Doch von einer Sekunde auf die andere verschwand sein Lächeln und er wurde wieder ernst. Denn die Tragweite seines bisherigen Verhaltens wurde ihm jäh bewusst. Erneut kamen Zweifel in ihm hoch.
Hatte er mit seinem störrischen Widerstand letztendlich doch alles zunichte gemacht?
Waren sein Partner und die Chefin bereit, ihm noch eine, ... eine letzte Chance zu geben? Trotz seines oftmals widersprüchlichen Benehmens?
Oder waren die entstandenen Lücken jetzt so groß, dass sie nicht mehr überwunden werden konnten?
Was aber noch wichtiger war: Würde er sich ändern können?
War er fähig, alte Gewohnheiten abzulegen und in einem Team zu arbeiten?
Würde er sich endlich von seinen Ängsten und seinem Misstrauen befreien können?
War er in der Lage, sein selbst zerstörerisches Benehmen einzustellen?
Könnte er über seinen Schatten springen und sich öffnen?
Wenigstens ein bisschen...?
Suchend huschte Chris’ Blick über die Fensterscheibe. Schließlich fand er seine Reflexion und starrte sich für einen kurzen Moment mit vorwurfsvollen Augen an. Dann schüttelte er, verärgert über sich selbst, den Kopf und fluchte leise: „Du bist so ein Idiot! Warum machst Du es Dir und anderen immer so schwer?“
Seufzend erkannte Chris, dass er jetzt nur noch wenige Chancen hatte, Semir und der Engelhardt zu beweisen, dass er bereit war sich zu ändern. Oder das er zumindest gewillt war, es zu versuchen. Aber würde das genügen?
Er ahnte, dass das nur ein kleiner Schritt auf die beiden zu war, aber bei weitem nicht ausreichend war. Denn um das volle Vertrauen der beiden zu gewinnen, musste er weiter gehen: Er musste sich öffnen. Und das bedeutete, dass er ihnen von seiner Vergangenheit erzählen musste!
Bei dem Gedanken daran, ihnen alles zu erzählen, spürte Chris die ‚vertraute’ eisige Welle der alten Angst seinen Rücken hinauf kriechen. Die Kälte fraß sich bis zu seinem Herz und ließ es schmerzhaft zusammenkrampfen. Einmal mehr spürte Chris, wie sich zu seinem seelischen Schutz Ablehnung und Gefühlsleere in ihm ausbreiten wollten.
Doch plötzlich hörte er eine wohlbekannte Stimme in seinem Kopf: „Du kannst nichts verlieren. Sei mutig und wag den Schritt.“ Bernd...
Es waren Bernds Worte, die in seiner Erinnerung klangen und sie hörten sich eindringlich und aufmunternd zugleich an. Augenblicklich durchflossen ihn Kraft und Stärke, als er an seinen früheren Vorgesetzten und Freund dachte.
‚Bernd!’, seufzte Chris gedanklich. ‚Du warst immer für mich da und hast mich geleitet.’
„Auch jetzt werde ich immer für Dich da sein“, sagte Bernds Stimme überzeugt. „Wann immer Du mich brauchst: Du musst nur an mich denken! Ich werde bei Dir sein.“
‚Aber das ist nicht dasselbe!’, klagte Chris. ‚Dir konnte ich vertrauen, denn Du kanntest mich besser wie sonst kein anderer. Du wusstest über mich Bescheid und bei Dir konnte ich mich geben, wie ich wirklich bin.’
„Dann wird es Zeit, dass Du Dich endlich jemandem anvertraust!“, forderte Bernd ihn auf. „Du wirst sehen: Alles wird dann wieder so wie früher.“
‚Ich weiß!’, gab Chris kleinlaut zu. ‚Aber ich habe Angst vor den Reaktionen.’
„Papperlapp!“, fegte Bernd den Einwand hinfort.
„Wahrscheinlich hast Du recht“, murmelte Chris. „Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie herausfinden.“
Vor seinem inneren Auge sah er, wie Bernd sanft lächelte und seine blassblauen Augen aufmunternd aufblitzten. „Das schaffst Du...! Ich weiß es! Du warst immer stark.“
Unbewusst straffte Chris seinen Rücken. Auch wenn er wusste, das Bernd tot war und die Worte, die er gerade hörte, nur seiner Erinnerung entsprangen... es tat ihm gut, sie zu hören!
Sie halfen ihm neuen Mut zu schöpfen...
Mut für das, was er zu tun hatte...
Mut für das, was daraus resultieren würde...
Chris ahnte, dass mit seiner Aussage, die er gleich tätigen musste, sich vieles in seinem Leben ändern würde.
Würde er mit der erhöhten Belastung fertig werden?
Würde seine Familie die Entscheidung mittragen?
Schließlich betraf es sie ja enorm. Für sie würde nie wieder alles so werden wie früher...
Die Sorgen um seine Familie ließen Chris’ Stirn kraus und seinen Blick dunkel werden. Minutenlang sinnierte er grübelnd vor sich hin. Seine Bedenken kamen zurück und ließen ihn erneut hadern. Es zermürbte ihn und es fiel ihm schwer, sich nicht von seiner Besorgnis übermannen zu lassen.
Ein dreimaliges Klopfen an der Tür unterbrach seine erdrückenden Gedanken und ließ ihn kurz blinzeln. Während die Tür geöffnet wurde, wandte er sich um und Chris erkannte den Gerichtsdiener, der vor einiger Zeit auch Semir geholt hatte.
Nachdem der Mann eingetreten war, sagte er: „Herr Ritter, Sie sind jetzt dran. Kommen Sie bitte mit mir mit?“ Dabei machte er eine vage Geste in Richtung Flur.
Nach einem zustimmenden Nicken, setzte sich Chris ohne Umschweife in Bewegung und folgte dem Beamten. Auf dem Weg zum Gerichtssaal hörte er noch einmal Bernds Stimme in seinen Ohren: „Dieses Mal kriegen wir ihn!“
Chris’ Miene blieb unbewegt, als er grimmig dachte: ‚Wir werden sehen!’
Der Gerichtsdiener blieb vor der schweren Holztür zum Gericht stehen, öffnete sie einen Spalt und deutete mit einer Kopfbewegung an, dass Chris eintreten konnte. Durch die schmale Öffnung konnte Chris einen kurzen Blick auf die voll besetzten Zuschauerreihen und die vielen Journalisten erhaschen.
Einen Moment verharrte er, atmete tief durch und konzentrierte sich. Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich seine Miene. Sein Gesicht wurde zu einer steinernen Maske und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen es kalt funkelte. Sich zu seiner vollen Größe aufrichtend, reckte er das Kinn nach vorn und betrat anschließend entschlossen den Gerichtssaal...