Angst und Vertrauen

  • Chris träumte unruhig. Immer wieder hörte er, wie verzweifelte Stimmen nach ihm riefen. Er versuchte ihnen zu folgen, aber egal in welche Richtung er sich drehte, stets kam das Rufen anschließend von wo anders weg.


    In seinem Traum rannte er gehetzt durch ein Labyrinth... rannte bis ihm die Lungen schmerzten und er um Atem ringend stehen bleiben musste.
    Eine andere Stimme ertönte und verhöhnte ihn. Er konnte nicht verstehen was sie sagte, aber das gemeine Lachen, was folgte, klang grauenhaft in seinen Ohren.
    Nur zu gut kannte er dieses Lachen,... es weckte eine schmerzhafte Erinnerung in ihm.


    Er nahm all seine Kraft zusammen, rannte weiter... lief um Ecken,... versuchte sich zu orientieren,... rannte noch weiter,... stolperte und fing sich im weiterlaufen auf,... rannte immer weiter,... er meinte zu spüren, wie sich seine Muskeln in den Oberschenkeln verkrampften und nach Erholung schrien,... doch er ignorierte den Schmerz und lief weiter,... er wollte nicht aufgeben...


    In seinem Traum wurde der Gang plötzlich breiter und er betrat einen großen, dunklen Raum. Er konnte schemenhafte Gestalten am anderen Ende ausmachen, aber niemanden erkennen.


    Wieder erschallten die verzweifelten Rufe nach ihm... sie waren ganz nah... zum Greifen nah.
    Seinen Blick von den Schattengestalten abwendend blickte er sich suchend um.
    Da!...


    In einer Ecke lagen vier vertraute Personen. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen, aber sie mussten es sein. Seine Suche war erfolgreich und erleichtert atmete er aus.
    Als er jedoch einen Schritt auf sie zutun wollte, löste sich einer der Schatten am Ende des Raumes und kam auf ihn zu.


    Er erkannte eine Waffe, die auf ihn gerichtet wurde und wollte seine eigene ziehen, doch er griff ins Leere. Panisch suchte er danach... ohne Erfolg.
    Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er erkannte, das es seine Waffe war, die auf ihn gerichtete war und wer die Waffe hielt.
    „Du?“ stieß er tonlos hervor...


    Chris schreckte auf. Langsam hob er den Kopf und schüttelte ihn leicht.
    Er versuchte sich an seinen Traum zu erinnern, bekam aber die schemenhaften Bilder nicht zu fassen. Alles war wie in dicke Watte gehüllt.
    Er meinte noch den Schreck in seinen Gliedern zu spüren,... aber warum hatte er sich überhaupt erschreckt?


    Noch einmal schüttelte seinen Kopf, in den dem Versuch ihn frei zu bekommen.
    Langsam ließ das ungute Gefühl von ihm ab. Sein Rücken schmerzte und er richtete sich vorsichtig auf. Er fühlte sich wie gerädert.
    Mit einem unterdrückten Gähnen reckte er seine schmerzhaften Glieder. Sehr erholsam war sein Schlaf nicht gewesen.


    Dann schaute er sich orientierungslos um. Wieso war er überhaupt im Büro eingeschlafen? Das war ihm ja noch nie passiert!
    Er sah auf die Uhr. Sie zeigte 6.08 Uhr an.


    Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, wurde ihm gleich bewusst, das er bei der Suche nach Hinweisen zum Verbleib seiner Schwester eingeschlafen war. Augenblicklich überkam ihn ein schlechtes Gewissen.
    ‚Wie konnte mir das nur passieren!’ schimpfte er in Gedanken mit sich selber.


    Erschöpft rieb er sich die Augen und versuchte so, die Müdigkeit zu vertreiben. Doch viel half es nicht.
    Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und murmelte: „Ich könnte einen starken Kaffee gebrauchen!“


    „Euer Wunsch ist mir Befehl, mein holder Retter!“
    Ohne das er es bemerkt hatte, war Andrea in den Raum getreten und stellte ihm eine Tasse frisch gebrühten Kaffee hin. Dabei lächelte sie ihm aufmunternd zu.


    Als sie bemerkte, das Chris erschrocken zusammen zuckte, fügte sie schnell hinzu: „Entschuldige, Chris, ich wollte Dich nicht erschrecken. Aber ich habe gerade gesehen, das Du wach geworden bist. Da dachte ich mir, Du könntest einen frischen Kaffee gebrauchen.“


    „Andrea,… Du bist ein Engel!“ Dankbar nahm er die Tasse zur Hand, hob sie hoch und atmete das würzige Aroma tief ein. Sofort merkte er, wie seine Lebensgeister zu neuem Leben erwachten.
    Nach einem vorsichtigen Schluck von dem heißen Getränk fühlte er sich bereits tausend Mal besser. Wohlig schloss er einen Moment die Augen.


    Er spürte, das Andrea ihn beobachtete, und als er die Augen öffnete, schaute sie ihn tatsächlich mit besorgter Miene an.
    „Wie geht es Dir?“ fragte sie mitfühlend.


    Er tat einen tiefen Seufzer. „Was willst Du hören?… Eine ehrliche Antwort oder das, was ich gleich der Engelhardt sagen werde, wenn sie mich fragt.“
    Dabei warf er einen Blick in die Richtung der Büroräume und stellte fest, das keiner zu sehen war.
    Mit einem, wie er hoffte, echtem Staunen in der Stimme fragte er: „Wo sind die denn alle?“


    Andrea zog missbilligend die Stirn in Falten. „Chris, jetzt lenk nicht ab! Du weißt genau, das gerade Schichtwechsel und somit Teambesprechung ist.“
    Erschrocken sprang Chris auf. „Warum sagt mir keiner Bescheid? Ich muss doch auch daran teilnehmen!“


    Andrea drückte ihn zurück in seinen Stuhl, was ihr recht leicht gelang, da Chris aufgrund seiner Erschöpfung kaum die Kraft fand sich zur Wehr zu setzen.
    Sie zog sich einen Stuhl neben seinen Tisch und setzte sich so, das sie sich anschauen konnten.
    Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck hakte sie nach: „Und jetzt möchte ich eine ehrliche Antwort von Dir!“


    Chris drehte ihr sein Gesicht zu und ließ einen Moment seine Maske fallen. Tränen stiegen ihm in die Augen und sein ganzer Körper sackte in sich zusammen.
    „Ich… ich fühl mich grauenvoll!… Ich kann einfach nicht mehr… und ich weiß nicht, wie ich die nächsten Stunden und besonders den morgigen Tag überstehen soll!“


    Eine Träne rollte leise an seiner Wange herunter und verfing sich in den Bartstoppeln. Hastig wandte er sich ab, wischte sie sich mit einer wütenden Handbewegung weg und sah aus dem Fenster.
    Er spürte, wie Andrea ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn sanft drückte. Sie sprach kein Wort, sondern bedeutete ihm nur, das er nicht allein war.


    Die Berührung weckte eine Erinnerung in ihm: Wie oft hatte seine Schwester das mit ihm gemacht!
    Besonders damals, als er während seiner Genesung oft den Mut verlor und aufgeben wollte.
    Wie oft hatte sie ihm mit dieser kleinen Geste gezeigt: Du bist nicht allein! Gib nicht auf!


    ‚Ich werde nicht aufgeben!... Und ich werde Dich finden!’ versprach er seiner Schwester in Gedanken...

  • Tief atmete er ein paar Mal ein und aus, straffte anschließend seine Schultern.
    Als er Andrea wieder anschaute, war auf seinem Gesicht die wohlbekannte, unbewegte Miene zu sehen.
    „Bernd war es sehr wichtig, Gehlen hinter Gitter zu bekommen. Letztendlich ist er sogar deswegen gestorben. Aber ich glaube nicht, das er gewollt hätte, dass ich dafür das Leben meiner Familie aufs Spiel setze! Ich kann und werde es auch nicht tun!“


    „Das verlangt auch niemand von Dir!“ Beruhigend tätschelte sie seinen Arm. „Und glaub mir: Semir ist der letzte, der Dir deswegen Vorwürfe machen wird. Er hat das gleiche schon einmal für Tom getan.“
    Auf Chris’ Gesicht zeigte sich fragendes Erstaunen.


    Sie fuhr fort: „Damals sollten Tom und Semir einen Verdächtigen identifizieren. Tom wurde als Geisel festgehalten und man zwang Semir eine Falschaussage zu machen. Er war damals auch in einem starken Gewissenskonflikt, aber für das Leben seines Freundes hätte er seine Karriere geopfert!… Du siehst, er kann nachvollziehen, was Du gerade durchmachst… Und glaub mir: Er wird Dich in allem, egal was Du tust, unterstützen!“


    Chris nahm Andreas Hand und drückte sie dankbar. „Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet!“
    Er beugte sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Dann schaute er ihr in die Augen und flüsterte: „Ich hoffe, Dein Mann weiß was er an Dir hat! Sollte er es jemals vergessen, sag mir Bescheid. Ich werde ihn dementsprechend daran erinnern.“


    Andrea lachte erleichtert auf, umarmte ihn und flüsterte zurück: „Lass mal! Das mache ich schon selber jeden Tag. Aber trotzdem Danke für das Angebot!“
    Beide lächelten leise vor sich hin.


    Draußen wurden Stimmen laut. Anscheinend war die Besprechung zu Ende, denn die Kollegen strömten aus dem Zimmer. Einige verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg, andere begaben sich an die Schreibtische, um ihre Arbeit aufzunehmen.


    Semir, der mit der Chefin als letztes den Raum verließ, sah seine Frau, wie sie leise mit Chris sprach. Plötzlich stand sie auf, drehte sich um und als sie ihn bemerkte, kam sie lächelnd auf ihn zu.


    „Guten Morgen, mein Schatz!“ begrüßte sie ihn mit einem zärtlichen Kuss. „Du hast ziemlich schlecht geschlafen, nicht wahr?“
    Sie schaute ihn mit einem besorgten Blick an.
    Leichthin zuckte Semir mit den Schultern. „Hol ich bei Gelegenheit nach. Du kennst mich… Bei so einer Sache kann ich erst wieder gut schlafen, wenn alles ausgestanden ist. Außerdem habe ich vorhin eine kalte Dusche genommen. Jetzt fühle ich mich besser und erfrischt.“


    Sein Blick ging zu Chris, der sich die Augen rieb und anschließend anfing, das Chaos auf seinem Schreibtisch zu ordnen. Er sah fürchterlich aus!
    Mit einem Kopfnicken in seine Richtung fragte er Andrea: „Wie geht es ihm?“
    „Nicht gut.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ich glaube, wenn wir nicht bald Gaby und die Kinder finden, zerbricht er daran! Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn.“


    Semir kniff die Lippen zusammen und dachte nach. Er fasste den Entschluss, Andrea einzuweihen und mit einer entschlossenen Miene zog er sie in den Raum, in dem sie genächtigt hatten. Da Aida noch schlief, setzten sie sich in eine Ecke.
    In kurzen Sätzen und mit leiser Stimme erzählte Semir ihr alles.


    Andrea war sichtlich geschockt, als sie von der neuen Videobotschaft und deren Inhalt hörte. Sie rang mit den Tränen.
    „Oh Gott, Semir! Was können wir tun? Wir müssen etwas unternehmen.“


    Semir nahm die Hände seiner Frau, küsste ihre Fingerspitzen und sein Blick schweifte voller Zärtlichkeit über ihr Gesicht.
    Er liebte seine Frau und seine Tochter über alles. In den letzten Stunden hatte er sich zum wiederholten Mal gefragt, wie ihm wohl jetzt zumute wäre, hätten die Verbrecher mit ihrer Entführung Glück gehabt.
    Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihn. Liebevoll lächelte er sie an.


    „Liebling, allein dadurch, das Du hier bist, hilfst Du uns… Nein, bitte… lass mich ausreden“, unterbrach er sie, als sie zu einer Widerrede ansetzen wollte.
    Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Chris scheint Dich zu mögen und Dir zu vertrauen. Und das ist mehr wert, als Du Dir im Moment vorstellen kannst!“


    Sein Gesicht nahm einen schelmischen Ausdruck an. „Übrigens… Worüber habt Ihr zwei denn eben geflüstert? Muss ich mir etwa Sorgen machen?!“
    Andrea bemerkte sofort das belustigte Funkeln in seinen Augen und ging auf sein Spiel ein.
    „Du musst Dir nur Sorgen machen, wenn Du mich nicht ordentlich behandelst. Denn dann schicke ich Dir meinen Ritter in schimmernder Rüstung vorbei, damit er Dir Respekt beibringt.“


    Semir gluckste. „Also, wenn Du Chris als Deinen Ritter in schimmernder Rüstung meinst, muss ich Dich enttäuschen. Hast Du ihn Dir heute Morgen schon einmal genauer angeschaut? Im Moment sieht er ziemlich ramponiert aus!“
    In gespielter Entrüstung entzog Andrea ihm die rechte Hand und gab ihm einen empörten Klaps auf den Arm.
    „Semir!“ schalt sie ihren Mann.


    Mit ernster Stimme fuhr Semir fort: „Du hast Recht! Spaß beiseite!… Ich habe mit der Chefin vereinbart, das ich jetzt mit Chris zu ihm in die Wohnung fahre, damit er sich frisch machen kann. Anschließend gehen wir in der Stadt etwas frühstücken und von dort aus direkt zur Staatsanwaltschaft.“


    „Und was ist mit mir und Aida?“ Andrea warf einen besorgten Blick zu ihrer Tochter.
    „Ihr bleibt erst einmal hier. Ich habe die Chefin davon überzeugt, das Ihr hier sicherer seid, als in einer Schutzwohnung. Wir hoffen, das die Hintermänner nicht so dreist sind und Euch hier angreifen!“ erklärte Semir.
    Andrea nickte. „Einverstanden! Ist mir recht. Hier kann ich etwas für Euch tun und werde Susanne bei ihrer Arbeit unterstützen.“


    Dankbar nahm sie ihren Mann in den Arm und sie verharrten so eine ganze Zeit.
    Jeder spürte, wie er dem anderen durch diese Geste Kraft gab…
    spürte die Wärme, die sich wie sanfte Wellen übertrug…
    das gleichmäßige Herzklopfen, dessen Rhythmus beruhigend wirkte…
    der leise Atem, der einen das Leben spüren ließ…
    die sichere Kraft der Arme, die einem Halt boten…


    Als sie sich voneinander lösten, gab Semir Andrea einen zärtlich Kuss.
    „Ich liebe Dich!“ flüsterte er innig.


    Andrea atmete tief ein. Sie roch sein After Shave, was sie so an ihm mochte.
    Wohlig schloss sie die Augen, gab sich ganz diesem Moment hin.
    Nach einer Weile öffnete sie langsam ihre Lider und versenkte ihren Blick in seinen unglaublichen, braunen Augen, die sie schon immer so faszinierend an ihm gefunden hatte.
    „Ich liebe Dich auch!“ flüsterte sie zurück.


    Schweren Herzens löste sich Semir von seiner Frau, stand auf und ging zur Tür.
    Mit einem aufmunternden Lächeln in ihre Richtung verschwand er.


    Gedankenverloren bewegte er sich auf das gemeinsame Büro zu. Plötzlich erstarrte er.
    Chris war nicht mehr da!

  • Irritiert blickte er sich um.
    Doch Chris war nirgends zu sehen!


    Eiligen Schrittes ging er in die Teeküche. Dort fand er nur die Chefin, die sich gerade einen Tee aufbrühte. Bevor sie fragen konnte, drehte sich Semir auf dem Absatz um und verschwand schnell.
    Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Standpauke!


    Er durchsuchte sämtliche Zimmer. Doch Chris blieb wie vom Erdboden verschluckt.
    Leicht panisch rannte er hinaus auf den Parkplatz.
    Wieder kein Chris!


    ‚Verdammt noch mal!’ fluchte Semir in Gedanken. ‚Wo steckt der Kerl? Wo könnte er nur sein? Der wird hoffentlich nichts unüberlegtes tun!’
    Er drehte sich im Kreis, um nochmals das Gelände zu überblicken und warf einen Blick zu den Autos. Doch es schienen alle da zu sein.
    „Verflucht!“ zischte er zwischen den Zähnen hindurch. „Warum lernt der Mann es nicht, mir Bescheid zu geben? Ist das denn zuviel verlangt?!“


    Gerade, als er sich zurück ins Gebäude begeben wollte, fiel etwas kleines, gelbes vor seine Füße. Abrupt blieb er stehen und betrachtete den Gegenstand genauer.
    Ein Zigarettenfilter!
    Semir hob den Kopf und schaute in die Richtung, aus der er gekommen sein musste. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.


    Er ging auf die Rückseite der PAST, kletterte die Feuerleiter hinauf aufs Dach und fand Chris an seinem geheimen Platz. Hierher zog sich Chris immer zurück, wenn er allein sein wollte.


    Wortlos setzte sich Semir neben ihn auf ein Schutzgitter. Nach einer Weile drehte ihm Chris das Gesicht zu. Er musste sich beherrschen, um sich nicht den Schrecken anmerken zu lassen, den sein Anblick bei ihm auslöste.


    Chris' Augen waren glanzlos und die dunklen Ringe darunter waren Zeugen einer Nacht mit wenig Schlaf. Die Haare standen struppig in alle Himmelsrichtungen und mit dem unrasierte Kinn erinnerte er eher an jemanden aus der Verbrecherkartei!


    Semir legte eine Hand auf Chris’ Rücken. „Komm, Partner!… Wir fahren jetzt in Deine Wohnung. Du nimmst eine ordentliche Dusche, ziehst Dir was frisches an und als nächstes gehen wir beide etwas frühstücken. Wirst sehen, danach geht es Dir besser…Und dann lass uns die Sache mit der Schrankmann hinter uns bringen. Während wir dort sind, werden die Kollegen weiter suchen. Mit etwas Glück haben sie eine Spur, wenn wir zurück sind.“


    „Oh Gott,… die Schrankmann!“ stöhnte Chris auf. „Bei der muss ich mich ja noch entschuldigen.“
    Kopfschüttelnd stand Semir auf. „Chris, Du bist einfach unmöglich!“
    Als Chris ihn verwirrt anblickte, meinte er mit schräg gelegten Kopf: „Also, das mit der Entschuldigung ist das letzte, woran ich an deiner Stelle denken würde.“


    Schwerfällig erhob sich Chris. „Ich habe es aber der Chefin versprochen. Und ich möchte sie nicht noch mal enttäuschen.“
    Er ging zur Feuerleiter und war kurz darauf verschwunden. Semit folgte ihm verwundert. Das hätte er jetzt nicht erwartet!


    Da sie völlig übernächtigt waren und daher eine Gefahr für sich und andere Verkehrsteilnehmer darstellten, bestand die Engelhardt darauf, das sie sich von einer Zivilstreife fahren ließen.
    Kurz darauf fuhr das Fahrzeug mit Chris und Semir auf der Rückbank vom Parkplatz.






    Schlecht gelaunt kam Lorenz in den Raum mit den Monitoren geschlurft.
    Ohne einen guten Morgen zu wünschen, grummelte er missmutig: „Wo ist denn Dein Bruder?“
    „Hat sich hingelegt, um etwas Schlaf zu bekommen“, war die knappe Antwort. Er hielt die CD hoch. „Hier für Sie!“


    „Was ist das?“
    „Borcherts Nachricht an die Bullen.“ Als Lorenz ihn fragend anschaute, fügte er ungeduldig hinzu: „Den Film, den dieser Ritter noch nicht gesehen hat!… Für Ihren Kunden!“


    Wortlos nahm der die Scheibe entgegen und deutete auf die Bildschirme.
    „Ist was besonderes passiert?“
    „Nö!“
    „Haben die eine neue Spur?“
    „Nö!“
    „Sind die beiden Bullen noch da?“
    „Nö!“


    Wütend schmiss Lorenz die CD auf die Tischplatte. „Sag mal, kannst Du was anderes sagen außer Deinem ewigen ‚Nö’? Das geht mir echt auf…“
    Plötzlich stutzte er. „Hast Du gerade gesagt, die Bullen sind nicht da?“
    „Jepp!“ Innerlich grinste das Mausgesicht. Er liebte es Lorenz auf die Palme zu bringen.


    Der reagierte wie erwartet und tobte sofort los: „Was meinst Du damit, sie sind nicht da? Warum hast Du mir nichts gesagt? Und wo sind die hin?“
    Lässig lehnte sich das Mausgesicht nach hinten. „Frühstücken!“


    Erbost starrte Lorenz den Mann vor sich an. In Gedanken wägt er ab, ob er ihn jetzt sofort oder doch lieber später über den Haufen schoss.
    Er entschied sich für letzteres. Schließlich hatte er keine andere Wahl.
    Er brauchte ihn und seinen Bruder. So schnell bekam er keine neuen Techniker.
    ‚Wenn das hier vorbei ist, knall ich Dich persönlich ab, Du Knilch!’


    Das Mausgesicht merkte, das er wohl etwas zu weit gegangen war. Schnell schob er die von Lorenz gewünschten Infos hinterher.
    „Die beiden sind vor ungefähr zwanzig Minuten zur Wohnung dieses Ritter gefahren. Die Chefin von denen hat gesagt, er soll sich dort frisch machen. Nach dem Frühstück gehen sie zur Staatsanwaltschaft.“


    Lorenz warf einen Blick zur Uhr, nahm das Handy zur Hand und rief Borchert an.
    „Ritter ist in seiner Wohnung. Setz jemanden auf ihn an und beobachtet ihn. Sollte er etwas anderes tun, außer zur Staatsanwaltschaft zur gehen, will ich es wissen. Klar?“


    Mit einem vernichtenden Blick, unter dem das Mausgesicht unmerklich zusammenzuckte, verließ Lorenz den Raum, um sich auch ein Frühstück zu gönnen.
    Er sah nicht mehr, wie das Mausgesicht eine obszöne Geste hinter seinem Rücken machte…

  • Semir bedankte sich bei den beiden Kollegen, die sie zu Chris’ Wohnung gefahren hatten.
    „Danke, Kollegen! Ab jetzt kommen wir allein klar. Zur Staatsanwaltschaft nehmen wir ein Taxi.“
    Zum Abschied hob er die Hand und lief schnell hinter Chris her. Vor seiner Wohnungstür holte er ihn ein.


    Chris suchte seinen Schlüssel aus der Hosentasche, schloss auf und öffnete die Tür. Wortlos ging er hinein, zog sich das Jackett aus und hängte es über einen Stuhl. Seinen Schlüssel warf er auf die Küchentheke.


    Dabei wurde sein Augenmerk auf eine Müslipackung gelenkt, die Gaby wohl vergessen hatte wegzuräumen. Stillschweigend öffnete er die Tür eines Apothekenschrankes, stellte sie hinein und ließ die Lade mit einem leisen Geräusch zurück gleiten.


    Er wandte sich dem Anrufbeantworter zu, in der Hoffnung, das sich dort vielleicht eine Nachricht befinden würde. Doch die Signalleuchte blinkte nicht und auf dem Display war eine „0“ zu sehen.
    Enttäuscht drehte er sich um und in Gedanken schalt er sich selber: ‚Was hast Du erwartet?… Eine Nachricht von Gaby?… Von den Kindern?… Oder gar von den Kidnappern mit einem Hinweis auf ihren Aufenthaltsort?’


    Seine Augen schweiften durch seine Wohnung, die ihm plötzlich kalt und leer vor kam. Der Blick blieb an der Tür zum Gästezimmer haften. Noch vor 24 Stunden hatte er dort Kinderlachen gehört.
    Die Erinnerung daran schmerzte ihn... ließen ihm sein Versagen deutlich werden.


    Hastig kramte er seine Zigaretten heraus, steckte sich eine an und während er den ersten Rauch langsam durch die Nase entweichen ließ, rieb er sich mit Daumen und Ringfinger die Nasenwurzel.
    Hinter seiner Stirn pochte es und er spürte die aufsteigenden Kopfschmerzen. Die konnte er jetzt am allerwenigsten gebrauchen!


    Die ganze Zeit beobachtete Semir Chris genau. Seit sie das Dach der PAST verlassen hatten, hatte Chris kein Wort mehr gesprochen. Seine Miene blieb unbeweglich und er wirkte nach außen kühl und unbeteiligt.
    Semir hatte immer mehr das Gefühl, den Chris vor sich zu haben, den er am Anfang kennen gelernt hatte: wortkarg, distanziert, emotionslos, abweisend.


    ‚Er hat sich wieder hinter seiner Mauer zurückgezogen’, stellte Semir traurig fest.
    Trotzdem meinte er auch etwas anderes gesehen zu haben: Sein ganzen Verhalten, seit sie die Wohnung betreten hatten, drückte Hilflosigkeit aus!


    Und wie er jetzt so dastand,… allein,… mitten im Zimmer, die Augen geschlossen, Kopf und Schultern gesenkt und seine Stirn rieb, wurde Semir in seinem Verdacht bestätigt.


    ‚Chris versucht seinen Schmerz und seine Verzweiflung vor allen zu verbergen und baut sich seinen Schutzwall wieder auf… Aber nicht mit mir!’
    Entschlossen ging er zu seinem Partner, nahm ihm die Zigarette aus der Hand und schob ihn in Richtung Bad.


    „Geh Dich jetzt bitte duschen und zieh Dir was frisches an. So wie Du im Moment aussiehst, löst Du beim Pförtner in der Staatanwaltschaft einen Großalarm aus!“
    Semir versuchte Chris mit einem Lächeln aufzumuntern.
    „Na komm,… ich koche uns in der Zwischenzeit einen Kaffee. OK?“ Mit einem sanften Schubs verlieh er seinen Worten mehr Nachdruck.
    Teilnahmslos nickte Chris und verschwand hinter der Tür vom Badezimmer...

  • Paul wurde wach, weil ihn die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht kitzelten.
    Grummelnd drehte er sich auf die andere Seite, zog die Kapuze des Schlafsacks über seinen Kopf und versuchte noch ein bisschen zu schlafen. Während er vor sich hindöste, hörte er unten im Haus Geräusche.
    Seine „Gäste“ fielen ihm wieder ein.


    „Die sind ja immer noch da!“ murmelte Paul ärgerlich in den Tiefen seines Schlafsackes. Insgeheim hatte er gehofft, das sie nur die Nacht bleiben und heute morgen wieder verschwunden wären.


    Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, das er noch etwa zwanzig Minuten Zeit hatte. Vor halb neun brauchte er nicht aufstehen.
    Dann würde er rüber zum neuen Autohof gehen und sich sein Frühstück abholen.


    Die Besitzerin gab ihm immer die Reste vom Morgenbuffet und im Gegenzug hielt er ihr das Gelände sauber. Besonders jetzt um diese Zeit, wo aufgrund der Ferien der Autohof stärker frequentiert wurde, gab es immer reichlich zu tun.
    Oftmals blieb er den ganzen Tag dort, verrichtete seine Arbeit und bekam zwischendurch zu Essen. Auf diese Weise waren beide zufrieden.


    Nach einer Weile konnte Paul aber nicht mehr liegen. Sein Rücken schmerzte und deshalb beschloss er, sich zurecht zu machen und früher los zu gehen.
    ‚Vielleicht besteht dann noch die Chance auf einen Schokocroissant!’ Paul liebte die Dinger.


    Leise stand er auf, nahm sein Waschzeug und schlich sich auf Socken aus seinem Zimmer. Er ging zu einer kurzen, rostigen Feuerleiter, deren Halterungen in der Wand gewaltig wackelten, als er sie hinauf stieg. Oben öffnete er eine Luke und kletterte hinaus auf das flache Dach.
    Dort hatte er eine Tonne stehen, mit deren Hilfe er das Regenwasser auffing. Eine alte Blechschüssel diente als Waschbecken.
    Während er sich die Zähne putzte, ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen.


    Er liebte diesen Ausblick: Die herbstliche Morgensonne strahlte blass von einem leicht bewölkten Himmel und ließ die bunten Farben des Herbstes aufleuchten. Der letzte Nebel lag noch leicht wabernd über den Feldern, die man weiter hinten erkennen konnte und der Tau auf den Wiesen glitzerte verspielt. Eine leichte Brise trug den erdigen Geruch des feuchten Bodens zu ihm herüber und er sog ihn versonnen ein. Ein Schwarm Raben erhob sich träge in den Himmel und begrüßte den Morgen mit lautem Gekrähe.


    Das einzige, was die Idylle störte, war das ständige Motorengeräusch im Hintergrund.
    Vor dem Motel verlief, nur durch einen schmalen Waldstreifen unterbrochen, die Autobahn. Er konnte die Autos und LKWs hören, die bereits wieder zahlreich unterwegs waren.
    Die Zufahrt zum Motel war abgesperrt, so das kein Fahrzeug von der Autobahn aufs Gelände kam.


    Die Natur hatte bereits fleißig begonnen, ihr angestammtes Territorium zurück zu gewinnen. Überall auf dem Platz vor dem Haus wucherte das Unkraut und einige Ahorntriebe lugten zwischen den Pflastersteinen hervor.


    Links vom Gebäude erstreckte sich ein dichter Kiefernwald. In circa einem Kilometer Entfernung, auf einer kleinen Anhöhe, konnte man den neuen Autohof erkennen. Die Neonröhren der Leuchtreklame wetteiferten mit der Morgensonne um die Helligkeit. Dorthin würde Paul später gehen.


    Wenn man zur Rückseite schaute, konnte man in einiger Entfernung einen kleinen Ort ausmachen. Eine Straße, die früher für Zulieferer und Angestellte gedacht war, schlängelte sich durch die Landschaft bis dorthin.


    Ein dunkelgrünes Auto kam auf dieser Straße auf das Motel zu. Der Fahrer parkte neben den anderen Fahrzeugen, die dort bereits standen.
    Paul zählte sechs weitere Autos, darunter zwei schwarze Vans.
    ‚Scheint wohl eine größere Gruppe zu sein’, dachte er bei sich.


    Er beobachtete, wie ein bulliger Typ ausstieg, sich mehrere Brötchentüten unter den Arm klemmte und zum Hintereingang ging.
    Dabei pfiff er eine schräge Melodie.


    Paul wandte sich wieder seiner Waschschüssel zu, spülte den Mund aus, um sich anschließend mit dem kaltem Wasser das Gesicht zu reinigen. Mit einem alten Handtuch rubbelte er sich ab.
    Erfrischt und mit einem sauberen Gefühl, packte er seine Sachen zusammen und begab sich wieder nach unten.


    In seinem Zimmer schlüpfte er in seine Klamotten, kämmte sich seine silbrig grauen Haare und zog seine ausgelatschten Turnschuhe an. Die hatten weiß Gott schon bessere Tage hinter sich, aber für ihn waren sie allemal gut genug.


    Nachdem er seine Sachen so gut es ging in einer Ecke verstaut hatte, trat er leise hinaus auf den Flur, wandte sich nach links und folgte dem Flur bis zum Ende.
    Dort befand sich eine schwere Eisentür, auf der stand:

    „Notfalltreppenhaus – Nur bei Feuer zu benutzen!“


    Darunter wurde noch darauf hingewiesen, das diese Tür alarmgesichert sei, doch das interessierte Paul nicht. Er wusste, das der Alarm schon seit Monaten mit dem Strom abgeschaltet worden war.


    Mit einem kräftigen Ruck öffnete er sie und stieg die Eisentreppe leise hinunter. Zwischendurch blieb er immer mal wieder kurz stehen, um zu lauschen. Doch von den fremden Männern war nichts zu hören.
    ‚Die genießen wahrscheinlich gerade ihre Brötchen!’ dachte Paul bei sich. ‚Das ist gut. So sind sie wenigstens abgelenkt!’


    Stockwerk für Stockwerk schlich er sich nach unten. Sein Ziel war der Keller. Dort gab es einen Seitenausgang, dessen Weg direkt in die Nähe des kleinen Wäldchen führte.
    So konnte er sich hoffentlich ungesehen davon machen.


    Paul befand sich gerade an der Tür zum ersten Stock, als er ein Geräusch hörte, das ihn irritierte: Kinderstimmen!

  • Er blieb wie angewurzelt stehen. Hatte er sich getäuscht?… Nein! Da waren sie wieder.
    Deutlich vernahm er mindestens zwei verschiedene Stimmen.
    Was hatten Kinder an einem Ort wie diesem zu suchen? Und was hatten sie mit diesen Männern zu schaffen?


    Obwohl Paul neugierig war, siegte seine Vernunft. Er wollte keinen Ärger haben.
    Außerdem gab es bestimmt eine logische Erklärung.
    Mit einem Schulterzucken wandte er sich zum Gehen, als er eine harte, laute Stimme vernahm. Kurz darauf war ein klägliches Schluchzen zu hören.
    Er war sich fast sicher, das es sich um ein Mädchen handelte.
    ‚Da stimmt doch was nicht. Irgend etwas ist hier faul!’ meldete sich sein Gerechtigkeitssinn.


    Leise ging er zu Tür und horchte. Auf dem Gang dahinter schien niemand mehr zu sein. Alles war ruhig.
    Vorsichtig öffnete er die schwere Tür einen Spalt und lugte um die Ecke. Als er niemanden sah, schlüpfte er hindurch, lehnte die Tür etwas an und bewegte sich mit langsamen, leisen Schritten vorwärts.
    Immer wieder blickte er sich um, sah aber niemanden.
    Weiter vorn hörte er die Stimmen der Kinder. Sie schienen im Zimmer am Anfang des Ganges zu sein.


    Plötzlich vernahm er Schritte die Treppe hinauf kommen. Panisch blickte er sich um.
    Sein Blick fiel auf eine offene Zimmertür. Schnell schlüpfte er hinein, lehnte die Tür an und durch den Spalt beobachtete er den Gang.
    Um die Ecke kam der bullige Typ geschlurft. In der linken Hand hielt er eine Tüte Milch. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, verschwand er kurz in dem Raum dahinter.


    Paul hörte, wie er mit jemandem sprach: „Hier habt Ihr Eure Milch! Und jetzt will ich nichts mehr von Euch hören! Klar?“
    Eine Jungenstimme antwortete zaghaft: „Danke!“
    Im Hintergrund war gedämpftes Wimmern zu hören. „Herr Gott!“ raunzte der bullige Typ. „Kann Deine Schwester mal aufhören zu flennen? Das macht einen noch ganz irre!“
    „Ich sorge dafür, das sie gleich aufhört.“ Die Jungenstimme versuchte fest zu klingen, doch man hörte ein leises Zittern heraus.
    „Das will ich auch hoffen.“ Der Mann kam aus dem Zimmer und bevor er die Tür zuzog, drehte er sich noch einmal zu den Kindern um. „Um Euer beiden Willen!“


    Mit einem Grunzen verschloss er die Tür, zog den Schlüssel aus dem Schloss und steckte ihn anschließend in die rechte Tasche seines rot-schwarz karierten Hemdes.
    Pfeifend schlurfte er um die Ecke davon und war nach einigen Sekunden nicht mehr zu sehen.


    Paul wartete eine Minute in seinem Versteck und dachte nach.
    Wer waren diese Kinder? Warum waren sie hier? Und was wollten die Kerle von denen?
    Waren es vielleicht die Kinder eines reichen Geschäftsmannes, der erpresst werden sollte?
    Oder waren die Kerle Menschenhändler und die Kinder sollten verkauft werden?


    Oder gab es gar eine ganz einfache und harmlose Begründung?
    ‚Aber dann würde man sie doch bestimmt nicht einsperren, oder?’ dachte er irritiert bei sich.


    Unschlüssig überlegte er, was er als nächstes tun sollte.
    Sollte er versuchen mit den Kindern Kontakt aufzunehmen? ‚Nee,... hinterher machen sie noch Krach und ich habe Ärger am Hals!’ dachte er bei sich.
    Sollte er versuchen sie zu befreien? ‚Geht ja nicht... der Typ hat den Schlüssel eingesteckt!’ verwarf er auch den Gedanken.
    Oder sollte er die Polizei rufen?...


    Da hatte er eine Idee. ‚Genau!… So werde ich es machen!… Die beiden kann ich fragen!’
    Ohne ein Geräusch von sich zu geben, schlich er zum Treppenhaus zurück, ging im Keller aus dem Seitenausgang und gelangte ungesehen in das kleine Waldstückchen. Schnell begab er sich zu seiner „Arbeit“.

  • Nachdem er sich die Zähne geputzt und rasiert hatte, entkleidete er sich, warf die stinkenden Klamotten in den Wäschekorb und stellte sich unter die Dusche. Seit Minuten stand Chris dort schon und das heiße Wasser prasselte auf seinen Körper. Der harte Strahl massierte seine verkrampften Muskeln und durch die Wärme spürte er, wie er sich langsam etwas entspannte.


    Er griff zu einem Flakon, schüttete sich etwas von der bläulichen Flüssigkeit in die linke Hand und seifte sich mit dem herb riechenden Duschgel ein. Anschließend wusch er sich die Haare.
    Dabei geriet Schaum in seine Augen. Er hob den Kopf und ließ das Wasser über sein Gesicht laufen.


    Und während er instinktiv die Augen zukniff, um sich mit den Händen das beißende Zeug heraus zu wischen, kamen die Bilder und Erinnerungen, die er schon so lange versuchte zu verdrängen, mit aller Gewalt hervor:


    Bilder voller Schmerz und Verzweiflung,… voller Angst und Wut…


    Erinnerungen an seine tote Frau, wie sie ihn enttäuscht und verängstigt anschaute, als er ihr seinen Entschluss mitteilte, verdeckter Ermittler zu werden…


    Szenen seiner Folterung,… seiner Peiniger,… seines Drogenentzugs… seines Todeskampfes…


    Seiner Schwester, die sich verzweifelt um ihn bemühte, als er am Boden zerstört war und aufgeben wollte…


    Bernd Simon, der an ihn geglaubt hatte und für ihn alles riskiert hatte… sogar sein Leben…


    Tom Kranich, dessen sinnlosen Tod er hilflos mit anschauen musste… der Knall aus Eriks Waffe hallte in seinem Kopf…


    Die aktuellen Ereignisse, die ihm all das nahmen, woran er sich den letzten Jahren klammern konnte…


    Menschen, die das mit Füßen traten, wofür er gekämpft hatte…


    All das drang mit aller Macht aus den Tiefen seines Unterbewusstseins nach oben und Chris wurde von seinen aufgestauten Emotionen überwältigt. Seine innere Mauer brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sein Schmerz und seine wachsende Verzweiflung suchten sich ein Ventil und wollten mit aller Macht nach draussen.


    Ohne das er sich dagegen wehren konnte, fing er an zu weinen. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht und vermischten sich mit dem Wasserstrahl aus der Dusche.
    Am ganzen Körper zitternd sackte er in sich zusammen und weinte hemmungslos.
    Minutenlang hockte er in der Duschkabine, die Arme um seine Knie geschlungen und wiegte sich hin und her.
    Jeder Schluchzer hörte sich an, als würde er aus den Tiefen seiner gepeinigten Seele entrissen…

  • Langsam machte sich Semir Sorgen. Chris war schon eine geraume Zeit im Bad und das einzige, was er hörte, war das Rauschen des Wassers.
    ‚Hoffentlich ist alles in Ordnung mit ihm’, dachte er bei sich. ‚Ob ich mal nach ihm schaue?’


    Seine Überlegung wurden durch das Piepsen des Backofens unterbrochen. Schnell schaltete er das Gerät aus. Auf der Suche nach Milch, war ihm im Kühlschrank eine Packung Aufbackbrötchen zwischen die Finger gekommen.
    Seinen Plan, mit Chris irgendwo frühstücken zu gehen, hatte er sofort verworfen, in der Hoffnung, dass ihm die Ruhe und gewohnte Umgebung gut taten und er genügend Kraft für das Gespräch mit der Schrankmann tanken konnte.


    Vorsichtig zog er das Gitter mit Hilfe eines Handtuches heraus, nahm die Brötchen mit hastigen Bewegungen herunter und legte sie auf einen Teller. Anschließend pustete er sich seine Finger: ‚Verdammt! Ich hätte doch den Topflappen nehmen sollen!’
    Ärgerlich über sich selbst, stellte er den Teller auf den gedeckten Tisch. Ein schneller Kontrollblick bestätigte ihm, das er an alles gedacht hatte.
    Was fehlte war Chris!


    „Was macht der so lange? So lange braucht noch nicht einmal Andrea!“ murmelte Semir aufgebracht.
    Langsam näherte er sich dem Bad. Gerade als er klopfen wollte, wurde das Wasser abgestellt und er hörte, wie jemand im Bad rumorte.
    Erleichtert atmete Semir auf: ‚Scheint ja alles in Ordnung zu sein.’


    Doch so ok, wie Semir dachte, war es aber bei weitem nicht!
    Was er nicht sehen konnte, war ein am ganzen Leib zitternder, stoßartig atmender Chris, der sich an seinem Spiegelschrank über dem Waschbecken zu schaffen machte. Er schob einige Tiegel beiseite, stellte hastig diverse Tube um und wühlte zwischen verschiedenen Medikamentenpackungen.


    Mit fahrigen Händen griff er nach einem kleinem Tablettengläschen und öffnete es. Er schüttete zwei der weißen Pillen in seine linke Hand und warf sie sich sofort ein. Mit etwas Wasser aus dem Hahn spülte er sie hinunter.


    Chris lehnte seine Stirn an den kalten Spiegel und umklammerte mit beiden Händen das Becken, um sein Zittern etwas unter Kontrolle zu bekommen. Mit geschlossenen Augen wartete er darauf, das die Medikamente ihre Wirkung taten.
    Nach, wie es ihm schien, endloser Zeit wurden seine Atemzüge ruhiger und das Zittern ließ nach.


    Zögerlich öffnete er seine Augen und betrachtete sein Gesicht im Spiegelbild. Enttäuschung zeichnete sich darauf ab.
    ‚Du bist wieder schwach geworden! Dabei hattest Du versprochen sie nicht mehr zu nehmen!’ Traurig senkte er den Kopf.
    ‚Sie wird es verstehen,… hoffe ich!’


    Weitere negative Gedanken, die sich in seinem Kopf breit machen wollten, schob er mit einigen tiefen Atemzügen beiseite. Dank der Wirkung der Medikamente fiel ihm das auch leicht.
    Er trocknete sich ab, schlang sich das Badetuch um die Hüfte und verließ das Bad.


    Auf dem Weg ins Schlafzimmer hörte er Semir rufen: „Ah, na endlich! Beeil Dich, das Frühstück ist fertig.“
    Ohne zu antworten schloss er die Tür hinter sich, zog sich frische Kleidung an und brachte seine Haare mit den Händen in Ordnung. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel ging er zu Semir in die Küche.
    Ohne ihn anzuschauen, setzte er sich wortlos zu ihm an den Tisch und nahm einen Schluck Kaffee.


    Semir, der sich verwundert fragte, was mit Chris los sei, hielt ihm den Teller mit den Brötchen entgegen.
    „Hier,… habe ich selbst gebacken!“ Dabei grinste er schief.


    Noch immer sprach Chris kein Wort. Statt dessen nahm er eines der noch warmen Brötchen, schnitt es auf und nachdem er es sich mit Butter bestrichen hatte, legt er sich zwei Scheiben Schinken drauf.
    Während er sich einen weiteren Schluck Kaffee gönnte, konnte er seine Augen nicht von dem Brötchen auf seinem Teller wenden.
    „Wusstest Du, dass ich diesen Schinken extra für Richard gekauft habe? Er mag ihn so furchtbar gern.“ Chris’ Stimme klang traurig und müde.


    Es fiel Semir sehr schwer sich nichts anmerken zu lassen. Doch als der Name von Gabys Sohn fiel, hatte er augenblicklich die Videobotschaft vor Augen und was dort mit ihm geschehen war. Schnell versuchte er vom Thema abzulenken.


    „Chris!… Denk nicht weiter darüber nach. Lass uns frühstücken, damit wir gleich zur Schrankmann fahren können. Wir wollen doch beide das Gespräch möglichst schnell hinter uns bringen.“
    Mit einem resignierten Nicken biss Chris in sein Brötchen und aß lustlos. Er schaute gedankenverloren vor sich hin.


    Semir war misstrauisch. Etwas stimmte nicht, das sagte ihm sein Bauchgefühl.
    Chris wirkte ruhig,… viel zu ruhig! Sein Gesichtsausdruck war verschlossen und teilnahmslos, fast versteinert.
    Er versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch statt einer Antwort nickte oder schüttelte Chris nur mit dem Kopf. Manchmal grummelte er etwas oder sprach nur kurze Sätze.


    Als Semir merkte, das Chris nicht reden wollte, gab er es auf. Er war enttäuscht.
    Irgendwie erinnerte ihn das alles an den Anfang ihrer Zusammenarbeit. Dabei hatte er so gehofft, dass es nie wieder so sein würde.
    Was musste er denn noch tun, damit ihm Chris voll und ganz vertraute!


    Er wusste, dass es Geheimnisse um Chris’ Vergangenheit gab. Da machte er sich nichts vor!
    In dem Zusammenhang fiel ihm Gabys Blick ein, den sie ihm vor ein paar Wochen bei ihrem Gespräch am Frühstückstisch zugeworfen hatte. Die Empfindungen waren echt gewesen und manchmal hatte Semir, wenn Chris sich unbeobachtet gefühlt hatte, sehen können, das ihn etwas quälte.


    Doch seit Chris ihn in sein Geheimnis um seine Familie eingeweiht hatte, war ihre Partnerschaft spürbar besser geworden. Es war die zurückhaltende Akzeptanz und der gegenseitige Respekt, der in den letzten zwei Wochen vieles erleichtert hatte. Es war ein angenehmes Arbeiten mit Chris gewesen und er hatte immer mehr das alte Teamgefühl gespürt.


    Das war alles plötzlich nicht mehr da! Im Moment fühlte er sich wieder so einsam, wie er sich kurz nach Toms Tod gefühlt hatte.
    ‚Tom würde mir jetzt erzählen, was ihn bedrückt!’
    Sehnsüchtig dachte Semir an die vielen Gespräche mit seinem alten Partner.
    ‚Er hat mir vertraut. Auch hatte er keine Angst davor, mir seine Sorgen zu erzählen.’
    Mit einem kräftigen Schluck Kaffee spülte er seine aufkommende Traurigkeit hinunter...

  • Schweigend aßen sie weiter. Mit Sorge bemerkte Semir, das Chris nur ein halbes Brötchen zu sich nahm. Er versuchte ihn zu überreden, auch noch die andere Hälfte zu essen, aber Chris murmelte leise: „Keinen Hunger. Wird schon reichen.“


    Er seufzte innerlich und warf anschließend einen Blick auf seine Armbanduhr.
    „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Die Schrankmann mag es nicht, wenn man sie warten lässt!“
    Während Chris schweigend aufstand und die ersten Sachen vom Tisch wegräumte, bestellte ihnen Semir ein Taxi.
    „In zwanzig Minuten ist das Taxi da“, verkündigte er nach dem Telefonat.


    Nachdem sie alles erledigt hatten, schlug Semir vor, draußen auf das Taxi zu warten. Zustimmend nickte Chris und sie machten sich fertig. Kurz bevor sie die Wohnung verließen, gab Chris unter einem Vorwand an, noch einmal ins Bad zu müssen.
    Den Blick in den Spiegel meidend, steckte er sich die Tabletten in die Innentasche seines Jacketts. Als er sich umdrehte, schaute sein Spiegelbild ihn vorwurfsvoll an. Er blickte sich in die Augen und versuchte sich selbst zu überzeugen: „Ist nur für den Notfall.“
    Er wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. Schuldbewusst senkt er den Kopf und verließ fast fluchtartig die Wohnung.


    Als sie an der Straße standen und auf das Taxi warteten, kramte Chris seine Zigaretten hervor. Während er sich eine aus der Schachtel nahm und in den Mundwinkel steckte, drehte er sich langsam zu Semir um.
    Ohne ihn anzusehen, murmelte er ihm leise zu: „Wir werden beobachtet!“


    Für den Bruchteil einer Sekunde schaute ihn Semir erstaunt an, fing sich aber sofort. Er bemühte sich, seinen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten: „Wo?“
    Chris steckte die Schachtel in die Jackentasche zurück, zückte sein Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an. Hinter den vorgehaltenen Händen setzte er Semir ins Bild: „Die Straße rauf, das vierte geparkte Auto. Ein grüner Ford Kombi.“


    Er legte den Kopf in den Nacken, blies den ersten Rauch in die Luft und fuhr fort: „Zwei Männer. Einer hat ein Fernglas.“
    Dabei wechselte er seine Position so, das Semir unauffällig an ihm vorbei schauen konnte, ohne das die Männer Verdacht schöpften.


    Seinen Blick an Chris vorbei gerichtet, suchte er den beschriebenen Wagen.
    Chris hatte Recht! Dort stand ein grünes Auto, in dem sich zwei Männer befanden.
    Zwischen zwei Zügen an seinem Glimmstängel mutmaßte Chris: „Ich wette, dass das Lorenz’ Leute sind.“


    Zuerst senkte Semir den Kopf und dann schaute er Chris an. „Was machen wir jetzt? Soll ich Verstärkung rufen?“
    Mit einem Kopfschütteln verneinte dieser den Vorschlag. „Lass mal. Ich glauben die sind nur hier, um zu beobachten, ob wir uns an ihre Regeln halten. Die werden uns bestimmt nichts tun… Schließlich brauchen die uns noch!“
    „Du hast wahrscheinlich Recht!“ nickte Semir.


    Kurz darauf kam das Taxi. Semir setzte sich auf den Vordersitz und Chris auf die Rückbank hinter den Fahrer. Nachdem sie ihm gesagt hatten, wo sie hin wollten, fuhr er auch sofort los.
    Durch den Rückspiegel konnte Chris sehen, das der grüne Wagen aus der Parklücke scherte und ihnen in einigem Abstand folgte. Nach Blickkontakt mit Semir wusste er, das sein Partner es auch bemerkt hatte.


    Als sie eine halbe Stunde später bei der Staatsanwaltschaft hielten, konnten sie aus den Augenwinkeln beobachten, wie ihre Verfolger auf den hinteren Parkplatz fuhren. Der Beifahrer stieg aus, und kam mit langsamen Schritten auf das Gebäude zu.


    „Die geben sich ja keinerlei Mühe um unbemerkt zu bleiben!“ bemerkte Semir kopfschüttelnd.
    „Warum sollten sie auch!“ Chris bezahlte den Taxifahrer. „Sie wissen, das sie uns in der Hand haben und wir nichts gegen sie unternehmen werden.“


    Auf dem Weg ins Gebäude, blieb ihr Schatten an ihnen dran. Er folgte ihnen in den dritten Stock und als sie an die Tür zum Büro der Staatsanwältin klopften, blieb er an der Ecke stehen und zeigte ihnen mit seiner Körperhaltung und einem gehässigem Grinsen, das er auf sie warten würde.


    Chris warf dem Mann einen vernichtenden Blick zu. Innerlich spürte er, wie es in ihm wieder anfing zu brodeln und er hatte Mühe sich zu beherrschen. Am liebsten wäre er hingegangen und hätte ihm die Informationen über den Verbleib seiner Schwester und den Kindern heraus geprügelt. Doch er wusste, das er damit alles nur schlimmer machen würde.


    Seine Gedanken wurden von Semir unterbrochen, der Chris genau beobachtet hatte. Als er das wütende Aufflackern in Chris’ Augen bemerkte und sah, wie sich eine tiefe Zornesfalte zwischen den Brauen bildete, stellte er sich schnell vor ihn und mit einem festen Blick gab er ihm zu verstehen, das es das nicht wert sei. Unmerklich schüttelte er den Kopf und formte mit den Lippen das Wort: „Nicht!“. Dann schob er ihn energisch ins Büro der Schrankmann.


    Sie wurden von der Sekretärin ins Arbeitszimmer geführt, wo bereits die Staatsanwältin ihnen mit starrer Miene entgegen blickte.
    „Ah, die Herren Hauptkommissare Gerkhan und Ritter. Wenigstens sind Sie pünktlich!“ meinte sie spitz.


    Die beiden versuchten den säuerlichen Ton in ihrer Stimme zu ignorieren. Nach der Begrüßung deutete sie an, das sie sich setzen sollten. Chris blieb allerdings stehen und entschuldigte sich bei der Staatsanwältin für sein inkorrektes Verhalten am vergangenen Freitag.
    Claudia Schrankmann studierte Chris’ Gesicht. Seine Stimme war neutral geblieben und auch seine Gesichtszüge verrieten nichts.
    Sie konnte weder Reue oder Aufrichtigkeit, noch Trotz oder Sturheit erkennen.


    Das einzige, was sie sah, waren die dunklen Ringe unter den Augen, die sie müde anschauten.
    Ein Seitenblick auf Semir ließ sie erkennen, das dieser nicht besser aussah.
    Doch sie schob das Aussehen der Männer darauf, das sie wegen des Falles schlecht schlafen würden. Sie musste sich eingestehen, das es ihr ähnlich erging.
    Dies war ein verdammt großer Fall, der schon seit Tagen von der Presse ausgeschlachtet wurde.


    Vieles hing nur von den Aussagen der Zeugen ab. Insbesondere der von Chris.
    Und als wie labil der sich erwiesen hatte, hatte sich bei seinem Wutanfall vor ein paar Tagen heraus gestellt!
    ‚Wenn er das morgen bei der Anhörung macht, können wir einpacken!’ dachte sie besorgt.
    Aber sie war nicht gewillt diesen Fall zu verlieren. Unter gar keinen Umständen!


    Innerlich seufzte sie, als sie laut meinte: „ Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Aber ich hoffe, das Sie sich morgen vor Gericht nicht noch so einen Ausrutscher leisten werden.“
    „Keinen Sorge!“ Chris setzte sich, schlug die Beine übereinander und legte die Hände in den Schoss. „Ich weiß, was ich morgen zu sagen habe.“


    Etwas an seinem Tonfall ließ ihre inneren Sirenen aufheulen. Unsicher schaute sie ihm in die Augen, doch da war wieder nichts zu erkennen.
    Irgend etwas sagte ihr aber, das etwas nicht stimmte. Sie blickte Semir an.
    Dieser kratzte sich am Hinterkopf und schien sich plötzlich brennend für die Bilder an der hinter ihr befindlichen Wand zu interessieren.


    Obwohl sie ahnte, das hier was faul war, wandte sie sich nach kurzem Zögern den Akten zu und begann mit ihrer Arbeit. In den folgenden eineinhalb Stunden fragte sie noch einmal alle relevanten Details ab und ließ sich einzelne Dinge haarklein erzählen. Zu ihrem Erstaunen beantworteten die beiden Männer alle Fragen in einem ruhigen Ton und ließen sich auch durch Gegenfragen nicht aus dem Konzept bringen.


    ‚Wenn es morgen genauso gut läuft, kann eigentlich nichts schief gehen…’, dachte sie erleichtert. Wenn,…ja wenn da nicht dieser kleine Zweifel an ihr nagen würde.
    ‚… Aber irgendwie traue ich dem Braten nicht!’


    Zum Abschied brachte sie ihre Zufriedenheit zum Ausdruck und sprach die Hoffnung aus, das morgen alles glatt gehen würde.
    Als letztes ermahnte sie beiden pünktlich zu sein, dann entließ sie sie.


    Kaum hatten die beiden das Büro verlassen, fiel ihr Blick auf den Mann, der ihnen ins Gebäude gefolgt war. Er hatte es sich in der Zwischenzeit auf einer der Bänke gemütlich gemacht und las in einer Zeitung.
    Wie er sah, das die beiden aus dem Büro kamen, faltete er die Blätter zusammen, legte sie neben sich und stand auf. Mit einem gemeinen Grinsen deutete er an, das er sie erwartet hatte.


    Hätte Semir nicht sofort reagiert, in dem er sich vor ihn stellte und ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt, hätte sich Chris wütend auf ihn gestürzt. Sekundenlang haderte er mit sich selber, ob er es nicht darauf ankommen lassen sollte. Dann aber drehte sich Chris zur Seite weg und machte einige eilige Schritte zur marmornen Balustrade, stütze sich mit beiden Händen ab und atmete mit gesenktem Kopf ein paar Mal tief ein und aus.
    Sein starrer Blick war in die Tiefe gerichtet.


    Semir trat neben ihn und betrachtete eine Zeit lang den gequälten Gesichtsausdruck seines Partners.
    Was nur ging in ihm vor? Warum sprach er nicht mit ihm über seine Gefühle, seine Ängste? Wieso glaubte er allein damit fertig werden zu müssen?
    ‚Haben nicht ich, die Chefin und all die anderen Kollegen ihm gezeigt, das wir ihn unterstützen,... ihm helfen möchten? Warum hat er Angst davor Hilfe anzunehmen?’ dachte Semir traurig, verwirrt und auch ein bisschen ärgerlich.
    Sein Partner blieb ihm ein Rätsel!


    Chris dagegen schaute frustriert von oben in die große Eingangshalle der Staatsanwaltschaft und beobachtet die vielen Menschen, die sich in dem Gebäude hin und her bewegten.


    Er sah Anwälte mit ihren ledernen Aktenkoffern; Richter in ihren wallenden Roben; ächzende Gerichtsdiener, die schwere Akten schleppten; Verteidiger in vertraulichen Gesprächen mit ihren Mandanten; Polizisten, die Angeklagte in Handschellen zu ihrem nächsten Gerichtstermin brachten… alles Menschen, die hier waren weil sie an die Gerechtigkeit glaubten, die hofften hier Recht zu finden oder darum flehten, das Justitia nicht zu hart mit ihnen war.


    ‚Doch wie kann hier Recht gesprochen werden, wenn man gezwungen wird das Gericht zu belügen?’ dachte Chris verbittert.
    Plötzlich verspürte er Trotz: ‚Soweit darf es nicht kommen! Ich muss Gaby und die Kinder möglichst schnell finden.’


    Er spürte Semirs Blick auf sich haften, richtete sich auf und drehte ihm das Gesicht zu.
    Da sah er ihn wieder,… den fragenden Blick Semirs, der so viel von ihm wissen wollte. Augenblicklich stieg in ihm Panik hoch. Er dachte an seinen emotionalen Zusammenbruch unter der Dusche und sofort verkrampfte er sich.
    ‚Werd jetzt nicht schwach!’, mahnte er sich selbst.


    Mit der rechten Hand schlug er entschlossen auf das steinerne Geländer und wandte sich der Treppe zu.
    Über die Schulter hinweg sagte er zu Semir: „Komm, lass uns fahren. Wenn wir hier Wurzeln schlagen, erreichen wir nichts.“
    Hastig lief er die Stufen hinunter, gefolgt von Semir, der das Gefühl hatte, dass Chris mal wieder davon rannte...

  • Vor dem Gebäude stiegen sie in eines der Taxen, die dort standen und auf Fahrgäste warteten.
    Der Fahrer erkundigte sich bei Chris, der jetzt vorne saß, wohin sie gebracht werden möchten. Mit Erstaunen hörte Semir, wie Chris die Adresse der KTU angab.
    Bevor er fragen konnte, kam ihm Chris zuvor. „Ich möchte wissen, was Hartmut heraus gefunden hat“, war die knappe Erklärung.


    In Semirs Kopf schrillten die Alarmglocken: ‚Er darf nicht in die KTU! Wenn er von dem neuen Film erfährt, dreht er durch!’
    Laut sagte er schnell: „Das geht nicht!“
    Verdutzt drehte sich Chris zu ihm um und hob die Augenbrauen: „Warum nicht?“


    „Weil…“, fieberhaft dachte Semir nach. „Weil… weil die Chefin uns erwartet!“
    „Ach ja?“ Misstrauisch blickte Chris seinen Partner an. „Woher willst Du das denn wissen? Du hast doch gar keinen Anruf bekommen!“
    „Das hat sie mir gesagt, bevor wir gefahren sind!“ haspelte Semir und versuchte eine glaubhafte Miene aufzusetzen.


    Chris’ Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. Seine Augen taxierten Semir, der sich sichtlich nervös unter seinem Blick wand. „Was verschweigst Du mir?“
    „Nichts!“ Die Antwort kam viel zu schnell und Semir wusste es auch. Er versuchte die Situation zu retten, in dem er hastig ein: „Ehrlich, Chris! Nichts!… Was sollte ich Dir denn verschweigen?“ hinterher schob.


    Er sah sofort, das Chris ihm nicht glaubte. ‚Verdammt, Chris…’, fluchte er in Gedanken, ‚vertrau mir! Ich mache das doch nur, um Dich zu schützen!’
    Schweigend starrte Chris Semir einige Sekunden an. ‚Was sollte das gerade? Warum sagt er mir nicht, was los ist? Er weiß doch irgend etwas!’


    Angst und Misstrauen keimten in ihm auf und fanden einen guten Nährboden.
    Bilder von Richard Lemercier, dem belgischen Agenten, der ihn verraten hatte, kamen vor seinem geistigen Auge empor. Er hatte sich auch oft komisch verhalten und Chris war damals auf seine Beteuerungen, das alles in Ordnung wäre, herein gefallen.
    Er hatte einen verdammt harten Preis für sein Vertrauen bezahlen müssen!


    Plötzlich wandte er sich an den Fahrer, der schon ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad trommelte: „Fahren Sie uns zur angegeben Adresse.“
    Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Semir die Augen schloss und scharf einatmete.


    „Du bekommst nur wieder Ärger mit der Chefin“, versuchte es Semir ein letztes Mal.
    „Das ist mir egal!“ antwortete Chris ruppig. „Auf einen Anschiss mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an!“
    Resigniert zuckte Semir mit den Schultern und hoffte inständig, das ihm noch etwas einfallen würde, wie er Schlimmeres verhindern konnte…





    Anna Engelhardt hatte sich, nachdem Semir und Chris die PAST verlassen hatten, auf den Weg zu sich nach Hause gemacht. Sie hatte Susanne und Andrea Bescheid gegeben und die Leitung so lange an Siggi übertragen.


    Nachdem sie sich zu Hause geduscht und ein kleines Müsli gegessen hatte, war sie erschöpft auf ihrem Sofa eingenickt. Der Stress und die Schlaflosigkeit der letzten 24 Stunden forderten schlichtweg ihren Tribut!


    Erst der Anruf von Susanne, die sich besorgt nach ihr erkundigte, weckte sie auf. Rasch hatte sie sich einen schwarzen Hosenanzug mit weißer Bluse angezogen und war dann schnell zurück zur PAST gefahren.


    Als sie die Räumlichkeiten betrat, spürte sie an der noch immer vorherrschenden, bedrückten Atmosphäre, dass es keine neuen Ergebnisse gab. Seufzend ging sie in ihr Büro und ließ sich von Susanne und Siggi auf den neusten Stand bringen.
    Siggi erzählte von den bis dahin gesammelten, aber leider wertlosen Informationen und beendete seinen Bericht mit der Versicherung, das die Kollegen weiterhin die Augen offen halten würden.


    Susanne hatte mit Andrea in der Zwischenzeit diverse Akten gewälzt und alle wichtigen Namen, Orte und Begebenheiten, die im Zusammenhang mit Lorenz oder Borchert standen, in einem Bericht zusammen gefasst.
    Anna überflog ihn und nickte zufrieden. „Wenn Chris zurück kommt, geben Sie ihm das bitte. Vielleicht fällt ihm ja noch etwas auf.“


    Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Stirnrunzelnd bemerkte sie mehr zu sich selbst: „Die beiden sind aber verdammt lange bei der Staatsanwältin. Ist doch nur ein letztes, abklärendes Gespräch. Die müssten doch längst fertig sein… Chris wird doch nicht wieder…“


    Siggi und Susanne schauten sich vielsagend an. Sie wussten was die Engelhardt meinte.
    Der Streit vor ein paar Tagen im Büro der Chefin war nicht zu überhören gewesen. Ausserdem hatte es für genug Gesprächsthema unter den Kollegen in den Pausen gesorgt. Jeder wusste, was vorgefallen war. Die Sympathien hatten eindeutig bei Chris gelegen.


    Endlich mal einer, der sich von der Schrankmann hatte nichts gefallen lassen!
    Alle hatten schon einmal negative Erfahrungen mit der Frau Staatsanwältin gemacht.
    Selbst Susanne, die ja auch noch nicht so lange dabei war, konnte von ihren schlechten Erlebnissen mit der Frau sprechen. Wie oft hatte sie sich von ihr am Telefon zusammen stauchen lassen müssen, weil die Engelhardt nicht erreichbar war! Diese Frau war einfach unsympathisch in ihrer ganzen Art!


    Gedankenverloren griff Anna zum Telefon und wählte Semirs Nummer. Während sie auf die Gesprächsverbindung wartete, deutete sie Siggi und Susanne mit einem Kopfnicken an, das sie mit ihnen fertig war.
    Beide standen wortlos auf und verließen das Büro.


    Plötzlich hörte sie Semirs Stimme am anderen Ende der Leitung: „Semir hier!… Was gibt es Chefin?“
    „Semir, wo bleiben Sie denn? Hat das Gespräch mit der Schrankmann so lange gedauert?“
    „Ja, wir sind erst vor circa zehn Minuten aus der Staatsanwaltschaft heraus gekommen.“
    Anna hörte im Hintergrund Fahrgeräusche. „Sind sie auf dem Weg zurück zur PAST?“
    „Nein, Chefin, wir sind auf den Weg zur KTU. Chris will unbedingt mit Hartmut reden und wissen, was er inzwischen heraus gefunden hat.“


    Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen: „Semir, sind Sie verrückt? Wie konnten Sie das zulassen? Was ist, wenn Hartmut sich verplappert? Oder einer seiner Mitarbeiter? Wir haben schon genug Stress am Hals. Wir wissen beide, was passiert, wenn er den Film zu sehen bekommt! Sorgen Sie dafür, das Sie auf der Stelle hierher kommen.“


    „Chefin, glauben Sie mir: Ich habe ihm gesagt, das Sie sauer sein werden, wenn wir nicht sofort zurück kommen. Er will mir nicht glauben, dass Sie das gesagt haben! Und Sie wissen ja, wie er ist...“
    Fieberhaft dachte Anna nach. „Na gut,…“ meinte sie nach einigen Augenblicken, „… fahren Sie zu Hartmut. Ich versuche ihn zu warnen… Und Semir,…“, ihre Stimme klang jetzt besorgt, „passen Sie auf…!“


    „Mach ich“, hörte sie Semir leichthin sagen. Doch an seiner Tonlage erkannte sie, das auch er sich große Sorgen machte. Sie konnte regelrecht die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen sehen, die sich in solchen Momenten immer bildete.


    Gerade, als sie auflegen wollte, drang noch einmal Semirs Stimme an ihr Ohr: „Ach, noch etwas, Chefin,… Wir werden, seit wir Chris’ Wohnung verlassen haben, von zwei Männern beschattet. Wahrscheinlich sind es Leute von diesem Lorenz oder Borchert. Sie sitzen in einem grünen Ford Kombi, mit dem Kennzeichen MS – GS 168.“


    „Sehr gut,“ sagte Anna und dachte kurz nach. „Ich werde eine Zivilstreife zur KTU schicken. Die können sich von dort unauffällig an das Fahrzeug hängen und mit etwas Glück bekommen wir so den Aufenthaltsort der Geiseln heraus!“
    „Gute Idee, Chefin! Wir sehen uns später.“


    Kaum hatte Semir das Gespräch beendet, beorderte die Chefin zwei Kollegen in Zivil in ihr Büro und gab ihnen die Instruktion sich an die Verfolger von Semir und Chris zu hängen.


    Dann ließ sich Anna mit Hartmut verbinden. Schnell erklärte sie ihm den Sachverhalt und ermahnte ihn eindringlich, unter keinen Umständen Chris gegenüber den Film zu erwähnen und alles was damit im Zusammenhang stand. Hartmut versprach aufzupassen…





    Während Anna mit Hartmut sprach, herrschte im Taxi zwischen Chris und Semir dicke Luft. Natürlich hatte Chris Semirs Teil des Gespräches mitbekommen.
    Er kochte innerlich und fühlte sich von ihm im Stich gelassen!


    Kaum hatte Semir das Handy in seine Jackentasche gesteckt, fauchte er ihn bitter an: „Danke, Partner! So viel zum Thema, das Du mich in allem unterstützt!“
    Wütend ballte er die Fäuste in seinem Schoss und starrte ärgerlich aus der Frontscheibe.


    Semir sagte nichts. Traurig schaute er auf den Hinterkopf seines Partners und dachte bei sich: ‚Oh, Chris… wenn Du wüsstest!… Aber es ist mir lieber, Du reißt mir den Kopf ab, als wenn Du noch mehr erdulden musst! Das möchte ich Dir gerne ersparen!’

  • Mit knallrotem Kopf schrie Lorenz ins Telefon: „Zieh sofort Deine Männer von der Bewachung ab! Diese Engelhardt will ihnen eine Zivilstreife anhängen.“
    Borchert, am anderen Ende der Leitung, verlor langsam die Geduld: „Du weißt auch nicht was Du willst! Vor ein paar Stunden haste gesagt, es sollen sich welche von meinen Männern an sie dranhängen, jetzt bläst Du alles ab. Was denn nun?“


    „Sag mal, kapierst Du’s nicht?“ Lorenz’ Stimme überschlug sich fast. „Ich versuche Dich zu warnen! Aber wenn Du meinst, Du weißt es besser… Bitte, mach doch was Du willst! Aber wunder Dich nicht, wenn plötzlich die Bullen bei Euch auftauchen!“
    Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel und stapfte aufgebracht hin und her.


    Keine zehn Sekunden später klingelte das Telefon. Er wusste, das es Borchert war. Doch er ignorierte das Läuten.
    Das Rattengesicht wollte zu Hörer greifen, doch mit einem warnenden Ausruf hielt ihn Lorenz davon ab: „Borchert soll ruhig merken, das er so nicht mit mir umspringen kann!“


    ‚Wenn Borchert wollte, könnte er noch ganz anders mit Dir umspringen! Wenn er jetzt aus der Sache aussteigen würde, sähest Du ganz schön arm aus. Ohne ihn bist Du nämlich ein Niemand!’, dachte das Rattengesicht verächtlich und machte sich wieder an seine Arbeit.


    Irgendwann nahm Lorenz den Hörer in aller Seelenruhe ab. Noch auf dem Weg zu seinem Ohr, hörte er Borchert bereits wütend brüllen: „Wag es nicht noch einmal mich so zu behandeln! Sonst kannst Du Deinen Scheiß demnächst allein machen! Hast Du mich verstanden?“


    Mit bemüht ruhiger Stimmlage fuhr ihn Lorenz an: „Und wenn Du Dich nicht nach dem richtest, was ich Dir sage, lasse ich Dich beim nächsten Mal auflaufen. Hast Du mich jetzt verstanden?“
    „Das würdest Du nicht wagen!“ zischte Borchert. „Wenn mich die Bullen schnappen, packe ich aus und ziehe Dich mit in den Knast. Das kannst Du aber mal glauben!“
    „Dito!“ fauchte Lorenz zurück.


    Sekundenlang schwiegen sich die Männer durch die Leitung an und wägten ihre Chancen ab. Beide wussten, das sie einander in der Hand hatten, aber auch einander brauchten.
    Zumindest im Moment…


    Schließlich lenkte Borchert ein: „Schon gut, schon gut… Ich ziehe meine Männer ab.“
    Lorenz grinste siegessicher: „Gut! Endlich kommst Du zur Vernunft!“
    Er hörte Borchert am anderen Telefon schnauben. „Muss ich ja wohl!“


    „Hör zu“, versuchte Lorenz den anderen Mann zu besänftigen, „warum machst Du nicht noch eins von Deinen tollen Videos?! Der Janzen hat heute morgen angerufen und erzählt, das Gehlen von den Botschaften sehr angetan war. Dir fällt doch bestimmt noch etwas ‚Nettes’ ein, oder?“
    Sein Gesprächspartner grummelte was in seinen nicht vorhandenen Bart und legte auf.


    Lorenz legte den Hörer zurück auf die Gabel und betrachtete eine Zeit lang nachdenklich die Monitore.
    In den Büroräumen herrschte das übliche Kommen und Gehen und alle Mitarbeiter widmeten sich ihren Aufgaben. Auf den ersten Blick wirkte alles normal. Für seinen Geschmack zu normal…
    Er fasste einen Entschluss und griff zum Handy: „Es wird Zeit, mal wieder etwas Leben in die Bude zu bringen…!“

  • Als der Apparat auf Susannes Schreibtisch läutete, nahm sie ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, den Hörer ab und meldete sich. Kaum hatte der Mann am anderen Ende der Leitung die ersten Worte gesprochen, stand sie ruckartig auf und winkte hektisch zu Bonrath.
    Wie er bemerkte, das Susanne seine Aufmerksamkeit benötigte, warf er ihr einen fragenden Blick zu. Mit wilden Gesten gab sie ihm zu verstehen, das er den Anruf zurück verfolgen solle. Rasch machte er sich an die Arbeit, wobei ihn Hotte unterstützte.


    „Die Mühe können Sie sich sparen!“ kam es in diesem Augenblick aus dem Hörer. „Sie werden den Anruf nicht zurück verfolgen können. Ich habe Vorkehrungen getroffen.“


    Anna Engelhardt, die die Aufregung bemerkte, kam aus ihrem Büro. Während sie sich nach vorne beugte und sich mit den Händen auf der Schreibtischplatte abstützte, fragte sie stumm, ob es der Anrufer vom Vortag sei.
    Nach einem bestätigenden Nicken, schaltete Susanne auf Lautsprecher um und fragte: „Was wollen Sie?“


    „Ich möchte mit Kommissar Ritter verbunden werden.“
    „Das geht gerade nicht, da sich Herr Ritter zur Zeit bei der Staatsanwaltschaft aufhält. Er hat dort einen Termin“, erklärte Susanne dem Anrufer. „Wenn Sie aber möchten, können Sie ihm eine Nachricht hinterlassen. Wenn er wieder zurück ist, werde ich sie ihm geben.“


    Der Anrufer lachte höhnisch auf: „Netter Versuch! Aber verarschen kann ich mich selber! Ich weiß, das er schon lange bei der Staatsanwalt fertig ist und sich zur Zeit auf dem Weg zur KTU befindet... Also bitte, verbinden Sie mich mit ihm oder geben Sie mir die Nummer seines Handy.“


    Susannes Blick ging hilfesuchend zur Engelhardt. Die räusperte sich und ergriff dann das Wort: „Hier spricht Polizeioberrätin Engelhardt. Ich bin die Vorgesetzte von Herrn Ritter.“
    Sie hoffte, den Mann durch die Nennung ihres Titels einschüchtern zu können.


    „Ich weiß wer Sie sind, Frau Engelhardt“, sagte der Mann am Telefon unbeeindruckt. „Könnten Sie bitte Ihrer Sekretärin sagen, Sie möchte mich mit Kommissar Ritter verbinden. Ich habe eine wichtige Information für ihn.“


    „Sie haben Informationen für uns?“ Erstaunen klang aus Annas Stimme.
    „Nein, nicht für sie“, kam es belehrend aus der Leitung. „aber für Herrn Ritter… Kann ich jetzt mit ihm sprechen?“


    Anna und Susanne wechselten einen Blick, dann straffte die Chefin ihre Schultern und sagte bestimmt: „Nein, im Moment ist Herr Ritter nicht erreichbar. Entweder geben Sie mir die Information oder Sie rufen später noch einmal an.“


    Der Anrufer schien nachzudenken, denn es war eine ganze Zeit still. Mit einem Räuspern sprach er weiter: „Ich melde mich nachher noch einmal, wenn Herr Ritter wieder da ist. Ist vielleicht auch besser so. Dann können Sie den Spaß mitverfolgen.“
    Damit wurde die Leitung unterbrochen.


    Sofort richtete die Chefin ihr Augenmerk auf Bonrath, der aber mit dem Kopf schüttelte: „Da war nichts zu machen. Es war wieder ein Prepaid-Handy.“
    Verhalten fluchend fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare und überlegte, wie sie am besten vorgehen sollten. Diese ständige Angespanntheit zerrte an ihren Nerven.


    Plötzlich zeigte sich Entschlossenheit auf ihrer Miene und mit lauter Stimme verschaffte sie sich Gehör: „Meine Herren, ich habe es langsam satt, mir von diesen Kerlen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Ich möchte Sie bitten, sich jetzt auf Ihre Runden zu machen. Fahren Sie die Ihnen eingeteilten Routen ab und schauen Sie sich um. Wenn es sein muss, drehen Sie jeden Stein um! Fragen Sie überall, ob jemandem etwas aufgefallen ist. Irgendwo muss doch irgend jemand was gesehen oder gehört haben. Bringen Sie mir Ergebnisse! Melden Sie sich in regelmäßigen Abständen und berichten Sie.“
    Sie zeigte auf Siggi: „Sie bleiben hier und bedienen den Funk.“


    Alle Beamten standen auf und innerhalb kürzester Zeit war die Dienststelle wie leergefegt. Mit einem grimmigen Lächeln ging Anna zurück in ihr Büro.
    Susanne saß mit nachdenklichem Gesicht an ihre Schreibtisch und grübelte über den Anruf nach.
    Etwas hatte sie stutzig werden lassen, aber sie kam beim besten Willen nicht darauf, was es war…






    Im Geiste schlug das Rattengesicht die Hände überm Kopf zusammen: ‚Dieser Amateur! Der vermasselt es noch! Hoffentlich haben die nichts bemerkt!’
    Aufmerksam beobachtete er auf seinen Monitoren das Verhalten der Leute auf der PAST. Aber anscheinend hatte niemand den Fehler erkannt und still atmete er erleichtert auf.


    Als diese Engelhardt ihr Männer aufscheute, kicherte Lorenz neben ihm: „Guck mal, wie sie ihre Leute jagt.“
    Wortlos nickte das Rattengesicht, als es bei sich dachte: ‚Und Du scheinst mehr Glück als Verstand zu haben.’


    Eine Zeitlang verfolgte er noch die weiteren Aktivitäten der Zurückgebliebenen.
    Bis auf einen Anruf, den diese Engelhardt von der Staatsanwältin erhielt und einer Sekretärin, die Papiere sortierte, tat sich nicht allzu viel. Er entspannte sich etwas.


    Da aber die Sekretärin der Kamera den Rücken zudrehte, konnte er ihre grübelnde Miene nicht sehen.
    Vielleicht wäre er dann nicht mehr so entspannt gewesen…

  • „Stellt keine Fragen, sondern kommt einfach zurück. Und zwar auf der Stelle! Tut einfach, was ich Euch sage!“
    Zornig beendete er das Gespräch und schmiss das Handy auf sein Feldbett.


    Wutentbrannt stürmte Borchert aus seinem Zimmer und an seinen Leuten vorbei, die es sich im Speisesaal gemütlich gemacht hatten. Im Vorbeigehen schnauzte er sie an: „Sobald der Freak hier ist, soll er sich bei mir melden. Ich habe Arbeit für ihn.“


    Sie wussten das er das Mausgesicht meinte und einige nickten zur Bestätigung. Anschließend starrten alle ihm nach und warfen sich anschließend wissende Blicke zu.
    Der Boss war mal wieder in Rage und suchte sich jemanden, an dem er seine Wut auslassen konnte. Sie ahnten, wen er sich vorknöpfen würde und im Grunde war es ihnen egal. Solange es keiner von ihnen war…


    Borchert rannte sie Treppe hinauf und blieb am oberen Absatz kurz stehen. Er schaute einen Moment nach rechts in den Gang mit dem Zimmer, wo die Kinder waren und überlegte, ob er sich mit ihnen befassen sollte.
    Aber er verwarf den Gedanken. Den Jungen brauchte er noch und das Mädchen plärrte sowieso die ganze Zeit.


    Also drehte er sich entschlossen nach links und ging zielstrebig auf das Zimmer der Frau zu. Er würde sie aus ihrer verdammten Bewusstseinssperre holen, koste es was wollte.
    Zur Not würde er sie heraus prügeln! Noch ahnte er nicht, welch großes Glück er haben würde…





    Bereits vor Stunden war Gaby langsam aus ihrem Dämmerzustand erwacht. In ihrem Unterbewusstsein meinte sie Richards Weinen und seine flehende Stimme gehört zu haben, mit der er nach ihr rief.
    Doch je wacher sie wurde, desto leiser waren seine Rufe geworden. Seit einiger Zeit hatte sie ihn nicht mehr gehört.
    Verbittert erkannte sie, das sie wohl geträumt haben musste.


    Eine sich ständig wiederholende Stimme in ihrem Kopf brachte sie letztendlich zurück in die Realität: ‚Dein Sohn ist tot!... Dein einziges Kind ist tot!... Und es ist allein Deine Schuld!’
    Die Erinnerung an den grauenvollen Tod ihres Kindes versetzte ihr einen Dolchstoss mitten ins Herz und ihr Magen krampfte sich zusammen.


    Einige Minuten schloss sie die Augen, in der Hoffnung wieder in ihren Dämmerzustand zu fallen. Doch leider passierte nichts. Sie musste sich mit der harten Wahrheit abfinden: Richard ist tot!


    Vor ihrem inneren Auge durchlebte sie noch einmal die grausamen Momente:
    als dieser Mann die Spritze setzte,…
    wie Richard zusammenbrach,…
    der anklagende Blick den er ihr zuwarf, bevor er die Augen für immer schloss,…
    sein bleiches, regungsloses Gesicht, dass durch ihre Tränen bedeckt wurde,...
    seinen zarten Körper im Dreck liegend...


    Ihr Augen füllten sich mit Tränen und liefen ihr übers Gesicht. Minutenlang weinte sie erst leise vor sich hin und betrauerte ihren Sohn. Doch die Bilder in ihrem Kopf ließen sie nicht zur Ruhe kommen, so das sie irgendwannn die Hände vors Gesicht schlug und aus ihrem Weinen ein heftiges, gequältes Schluchzen wurde.


    Eine halbe Stunde später beruhigte sie sich etwas, setzte sich vorsichtig auf, wischte sich mit den Händen die Tränen vom Gesicht und lehnte sich an die Wand.
    Sie wusste nicht wo sie war und wie lange sie sich hier schon befand. Es konnten erst ein paar Stunden sein oder auch schon ein paar Tage... sie wusste es wirklich nicht! Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.


    Ihr ganzer Körper schmerzte und fühlte sich bleiern an. Den Blick durch das Zimmer schweifend, in dem sich nichts anderes befand, außer dem Feldbett, auf dem sie saß, blieb er am Fenster hängen.


    Jemand hatte Bretter von innen davor geschraubt und durch die Ritzen fielen weiße Sonnenstrahlen. Anhand des Winkels, wie sie in den Raum fielen, nahm Gaby an, das es kurz vor Mittag sein musste.
    Geistesabwesend beobachtete sie die vielen, winzigen Staubpartikel, wie sie in der Luft tanzten.


    Die Ereignisse der letzten Stunden (‚Oder waren es schon Tage?’) kamen ihr immer wieder in den Sinn. Sie fragte sich, wo Jakob und Johanna wohl waren und ob es ihnen gut ginge. Ob sie die beiden noch einmal sehen würde? Was wohl mit ihnen geschehen war?


    Obwohl es ihr absolut klar war, das es nicht ihre eigenen Kinder waren, sondern die von Chris, hatte sie sie doch immer als solche behandelt.
    Es waren „ihre“ Kinder!


    Die sie aufgezogen hatte,...
    mit denen sie gelacht hatte,...
    mit denen sie gelitten hatte,...
    die sie getröstet hatte, wenn sie etwas bedrückte,...
    die sie durch alle Höhen und Tiefen begleitet hatte,...
    für die sie so viel geopfert hatte, …


    Tief in ihrem Innern regte sich plötzlich ein ihr unbekanntes Gefühl. Es kam langsam, leise und schleichend.
    Doch je länger sie an das ganze erlittene Leid denken musste, desto mächtiger und intensiver wurde dieses Gefühl.
    Sie versuchte sich dagegen zu wehren, doch als sie in ihren Gedanken noch einmal die angsterfüllten Schreie von Johanna hörte, brach sich dieses Gefühl mit aller Macht an die Oberfläche durch:


    Wut!… Brodelnde Wut!
    Doch es war nicht irgendeine Wut, sondern eine bis dahin nie gekannte Wut auf ihren Bruder!


    Wie hatte er sie so im Stich lassen können? Nach allem, was sie für ihn getan hatte!
    Wieso hatte er sie nicht schon längst befreit? Er hatte schon so vielen Menschen das Leben gerettet.
    Warum tat er nicht das gleiche für sie und die Kinder? Er hätte Richard retten können!
    Wie oft hatte sie ihm Vertrauen geschenkt? Ihm gezeigt, das sie ihn unterstützt, ihm beisteht…


    Doch er ließ sie eiskalt im Stich! Tat nichts, um sie zu befreien…


    Ihr Unterbewusstsein mahnte sie, das sie ungerecht sei. Doch das wollte sie nicht hören!
    Sie brauchte einen Schuldigen…
    Jemanden, den sie für das ganze Elend verantwortlich machen konnte…
    Jemanden, an dem sie ihrem ganzen Frust, ihre wallende Wut auslassen konnte…
    Jemanden, dem sie ihre empfundenen Ängste und erlittenen Schmerzen vorwerfen konnte…


    Ohne Gewissensbisse schlug sie den mahnenden Gedanken beiseite und gab sich weiter ihrer Wut hin…

  • An der KTU angekommen, befahl Chris dem Taxifahrer im barschen Ton auf sie zu warten. Ohne auf Semir zu achten, stieg er aus und ging schnurstracks ins Gebäude.


    Als Semir ausstieg, warf dieser dem Taxifahrer einen entschuldigenden Blick zu und richtete sein Augenmerk anschließend auf die Strasse. Auf der anderen Straßenseite sah er die Kollegen der Zivilstreife, die ihn mit fragenden Gesten zu verstehen gaben, das sie keine Verfolger sahen.


    Irritiert schaute er die Strasse hinunter. Sie hatten Recht: Die Verfolger waren nicht mehr zu sehen. Hilflos zuckte er mit den Schultern. Die Beamten deuteten an, dass sie noch eine Zeit lang warten würden und Semir nickte bestätigend. Dann trabte er in die KTU.


    Währenddessen ging Chris mit großen Schritten durch die weitläufige Halle, in der die Fahrzeuge untersucht wurden und ohne jemanden zu grüßen oder zu beachten, wandte er sich zur Treppe und war auf dem Weg nach oben. Er bemerkte nicht, wie einige Mitarbeiter ihre Arbeit unterbrachen, um ihm hinterher zu schauen. Semir folgte ihm mit eiligen Schritten.


    Kaum stand Chris vor der Tür zu Hartmuts Büro, öffnete er diese nach kurzem Anklopfen ohne auf eine Antwort zu warten. Hartmuts hastige Bewegung zum Computer, um ihn auszuschalten, bemerkte er nur am Rande.
    Er trat an den Tisch, der mitten im Raum stand, stütze seine Hände darauf ab und funkelte Hartmut entschlossen an.


    „Was hast Du herausgefunden?“ Seine Stimme klang gereizt und unwillkürlich musste Hartmut schlucken.
    Sichtlich nervös zupfte er an seinem Kittel und versuchte durch eine aufrechte Sitzhaltung einen selbstbewussten Eindruck zu vermitteln. Seine Augen gingen Hilfe suchend zu Semir, der gerade das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss.


    Chris bemerkte den Blick, schlug mit der Faust auf die Tischplatte und fauchte ihn an: „Hey,… ich rede mit Dir! Ich will wissen, was Du Neues hast?“ Dabei blitzten seine Augen gefährlich auf.


    Nachdem Hartmut noch einmal einen flüchtigen Blick zu Semir geworfen hatte, und dieser ihm unmerklich zugenickt hatte, nahm er einige Blätter zur Hand und reichte sie Chris.


    „Das sind die ersten Ergebnisse aus dem Versteck der Gangster. Wir haben Fingerabdrücke und einige Haar- und Gewebeproben gefunden. Beim letzteren müssen wir noch die Ergebnisse abwarten, die dauern noch etwas. Bei den Fingerabdrücken haben wir mehrere Treffer gelandet. Die meisten von ihnen sind einschlägig vorbestraft wegen Todschlag, Menschenraub, räuberischer Erpressung usw. Viele lassen sich dem direkten Umfeld eines Jens Borchert zuordnen, dessen Fingerabdrücke wir auch dort gefunden haben.“


    Er schaute Chris an, versuchte seinem Blick standzuhalten und hoffte, das ihm das an Informationen reichte. Doch er bemerkte sofort, das Chris damit nicht zufrieden war.
    Auf dessen Gesicht war deutlich zu sehen, das er mehr erwartet hatte.


    „Wie?… Das ist alles?… Mehr hast Du nicht?“ Frustriert warf Chris die Blätter vor Hartmut auf den Tisch. Er schnaubte verächtlich. „Und dafür hast Du jetzt die ganze Nacht gebraucht? Um mir Dinge zu erzählen, die ich sowieso schon weiß?“


    Stumm nickte Hartmut mit dem Kopf und zuckte hilflos die Schultern.
    „Was war mit dem Computer? Gab es dort verwertbare Informationen?“ hakte Chris ungeduldig nach.


    Wieder warf Hartmut einen schnellen Blick zu Semir, bevor er antwortete: „Alle darauf befindlichen Daten sind gelöscht worden. Einer meiner Männer versucht sie gerade zu rekonstruieren. Aber das dauert seine Zeit.“


    „Zeit!“ Chris spie das Wort regelrecht aus und richtete sich ruckartig auf. „Wir haben aber keine Zeit! Uns läuft die Zeit davon!“
    Er fing an im Büro hin und her zu gehen. Plötzlich hielt er inne, drehte sich abrupt um, zeigte anklagend auf Hartmut und zischte feindselig: „Ist Dir eigentlich klar, was es bedeutet, wenn wir bis morgen früh meine Schwester und die Kinder nicht befreit haben? Hast Du mal einen Gedanken daran verschwendet?“


    Bevor Hartmut antwortete, zuckten seine Augen kurz zu Semir, dann schluckte er heftig: „Natürlich weiß ich das. Aber ich und meine Männer, wir können auch nicht hexen! Einige von denen haben sogar Überstunden gemacht und ich selber habe letzte Nacht nur ein paar Stunden geschlafen. Wir arbeiten schon so schnell wie möglich, aber auch uns sind Grenzen gesetzt. Bestimmte Tests benötigen nun einmal ihr Zeit. Glaub mir, Chris, wir tun hier alle unser möglichstes!“ versuchte er sich zu rechtfertigen.


    Chris, der während Hartmuts Ansprache wieder ungeduldig umherlief, blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Hartmut sekundenlang gedankenverloren an.
    Er spürte, das hier was faul war. Er ließ seinen Blick zu Semir wandern, der bis jetzt nicht ein Wort gesagt hatte.
    Sein Partner stand mit einem auf den ersten Blick wirkenden unbeteiligten Gesichtsausdruck am anderen Ende des Tisches und schien ihn zu beobachten.


    Da!… Da war er wieder,… dieser Blick zwischen Hartmut und Semir!
    Er kniff leicht die Augen zusammen und schaute lauernd von einem zum anderen.
    Seine nächste Frage kam mit einem gefährlichen Zischen über die Lippen: „Was verheimlicht Ihr mir?“


    Die beiden angesprochenen Männer wechselten einen weiteren Blick und wendeten sich anschließend Chris zu.
    „Nichts!“ war ihre Antwort wie aus einem Mund.
    „Ehrlich!“ schob Hartmut mit krächzender Stimme hinterher. Das folgende Schweigen hing drückend in der Luft.


    Chris’ Misstrauen wuchs. Er ahnte… nein, er wusste das die beiden ihm etwas vorenthielten… Das sie etwas wussten, was er nicht erfahren sollte.


    Plötzlich durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke: „Habt Ihr was über meine Schwester heraus bekommen? Ist ihr was passiert?“ Seine Miene nahm einen panischen Ausdruck an und er schaute von einem zum anderen.
    Sofort schüttelten Semir und Hartmut die Köpfe und verneinten seine Frage.


    „Doch nicht etwa den Kindern?“ fragte er tonlos. Wieder schüttelten beide Männer den Kopf, wenn auch etwas zögerlicher, und tauschten verstohlene Blicke miteinander aus.
    Erleichtert atmete Chris aus. Doch an ihren betretenen Gesichtern konnte er erkennen, dass das nur die halbe Wahrheit war.


    Erneute Angst breitete sich in ihm aus.
    Er spürte wie sie ihn lähmte,…
    ihm die Luft zum atmen nahm,…
    ihn zwang allem zu misstrauen…
    Er hasste dieses Gefühl!


    Wütend hieb er mit der Faust auf den Tisch: „Verdammt! Ich will endlich wissen, was hier los ist!“
    Er drehte den Kopf zu seinem Partner, der bisher geschwiegen hatte und starrte ihn an.
    „Semir?“ kam es fordernd über seine Lippen.


    Semir erwiderte den Blick, schien einige Sekunden seine Gedanken abzuwägen.
    Dann sagte er leise mit trauriger Stimme: „Es tut mir leid Chris, ich darf es Dir nicht sagen.“
    Fassungslos blickte ihn Chris an: „Warum nicht?“
    „Anordnung der Chefin“, entschuldigte sich Semir mit einem leichten Schulterzucken.


    Chris traute seinen Ohren nicht. Die Engelhardt ließ etwas vor ihm geheim halten! Enthielt ihm Informationen! Wollte nicht, das er erfuhr, was alle anderen anscheinend schon wussten!
    Aber warum?… Vertraute sie ihm nicht?


    Unbewusst hatte er die Luft angehalten und stieß sie nun verächtlich aus. Enttäuscht schüttelte er den Kopf, ging zur Tür und ohne den beiden anderen Männern eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er wortlos den Raum.
    Er rannte die Treppe hinunter, lief durch die Halle, setzte sich ins Taxi und befahl dem Mann hinterm Steuer ihn zur PAST zu bringen.


    „Was ist mit ihrem Kollegen?“ fragte ihn der Fahrer mit leichtem Erstaunen.
    Chris drehte seinen Kopf nach links und sein harter Gesichtsausdruck ließ erahnen, was gerade in ihm vorging. „Entweder sie fahren jetzt,… oder ich lasse mir ein anderes Taxi kommen!“ fauchte er gereizt.

    Der Taxifahrer hob ergeben die Hände, murmelte was von: „Wie Sie wollen!“ und startete anschließend den Motor.
    Gerade als sie das Gelände der KTU verließen, konnte er im Rückspiegel sehen, wie der andere Polizist mit einem großen, rothaarigen Mann aus dem Gebäude gerannt kam…

  • Semir stampfte wütend mit dem Fuß auf und hob frustriert die Arme. „Chris!“ rief er hinter dem davonbrausenden Taxi hinterher. „Na toll! Das ist ja super gelaufen!“
    Ärgerlich mit sich selbst, drehte er sich zu Hartmut um und sah wie dieser betreten dreinblickte.


    „Was, meinst Du, macht er jetzt?“ hörte er ihn leise fragen.
    Semir seufzte: „Ich hoffe nichts Dummes. Ich muss auf jeden Fall möglichst schnell zur PAST.“
    Nach einem kurzen, fieberhaften Überlegen nahm seine Miene einen schelmischen Ausdruck an: „Ist Lucy wieder fahrbereit?“


    Auf Hartmuts Gesicht brach Panik aus und mit schreckensweiten Augen schüttelte er den Kopf: „Oh, nein!… NEIN!… Denk nicht einmal im Traum daran! Du bekommst sie nicht! Ich habe sie gerade wieder zusammengebastelt und frisch lackiert.“
    Semir setzte seinen Dackelblick auf. Abwehrend hob Hartmut die Hände: „Du brauchst gar nicht so zu gucken!… Nein, Semir! Vergiss es!“ Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zurück in sein Büro.


    „Hartmut, bitte, es ist wichtig!“ bettelte Semir.
    Nachdem er seinen Fuß auf die erste Stufe gesetzt hatte, rief Hartmut über seine linke Schulter: „Semir,… lies es von meinen Lippen: N-E-I-N! Nein! Und dabei bleibt es!“
    „Aber Hartmut! Es geht doch um Leben und Tod!“ versuchte es Semir eindringlich.


    Den Einwand ignorierend schimpfte Hartmut im Weitergehen wie ein Rohrspatz: „Das ist mir egal! Ich bleibe dabei: Nein, nein und noch mal nein! Ich habe mir geschworen, Euch nie wieder an meine Lucy heran zu lassen. Ihr habt sie mir nie in einem Stück zurück gebracht!“ Er war inzwischen auf halben Weg die Treppe rauf, als er sich plötzlich umdrehte und vorwurfsvoll auf Semir zeigte: „Du und Tom, ständig habt Ihr…“


    Abrupt hielt er verlegen inne, seine Miene veränderte sich schlagartig und bekam einen peinlich berührten Ausdruck. Sofort entschuldigte er sich: „Es tut mir leid, Semir! Ist wohl etwas mit mir durchgegangen. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen.“


    Semir winkte traurig ab und meinte mit einem Vibrieren in der Stimme: „Schon ok, Hartmut. Hast ja recht!“
    Langsam drehte er sich um und ging mit gesenkten Schultern in Richtung Ausgang.


    Der Anblick war für Hartmut so herzzerreißend, das er weich wurde und mit einem Stoßseufzer nachgab: „Also gut,… Du kannst Lucy haben.“ Dann straffte er seine Schultern und fügte im bestimmenden Ton hinterher: „Aber nur, wenn ich mitkommen darf! Dann kann ich die Engelhardt bei der Gelegenheit auf den aktuellen Stand bringen.“


    „Alles klar“, nickte Semir eifrig. „Aber beeil Dich. Ich möchte versuchen vor Chris auf der Dienststelle zu sein.“
    Hartmut zögerte kurz. Etwas an Semirs Aussage und Mimik ließen seine inneren Sensoren alamiert aufheulen.


    Forschend schaute er auf Semir hinunter, doch sein Gesicht zeigte schon wieder einen Hauch von Traurigkeit. Hartmut öffnete den Mund und seine Miene nahm einen vorsichtigen Ausdruck an. Es sah so aus, als ob er es sich anders überlegen wollte. Dann schüttelte er leicht den Kopf, schloss den Mund wieder und lief schnell die Treppe hinauf, um seine Sachen zu holen.


    Was er nicht mehr sah, war, wie sich ein breites Grinsen auf Semirs Gesicht ausbreitete…

  • Borchert stürmte in Gabys Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Er traute seinen Augen nicht und konnte erst recht nicht sein Glück fassen. Die Frau war ja wach!


    Gaby saß auf dem Bett und starrte ihn mit erschrockenen Augen an. Die rauchende Wut auf ihren Bruder war augenblicklich in Angst umgeschlagen, als sie ihren Peiniger sah. Insgeheim hatte sie gehofft, ihre Wut gegen ihren Widersacher richten zu können. Doch dieser Mann hatte eine furchteinflößende Macht auf sie, bei der augenblicklich jeder Widerstand zerbrach.


    Ein gemeines Lächeln umspielte seinen Mundwinkel, als er schnurrte: „Hallo!… Sind wir auch wieder wach?“ Dabei machte er zwei, drei langsame Schritte auf sie zu.


    Gaby nickte vorsichtig. Obwohl sie Angst vor erneuten Schlägen hatte, wagte sie die nächste Frage.
    Sie wollte nicht länger im Ungewissen sein: „Was ist mit meinen Kindern?“
    „Was soll mit ihnen sein?“ kam es lauernd zurück.


    Sie versuchte ruhig zu bleiben, aber ihr zitternder Körper verriet, was wirklich in ihr vorging.
    „Geht es ihnen gut?“ brachte sie leise hervor.
    „Noch geht es ihnen den Umständen entsprechend“, erklärte der Mann mit einem leichtfertigen Schulterzucken.
    „Darf ich sie sehen?... Bitte?“ fragte Gaby zögerlich.


    Borchert legte den Kopf schräg und betrachtete sie eine Zeit lang. Dann schüttelte er leicht den Kopf und mit einem abschätzigen Schnalzen der Zunge sagte er: „Jetzt noch nicht,... später vielleicht!“


    Er trat ganz nah an sie heran und beugte sich zu ihr hinunter. Mit seinem rechten Zeigefinger strich er ihr sanft über das Gesicht und seine eisblauen Augen funkelten gierig auf. Angeekelt wandte sie den Kopf ab und eine kalte Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus, das es sie schüttelte.
    Borchert nahm ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, das sie ihn wieder ansehen musste.


    „Na, na… sind wir wieder unartig?“ tadelte er Gaby. „Dabei solltest Du doch inzwischen am besten wissen, dass das bestraft wird.“
    Seine Stimme bebte vor erwartungsvoller Erregung.


    Ihr Kinn loslassend, streichelte er mit seiner Hand an ihrem Hals hinunter und ließ sie dort liegen. Seine Finger umspielten den Kragen ihres Pullovers und berührten die Haut darunter. Seine rauen Fingerkuppen fühlten sich wie Schmirgelpapier an, als sie sich liebkosend knapp unterhalb des Halses hin und her bewegten.


    Angewidert schloss Gaby die Augen. Sie spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte und ihr Herz bis zum Halse schlug. Übelkeit und Panik stieg in ihr auf.


    Der Mann ließ ein leises, wohliges Lachen von sich hören und sein heißer Atem strich über ihr Gesicht.
    „Sieh mich an!“ hauchte er mit rauer Stimme.


    Obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte, öffnete sie langsam die Augen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen. An seinen Gesichtszügen versuchte sie zu erkennen, was er vorhatte. Das einzige was sie jedoch sah, war ein erwartungsvolles Lächeln.


    „Doch zuerst...“ Er strich mit seiner Zunge langsam über seine Lippen und sein Blick wurde für einen Moment träumerisch, „... zuerst wird es Zeit für eine weitere Botschaft an Deinen Bruder.“


    Einen Moment lang ergötzte er sich an ihrem verängstigtem Blick und genoss das Herzklopfen, das er an ihrem Hals spürte. Langsam entfernte er seine Hand und richtete sich auf.
    „Ich hole Dich nachher und dann werden wir unseren Spaß haben!“ sagte Borchert mit einem teuflischen Grinsen und verließ das Zimmer.


    Im Flur verharrte er. Mit einer sanften, fast zärtlichen Geste glitten seine Finger an der geschlossenen Tür hinunter und befriedigt legte er den Kopf in den Nacken.
    Seine Augen glühten. Ein wohliger Schauer durchlief ihn... ließ ihn ekstatisch aufstöhnen.


    Er ahnte, was sie gedachte haben musste und innerlich musst er hämisch grinsen.
    Die Frau konnte ja nicht wissen, das er an so etwas profanem wie einer Vergewaltigung kein Interesse hatte. Das war nur etwas für Amateure! Er bevorzugte die psychische Gewalt... das war was für Könner!
    Mit federnden Schritten entfernte er sich und hoffte, das der Freak möglichst schnell wieder zurück kam.





    Währenddessen löste sich Gaby langsam aus ihrer Verkrampfung. Übelkeit überkam sie.
    Hastig beugte sie sich über den Rand des Feldbettes und mit einem würgenden Geräusch übergab sie sich. Einige Minuten lag sie apathisch auf der Matratze und atmete stoßweise.


    Ihr Kopf fing wieder an zu dröhnen und sämtliche Knochen schmerzten. Schüttelfrost ließ sie am ganzen Körper beben, kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander.


    In ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit rutschte sie vom Bett auf die Knie und schleppte sich in die hinterste Ecke des Zimmers. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck lehnte sie sich an die Wand, zog die Beine an und schlang ihre Arme darum.
    Ihren Kopf auf ihre Knie legend, übermannte sie unendliche Hoffnungslosigkeit und kurz darauf erzitterte ihr Körper unter ihrem Schluchzen…

  • Heute nur einen kleinen Happen! :rolleyes:
    Warum? ?( ...Schaut unter den Feeds nach! :] =)


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    Sie warf einen letzten, traurigen Blick über ihre Schulter und atmete noch einmal mit geschlossenen Augen den vertraut, bekannten Geruch ein, bevor sie die Tür endgültig hinter sich zuzog.


    Ohne zu Zögern ging Maria Becker zum Taxi, das an der Strasse bereits auf sie wartete. Sie nannte dem Fahrer die Adresse und als der Wagen anfuhr, wandte sie sich ein letztes Mal ihrem Haus zu.
    Sie wusste, sie würde nicht zurückkehren und ihre Augen füllten sich mit Tränen.


    Erinnerungen der letzten Jahre kamen in ihr hoch: Ihr geliebter Mann,… ihre beiden hübschen Töchter,… Geburtstagsfeiern,… Familienfeste,… vertrautes Beisammensein,… glückliches Lachen,… Streit und Versöhnung,… es waren fast nur schöne Erinnerungen!


    Und doch musste sie das alles aufgeben.
    Sie sah keinen anderen Ausweg! In ihren Augen gab es nur diese eine Lösung!


    Mit einem schnellen Blinzeln schluckte sie ihre Traurigkeit hinunter. ‚Es ist das einzig Richtige!’ sprach sie sich Mut zu und schaute auf den Brief in ihren Händen.
    Sie umklammerte ihn, wie einen rettenden Strohhalm... und doch spürte sie, wie sie unaufhaltsam in einem tödlichen Sog unter ging.


    Denn Maria Becker, die von ihrem Mann vergötterte Ehefrau, die von ihren Kindern geliebte Mutter und von allen Kollegen der PAST geschätzte Putzfrau, wusste: Für sie gab es kein Zurück mehr…

  • Semir freute sich wie ein kleines Kind, als er mit Lucy über die Autobahn jagte.
    „Nicht wahr, altes Mädchen? Das gefällt Dir. Endlich mal einer, der Dich richtig zu fahren weiß!“ kicherte er in sich hinein und fuhr mit rasanten Schlenkern an mehreren Sattelschleppern vorbei.


    Hartmut hielt sich krampfhaft an seiner Tasche auf seinem Schoss fest und mahnte Semir zum wiederholten Mal, doch bitte etwas vorsichtiger zu fahren.
    „Papperlapapp!“ tat dieser den Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Mit der anderen Hand am Steuer, brachte er Lucy durch eine kleine Lenkbewegung ins Schaukeln.


    „Nimmst Du wohl beide Hände ans Steuer?!“ kreischte Hartmut hysterisch und rutschte in seinem Sitz fast die Rückenlehne hinauf.
    „Ich weiß was ich tue!“ lachte Semir kurz auf und in seinen Augen funkelte es freudig.


    „Das hast Du letztes Mal auch gesagt und hinterher durfte ich die Einzelteile aus diversen Gräben sammeln“, beschwerte sich Hartmut mit vorgeschobener Unterlippe.
    „Na, na,… nun sei mal nicht so kleinlich! Hast sie ja wieder prima hinbekommen! Geht wieder ab wie `nen Zäpfchen!“ Semir grinste wie ein Honigkuchenpferd.


    Hartmuts Gesicht hatte in der Zwischenzeit einen leicht grünlichen Ton angenommen und ließ seine Gemütsverfassung erahnen: „Danke! Ich möchte aber gern, dass das noch eine ganze Zeit so bleibt. Also,... könntest Du jetzt bitte etwas langsamer fahren? Wir werden ganz bestimmt vor Chris auf der PAST sein,… so wie Du gebrettert bist.“
    Die Stimme klang so wie sein Antlitz aussah: würgend, grünlich, säuerlich!


    Seinen Fuß etwas vom Gas nehmend, veränderte sich Semirs Gesichtsausdruck. Er blickte ernst auf die Strasse und meinte mit einem Seufzer: „Ich hoffe, das wir rechtzeitig da sind.“ Er hatte die Chefin bereits vorgewarnt, das Chris wohl auf dem Weg zurück sei und wüsste, das ihm etwas vorenthalten würde.
    Sie hatte sich nicht glücklich angehört, als sie sich für die Warnung bedankte.


    Hartmut warf einen nachdenklichen Blick zu Semir: „Du machst Dir wohl Sorgen um ihn?“
    Bestätigend nickte Semir: „Ja, ich mache mir Sorgen. Sogar verdammt große Sorgen!“ Einen Moment hing er seinen Gedanken nach. „Weißt Du,“ fuhr er fort, „ich weiß von seiner Schwester, das Chris viel Schlimmes erlebt hat. Ich weiß nicht was“, wimmelte er ab und schüttelte mit dem Kopf, als Hartmut fragen wollte, „aber sie deutete an, das Vertrauen für ihn ganz wichtig ist. Wenn er jetzt heraus bekommt, das wir alle ihn angelogen haben, befürchte ich, das er etwas Unvernünftiges tun wird.“


    „Aber das haben wir doch nur getan, um ihn vor sich selbst zu schützen. Das wird er bestimmt verstehen.“
    Trotz der ernsten Lage huschte über Semirs Gesicht ein Grinsen. Hartmuts Vertrauen in die Logik war mal wieder unerschütterlich!
    „Ach, Hartmut,… ich wünschte, es wäre so einfach! Doch so wie ich Chris inzwischen einschätze, ist er in dieser Verfassung nicht für logische Argumente zugänglich.“


    Er nahm die Ausfahrt und parkte Lucy wenige Augenblicke später mit einem gekonnten Bremsmanöver auf dem Parkplatz der PAST. Mit schnellen Schritten betraten die beiden Männer das Gebäude und eilten zur Engelhardt.


    Die schaute erstaunt auf, als die beiden Männer ihr Büro betraten. „Sind Sie hierher geflogen?“
    Semir hob kurz die Schultern, als er beiläufig mit einem Augenzwinkern meinte: „So was ähnliches!“
    Dafür erntete er von Hartmut einen säuerlichen Blick, den er geflissentlich übersah.
    „Chefin, wir haben nicht viel Zeit. Chris müsste jeden Moment hier sein und wir müssen uns was einfallen lassen.“ Eindringlich blickte er sie dabei an.


    Anna Engelhardts Miene nahm einen noch ernsteren Ausdruck an, als er ohnehin schon war.
    „Ich weiß, Semir, ich weiß! Glauben Sie mir, ich zermartere mir auch schon seit Stunden den Kopf, wie wir die drohende Katastrophe abwenden können. Selbst wenn ich den Kollegen Ritter vom Fall abziehe, was ich eigentlich schon längst hätte tun müssen, bringt das nicht allzu viel. Er würde garantiert ohne Genehmigung weiter ermitteln. So aber haben wir ihn mit etwas Glück unter Kontrolle und können bei Bedarf einschreiten.“


    Sie seufzte tief und strich sich mit der linken Hand eine Strähne aus ihrer Stirn.
    „Und zu allem Überfluss hatte ich vorhin unsere werte Frau Schrankmann am Telefon, die unbedingt wissen wollte, warum ich meine Männer so hart ran nehme. Ich sollte ihnen lieber etwas Ruhe vor dem wichtigen Gerichtstermin gönnen!“
    Unwillkürlich musste Semir kurz auflachen: „Was würde ich darum geben, wenn sie das mal bei anderer Gelegenheit sagen würde! Sonst zetert sie immer rum, wir würden nichts tun und dem Steuerzahler zu viel Geld kosten.“


    Auch Anna musste kurz lächeln, bevor sie wieder ernst wurde und sich an Hartmut wandte: „Haben Sie noch irgend etwas heraus gefunden?“
    Hartmut, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, trat drei, vier Schritte nach vorne, bis er ihren Schreibtisch erreichte. Er wühlte aus seiner Aktentasche einige Papiere hervor und reichte sie der Engelhardt über den Tisch.
    Er fing an, ihr zu erzählen, was er kurz zuvor auch Chris erzählt hatte, als Semir ihn ungeduldig unterbrach: „Bitte, Hartmut! Nur die wichtigsten Ergebnisse! Wir haben nicht viel Zeit!“


    Irritiert blickte Hartmut zu Semir, fasste sich aber schnell und fuhr dann fort: „Ja, klar!… Ähm… Also, wichtig sind hauptsächlich zwei Dinge: Den Mann auf dem Video konnten wir zweifelsfrei als Jens Borchert identifizieren. Und zum anderen haben wir auf dem Computer einige interessante Anhaltspunkte entdeckt, wo sich die Kidnapper eventuell zur Zeit verstecken.“


    „Was?“ Semir war fassungslos. „Und das sagst Du uns erst jetzt?“
    Auch Anna schaute ihn entgeistert an. „Warum haben Sie mir kein Bescheid gegeben?“
    „Weil wir nur einige, kleine Hinweise gefunden haben, aber nichts konkretes“, rechtfertigte sich Hartmut.
    „Was für Hinweise?“ fragte Semir ungehalten.


    „Nun ja, meine Männer haben die Skizze eines Bauplanes entdeckt, der mit interessanten Notizen versehen war.“ Als Hartmut sah, wie ihn die beiden anderen erwartungsvoll anschauten, fuhr er eilig fort: „Zum einen stand dort: ’Nur über die Landstrasse zu erreichen’ und zum anderen waren einige Zimmer markiert mit den Worten: ‚Frau 1’, ‚Frau 2’ und ‚Kinder’. Wir wissen aber nicht, um welches Gebäude es sich handelt. Wir vermuten ein Hotel, ein Motel, eine Herberge oder so was ähnliches. Leider haben wir keinerlei Anhaltspunkte. Genaueres versuchen meine Männer gerade heraus zu bekommen und lassen sich die Baupläne aller in Frage kommender Gebäude geben. Sie gehen sie gerade nach und nach alle durch. Aber…“, Hartmut zuckte hilflos mit den Schultern, „… es ist wie bei der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen. Es sind einfach zu viele!“


    Anna nickte verständnisvoll: „Das kann ich mir denken. Aber ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen. Geben Sie nicht auf.“ Sie dachte kurz nach: „Würde es Ihnen helfen, wenn ich Ihnen noch ein paar Beamte zur Seite stellen würde, die Ihnen bei ihrer Suche helfen?“
    „Das wäre gut,“ stimmte ihr Hartmut zu, „jede Hand wäre hilfreich.“
    Anna nickte entschieden: „Ich werde sehen, was ich machen kann.“


    Ein dankbares Lächeln mache sich auf Hartmuts Miene breit, bevor er wieder ernst wurde: „Es gibt da allerdings eine Sache, die mich stutzig macht.“
    Als er die fragenden Blicke von Semir und der Chefin auf sich gerichtet sah, fuhr er stockend fort: „Wo ist die Leiche des Jungen?… Warum haben wir sie nicht gefunden?… Ich meine, wer belastet sich damit und nimmt sie mit? Schließlich hat man uns mit Absicht einen Film hinterlassen, der uns zeigt, wie das Kind stirbt. Warum also den Körper beseitigen?… Ich sehe darin keinen Sinn.“


    Anna und Semir sahen sich sekundenlang schweigend an und man erkannte sofort, das sie so darüber noch nicht nachgedacht hatten. Aber in Gedanken mussten sie Hartmut Recht geben. Es war schon merkwürdig.


    Semir, der bis dahin nicht viel gesagt hatte, räusperte sich nach einer Weile und machte ein ernstes Gesicht: „Es gibt ein viel größeres Problem, was uns noch mehr beschäftigen sollte: Was sagen wir Chris und wie bringen wir es ihm schonend bei?“
    Er bemerkte, wie der Blick der Chefin an ihm vorbei ging und sie entsetzt die Augen aufriss.


    Im selben Augenblick durchschnitt die scharfe Stimme Chris’ die Stille des Raumes: „Was müsst Ihr mir schonend beibringen?“
    Semir und Hartmut fuhren erschrocken zusammen und ihre Köpfe flogen herum.


    In der Tür stand Chris!

  • Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck, der eine Mischung aus Wut und Sorge war. Die drei tauschten betroffene Blicke miteinander aus, dann wandten sie sich wieder Chris zu. Er schaute von einem zum anderen und versuchte in den betretenen Mienen zu lesen.


    Was er sah, machte ihn wütend: Alle drei wollten etwas vor ihm verbergen! Irgend etwas sollte er nicht erfahren! Er ahnte,… nein, er wusste, das etwas Schreckliches geschehen war. Er spürte den wachsenden Druck in seiner Magengegend,... so, als ob er ständig einen Faustschlag dorthin bekommen würde...


    Noch immer sprach keiner der Anwesenden ein Wort und Chris wurde ungehalten.
    Mit einem glühenden Funkeln in den Augen wiederholte er: „Was müsste Ihr mir schonend beibringen?!“ Das gefährliche Beben in seiner Frage verriet seinen wahren Gemütszustand.


    Schließlich fasste sich Anna ein Herz und ging zu ihm hin. Mit einer auffordernden Geste bat sie ihn in ihr Büro und Chris trat zaghaft ein. Bevor sie hinter ihm die Tür schloss, gab sie Susanne mit einem Wink zu verstehen, das sie nicht gestört werden möchte. Susanne nickte zur Bestätigung.


    In der Zwischenzeit beobachtet Chris Semir und Hartmut. Die angespannte Körperhaltung Semirs sprach Bände und Hartmut nestelte nervös an den Knöpfen seiner Cordjacke. Man sah ihm an, das er jetzt am liebsten in seinem sicheren Labor wäre!
    Beide blickten die meiste Zeit zu Boden oder Hilfe suchend zur Chefin. Keiner traute sich, ihn direkt anzuschauen.


    Doch etwas anderes schmerzte Chris viel mehr: Ihn traf die Erkenntnis, das sein Partner kein Vertrauen zu ihm hatte, wie ein Donnerschlag! Warum konnte er ihm nicht die Wahrheit sagen? Warum sprach er nicht mit ihm? Er schien sogar Angst vor ihm zu haben!
    In Chris baute sich eine abwehrende Haltung auf.


    Anna spürte die Spannung, die im Raum lag und betete inständig, dass das, was sie als nächstes tun würde, das Richtige war. Sie warf Semir kurz einen vielsagenden Blick zu und hoffte, das er mitspielen würde.
    Sie stellte sich entschlossen vor Chris und all ihre Autorität in ihr Stimme legend sagte sie ernst zu ihm: „Herr Ritter, ich ziehe Sie von diesem Fall ab!… Das ist es, was wir Ihnen schonend beibringen wollten.“


    Chris riss die Augen auf und starrte sie entgeistert an. Anna registrierte, das auch Semir entsetzt guckte, doch sie sprach unbeeindruckt weiter: „Sie müssen das verstehen. Sie sind emotional zu stark in diesen Fall eingebunden. Ich hätte Sie schon viel früher abziehen müssen. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich!“


    Semir konnte sich nicht mehr halten und brauste auf: „Das können Sie nicht machen, Chefin!“ Den warnenden Blick der Engelhardt ignorierend, fuhr er fort: „Wir sind kurz davor die Kerle zu kriegen. Sie haben Hartmut gehört. Er ist mit seinen Männern auf einer heißen Spur. Bitte Chefin, überlegen Sie sich das noch einmal.“


    Er wusste, das die Chefin im Grunde das Richtige tat und das sie von ihm eigentlich Rückendeckung erwartete. Aber er spürte auch, dass es nicht der richtige Weg war, Chris so zu behandeln. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben, die CD von seinem Partner fernzuhalten. Allerdings hatte er im Moment auch keine andere Idee.


    Noch immer war Chris wie betäubt und in seinen Ohren rauschte es gewaltig. Er bekam nicht mit, wie Semir Partei für ihn ergriff. Das einzige, was er immer und immer wieder hörte, waren die Worte der Chefin: „Ich ziehe sie von diesem Fall ab!“


    Sein Blick bohrte sich in die Augen der Engelhardt und versuchte zu ergründen, was sie damit bezweckte. Das einzige, was er sah, war abwehrende Entschlossenheit.
    Gerade als er Luft holen holte, um sie nach dem ‚Warum’ zu fragen, klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch der Chefin.


    Einige Augenblicke hielt Anna seinem ärgerlichen Blick noch stand, dann drehte sie den Kopf in Susannes Richtung und sah sie böse an. Sie konnte sehen, wie die Sekretärin auf den Hörer in ihrer Hand deutete und anschließend auf Chris.
    Sofort nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an, ging zum Telefon und nahm ab.


    „Frau Engelhardt, hier ist der Anrufer von vorhin am Apparat. Er besteht darauf mit Chris zu sprechen“, hörte sie Susanne entschuldigend sagen. „Ich habe versucht ihn abzuwimmeln, aber er lässt nicht locker.“
    „Danke, Susanne“, sagte Anna im festen Ton, „ich erledige das. Stellen Sie bitte durch.“


    Dabei setzte sie sich hin und warf den Männern in ihrem Büro einen kurzen Blick zu. Hartmut und Semir tauschten besorgte Blicke miteinander, während Chris ärgerlich dreinschaute. Man sah ihm förmlich an, das ihm tausend Fragen auf der Zunge brannten.


    Als sie hörte, das sie verbunden worden war, kam sie nicht dazu sich zu melden.
    Die Männerstimme sprach sie sofort barsch an: „Lassen Sie mich sofort mit Herrn Ritter sprechen!“

  • Unbewusst wanderten ihre Augen zu Chris. Der starrte sie immer noch erbost an.
    Sein ärgerlicher Gesichtsausdruck, mit der in wütenden Falten gelegten Stirn, erinnerte sie an eine Abbildung Zeus’, die sie vor einiger Zeit in einem Bildband gesehen hatte.
    ‚Wenn er Blitze werfen könnte, wäre ich nur noch ein Häufchen Asche!’ durchzuckte sie der Gedanke, bevor sie sich wieder auf den Anrufer konzentrierte.


    „Das ist leider zur Zeit nicht möglich“, wiegelte sie ab.
    Ein verächtliches Schnauben war die Antwort: „Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Ausrede, er wäre nicht da. Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Ich weiß, das er da ist! Also lassen Sie mich mit ihm sprechen!“


    „Dass geht trotzdem nicht“, ließ Anna den Anrufer wissen. Sie setzte alles auf eine Karte und hoffte, das sie nicht zu hoch pokerte. „Ich musste Herrn Ritter vom Fall abziehen.“
    „Das dürfen Sie nicht!" kam es ungehalten aus dem Hörer. "Das entspricht nicht unseren Regeln! Und sie wissen ja wohl am besten, was passiert, wenn sich jemand nicht an die Regeln hält! Sie haben es gesehen!“


    ‚Er wird wütend… Das ist gut!’ dachte Anna hoffnungsvoll. ‚Vielleicht macht er dadurch einen Fehler.’
    Laut erwiderte sie: „Davon, was ich tun kann, war in Ihren Regeln“, sie betonte das Wort leicht verächtlich, „nicht die Rede. Und wenn ich einen meiner Beamten suspendiere, ist das meine Entscheidung und geht Sie gar nichts an! Aber keine Angst,… den Termin morgen vor Gericht werden die Kommissare Gerkhan und Ritter einhalten.“


    „Das will ich für Sie hoffen!“ knurrte die Stimme. „Jetzt lassen Sie mich mit Ritter reden. Ich habe wichtige Informationen für Ihn.“
    „Ich wiederhole mich nur ungern, aber wie ich Ihnen schon sagte, ist Herr Ritter für Sie nicht zu sprechen!“ Sie hoffte, mit ihrer forschen Art den Anrufer noch mehr aus der Reserve zu locken. „Was immer Sie an Informationen haben, sagen Sie sie mir.“


    Augenblicklich stand Chris vor ihrem Schreibtisch und setzte zu einer Frage an.
    Abwehrend hob die Chefin ihre Hand und gebot ihm Einhalt. In seinem Rücken warfen sich Hartmut und Semir wieder besorgte Blicke zu, dann trat Semir vorsichtig neben Chris und hatte ein wachsames Auge auf ihn. Er war bereit einzugreifen, falls die Sache anfing aus dem Ruder zu laufen.


    Währendessen lachte der Anrufer hart auf: „Gut, wenn Sie es verantworten wollen, das die Familie von Herrn Ritter noch mehr leiden muss… Bitte! Ihre Entscheidung!“
    Anna schloss für einige Sekunden die Augen und rieb sich mit der linken Hand die Stirn. Sie war enttäuscht und niedergeschlagen: Ein Satz des Mannes und ihre Strategie brach wie ein Kartenhaus zusammen! Er hatte genau den wunden Punkt getroffen!
    Der Mann schien zu ahnen, was sie dachte, denn durch den Hörer hindurch meinte sie sein siegessicheres Grinsen zu hören.


    Sie befand sich in einem Zwiespalt: Eine innere Stimme warnte sie davor, Chris mit dem Mann sprechen zu lassen. Irgendwie ahnte sie, das es sich für den Anrufer nur um ein krankes, widerliches Spiel handelte.
    Aber konnte sie es auf der anderen Seite verantworten, Chris nicht mit dem Mann sprechen zu lassen? Was, wenn das, was er zu sagen hatte, wirklich wichtig war? Oder Chris’ Familie noch mehr leiden musste? Besonders wieder eines der Kinder! Wollte sie diese Schuld wirklich auf sich laden?


    Mit einem Seufzer rang sie sich zu einem Entschluss durch. „OK,… Sie dürfen mit ihm reden. Aber ich warne Sie!“ fügte sie drohend hinzu. „Ich hoffe für Sie, das es wirklich wichtig ist! Sonst Gnade ihnen Gott!“
    „Na, na,…“, höhnte die Stimme an ihrem Ohr. „Sie wollen mir doch nicht etwa drohen?… Ich glaube nicht, das sie dafür in der richtigen Position sind!“
    „Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, antwortete Anna kalt.


    Dann hielt sie Chris den Hörer hin. Dabei hielt sie mit der linken Hand die Sprechmuschel zu.
    „Hier will Sie jemand unbedingt sprechen. Angeblich hat er wichtige Informationen für Sie. Aber…“, sie sah ihn plötzlich eindringlich an, „… ich glaube, da treibt jemand ein perverses Spiel mit uns und ganz besonders mit Ihnen. Seien Sie bitte auf den Hut!“


    Als sie ihm den Hörer hinhielt, legte sie ihren rechten Zeigefinger auf die Lautsprechertaste und sah Chris fragend an. Mit einem zustimmenden Nicken nahm Chris langsam den Hörer entgegen.


    „Ritter hier“, meldete er sich und gleichzeitig drückte Anna die Taste am Telefon...

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