Angst und Vertrauen

  • Doch von einer Sekunde auf die andere verschwand sein Lächeln und er wurde wieder ernst. Denn die Tragweite seines bisherigen Verhaltens wurde ihm jäh bewusst. Erneut kamen Zweifel in ihm hoch.
    Hatte er mit seinem störrischen Widerstand letztendlich doch alles zunichte gemacht?
    Waren sein Partner und die Chefin bereit, ihm noch eine, ... eine letzte Chance zu geben? Trotz seines oftmals widersprüchlichen Benehmens?
    Oder waren die entstandenen Lücken jetzt so groß, dass sie nicht mehr überwunden werden konnten?


    Was aber noch wichtiger war: Würde er sich ändern können?
    War er fähig, alte Gewohnheiten abzulegen und in einem Team zu arbeiten?
    Würde er sich endlich von seinen Ängsten und seinem Misstrauen befreien können?
    War er in der Lage, sein selbst zerstörerisches Benehmen einzustellen?
    Könnte er über seinen Schatten springen und sich öffnen?
    Wenigstens ein bisschen...?


    Suchend huschte Chris’ Blick über die Fensterscheibe. Schließlich fand er seine Reflexion und starrte sich für einen kurzen Moment mit vorwurfsvollen Augen an. Dann schüttelte er, verärgert über sich selbst, den Kopf und fluchte leise: „Du bist so ein Idiot! Warum machst Du es Dir und anderen immer so schwer?“
    Seufzend erkannte Chris, dass er jetzt nur noch wenige Chancen hatte, Semir und der Engelhardt zu beweisen, dass er bereit war sich zu ändern. Oder das er zumindest gewillt war, es zu versuchen. Aber würde das genügen?


    Er ahnte, dass das nur ein kleiner Schritt auf die beiden zu war, aber bei weitem nicht ausreichend war. Denn um das volle Vertrauen der beiden zu gewinnen, musste er weiter gehen: Er musste sich öffnen. Und das bedeutete, dass er ihnen von seiner Vergangenheit erzählen musste!
    Bei dem Gedanken daran, ihnen alles zu erzählen, spürte Chris die ‚vertraute’ eisige Welle der alten Angst seinen Rücken hinauf kriechen. Die Kälte fraß sich bis zu seinem Herz und ließ es schmerzhaft zusammenkrampfen. Einmal mehr spürte Chris, wie sich zu seinem seelischen Schutz Ablehnung und Gefühlsleere in ihm ausbreiten wollten.


    Doch plötzlich hörte er eine wohlbekannte Stimme in seinem Kopf: „Du kannst nichts verlieren. Sei mutig und wag den Schritt.“ Bernd...
    Es waren Bernds Worte, die in seiner Erinnerung klangen und sie hörten sich eindringlich und aufmunternd zugleich an. Augenblicklich durchflossen ihn Kraft und Stärke, als er an seinen früheren Vorgesetzten und Freund dachte.
    ‚Bernd!’, seufzte Chris gedanklich. ‚Du warst immer für mich da und hast mich geleitet.’
    „Auch jetzt werde ich immer für Dich da sein“, sagte Bernds Stimme überzeugt. „Wann immer Du mich brauchst: Du musst nur an mich denken! Ich werde bei Dir sein.“
    ‚Aber das ist nicht dasselbe!’, klagte Chris. ‚Dir konnte ich vertrauen, denn Du kanntest mich besser wie sonst kein anderer. Du wusstest über mich Bescheid und bei Dir konnte ich mich geben, wie ich wirklich bin.’
    „Dann wird es Zeit, dass Du Dich endlich jemandem anvertraust!“, forderte Bernd ihn auf. „Du wirst sehen: Alles wird dann wieder so wie früher.“
    ‚Ich weiß!’, gab Chris kleinlaut zu. ‚Aber ich habe Angst vor den Reaktionen.’
    „Papperlapp!“, fegte Bernd den Einwand hinfort.
    „Wahrscheinlich hast Du recht“, murmelte Chris. „Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie herausfinden.“
    Vor seinem inneren Auge sah er, wie Bernd sanft lächelte und seine blassblauen Augen aufmunternd aufblitzten. „Das schaffst Du...! Ich weiß es! Du warst immer stark.“


    Unbewusst straffte Chris seinen Rücken. Auch wenn er wusste, das Bernd tot war und die Worte, die er gerade hörte, nur seiner Erinnerung entsprangen... es tat ihm gut, sie zu hören!
    Sie halfen ihm neuen Mut zu schöpfen...
    Mut für das, was er zu tun hatte...
    Mut für das, was daraus resultieren würde...


    Chris ahnte, dass mit seiner Aussage, die er gleich tätigen musste, sich vieles in seinem Leben ändern würde.
    Würde er mit der erhöhten Belastung fertig werden?
    Würde seine Familie die Entscheidung mittragen?
    Schließlich betraf es sie ja enorm. Für sie würde nie wieder alles so werden wie früher...
    Die Sorgen um seine Familie ließen Chris’ Stirn kraus und seinen Blick dunkel werden. Minutenlang sinnierte er grübelnd vor sich hin. Seine Bedenken kamen zurück und ließen ihn erneut hadern. Es zermürbte ihn und es fiel ihm schwer, sich nicht von seiner Besorgnis übermannen zu lassen.


    Ein dreimaliges Klopfen an der Tür unterbrach seine erdrückenden Gedanken und ließ ihn kurz blinzeln. Während die Tür geöffnet wurde, wandte er sich um und Chris erkannte den Gerichtsdiener, der vor einiger Zeit auch Semir geholt hatte.
    Nachdem der Mann eingetreten war, sagte er: „Herr Ritter, Sie sind jetzt dran. Kommen Sie bitte mit mir mit?“ Dabei machte er eine vage Geste in Richtung Flur.
    Nach einem zustimmenden Nicken, setzte sich Chris ohne Umschweife in Bewegung und folgte dem Beamten. Auf dem Weg zum Gerichtssaal hörte er noch einmal Bernds Stimme in seinen Ohren: „Dieses Mal kriegen wir ihn!“
    Chris’ Miene blieb unbewegt, als er grimmig dachte: ‚Wir werden sehen!’


    Der Gerichtsdiener blieb vor der schweren Holztür zum Gericht stehen, öffnete sie einen Spalt und deutete mit einer Kopfbewegung an, dass Chris eintreten konnte. Durch die schmale Öffnung konnte Chris einen kurzen Blick auf die voll besetzten Zuschauerreihen und die vielen Journalisten erhaschen.
    Einen Moment verharrte er, atmete tief durch und konzentrierte sich. Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich seine Miene. Sein Gesicht wurde zu einer steinernen Maske und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen es kalt funkelte. Sich zu seiner vollen Größe aufrichtend, reckte er das Kinn nach vorn und betrat anschließend entschlossen den Gerichtssaal...

  • Bedeutungsvoll wechselten Anna Engelhardt und Semir einen schnellen Blick, als Chris eintrat. Ihnen waren sofort die starre Miene und die finsteren Augen aufgefallen. Sie kannten Chris noch nicht gut genug, denn seine Körpersprache war ihnen noch nicht so vertraut und seine verschlossene Art machte es ihnen auch nicht leichter, ihn zu verstehen. Aber jetzt hätten sie mit Blindheit geschlagen sein müssen, um nicht zu erkennen, dass dieser düstere Blick nichts Gutes verhieß.


    Unbewusst hielt Anna die Luft an, während ihre Augen den ihr unterstellten Kommissar verfolgten. Neben sich spürte sie, wie Semir auf seinem Platz etwas nach vorn rutschte, seine Ellenbogen auf den Knien abstützte und die Hände vor den Mund legte. Seine Anspannung war förmlich greifbar. Anna wusste, dass Semir in diesem Moment am liebsten aufspringen würde, um von Chris eine Erklärung zu fordern. Und auch sie merkte, wie sie nur schwer an sich halten konnte.
    Doch jetzt war es zu spät etwas zu unternehmen. Sie mussten die Dinge ihren Lauf nehmen lassen und sie konnten nur noch hoffen...



    Unterdessen durchquerte Chris mit zielstrebigen Schritten den Saal. Die Staatsanwältin ignorierend, warf er Kurt Janzen einen kalten, verächtlichen Blick zu. Als Chris noch undercover in Gehlens Organisation tätig gewesen war, hatte er den Anwalt damit stets aus dem Konzept gebracht, so dass dieser später in seiner Gegenwart sich oftmals ganz klein gemacht und gekuscht hatte.
    Heute jedoch fühlte sich Janzen anscheinend mutig und selbstbewusst. Denn er hielt dem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand und Chris meinte sogar, das erste Mal so etwas wie Überlegenheit in seinen Augen erkennen zu können.


    Enttäuscht senkte Chris seinen Blick und dabei streifte er mit seinen Augen im Weitergehen nur kurz das Gesicht von Gehlen. Dessen hasserfüllte, zu schmalen Schlitzen verengte Augen verrieten seine Gedanken und um seine fest zusammengepressten Lippen lag ein kaum sichtbares Grinsen. Chris fiel es schwer, diesem Verbrecher nicht sofort an die Gurgel zu springen.


    Um seine Beherrschung nicht zu verlieren, wandte er sich schnell ab und legte die letzten Schritte zu seinem Platz zurück. Bevor er sich setzte, sah er zur Engelhardt und zu seinem Partner. Deutlich konnte er die Unruhe der Chefin erkennen und besonders in Semirs Miene war zu sehen, wie aufgewühlt dieser war. Ohne ihnen durch ein Zeichen, einen Wink oder ähnliches zu verstehen zu geben, was er vorhatte, warf Chris den beiden einen letzten grimmigen Blick zu. Dann kehrte er ihnen mit einer abweisenden Geste seines Körpers den Rücken zu und setzte sich hin.
    Mit einem sich selbst in Gedanken Mut zusprechenden ‚Du tust das Richtige!’, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Richter und die Staatsanwältin...



    Roman Gehlens siegessichere Stimmung bekam im ersten Moment einen Dämpfer, als er bemerkte, mit welcher Entschlossenheit und Festigkeit Ritter an ihm vorbei ging. Doch nachdem dieser seinem Blickkontakt nicht standhalten konnte und er anschließend Ritters müde Erscheinung näher in Augenschein nahm, erreichte seine gute Laune einen erneuten Höhepunkt.
    Er erkannte richtig, dass Ritters nach außen getragene, starke Miene nur gespielt war und dieser Mann es nicht wagen würde, gegen ihn auszusagen! Er wusste: Er hatte gewonnen und frohlockte triumphierend angesichts seiner baldigen Freiheit...



    Natürlich war auch Claudia Schrankmann nicht entgangen, dass Ritter sie ignoriert hatte, als er zu seinem Platz gegangen war. Auch die Blicke, die er zuerst zum Tisch des Angeklagten und dann zu seinen Kollegen warf, schenkten ihr nicht das Vertrauen in ihn, welches sie eigentlich verspüren müsste, um selbstsicher auftreten zu können. Doch sie tat Ritters Reaktion als die für ihn typische Ignoranz ab, atmete tief durch und schickte ein schnelles Stoßgebet zum Himmel. Danach konzentrierte sie sich auf ihren Zeugen.


    Nachdem auch ihm die üblichen Fragen zu seiner Person gestellt worden waren, wandte sie sich an ihn: „Herr Ritter..., bevor Sie vor einigen Monaten sich zur Autobahnpolizei haben versetzen lassen, waren Sie viele Jahre als verdeckter Ermittler tätig. Ihre bis dahin bestehende Akte musste im Laufe der letzten Ermittlung vernichtet werden, um Ihr Leben zu schützen. Da es jetzt für diesen Zeitraum keine Unterlagen über sie gibt, würde ich Sie bitten, dem Gericht mit wenigen Sätzen zu berichten, was Sie in den vergangenen Jahren getan haben und wo Ihre Einsatzgebiete waren.“


    Chris sammelte sich einen Moment, dann räusperte er sich und begann mit rauer Stimme zu erzählen: „In den über zehn Jahren, in denen ich als verdeckter Ermittler tätig war, wurde ich in verschiedenen Abteilungen eingesetzt. Zu Beginn meiner Karriere waren es nur kleinere, kriminelle Organisationen oder „harmlosere“ Delikte, auf die ich angesetzt wurde. Doch aufgrund meiner erfolgreichen Arbeit sowie meinen guten englischen, französischen und skandinavischen Fremdsprachenkenntnisse wurde ich bereits nach gut einem Jahr auch für Auslandseinsätze angefordert. Bei diesen Einsätzen war ich hauptsächlich in Nord- und Westeuropa tätig und habe mit den dort zuständigen Behörden eng zusammengearbeitet.“


    Die Staatsanwältin hatte zu Anfang von Chris’ Bericht erleichtert aufgeatmet. Ihr Zeuge schien sich im Griff zu haben, denn seine Worte klangen fest und sicher. Jetzt nickte sie anerkennend und wollte wissen: „Wenn man das so sagen darf, sind sie ein verdeckter Ermittler mit reichlich Erfahrung gewesen?“
    Nachdem Chris mit den Schultern gezuckt hatte, antwortet er leichthin: „Wenn Sie das so sehen möchten.“
    Die Schrankmann hatte eine etwas andere Antwort erwartet und war für einen Moment irritiert. Doch sie fasste sich schnell und fuhr fort: „Wie sah Ihr letzter Auftrag aus?“


    Einen finsteren Blick zu Gehlen werfend, sagte Chris: „Ich sollte als ein Zuhälter aus Berlin auftreten, der junge Frauen für seine Häuser sucht und in der Lage ist, gefälschte Pässe für die eingeschmuggelten, bevorzugt aus Asien stammende Mädchen zu besorgen.“
    „So bekamen Sie also Kontakt mit dem Angeklagten Roman Gehlen?“, wollte die Anwältin wissen.
    „Ja“, erwiderte Chris knapp und schien plötzlich nervös zu werden. Unruhig huschte sein Blick hin und her und blieben immer Mal wieder am Angeklagten hängen. Staatsanwältin Schrankmann registrierte die Unruhe, deutete sie aber als Ritters Bemühungen, sich unter Kontrolle zu halten, um nicht sofort mit seinen Ausführungen herauszuplatzen.
    Um ihm endlich die Möglichkeit zu geben, seine Aussage zu tätigen, forderte sie ihn auf: „Herr Ritter, können Sie uns kurz beschreiben, wie dieser Kontakt zustande kam, wie Ihre weiteren Ermittlungen aussahen und was Sie dabei herausgefunden haben?“


    Doch Chris beantwortete die Frage nicht sofort und Claudia Schrankmann blieb das Zögern nicht verborgen. Sie taxierte Ritter mit ihrem Blick und nahm ihn näher in Augenschein. Sie konnte nicht die Ursache für sein Zaudern feststellen und sah daher verwirrt zur Engelhardt.
    Erst jetzt bemerkte sie deren sorgenvolle Miene und die angespannte Körperhaltung von Gerkhan. Obwohl ihr Instinkt sagte, dass etwas nicht stimmte, verscheute sie die warnende Stimme in ihrem Kopf. ‚Das bildest Du Dir bestimmt ein. Wir sind alle etwas angespannt!’, redete sie sich ein.


    Während sie ungeduldig den Kugelschreiber in ihrer Hand drehte und dabei zurück zu Chris Ritter schaute, überlegte sie, wie sie seine Aufmerksamkeit zurück auf seine Aussage lenken konnte. Schließlich schob sie ihren Daumennagel unter den Clip des Stiftes und ließ ihn mit einem klickenden Geräusch zurück auf die Hülle schnellen, als sie ihren Daumen herauszog. Durch den hohen, metallischen Ton wurde Chris aus seinen Gedanken gerissen und er blickte zerstreut zur Anwältin.
    Mit strengen Augen maßregelte sie Chris und auf ihrer Miene lag die unverblümte Auforderung, das er sich konzentrieren solle. Einen unterschwellig mahnenden Ton anschlagend, drängte sie: „Herr Ritter..., können Sie uns bitte kurz Ihre Ermittlungsergebnisse mitteilen.“


    Blinzelnd holte sich Chris in die Realität zurück und plötzlich erschien es der Schrankmann, als ob Ritter auf seinem Stuhl regelrecht in sich zusammensacken würde. Seine Schultern fielen schlaff herab, sein Rücken wirkte mit einem Mal gebeugt und auf seinem Gesicht zeigte sich traurige Bedrückung. Nach einem weiteren Blick zu Gehlen, legte er den Kopf in den Nacken und sah mit einem ergebenen Seufzer zur Decke.
    Dann richtete er sein Augenmerk zurück zur Staatsanwältin und begann langsam seinen Kopf zu schütteln: „Nein...“

  • Für einen endlos scheinenden Moment herrschte entsetztes Schweigen im Saal. Zu ungeheuerlich war das, was der Zeuge von sich gegeben hatte und somit der Verhandlung plötzlich eine neue Wendung gab. Das erste, was man in der unnatürlichen Stille hörte, war Semirs fassungslos ausgestoßenes „Was?“.
    Immer mehr Menschen im Raum realisierten, was passiert war und brachen nach und nach in ein ärgerliches Raunen aus oder schnappten aufgebracht nach Luft. Bis auch der Letzte verstanden hatte, was los war, wandelte sich das aufgeregte Flüstern mehr und mehr in einen kleinen Tumult.


    Semir, auf dessen Gesicht man deutlich sah, wie für ihn in diesem Augenblick eine Welt zusammenbrach, fühlte sich von keinem seiner Partner so im Stich gelassen wie jetzt! Doch seine Bestürzung dauerte nur ein paar Sekunden, dann wallte heiße Wut in ihm hoch. Aufgebracht sprang Semir von seinem Platz auf und hätte ihn nicht jemand zurückgehalten, wäre er über die Absperrung gesprungen. Über das gemurmelte Durcheinander fauchte er: „Chris! Was soll das? Was machst Du da?“


    Anna Engelhardt, die wie alle anderen im Saal von Chris’ Aussage wie vor den Kopf geschlagen war, schloss erschüttert die Augen. Sie hatte geahnt, dass es zu einem großen Knall kommen würde und so sehr sie auch gehofft hatte, das sie sich irren möge, waren ihre schlimmsten Befürchtungen nun eingetreten. Resigniert legte sie ihre rechte Hand auf ihr Gesicht und strich sich müde darüber, während sie sich mit einem ergebenen Aufstöhnen nach hinten lehnte. Lethargie kam in ihr auf und hätte sie beinahe übermannt, wenn nicht Semir neben ihr aufgesprungen wäre.
    Schnell öffnete sie die Augen, griff hastig mit beiden Händen nach Semirs linken Arm und verhinderte so, das er sich über die Holzbarriere schwang. Mit sanftem Druck zog sie ihn zurück auf seinen Sitz, dann sah sie ihn eindringlich an: „Semir, bitte..., beruhigen Sie sich! Machen Sie es nicht noch schlimmer...“


    Auch wenn Semir wusste, das die Chefin Recht hatte, ging es ihm gewaltig gegen den Strich. Mit jeder Faser seines Körpers sträubte er sich dagegen Gehlen, seinen schmierigen Anwalt und ganz besonders Chris damit durchkommen zu lassen! Bebend vor Zorn versuchte er seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und starrte mit glühendem Blick zu seinem Partner.
    Doch der schien von all der Aufregung um ihn herum ungerührt. Mit gesenktem Kopf saß er regungslos auf seinem Stuhl, starrte auf seine gefalteten Hände und sagte wie immer nichts.


    Unterdessen stand Staatsanwältin Schrankmann, nachdem sie Chris’ Worte gehört hatte, wie vom Donner gerührt mit offenem Mund da und riss vor Entsetzen ihre Augen auf. Ihr Atem ging heftig und ihre Hände zitterten vor Empörung. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie verzweifelt überlegte, wie sie weiter verfahren sollte, um die Situation zu retten.
    Ihre Aufmerksamkeit wurde zu Gehlen und seinem Anwalt gelenkt. Beide hatten ein optimistisches Lächeln auf ihren Gesichtern. Während Janzen bereits anfing, die ersten Akten zuzuklappen, ballte Gehlen seine rechte Hand zu einer Siegerfaust. Dabei wurde sein Lächeln zu einem breiten Grinsen und das Weiß seiner Zähne blitzte gefährlich auf.


    Angesichts ihrer drohenden Niederlage, drehte sie sich grimmig zu Chris zurück. Noch immer zeigte er keinerlei Regung. Wütend stellte sie fest, dass er stattdessen völlig desinteressiert die Tischplatte betrachtete und noch nicht einmal den Mut hatte, ihr ins Gesicht zu schauen. Gepresst zischte sie zwischen ihren Zähnen hervor: „Ritter..., Sie...“ Mehr brachte sie jedoch nicht raus. Sie war so erbost und verbittert, dass es ihr schlichtweg die Sprache verschlug.


    Hilflos sah sie sich zur Engelhardt um. Doch die war noch immer darum bemüht, den aufgewühlten Gerkhan zu besänftigen. Daraufhin ging ihr Blick zu ihrer Assistentin, die sie allerdings auch nur entgeistert anstarrte. Wie in Trance wandte sie sich zum Richtertisch, wo gerade der vorsitzende Richter mit lauter Stimme und mit Hilfenahme seines Hämmerchens, vehement um Ruhe bat.
    Es dauerte eine Weile, bis die aufgebrachten Gemüter ruhig wurden und es etwas leiser im Raum war.


    In dieser ganzen Aufregung bemerkte niemand, wie Chris aus den Augenwinkeln das Verhalten von Gehlen beobachtete. Er sah, wie nach seinem „Nein“, Gehlen eine Gewinnerpose einnahm und breit grinste. In Gehlens Augen funkelte es erwartungsvoll und als er sich zu seinem Anwalt beugte, konnte Chris aufgrund des einsetzenden Gemurmel nur den Anfang der Frage verstehen: „Wie lange...?“
    Janzen gab seinem Mandanten eine Antwort, die Chris aber nicht mehr hören konnte. Doch anhand der Gesten war zu verkennen, dass er Gehlen zu verstehen gab, noch ein paar Minuten Geduld haben zu müssen.
    Roman Gehlen nickte zufrieden und richtete sein Augenmerk zurück zu Chris. Sein überhebliches Lachen verschwand und seine Miene wurde hart und erbarmungslos. Er zeigte damit Chris deutlich, dass er sich als Triumphator fühlte und ihn nun in der Hand hatte.


    Auf diesen entscheidenden Moment hatte Chris gewartet!
    Er hatte ausgeharrt, bis Gehlen felsenfest davon überzeugt war, ihn geschlagen zu haben!
    Bis sein Widersacher glaubte, ihn vernichtet zu haben!
    Bis sein Feind sich seiner Sache sicher war!
    Bis sein Gegner meinte, sein Leben zerstört zu haben!
    Doch genau jetzt schlug Chris’ Stunde! Er hatte Gehlen da, wo er ihn haben wollte und würde ihm nun einen Schlag versetzen, den dieser sein Leben lang nicht vergessen würde!


    Langsam hob er den Kopf und erwiderte Gehlens Blick. Zuerst schauten seine Augen beschämt und sein äußeres Erscheinen wirkte müde und niedergeschlagen. Doch wie in Zeitlupe veränderten sich von Sekunde zu Sekunde sein Blick, seine Körperhaltung und seine Mimik.
    Zum Schluss saß Chris mit stolzer Haltung aufrecht auf seinem Platz und blickte Gehlen direkt und ohne Furcht ins Gesicht. Seine ganze Erscheinung wurde von einem eisernen Ausdruck, der auf seiner Miene lag und einer unerbittlich, entschlossenen Aura ergänzt.


    Ritters Wandlung war von Gehlen nicht unbemerkt geblieben. Sein Grinsen fror auf seinen Lippen ein und verzerrte sein Antlitz zu einer Fratze. Als Chris sich zur Staatsanwältin umwandte, wich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht und Roman Gehlen erriet, dass er erneut auf Chris Ritter hereingefallen war.
    In die vom Richter eingeforderte und mühsam entstandene Ruhe fragte Chris mit fester Stimme an die Anwältin gerichtet: „Frau Staatsanwältin, könnten Sie bitte noch einmal Ihre letzte Frage wiederholen?“


    Zuerst glaubte die Schrankmann, Chris Ritter würde sie verhöhnen wollen und ihr mühsam unterdrückter Zorn flammte erneut in ihr auf. Empört und mit einer bissigen Bemerkung auf den Lippen wirbelte sie zu ihm herum... und stutze. Mit festem, aber um Vertrauen bittenden Blick schaute er sie an. Auch erkannte sie sofort die veränderte Körpersprache von Chris. Irritiert blinzelte sie und schloss erstaunt den Mund. Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie mit Ritters Wandlung anfangen sollte und zögerte...

    War das etwa eine erneute Finte und würde er sie vielleicht wieder auflaufen lassen? Verwirrt huschten ihre Augen zur Engelhardt. Doch auch deren Miene war von fragender Verwunderung gekennzeichnet. Selbst Gerkhan schien es die Sprache verschlagen zu haben, denn seine Stirn lag in erstaunten Falten.
    Als sie sich zurückwandte, sah sie es in Chris’ Augen ermunternd aufblitzen. Ohne lange zu überlegen, ließ sie sich auf das Wagnis ein. Was hatte sie auch schon zu verlieren? Vielmehr, als das der Prozess ganz platzte, konnte ihr ohnehin nicht mehr passieren!
    Kurz atmete sie tief durch, sammelte sich und brachte ihre durcheinander gewirbelten Gedanken in Ordnung.


    Schließlich begann sie mit unsicherer Stimme, die sie aber nach einem kurzen Räuspern im Griff hatte, erneut ihre Befragung: „Herr Ritter..., dürfte ich Sie bitten, uns kurz Ihre Ermittlungsergebnisse mitzuteilen, die Sie während Ihrer Zeit als verdeckter Ermittler über Roman Gehlen in Erfahrung bringen konnten?“
    Mit Schrecken sah sie, wie Chris erneut den Kopf schüttelte und als er antwortete: „Nein, Frau Staatsanwältin, ich kann Ihnen nicht kurz mitteilen, was ich bei meinen Ermittlungen herausgefunden habe...“, glaubte die Schrankmann zuerst an einen schlechten Scherz. Für einen schmerzhaften Moment setzte ihr Herz aus. Dann aber sah sie, wie Ritter einen vernichtenden Blick zu Gehlen warf und fortfuhr: „Aber ich kann Ihnen ausführlich und in allen Einzelheiten berichten, was ich weiß!“


    Voller Erleichterung atmete die Anwältin auf und man ihr an, wie ihr mehrere schwere Steine vom Herzen fielen. Doch bevor sie Chris um ausführliche Erklärungen bitten konnte, wurde sie von Gehlen unterbrochen. Der hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben, stütze seine Arme auf den Tisch und brüllte: „Das wagst Du nicht, Ritter!“ Dabei sah er Chris mit hasserfüllten Augen an.


    Chris kannte diesen Blick nur zu gut. So hatte Roman Gehlen stets geschaut, wenn er seinem Sohn zu verstehen gegeben hatte, dass dieser sich um eine unangenehme, meist nicht legale Angelegenheit kümmern sollte. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, ließ sich Chris nichts anmerken. Eiskalt, und gleichzeitig herausfordernd, erwiderte er drei Sekunden lang den Blick und nur das kurze Beben seiner Nasenflügel ließ erahnen, was in ihm vorging. Dann wandte er sich der Staatsanwältin zu, blickte sie aufmerksam an und wartete auf ihre Erlaubnis, fortfahren zu dürfen.

    Nach einigen scharfen Worten des Richters an Kurt Janzen, das er seinen Mandanten unter Kontrolle halten solle, stellten sich zur Sicherheit zwei Justizbeamte hinter den Tisch. Sie sollten eingreifen, wenn der Angeklagte es noch einmal wagen sollte, ungebeten aufzustehen. Der Richter ab der Schrankmann ein Zeichen und augenblicklich bat diese Chris, dem Gericht zu berichten, wieso er als verdeckter Ermittler auf Roman Gehlen angesetzt wurde.
    Mit klarer, fester Stimme begann Chris schließlich, gegen Gehlen auszusagen...

  • Chris erklärte den Anwesenden, das sein primärer Auftrag darin bestanden hatte, den beiden Gehlens das Führen einer verbrecherischen Organisation aus Menschenhandel und Prostitution nachzuweisen, sowie die Hintermänner ausfindig zu machen, um diesen Ring dann zerschlagen zu können. Um das zu erreichen, wurde er mit dem alleinigen Wissen von Bernd Simon in das kriminelle Gefüge eingeschleust.


    Auf die Zwischenfrage der Staatsanwältin, warum nur sein damaliger Vorgesetzter von seiner wahren Identität wusste, erzählte Chris von Bernd Simons begründeten Verdacht, dass sie einen Maulwurf in den eigenen Reihen haben mussten. Denn Gehlen konnte sich zu dem Zeitpunkt mit seinen Männern ungewöhnlich oft der Verhaftung entziehen oder wusste, wenn Razzien durchgeführt werden sollten. Durch seine verdeckten Ermittlungen hatten Bernd Simon und er gehofft, auch den Maulwurf im Dezernat enttarnen zu können.


    Ohne erkennbare Emotionen zu zeigen berichtete Ritter flüssig, aber in knappen und präzisen Sätzen weiter, mit welchen Mitteln es ihm gelang, zuerst das Vertrauen von Erik Gehlen zu gewinnen und dann später auch das des alten Gehlen.
    Auf die meisten Zuhörer im Saal wirkten Chris’ Aufführungen souverän; auf andere wiederum machte er einen abgebrühten Eindruck. Bei Semir dagegen lösten Chris’ nach außen gezeigte, empfindungslose Äußerungen leises Unverständnis aus.
    Wie konnte er nur so teilnahmslos von seinem ehemaligen Vorgesetzten reden? Von einem Vorgesetzten, von dem Semir wusste, das er für Chris auch ein Freund gewesen war? Er musste stets daran denken, welchen Kummer er damals in Chris Augen gesehen und wie verletzlich Chris in dem Augenblick ausgeschaut hatte, als er ihm in Semirs Garten von der Ermordung Simons erzählte. Und hier in diesem Gerichtssaal zeigte er sich völlig unbeteiligt! Etwas fassungslos schüttelte er leicht mit dem Kopf, hörte aber weiterhin fasziniert zu.


    Schließlich kam Ritter zu den Geschehnissen, die sich am Tag von Tom Kranichs Tod ereignet hatten. Noch immer ruhig und gleichmütig berichtete er, wie er nach der Schein-Verhaftung in den Büroräumen von Roman Gehlen, von Bernd Simon im Zuge eines „Verhöres“ davon in Kenntnis gesetzt wurde, das es dieses Mal gelungen war, eine Zeugin zu bekommen. Mit ihrer Hilfe wollten sie endlich die beiden Gehlens festnageln. Da er von seinem Vorgesetzten erfahren hatte, wo sich das Mädchen befand, wollte nach ihr zu sehen und gleichzeitig ein wachsames Auge auf sie haben.


    „Was veranlasste Sie zu dieser Vorgehensweise?“, erkundigte sich die Anwältin.
    Ritter schaute kurz zum Angeklagten und erwiderte grimmig: „Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits genügend Erfahrungen mit Roman Gehlen gesammelt, um zu wissen, wie er reagieren würde, wenn er von der Zeugin erfuhr. Denn was auch immer sich ihm in den Weg stellte: Es wurde rigoros beiseite geschafft! Und eine Zeugin, die ihm das nächste, große Geschäft, welches er ja zu dem Zeitpunkt plante, vermasseln könnte, konnte er sich beim besten Willen nicht leisten.“
    „Sie haben also in Ihrer Zeit als verdeckter Ermittler erfahren, dass der Angeklagte mit unliebsamen Zeitgenossen so verfährt?“, hinterfragte Schrankmann.
    „Das war ein offenes Geheimnis“, erwiderte Chris und machte eine wegwerfende Geste.
    „Haben Sie denn irgendwann Mal persönlich mitbekommen, wie der Angeklagte einen Mordauftrag erteilt?“, wollte die Staatsanwältin hoffnungsvoll wissen.
    „Nein“, schüttelte Chris den Kopf. „Der alte Gehlen war immer sehr vorsichtig und hat solche Aufträge nie in Gegenwart Fremder geäußert. Nur wenn er mit seinen engsten Vertrauten, wie zum Beispiel seinem Sohn Erik, zusammen war, wurden solche Dinge besprochen. Aber ich habe die eine oder andere Andeutung mitbekommen. Unter anderem auch die, in der der Angeklagte davon sprach, wie er gegen Hauptkommissar Gerkhan vorzugehen gedachte.“


    Die Staatsanwältin nickte wissend, machte aber eine Geste, mit der sie ihrem Zeugen zu verstehen gab, das er mit diesem Teil seiner Aussage noch warten solle. Schnell lenkte sie ein: „Sie wussten demnach von der wichtigen Zeugin und das sie in Gefahr schweben könnte. Wie gingen Sie also vor, um sie zu schützen?“
    Für einen Moment hielt Ritter inne. Dann räusperte er sich und sprach mit seiner sonoren Stimme weiter: „Nach meinem „Verhör“ ließ mich Bernd Simon „frei“ und ich machte mich über Umwege auf den Weg zum Kinderheim. Erst als ich mir sicher war, das mir niemand folgte, näherte ich mich im Dunklen von einer Seitenstraße dem Gebäude. Als ich die dort abgestellten Fahrzeuge sah, wusste ich, das die Zeugin in großer Gefahr schwebte.“
    „Darf ich fragen, was der Anlass für Ihre Befürchtung war?“, warf Claudia Schrankmann ein.
    Mit dem Kopf in Gehlens Richtung deutend, sagte Chris: „Bei den Fahrzeugen handelte es sich einmal um einen schwarzen Van, dessen Kennzeichen ich von Gehlens Wagenflotte kannte. Das andere war ein dunkelgrüner Jaguar, bei dem es sich um das Auto von Erik Gehlen handelte.“


    Nach einer bedeutungsvollen Pause, teilte Chris weiter mit: „Ich betrat das Gebäude und nahm die Rufe wahr, mit denen sich Gehlens Männer verständigten. Eindeutig konnte ich auch die Stimme von Erik Gehlen heraushören. An ihren aufgeregten Stimmen konnte ich erkennen, dass sie auf der Suche nach dem Mädchen und einem Polizisten waren, die sich irgendwo versteckt hielten. Vorsichtig bewegte ich mich durch das Gebäude, denn ich wollte dem unbekannten Kollegen irgendwie zur Hilfe kommen. Aber gleichzeitig durften Erik Gehlen und seine Leute mich auf keinen Fall entdecken. Nach einigen Minuten hörte ich von weitem, wie jemand rief, dass man sie im Innenhof entdeckt hätte. Als ich hinkam, konnte ich nur noch hilflos mit ansehen, wie Hauptkommissar Kranich von Erik Gehlen erschossen wurde.“
    Für die Dauer einiger Herzschläge ließ Schrankmann die Worte auf die Anwesenden wirken, dann fragte sie: „Haben Sie damals noch jemanden erkennen können?“


    Chris nickte und zeigte beschuldigend auf den Angeklagten: „Ich habe Roman Gehlen gesehen. Er hatte sich zum Schutz vor dem Regen unter einem Türbogen gestellt und seinem Sohn Erik zugeschaut. Kurz vor dem tödlichen Schuss hat er ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gegeben, das er abdrücken und die Sache beenden soll. Nach der Tat ist Erik zu ihm gegangen und er hat seinem Sohn anerkennend auf die Schulter geklopft. Dann verschwanden die beiden mit ihren Handlangern im Dunklen.“
    Mit wachsendem Frust hatte Gehlen zugehört, doch jetzt konnte er nicht länger an sich halten...

  • Einen tiefen Schrei ausstoßend, krachten seine Fäuste mit solcher Wucht auf die Tischplatte, dass ein Aktenstapel vor Janzen ins Rutschen geriet. Aufgebracht sprang Gehlen auf und beugte sich über den Tisch. Sich mit der linken Hand abstützend, fuchtelte er mit der Rechten in Chris’ Richtung und schäumend vor Wut tobte er: „Das wirst Du bereuen, Ritter! Das wirst Du noch bitter bereuen! Ich werde Dich fertig machen! Dich und...“
    Roman Gehlen spürte, wie zwei Paar kräftige Hände nach ihm griffen und versuchten, ihn zurück auf seinen Platz zu setzen. In seiner blinden Rage wehrte er sich gegen die Berührung und schlug wild um sich. Die beiden Justizbeamten allerdings verstärkten ihren Griff und nach einigen Bemühungen, hatten sie ihn zurück auf seinen Stuhl gedrückt. Sich noch immer gegen den Griff windend, starrte er mit lodernden Augen zu Ritter, während sich auf seinem Gesicht kalter Zorn spiegelte.
    Voller Hass fauchte er: „Ritter, das war ein Fehler... Ein verdammt großer Fehler! Das wird Dir noch Leid tun! Dafür werde ich Dich drankriegen und zerstören!“


    Unter Aufbringung aller Beherrschtheit, atmete Chris tief ein und erwiderte frostig seinen Blick. Es fiel ihm schwer, nicht darauf zu antworten. Doch seine Augen sprachen umso deutlicher aus, was er dachte:
    Das Roman Gehlen es ruhig wagen solle...,
    das er auf ihn warten würde...,
    das er ihn fertig machen würde...
    und das er, Gehlen, es nicht überleben würde, wenn er ihm, Chris, auch nur einen Meter zu nahe käme!
    Der Angeklagte bemerkte Chris’ tödlichen Blick und verstand, dass dieser ihm eine stumme Gegendrohung ausgesprochen hatte.
    Jedoch so schnell gab Gehlen nicht auf. Er war nicht die Art Mann, der sich von einer Drohung abschrecken ließ... dem man Angst einjagen konnte... Niemals! Auch jetzt nicht! Schließlich war er fest davon überzeugt, noch einen entscheidenden Trumpf im Ärmel zu haben!


    Ohne zu überlegen, welche Konsequenzen ihm daraus entstehen könnten, holte er zu seinem letzten vernichtenden Schlag aus. Er senkte etwas seine Augenlider, hinter denen es gefährlich aufleuchtete. Dadurch bekam seine Miene einen schlangenhaften Ausdruck.
    Soweit es der feste Zugriff der beiden Beamten zuließ, beugte er sich nach vorn und zischte giftig: „Ich hoffe, dass Du weißt, was das für Deine Familie bedeutet? Denn soeben hast Du ihr Leben verwirkt! Hoffentlich war es Dir das wert!“
    Kurz und hart lachte er gehässig auf und fügte boshaft hinterher: „Ach, und übrigens, Ritter... Dein Sohn hat gequiekt wie ein Schwein, als er abgeschlachtet wurde.“


    Die mit verhasster Inbrunst gesprochenen Sätze ließen ein entsetztes Raunen aus den Reihen der Zuschauer ertönten. Selbst Anna und Semir starrten sich für einen alarmierten Moment an. Obwohl sie Chris’ Familie in Sicherheit wussten und erkannten, dass Gehlen nur bluffte, war die Intensität des Hasses, der aus Gehlens Mund strömte, auch für sie ein Schock. Besorgt blickten sie zu Chris, der einen grimmigen Zug auf seinem Gesicht hatte.


    Claudia Schrankmann, die nachdem Gehlen seine Fäuste auf den Tisch gedonnert hatte, erschrocken zusammen gezuckt war, hatte ebenfalls bestürzt den Ausbruch des Angeklagten beobachtet. Doch nach Gehlens letzten Worten fasste sie sich schnell und wandte sich gerade noch rechtzeitig zu Ritter um. In dessen Augen blitzte es in diesem Moment gefährlich auf und seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Das scharfe Einatmen gab ihr zu verstehen, dass Ritter kurz davor stand, aufzuspringen und dem Angeklagten an die Gurgel zu gehen.
    Mit einer flüchtigen, aber bestimmten Handbewegung gebot sie ihm Einhalt und forderte ihn stumm auf, sich zu beherrschen. Sie konnte erkennen, wie schwer es Ritter fiel seinen Impuls zu unterdrücken.
    Sich an den Richter wendend, der nach dem erneuten verbalen und handgreiflichen Ausbruch des Angeklagten wieder für Ruhe im Gerichtssaal gesorgt hatte, sagte sie: „Wie Sie gerade gehört haben, hat der Angeklagte eine massive Drohung gegen den Zeugen und seine Familie ausgesprochen.“
    Rasch ging die Staatsanwältin zu ihrem Platz, ließ sich von ihrer Assistentin eine Akte geben und hielt diese, nach einem überlegenen Seitenblick in Richtung Gehlens Anwalt, selbstbewusst in die Höhe. „Wir haben Beweise, dass er es nicht bei einer Drohung belassen hat und besonders im Vorfeld zur heutigen Verhandlung versucht hat, die Zeugen Gerkhan und Ritter zu erpressen“, erklärte sie mit fester Stimme und überreichte dem Richter die Unterlagen.


    Während der Richter die Akte öffnete und die ersten Dokumente überflog, erläuterte die Anwältin laut und für alle im Saal vernehmlich: „Wie Sie den Schriftstücken entnehmen können, hat der Angeklagte vor knapp drei Wochen einem gewissen Frank Lorenz den Auftrag erteilt, die Familien der beiden wichtigsten Zeugen entführen zu lassen. Nur durch einen Zufall, konnte die Verschleppung der Ehefrau des Zeugen Gerkhan vor zwei Tagen verhindert werden. Aber zur gleichen Zeit wurde die Familie des Zeugen Ritter von Lorenz’ rechter Hand Jens Borchert und Mitgliedern seiner Bande entführt. Mit teilweise grauenvollen Videobotschaften, in denen auf barbarische Weise gezeigt wurde, wie Familienmitglieder von Herrn Ritter leiden, sollte er gezwungen werden, heute vor Gericht eine Falschaussage zu tätigen. Neben diesen Nachrichten, die Sie auf der beigefügten CD finden, haben wir die ersten Zeugenaussagen von einigen Gehilfen, die sich seit gestern in polizeilichem Gewahrsam befinden.“


    Die Staatsanwältin machte eine kurze Pause und ließ die Worte auf die Anwesenden wirken. Ihr Blick schweifte hinüber zu den Zuschauern und sie erkannte, wie einige Frauen betroffen die Hände vor den Mund geschlagen hatten. Die Journalisten kritzelten hektisch auf ihren Notizblöcken und versuchten alles mitzuschreiben. Nach und nach richteten sich die vielen Reporteraugenpaare gierig zu ihr zurück und begierig warteten sie auf weitere Einzelheiten. ‚Die sollt Ihr haben’, dachte die Schrankmann in einem Anflug von bitterem Sarkasmus und straffte ihre Schultern.
    Mit klarer Stimme fuhr sie fort: „Der Kopf der Bande und gleichzeitig die rechte Hand von Frank Lorenz, ein gewisser Jens Borchert, liegt zurzeit im Krankenhaus. Er ist nach einer schweren Schlussverletzung, die er gestern beim Zugriff des SEK abbekommen hat, noch nicht vernehmungsfähig. Aber er ist deutlich auf einigen der Videobotschaften zu sehen und somit ist seine Teilnahme an diesem abscheulichen Verbrechen ohne jeden Zweifel. Zwar bestreitet Lorenz noch jegliche Zusammenarbeit mit dem Angeklagten, aber er wird von allen bisher Vernommenen beschuldigt. Außerdem...“, mit einem triumphierenden Ausdruck auf ihrem Gesicht drehte sich Claudia Schrankmann dem Tisch des Angeklagten zu, „...sind die meisten der Gefangenen bereit, eine Aussage zu machen, in denen eine Verbindung zwischen Lorenz, Borchert und dem Angeklagten Roman Gehlen bestätigt wird.“


    Die Anwältin endete ihren Vortrag und erwartungsvoll schaute sie zurück zum Richtertisch. Eine Weile blickte der Richter nachdenklich sinnierend vor sich hin. Dann schloss er mit einer bedächtigen Bewegung die Akte und wendete sich schließlich an die Schrankmann: „Frau Staatsanwältin..., haben Sie noch weitere Zeugen?“
    Für einen kurzen Moment schaute die Angesprochene auf den Boden und schien ihre Gedanken zu sortieren. Dann hob sie den Kopf, reckte etwas das Kinn nach vorn und antwortete: „Eigentlich beabsichtigte die Staatsanwaltschaft noch Stefan Fried im Zeugenstand befragen. Wir wollten seine Beziehungen zum Angeklagten und auch seine Mitschuld am Mord an Hauptkommissar Kranich aufzeigen. Aber wir verzichten auf seine Aussage vor Gericht, da sein Schuldgeständnis in schriftlicher Form vorliegt und er auf sein Widerrufsrecht verzichtet.“
    Der Richter suchte aus einer der vor ihm liegenden Akten das entsprechende Dokument heraus und kontrollierte es auf seine Richtigkeit. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Schriftstück ok war, richtete er sein Interesse zu Kurt Janzen.


    Wie versteinert saß der Anwalt von Roman Gehlen auf seinem Platz und seine entgeisterten Blicke wanderte zwischen der Staatsanwältin und dem Richter hin und her. Eindeutig war auf seinem Gesicht zu erkennen, das er mit dieser Wendung des Prozesses nicht gerechnet hatte.
    „Herr Anwalt...“, riss ihn der Vorsitzende des Gerichts aus seinen sich überschlagenden Gedanken, „..., möchten Sie den Zeugen Ritter ins Kreuzverhör nehmen?“
    Konsterniert lenkte Janzen seine Aufmerksamkeit auf die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen und starrte sie mit leerem Blick an.
    ‚Was soll ich mit denen jetzt noch anfangen?’, fragte er sich in Gedanken kopfschüttelnd. Seine Verteidigung, die auf eine Zurücknahme der Zeugenaussage ausgelegt war, war wie ein Kartenhaus ineinander gefallen. Sie waren für ihn also vollkommen nutzlos!
    Er war sich außerdem seiner Sache so sicher gewesen, das er keine anderen Fragen erarbeitet hatte. Und selbst wenn er es getan hätte: Sollte es stimmen, das der Staatsanwaltschaft Zeugenaussagen von Borcherts Männern vorlagen und nach den schwerwiegenden Beschuldigungen Ritters, hatte sein Mandant sowieso keine Chance... jedenfalls keine, die sich ihm auf die Schnelle offenbaren würde.


    Kurt Janzen war wie vor den Kopf geschlagen. Wie hatte ihm so etwas passieren können? Fassungslos musste er erkennen, dass er den Fall verloren hatte!
    Ohne aufzusehen, schüttelte Gehlens Anwalt ergeben den Kopf und sagte mit angeschlagener Stimme: „Nein, Euer Ehren, ich verzichte.“
    „Gut“, nickte der Richter zufrieden und legte die vor ihm liegenden Akten aufeinander. „Das Gericht zieht sich für zwei Stunden zur Beratung zurück.“
    Mit einem Schlag seines Richterhammers unterstrich er seine Entscheidung und erhob sich. Er griff nach den Akten, klemmte sie sich unter den Arm und verschwand in der Tür hinter dem Richtersitz.


    Während sich die Schrankmann zurück zu ihrem Platz begab, fiel ihr Blick erneut zum Tisch des Angeklagten. Gehlens Anwalt saß noch immer völlig regungslos auf seinem Stuhl und stierte niedergeschlagen vor sich hin. Er schien noch nicht einmal mitzubekommen, wie der widerstrebende Roman Gehlen von den beiden Justizbeamten durch den Seitenausgang aus dem Gerichtssaal geführt wurde und ihn dabei vor Wut schäumend aufs übelste verfluchte.
    Kaum jedoch war sein Mandant verschwunden, breitete sich auf seiner aschfahlen Miene plötzlich blankes Entsetzen aus. Denn mit einem Mal war ihm wohl die Tragweite von dem bewusst geworden, was hier in den letzten Minuten passiert war.
    Welche Erkenntnis Kurt Janzen in diesem Moment noch viel schlimmer traf und ihm bis ins Mark fuhr: Borchert und seine Männer würden auch ihn schwer belasten können! Damit war seine „Karriere“ beendet und wenn er an Gehlens Kontakte dachte, konnte er nur noch hoffen, dass er am Ende mit seinem Leben davon kam...

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  • Das hölzerne Geräusch des Richterhammers war noch nicht ganz verklungen, als eine aufgeregte Stimmung im Zuschauerraum des Gerichts entstand. Während die Journalisten eilig aufsprangen und hektisch den Saal verließen, um die überraschende Wendung im Prozess möglichst schnell ihren Zeitungen oder Sendern zu melden, wogte ein erstauntes Gemurmel durch den Raum.
    Obwohl sich die meisten Zuschauer untereinander fremd waren, wandten sie sich nun nach rechts oder links zu ihrem Nachbarn und begannen mit ihnen über die Geschehnisse, dessen sie Zeuge werden durften, zu reden. Es dauerte nicht lange und es hatten sich mehrere kleine Gruppen gebildet, in denen eifrig diskutiert und Spekulationen aufgestellt wurden.


    Auch Anna Engelhardt und Semir sahen sich mit einem erleichterten Lächeln an. „Gott sei Dank!“, atmete die Chefin befreit auf. „Das ist ja noch mal gut gegangen. Ich habe wirklich zwischendurch geglaubt, Ritter würde seine Aussage zurück nehmen.“
    Semir nickte zu Bestätigung und pflichtete ihr bei: „Ging mir genauso!“ Dann schüttelte er ratlos seinen Kopf und fügte hinterher: „Mich würde nur mal interessieren, was er sich dabei gedacht hat... Uns allen so einen Schreck einzujagen!“
    „Ich glaube, jeder hier im Saal ist darauf reingefallen“, mutmaßte Anna Engelhardt und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter zu den plappernden Zuhörern. „Aber sind Sie sich sicher, dass es nur eine Show war...? Ich meine, der Kollege Ritter war den ganzen Morgen schon so komisch“, gab sie im nächsten Atemzug zu bedenken.
    „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht“, zuckte Semir mit den Schultern und richtete dabei seine Aufmerksamkeit zum Zeugenstand. „Am besten wird er uns das selber sagen können.“


    Doch mit Verwunderung stellte er fest, dass der Platz, auf dem eben noch Chris gesessen hatte, leer war. Rasch blickte er sich um und sah im letzten Augenblick, wie sein Partner durch die Seitentür huschte. Gerade wollte sich Semir darüber aufregen, das Chris mal wieder ohne ein Wort zu sagen einfach so verschwand, als er realisierte, dass Gehlen ebenfalls zur Seitentür heraus geführt werden sollte. Bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn Chris und Gehlen aufeinander trafen, erschreckte Semir und jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Besorgt erhob er sich, warf einen Blick über die Schulter zur Engelhardt und wollte sie auf seine Bedenken aufmerksam machen.


    Die Chefin, die dem Blick Semirs gefolgt war, verstand sofort was er meinte und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, das er seinem Partner folgen sollte. „Gehen Sie“, forderte sie ihn eindringlich auf. „Ich komme gleich nach.“
    Ohne zu zögern ging Semir mit schnellen Schritten hinter Chris her.
    Bevor jedoch Anna ihren Männern folgen konnte, wurde sie von einem halben Dutzend Reportern und Fotografen aufgehalten, die in diesem Moment den Gerichtssaal betraten. Augenblicklich wurde sie mit Fragen zu Chris Ritters Familie bombardiert und um eine Stellungnahme über die bisherigen Ermittlungsergebnisse gebeten...



    Als Semir nach den beiden Polizeibeamten, die den Angeklagten abführten, den Gang hinter der Tür betrat, stellte er mit einem Blick nach rechts und links und einem stillen Seufzer der Erleichterung fest, dass Chris nirgendwo zu sehen war. Da er sich in etwa ausmalen konnte, was Chris mit Gehlen machen würde, wenn er die Gelegenheit bekommen würde mit ihm allein zu sein, wollte er sicher gehen, das die beiden nicht doch noch aufeinander trafen. Aufmerksam beobachtete er den Gang in alle Richtungen, bis der sich noch immer windende und fauchende Gehlen in einen anderen Raum gebracht worden war.


    Während Semir wartete, musste er an die vergangenen Tage denken und besonders an das, was Chris mitgemacht hatte. Sinnierend rief sich Semir einige Szenen ins Gedächtnis zurück:
    Chris’ kalkweißes Gesicht, als er die Nachricht über die Entführung seiner Familie erhalten hatte...
    Seine angstvolle Verzweiflung, als sie den ersten Film von den Entführern erhalten hatten...
    Seine aufkeimende Mutlosigkeit, als sie das verlassene Versteck der Entführer entdeckten...
    Seine aufbrausende Wut, als er das Gefühl hatte, das man ihm Informationen zurückhielt...
    Seine Ohnmacht, als er von Richards „Tod“ erfahren hatte...
    An den heftigen Streit, den sie sich vor der PAST geliefert hatten...


    Unwillkürlich musste sich Semir leicht schütteln, als er die vielen negativen Momente im Rückblick betrachtete.
    ‚Doch es gab auch andere Augenblicke’, dachte er und mit einem flüchtiges Schmunzeln, welches über sein Gesicht huschte, erinnerte er sich weiter:
    Chris’ zaghaften Versuche, sich seinem Partner anzuvertrauen...
    Seine Freude, als er seine Kinder in den Arm nehmen konnte...
    An seine Erleichterung, als er seine Schwester und seinen Neffen wohlauf sah...
    Seine unerwartete Reaktion an Gabys Krankenbett...


    Nachdenklich legte Semir den Kopf auf die Seite. In den letzten Tagen hatte er mit Chris eine unglaubliche Berg- und Talfahrt der unterschiedlichsten Emotionen erlebt. Abermals wurde ihm bewusst, wie wenig er Chris eigentlich kannte und das sie beide noch einen weiten Weg vor sich hatten. Doch gemeinsam, und da war er sich sicher, konnten sie es schaffen. Erste gute Ansätze hatte es gegeben... sie mussten nur weiter verfolgt werden. Semir erinnerte sich an seinen Vorsatz, den er heute Morgen gefasst hatte und beschloss, ihm Taten folgen zu lassen.


    Er schaute sich um und bemerkte, dass Gehlen sicher und ohne Zwischenfälle weggebracht worden war. Sofort machte er sich auf die Suche nach Chris. In der Hoffnung, ihn in dem Zimmer, in dem sie sich vor der Verhandlung aufgehalten hatten zu finden, ging er darauf zu. Er öffnete die Tür... und hielt irritiert für eine Sekunde inne...

  • Seinen leisen Groll, den er noch vor wenigen Minuten gegen Chris hegte, verflog augenblicklich, als er sah, wie sein Partner ausgelaugt mit dem Rücken an der Wand lehnte. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und hielt sich mit beiden Händen das Gesicht bedeckt. Während seine Atmung schwer und stoßartig ging, fast so, als ob er einen Marathonlauf hinter sich hätte, sprach seine Körperhaltung eine deutliche Sprache der Erschöpfung und Müdigkeit. Selbst ein Blinder konnte erkennen, dass Chris am Ende seiner Kräfte war.


    Fragen, die Semir für Chris wegen seines plötzlichen Verschwindens auf den Lippen hatte, blieben ihm regelrecht im Hals stecken, als er die intensive Atmosphäre, die von ihm ausging, spürte. Sie spiegelte eine Mischung aus Erleichterung, Zweifel, Erlösung und Angst wider und schien den ganzen Raum auszufüllen. Besorgt schloss er schnell die Tür hinter sich und wollte auf seinen Partner zugehen.


    Doch durch das klickende Geräusch der sich schließenden Tür wurde Chris auf ihn aufmerksam und nahm schnell die Hände von seinem Gesicht. Als er Semir erkannte, richtete er sich mit einem widerwilligen Atemzug zu seiner vollen Größe auf und stieß sich in einer verärgerten Bewegung von der Wand ab. Semir den Rücken zuwendend, ging er zum Fenster und stemmte verärgert seine Hände an die Hüften.
    Mit dunklen Augen blickte er hinaus und raunzte grantig: „Wenn Du hergekommen bist, um mir eine Predigt zu halten... Sag am besten nichts und schluck es runter! Es reicht, wenn ich gleich eine von der Chefin oder der Frau Staatsanwältin bekomme. Da brauche ich keine von meinem Partner.“


    Abwehrend ob Semir seine Hände. „Hey..., ist ja gut!“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn Du es so wünscht..., dann sage ich halt nichts...“
    Langsam ging er zu Chris ans Fenster, stellte sich neben ihn und sah ihn einige Augenblicke von der Seite her an. Auf der Miene seines Partners zeichneten sich Frust, Ärger und Abwehr ab und in der angespannten Körperhaltung erkannte Semir, wie sich Chris vor jeglichen Angriffen versuchte zu schützen.
    Zuerst spielte Semir mit dem Gedanken, ihm für den eingejagten Schreck im Gerichtssaal mit einem Augenzwinkern die Leviten zu lesen, um die Situation etwas aufzulockern. Doch er spürte, dass das bei Chris im Moment das Gegenteil bewirken würde. Darum drehte er sich nach einer Weile wortlos zur Seite, verschränkte locker seine Arme vor der Brust und schaute ebenfalls zum Fenster hinaus.


    Regungslos standen die beiden Männer nun da und hingen ihren recht unterschiedlichen Gedanken nach. Während Semir einfach nur abwartete, wappnete sich Chris in seinen grollenden Gedanken schon mal gegen die Vorwürfe, die er wohl gleich von seinem Kollegen zu hören bekommen würde. Inzwischen meinte er ihn schon so gut zu kennen, das er wusste: Wenn Semir etwas auf der Seele brannte, musste er es rauslassen. Und warum sonst sollte er wohl hier sein? Natürlich..., um ihm eine Standpauke zu halten!


    Doch es vergingen zwei Minuten... nichts passierte.
    Es verstrichen drei Minuten... noch immer regte sich Semir nicht.
    Es verrannen vier Minuten... Semir schwieg beharrlich.
    Langsam wurde Chris etwas unruhig. Wieso war Semir hier? Wahrscheinlich doch, um ihn zur Rede zur stellen! Nur..., warum sagte er dann jetzt nichts? Diese zermürbende Stille machte ihn rasend...
    Heimlich warf er einen schnellen Blick auf Semirs Reflexion in der Scheibe. Obgleich sich auf dem Gesicht seines Partners keinerlei Regungen zeigten, war sich Chris sicher, dass ihm etwas auf den Lippen lag. Das kaum bemerkbare Funkeln in den Augen Semirs verriet ihm das deutlich...


    ‚Verdammt! Warum sagt er es dann nicht endlich?’, dachte Chris gereizt bei sich. ‚Was beabsichtigt er mit seinem Schweigen?’
    Nervös trat er möglichst unauffällig von einem Bein auf das andere. Während er versuchte, seiner beginnenden, inneren Unruhe Herr zu werden, fragte er sich verwirrt, warum sein Partner nicht mit ihm schimpfte oder ihm keine Vorhaltungen machte.
    „Herrgott..., wieso sagt er nichts?’, grollte Chris, dem in diesem Augenblick ein handfester Streit lieber war, als dieses lähmende Schweigen. Leise atmete er tief durch, um sich zu beruhigen. Doch es brachte nicht viel. Die Anspannung blieb. Einige quälend lange Sekunden später hielt er es schließlich nicht mehr aus.
    Mit einem ergebenen Stöhnen drehte er sich zu Semir und seufzte: „OK..., Du hast gewonnen! Lass es raus!“


    Erstaunt wandte sich der Angesprochene zu Chris um. Dann sah er sich verwirrt über seine Schultern im Raum um und als er sicher war, das er gemeint war, zeigt er auf sich und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Meinst Du mich?“
    „Na, wen denn sonst?“, blaffte Chris zurück und schaute ihn anschließend auffordernd an. „Also..., lass endlich hören, was Du mir sagen willst!“
    Semir mimte den Unwissenden: „Ich will Dir was sagen?“
    „Oh, komm schon, Semir!“, brauste Chris auf. „Ich sehe Dir doch an, das Dir was auf der Seele brennt!“
    „Ach...“, tat Semir überrascht. „Was denn?“
    „Du willst doch bestimmt eine Begründung für mein Verhalten“, erklärte Chris ungeduldig.
    „Ach so..., das...“, gab Semir gedehnt zurück und machte eine gleichgültige Geste.
    „Wie...?“ Auf Chris’ Gesicht breitete sich Verwirrung aus, bevor er irritiert weiter haspelte: „Es interessiert Dich nicht, wieso ich so... Ich meine, weshalb ich... Ja, aber...“


    Semir hob eine Hand und brachte Chris zum Schweigen. Leicht schüttelte er den Kopf und sagte ernst: „Doch,... interessieren würde mich schon, was mit Dir da drinnen los war!“ Er machte eine kurze Pause und sah Chris fest in die Augen. Doch schließlich huschte ein verständnisvolles Lächeln um seine Mundwinkel und er fügte hinzu: „Aber ich denke mal, dass du es mir irgendwann erklären wirst... Dann, wenn Du es für richtig hältst.“


    Überrascht wich Chris einen halben Schritt zurück. Mit dieser Antwort hatte er jetzt überhaupt nicht gerechnet! Argwöhnisch blickte er Semir einige Sekunden an. „Aber weshalb bist Du sonst hier? Bestimmt nicht, um mit mir die ‚fantastische’ Aussicht zu genießen!“ Chris deutete ungeduldig zum Fenster, von dem man in den tristen Innenhof des Gerichtsgebäudes oder auf unzählige, rot und schwarz gedeckte Dächer schaute.
    Semir zuckte leichthin mit den Schultern. „Warum nicht?“, fragte er mit einem geheimnisvollen Lächeln und wandte sich erneut dem Fenster zu, um hinaus zu schauen. „Ist doch ein interessanter Ausblick, oder?“


    Perplex wanderte Chris’ Blick zum Fenster hinaus. Nach drei, vier Herzschlägen blinzelte er hektisch. ‚Da ist nichts Interessantes!’, dachte er verärgert bei sich, löste sich von dem Anblick und wandte sich erneut ungeduldig dem Profil seines Partner zu. Semir schaute noch immer versonnen zum Fenster hinaus und Chris glaubte sogar, ein verträumtes Lächeln auf seinem Gesichtszug zu sehen.
    „Oh, Mann, Semir!“, brauste Chris auf. „Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen...! Jetzt sag mir endlich, was Du mir sagen wolltest, als Du herein gekommen bist.“


    Mit einem ratlosen Gesichtsausdruck zog Semir seine Augenbrauen hoch. „Ehrlich, Chris, es ist nicht meine Absicht, Dich auf den Arm zu nehmen. Aber...“, fügte er schnell hinterher, als er sah, wie es in Chris’ Augen wütend aufblitzte, „...Du hast selbst gesagt, das ich Dir keine Predigt halten soll. Und ich habe mich nur daran gehalten, was Du mir gesagt hast.“ Um seine Worte zu unterstreichen, hob er seine Hände und machte eine Schuld abweisende Geste.


    Mit vor Verblüffung leicht offen stehendem Mund, starrte Chris seinen Partner an. Nach einigen verwirrten, ja fast schon fassungslosen Augenblicken musste er mit anerkennendem Erstaunen einsehen, das Semir es doch tatsächlich erneut geschafft hatte... Er musste sich ihm geschlagen geben! Und es war ihm schon lange nicht mehr passiert, dass er sich gleich zweimal am selben Tag eine Niederlage jemand anderem gegenüber eingestehen musste... Oder doch...?
    Er versuchte darüber nachzugrübeln, wann ihm das zuletzt passiert war, doch wegen seiner Mattigkeit konnte er sich nicht richtig konzentrieren.


    Schließlich gab er es auf, schloss mit einem vagen Schmunzeln den Mund und schüttelte ergeben mit dem Kopf. Dann wandte er sich um und machte ein paar unentschlossene Schritte in den Raum.
    „Ach, Semir“, sagte er mit einem tiefen Seufzer und rieb sich mit der rechten Hand über die geröteten Lider. „Du kannst froh sein, das ich so müde bin. Sonst...“
    Fragend warf Semir ihm einen Blick zu. „Sonst, was?“, wollte er mit einem neckischen Gesichtsausdruck wissen.
    Ein, zwei Sekunden schaute Chris Semir ernst über seine Schulter hinweg an, als es plötzlich schelmisch in seinen Augen aufblitzte. „Wer weiß...“, zuckte er beiläufig mit den Schultern. „Vielleicht würde ich meine ‚Verhörmethoden’ mal wieder zum Einsatz kommen lassen...!“
    Semir, dem das Aufblitzen in Chris’ Augen nicht entgangen war, grinste breit. „Meinst Du etwa so wie in der Wohnung von diesem schmierigen Veit Stumpf?“
    „Ja..., so in etwa! Tisch und Stuhl haben wir ja hier“, grinste Chris zurück und deutete mit einem Nicken in Richtung der Möbelstücke.


    Einen Moment schauten sich die beiden ungerührt an, dann konnten sie nicht mehr an sich halten und kicherten leise.
    „Oder wie in dem Verhörzimmer, als Du ihn mitsamt dem Stuhl umgeworfen hast“, griente Semir frech.
    „Fehlt nur noch die Chefin, die mich zurückpfeift“, gluckste Chris.
    „Genau“, stimmte Semir ihm eifrig bei. „Ich höre schon, wie sie sagt...“
    Bevor er weiter sprach, stemmte er seine Hände an die Hüfte, hob missbilligend eine Augenbraue und warf Chris einen strengen Blick zu. Er öffnete den Mund, um die Engelhardt zu imitieren, als eine ernsthafte Stimme von der Tür ihm das Wort abschnitt.
    Was würde ich sagen?“

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