Mit trauriger Stimme fuhr er fort: „Es gab Absprachen, auf die man sich verlassen konnte… Es gab Gespräche, in denen wir uns alles erzählt haben… Da gab keine Alleingänge oder kein „Einsamer Wolf“ – Gehabe!… Aber weißt Du, was das wirklich entscheidende war?“
    Mit schmerzerfüllten Augen wandte er sich zu Chris um: „Ich habe ihm vertraut und er hat mir vertraut!… Ohne Forderungen! Ohne Kompromisse! Ohne Zugeständnisse!“


    Eine kurze Pause entstand und insgeheim hoffte Semir, das Chris irgend etwas sagen würde,...
    sich erklären würde,…
    sich rechtfertigen würde,…
    sich vielleicht verteidigen würde…


    Doch es kam nichts!
    Noch immer hatte dieser seinen emotionslosen Gesichtsausdruck. Auch die Körperhaltung zeigte keinerlei Regung. Er wirkte wie eine Mauer, an der alles abprallte.


    Plötzlich blitzte eine Erinnerung in Semir auf: „Weißt Du noch, wie wir uns im Garten Deiner Schwester unterhalten haben?“
    Er schaute seinem Partner eindringlich ins Gesicht und er nahm ein kurzes Aufflackern in den Augen wahr, als sich dieser ebenfalls an das Gespräch erinnerte.


    Während er weiter sprach, steigerte er sich immer mehr in seine aufgestauten Emotionen: „Weißt Du noch, wie Du mir gesagt hast, das Dir unsere Partnerschaft etwas bedeutet und das einzige, um das Du mich gebeten hattest, war Zeit?… Chris, glaub mir,… ich gebe Dir alle Zeit der Welt, wenn es ein muss! Denn ich glaube, das es das wert ist! Unsere Zusammenarbeit in den letzten Wochen hat gut funktioniert und hat mir Spaß gemacht… Aber erinnerst Du Dich auch daran, das Du mir Deine Familie nur deshalb vorgestellt hast, weil, wie Du selbst gesagt hast, mir vertraust?… Darf ich Dich daran erinnern, dass das Deine eigenen Worte waren!?“


    Semirs hoffnungsvolle Miene verschwand und Enttäuschung zeichnete sich darauf ab.
    „Wo ist dieses Vertrauen hin? Was habe ich getan, das ich Dein Vertrauen nicht mehr verdiene? Habe ich Dir in den letzten Tagen, und ganz besonders in den letzten Stunden, nicht oft genug bewiesen, das ich zu Dir stehe,… das ich Dir vertraue,… das ich alles machen würde, um Dir zu helfen?… Warum kannst Du dieses Vertrauen nicht erwidern? Warum fällt es Dir so schwer, überhaupt zu vertrauen?“


    Deutlich konnte man Frustration in seiner Stimme hören: „Ich verstehe Dich nicht, Chris!… Ich weiß, das vieles bei Dir nur Fassade ist. Als wir bei Deiner Schwester waren, hast Du mir erlaubt, einen kurzen Blick auf den echten Chris werfen zu dürfen. Du hast mir gezeigt, wer Du wirklich bist. Und soll ich Dir mal was sagen?… Ich habe einen netten, sympathischen und warmherzigen Chris gesehen! Einen Chris, für den es wert war, ihm die Zeit zu lassen, die er benötigt.… Ihm die Zeit zuzugestehen, die er braucht!“


    Mit einer traurigen Geste hob Semir seine Hände, ließ sie anschließend mit einem müden Seufzer fallen und bat Chris eindringlich: „Doch im Moment weiß ich nicht, woran ich bei Dir bin… Hilf mir es zu verstehen… Rede mit mir!“


    Ein bedrückendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sekundenlang sagte keiner der beiden ein Wort. In die Stille hinein wagte Semir einen letzten Versuch, als er mit flehentlichem Ton sagte: „Bitte, Chris!… Vertrau mir!“


    Doch sein Partner stand einfach nur da und reagierte nicht. Sein leerer Blick ging an Semir vorbei und mit seinen müden Augen starrte er auf etwas, was nur er zu sehen schien. Bis auf die fest zusammen gepressten Lippen, zeigte sich in seinem matten Gesicht keinerlei Regung. Durch die hängenden Schultern wirkte er ausgelaugt.


    In Semir meldete sich ein leises Mitgefühl und er begann bereits, das eine oder andere, von dem was er gesagt hatte, zu bereuen.
    Doch jetzt war es passiert. Er konnte nichts mehr zurücknehmen. Und wenn er ehrlich war, wollte er das auch nicht. Jetzt lag es an Chris!


    Aufmerksam beobachtete er, wie sich Chris etwas wegdrehte und leicht schüttelte…

  • Sorry, Sisi, ging nicht schneller. Musste noch was daran ändern (siehe Feeds!) :D
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    Chris war durch Semirs Worte wie vor den Kopf geschlagen. Er wusste nicht was er sagen sollte. In seinem Kopf purzelten Gedanken, Bilder, Erinnerungen und Emotionen durcheinander.
    Etwas von dem, was Semir gesagt hatte, hatte in ihm eine tiefe Regung ausgelöst. Alte Bilder aus der Vergangenheit wurden wach. Er starrte vor sich hin.


    In seiner Erinnerung sah er sich Bernd gegenübersitzen. Es war die Zeit, in der er zur Reha war und er gerade einen absoluten Tiefpunkt hatte. Durch sein Erlebtes, und das daraus resultierende Misstrauen, hatte er keinen Arzt oder Pfleger an sich herankommen lassen wollen. Ebenso hatte er sich geweigert auch nur ein Wort mit dem Psychiater zu sprechen. Das Pflegepersonal war besorgt um ihn gewesen und sah den Erfolg auf Genesung gefährdet. Schließlich hatte sich der Chefarzt verzweifelt an Bernd gewandt.


    Sein väterlicher Freund hatte ihn nach langem Zureden dazu gebracht, über die Geschehnisse, die er während seiner Gefangenschaft erlebt hatte, zu sprechen.
    Es war hart gewesen, all die grausamen und brutalen Details zu erzählen:


    Details, die alte Wunden aufrissen und seine Seele peinigten,…
    Details, die ihn noch einmal alles durchleben ließen,…
    Details, die er danach, außer seiner Schwester, nie wieder jemandem erzählt hat,…
    Details, von denen er hoffte, sie nie wieder jemandem erzählen zu müssen,…
    Details, die für immer hinter seiner Schutzmauer verborgen bleiben sollten!


    Ohne das er sich dessen bewusst wurde, hob er mit einer unendlich langsamen Bewegung seine rechte Hand, legte sie an die Außenseite seines linken Armes und strich darüber. In Höhe des Ellebogens hielt er inne. Mit seinem Daumen fuhr er an der Innenseite über die Beuge. Durch den Stoff seines Hemdes hindurch, meinte er, die Narben zu spüren.


    Er schloss die Augen. Voller Sehnsucht dachte er an Bernd Simon: ‚Warum bist Du jetzt nicht hier?… Ich brauche Dich!’


    Klar sah er das vertrauensvolle Gesicht seines ehemaligen Vorgesetzten vor sich:
    seinen markanten Walrossbart,…
    die widerspenstige Strähne seines schütteren Haares, welche ihm oft ins Gesicht gefallen war und die er, mit einer für ihn typischen Bewegung seiner rechten Hand, immer zurück gestrichen hatte,…
    seinen milden Gesichtsausdruck, der während des Gespräches auch deutlich die Sorge um ihn zeigte,…
    die gütigen Augen, die voll Mitgefühl für ihn waren,…
    die rauen Hände, die er ihm am Schluss wie ein Versprechen entgegen gehalten hatte,…
    er meinte noch einmal den festen Händedruck zu spüren, der ihm Halt und Sicherheit gegeben hatten…


    Bernd… eine dankbare Welle breitete sich in ihm aus.
    Was hatte dieser Mann nicht alles für ihn getan,… für ihn riskiert… Er war immer für ihn da gewesen!


    Chris erinnerte sich daran, wie er dank Bernds Hilfe zurück in den Dienst kam… an die ersten Tage voller Nervosität und Anspannung, aber auch dem Willen es schaffen zu wollen!
    Noch einmal meinte er, die freudigen Wogen von neu gewonnener Freiheit und optimistischer Euphorie zu spüren.
    Und das alles war nur möglich gewesen, weil er ihm vertraut hatte,… sich ihm geöffnet hatte…


    Plötzlich durchströmte ihn das selbe Glücksgefühl von befreiender Erleichterung, welches er nach dem Gespräch in der Klinik verspürt hatte. Das Gefühl, mit diesen schmerzlichen Erinnerungen nicht mehr allein zu sein, war wie ihm wie eine Erlösung vorgekommen!


    ‚Ob es bei Semir genauso sein könnte…?’ wagte er vorsichtig zu denken.
    Zaghaft öffnete er die Augen, doch er traute sich nicht, seinen Partner anzusehen. Stattdessen überkam ihn ein leichter Anflug von Panik.


    Mit einer leichten Drehung wandte er sich von Semir ab und wollte die Flucht ergreifen, als ihn etwas vertrautes aufhielt…
    Bernds warme Stimme erklang in seinen Ohren: ‚Wag den Sprung ins kalte Wasser. Du kannst nichts verlieren,… nur gewinnen!’


    Ein frostiger Schauer durchlief seinen Körper und ließ ihn scharf einatmen. Er verspürte, wie beklemmende Angst und grausame Verzweiflung in ihm aufstieg.
    ‚Oh, Gott, Bernd…! Ich habe Angst!’ gestand er seinem alten Freund. ‚Was, wenn…’
    Lemerciers Gesicht wollte sich vor seinem geistigen Auge erheben, doch Bernds Miene war stärker und verdrängte sie sofort.


    ‚Du kannst nicht verlieren…’ hörte er seine feste Stimme, die voll Vertrauen zu ihm sprach.
    Bernds Worte spendeten ihm Mut. Sie hatten es damals getan, als er sich ihm anvertraut hatte, und sie taten es in diesem Augenblick wieder.


    Er erinnerte sich an ein Versprechen, welches er vor gar nicht langer Zeit, Bernd in Gedanken gegeben hatte… Das Versprechen, es wenigstens zu versuchen… jemandem zu vertrauen…
    ‚Du kannst nichts verlieren,… nur gewinnen!’ ermunterte ihn Bernd noch einmal.


    Mit einem tiefen Atemzug nahm Chris all seinen Mut zusammen. Dann wandte er sich Semir zu…

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