Angst und Vertrauen

  • Etwa zur gleichen Zeit, wie Chris vom Streifenwagen abgeholt wurde und Semir die Zeitung las, nahm Roman Gehlen den letzten Schluck seines dünnen Kaffees und stellte die Tasse mit einem angewidert verzerrten Gesicht zurück auf das Tablett. Verächtlich schob er es etwas von sich weg und besah sich die kaum angerührten Reste auf seinem Teller.
    ‚Das wird wohl das letzte Mal gewesen sein, das ich diesen billigen Fraß zu mir nehmen musste’, dachte er hoffnungsvoll bei sich.


    Verträumt schloss er einen Moment die Augen. Er sah sich schon an einem reich gedeckten Tisch sitzen, auf dem sich unter anderem Rührei mit Lachs, zart blättrige Croissants, goldgelbe Butter, exquisite Marmeladen und erlesene Früchte türmten. In seiner Nase meinte er das unverkennbare, volle Aroma und den herrlichen Duft des besten Kaffees aus Puerto Rico riechen zu können und seine Vorfreude stieg.
    ‚Heute kommst Du aus diesem Loch und dann kannst Du wieder so leben, wie es Dir gebührt’, freute sich Gehlen.


    Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, dass er in einer knappen halben Stunde abgeholt werden würde. Behäbig stand er auf und begab sich zum kleinen Waschbecken in der Ecke. Während er sich die Zähne putzte, schaute er prüfend in den Spiegel.
    Sein Teint war blass und brachte die dunklen Ringe, die unter seinen Augen lagen, im krassen Gegensatz zum Vorschein. Seine Gesicht sah welk aus, seine Haut war trocken und seine Hände wirkten ungepflegt. Sobald er hier raus wäre, würde er seine Kosmetikerin kommen lassen und sich von ihr verwöhnen lassen, nahm er sich versonnen vor.
    Doch für heute war ihm dieses Erscheinungsbild nur recht und ein hinterhältiges Lächeln umzuckte seine Lippen.


    Der Richter, die Staatsanwältin, die Zuschauer, die Medienvertreter… sie alle sollten einen Mann sehen, der Opfer eines Justizirrtums wurde…
    Einen traurigen Mann, der durch die Willkür der Polizei seinen Sohn verloren hatte…
    Einen alten Mann, dessen Gesicht von Leiden und Sorgen gezeichnet war…
    Einen gebrochenen Mann, der vom Gram gebeugt wurde…
    Einen bedauernswerten Mann, mit dem man nur Mitleid haben konnte…


    Mit einem verächtlichem Schnauben spuckte Gehlen den Zahnpastaschaum ins Becken, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Nachdem er sich mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, schaute er in den Spiegel. Er sah sich selbst in die Augen und gluckste kichernd: „Das heute wird Deine Show! Dann wollen wir den Idioten dort draußen mal was bieten.“ Er richtete sich auf, straffte seinen Rücken und schob trotzig sein Kinn hervor. „Und dann kann mein Leben wieder beginnen!“ lachte er hart.


    Abfällig warf er das Handtuch ins Waschbecken, drehte sich um und trat an den wackeligen Spind. Daran hing, durch eine Kleiderhülle geschützt, sein neuer Anzug. Vorsichtig öffnete er den Reißverschluss der Schutzhülle und das dunkelblaue Jackett wurde sichtbar.
    Mit der Rückseite seiner Finger strich er über den sündhaft teueren Stoff und kennerhaft schnalzte er mit der Zunge. Er wusste, dass allein die Jacke mehr wert war, wie die gesamte Einrichtung seiner lausigen Zelle.
    Bedächtig zog er sich an und warf zum Schluss einen kontrollierenden Blick in den kleinen, schlierigen Spiegel. Zufrieden, mit dem was er sah, zupfte er noch einmal an den Ärmeln und rückte seine Krawatte zurecht. Ein erneuter Blick zur Uhr sagte ihm, das er jeden Moment abgeholt werden würde.


    Er trat ans Fenster und schaute gedankenverloren in den Innenhof. Nach einer Weile verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen und er presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Die Natur seiner Gedanken ließ sich an seinen geballten Fäusten und an seiner hektischen Atmung erkennen.
    Als sich wenige Minuten später die Zellentür öffnete, drehte sich Gehlen entschlossen um und verließ seine Zelle, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen. Er war sich sicher:
    Dies waren die ersten Schritte in die Freiheit!

  • Nach dem Anruf, den Chris vor wenigen Minuten erhalten hatte, hatte er zuerst ein Auf und Ab seiner Emotionen erlebt. Doch jetzt war er wütend, wahnsinnig wütend... und frustriert. Noch immer war er völlig durcheinander und seine Gedanken wirbelten wie wild umher. Um seiner haltlosen Wut und seinem angestauten Ärger Luft zu machen, knallte er laut fluchend die Tür des Spiegelschranks in seinem Badezimmer zu.
    „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ fauchte er und schlug mit der flachen Hand auf sein Spiegelbild ein.


    Er war so wütend auf sich selbst, das sein vor Zorn bebender Körper Gefahr lief, außer Kontrolle zu geraten. Schwer atmend stützte er sich mit seinen Händen auf dem Waschbecken ab, lehnte seine Stirn gegen den Spiegel und versuchte sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Doch seine Wut und sein Zorn wallten ständig in ihm auf.
    Wie hatte er nur so dumm sein können...?
    Wie hatte er glauben können, so einfach aus der Sache raus zu kommen...?
    Wie hatte er annehmen können, dass nach dem heutigen Tag alles vorbei wäre...?


    „Verdammt!“ stieß er noch einmal heftig aus und richtete sich ruckartig auf. Mit seiner rechten Hand fuhr er sich durch das eben gekämmte Haar, starrte sein Spiegelbild mit funkelnden Augen an und schüttelte leicht den Kopf...
    Wie hatte ihm das nur passieren können...?
    Wie hatte er nur so unaufmerksam sein können...?
    Was, wenn...?
    Nein, er durfte nicht daran denken...!


    „Verfluchter Mist!“ zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und drehte sich ärgerlich schnaubend um. Mit ausholenden Schritten verließ er das Bad, ging zur Küchentheke und griff nach der Zigarettenschachtel, die er dort hingelegt hatte. Hastig kramte er eine Zigarette heraus und zündete sie sich fahrig an.
    Während er den ersten Rauch mit in den Nacken gelegten Kopf in die Luft blies, schloss er einen Moment die Augen. Eine sorgenvolle, steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen und ein gequälter Ausdruck huschte flüchtig über sein Gesicht. Es fiel ihm schwer, keinen erneuten Fluch auszustoßen. Sichtlich bemüht, sich zu beherrschen, senkte er den Kopf und nahm einen weiteren, tiefen Zug von seiner Zigarette.


    Anschließend wanderte Chris unruhig im offenen Wohnbereich seines Apartments auf und ab. Hin und wieder raufte er sich die Haare, massierte sich mit knetenden Bewegungen den Nacken oder strich sich nervös über das Gesicht. Nach einiger Zeit beendete Chris seine Wanderung und blieb an dem großen Fenster stehen, vom dem er einen herrlichen Blick auf die Dächer der Umgebung hatte. Doch heute hatte er keinen Blick für den spröden Charme, den die Dächerlandschaft ausstrahlte.


    Denn während er mit finsterem Blick aus dem Fenster schaute, nahm seine wütende Miene einen besorgten Ausdruck an...
    Was sollte er nur machen...?
    Wie sollte er sich verhalten...?
    Gab es für ihn einen Ausweg...?


    Seine Gedanken schweiften circa eine Viertelstunde zurück...


    Nachdem er sich geduscht und frisch eingekleidet hatte, war er noch einmal ins Bad gegangen, um sich die Haare kämmen. Während er vergeblich versucht hatte, seine widerspenstigen Strähnen in Form zu bringen, hatte sein Handy geklingelt.


    Es war Landwehr gewesen, der weitere Informationen über den flüchtigen Mann haben wollte, um die Suche fortsetzen zu können. Er hatte eine Beschreibung des Mannes verlangt, um ihn zur Fahndung ausschreiben zu können. Doch Chris, der aus dem Bad ins Schlafzimmer gegangen war, um einen besseren Empfang zu haben, hatte nur vage Angaben gemacht. Immer wieder hatte er betont, er habe den Mann im Halbdunkel des Motels nicht richtig erkennen können. Landwehr hatte gespürt, das er ihm etwas zu verheimlichen schien und hatte ihn mit der Tatsache konfrontiert, das es auf dem besagten Flur hell genug gewesen war, um zumindest etwas sehen zu können. Ein hitziges Wortgefecht hatte sich entwickelt, an dessen Ende ihm Landwehr sogar mit einem Disziplinarverfahren drohte. Nach einem wütenden Kommentar seinerseits, hatte Chris das Gespräch weggedrückt und das Handy zornig in seine Hosentasche gestopft.


    Als das kleine Mobiltelefon kurz darauf erneut klingelte, ignorierte er es zunächst völlig und er hatte versucht, seine Gedanken zu sortieren. Doch als sich der Apparat das dritte Mal meldete, schaltete er ihn kurzerhand aus und warf ihn ärgerlich aufs Bett.
    Denn unterdessen hatten sich seine Gedanken überschlagen, als er nach einer Weile mit Schrecken hatte erkennen müssen: Er saß in der Zwickmühle!


    Entweder half er Landwehr, den ‚Doc’ zu fassen, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen... was aber zur Folge haben könnte, dass der ‚Doc’ bei einer Vernehmung Chris’ Geheimnis verriet und er ruiniert wäre...
    Oder aber, er hoffte darauf, das der ‚Doc’ nie gefangen werden würde... was aber bedeuten würde, das sein Feind jederzeit wieder zuschlagen könnte...
    Wie er es auch drehte und wendete... der ‚Doc’ konnte ihm immer schaden!


    Mit einem Mal hatte Chris das Gefühl gehabt, in der Falle zu sitzen! Ein beklemmender Druck hatte sich auf seinen Brustkorb gelegt und er glaubte keine Luft mehr zu bekommen.
    Angst hatte sich in ihm ausgebreitet... Angst davor, dass der ‚Doc’ ihm das nahm, was er sich verzweifelt versuchte aufzubauen... ein neues Leben!


    Mit einem Aufstöhnen hatte sich Chris auf die Bettkante gesetzt und sein Gesicht in seinen Händen vergraben. So sehr er sich auch bemühte, ruhig zu atmen,... seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen...


    Er wollte doch nur ein normales Leben...! Ein Leben, wie es Millionen andere Menschen auch hatten...
    Ein Leben ohne Furcht,... ohne Misstrauen,... ohne Geheimnisse,... ohne Verrat...
    Er sehnte sich nach einem Leben, bei dem er frei sein konnte,... frei von Angst und Gefahr,... in dem er sich frei bewegen konnte,... in dem er frei sprechen konnte...
    Trotz seiner Bemühungen hatte Chris gespürt, das sich sein Angstzustand nicht besserte.


    Das Gegenteil war sogar der Fall gewesen, als ihm in diesem Augenblick die Gerichtsverhandlung in den Sinn gekommen war. Sein Herz hatte angefangen unregelmäßig zu schlagen und sein Hals war plötzlich wie zugeschnürt, als ihm zusätzlich bewusst wurde: Wenn er heute gegen Gehlen aussagen würde, würde er sich einen weiteren, erbitterten Feind schaffen.
    Einen Feind, der, wie es sich gezeigt hatte, vor nichts zurückschrecken würde,...
    der erneut versuchen würde ihn, seine Familie oder andere Menschen, die ihm etwas bedeuteten, zu vernichten,...
    der Verbindungen zum ‚Doc’ hatte,...
    eine Verbindung, die ihm alles kosten konnte, was ihm lieb war...


    Doch was wäre, wenn er nicht aussagen würde...?


    Bernds Mord... er bliebe ungesühnt...
    Die Arbeit von fast zwei Jahren... sie wäre zunichte gemacht...
    Die Qualen, die seine Schwester und die Kinder erlitten hatten... sie wären umsonst gewesen...
    Die Chance, das Semir ihm Vertrauen entgegen bringen könnte... sie wäre vertan...
    Die Möglichkeit, das die Chefin ihm jederzeit Glauben schenken konnte... sie würde nie wieder kommen...


    Und er selbst...? Er würde sich nie wieder in die Augen schauen können...!
    Trotzdem... ein Restzweifel blieb...


    Durfte er wirklich das Leben seiner Familie aufs Spiel setzen, nur um einen Mann hinter Gitter zu bringen? Wollte er ihnen tatsächlich ein Leben zumuten, bei dem sie in ständiger Angst leben müssten? Hatte er das Recht, ihnen diese schwere Bürde aufzuladen?


    Ein gequältes Stöhnen ausstoßend war ein kaltes Zittern war durch Chris’ Körper gelaufen und er hatte gefühlt, wie in ihm alles außer Kontrolle geraten war. Plötzlich hatte er nur noch einen Wunsch gehabt: Er wollte, das es aufhörte! Das es ein Ende hatte!
    Und er hatte auch sofort gewusst, wie er es abstellen konnte.


    Entschlossen war er aufgestanden und zurück ins Bad gegangen. Alle warnenden Stimmen und Gewissensbisse, die sich in ihm meldeten, hatte er beiseite gefegt. Mit flatternden Händen hatte er den Spiegelschrank geöffnet...

  • ...und war zur Salzsäule erstarrt.
    Mit Entsetzen hatte er festgestellt, das seine Pillen nicht mehr da waren! Hektisch hatte er in dem kleinen Schränkchen danach gesucht... und sein Entsetzen hatte sich in Panik verwandelt, als ihm eingefallen war, wo sie waren: In seinem Jackett, das im Kofferraum von Semirs Dienstwagen lag! Er hatte sie dort hineingelegt, als sie sich vor der Erstürmung des Motels die Schutzwesten angezogen hatten...


    ‚Oh Gott!’ hatte er angstvoll gedacht. ‚Wenn Semir die entdeckt, wird er Fragen stellen oder Erkundigungen einziehen. Und wenn er erfährt, was es mit den Tabletten auf sich hat, dann...’
    Augenblicklich waren seine Panik und seine Angst in haltlose Wut umgeschlagen...


    Bei der Erinnerung an seinen heftigen Wutausbruch im Badezimmer, blinzelte Chris und holte sich in die Gegenwart zurück. Seine innere Anspannung, die sich in seiner mahlenden Wangenmuskulatur, den zusammengezogenen Schultern und der schnellen Atmung zeigte, wuchs erneut.
    Er seufzte schwer und bemerkte, dass er seine Zigarette soweit aufgeraucht hatte. Während er einen letzten, hastigen Zug nahm, ging er zurück zur Küchentheke und drückte sie mit einer furiosen Geste im Aschenbecher aus. Anschließend stützte er sich mit beiden Händen auf der Arbeitsfläche ab und ließ den Qualm nachdenklich durch seine Nase entweichen. Leise schüttelte er mit dem Kopf: Was sollte er nur machen...?


    Chris’ wachsende Ohnmacht nahm zu. Fast fühlte er sich wie ein Dampfdrucktopf, der kurz vorm explodieren stand. Er brauchte ein Ventil, um sich von dem Druck befreien zu können.
    Eine weitere Zorneswelle brandete plötzlich in ihm hoch und bevor er wusste, was er tat, packte er den Aschenbecher und schmiss ihn mit einem frustrierten Schrei gegen die Wand. Eine graue Aschewolke hinter sich herziehend, krachte das metallene Gefäß klirrend an die Mauer und fiel scheppernd zu Boden.
    Sein Atem ging keuchend, als Chris leise vor sich hinfluchend seine Ellebogen auf die Küchentheke legte. Verzweifelt raufte er sich die Haare und versuchte seine Gedanken zu sortieren.


    Noch vor einer Stunde war er sich seiner Sache so sicher gewesen! Er hatte gewusst, was richtig und was falsch war... Warum fing er jetzt wieder an zu zweifeln...?
    Die Antwort auf diese Frage, das ahnte er, lag in seiner Vergangenheit. Was konnte er machen, damit sie ihn nicht ständig einholte? Damit er endlich Frieden finden konnte...?


    Chris brauchte eine ganze Zeit, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Als er spürte, wie sich seine Atmung normalisierte und sein Herzschlag ruhiger wurde, war er fähig, klarer zu denken und versuchte eine Entscheidung zu treffen. Er wägte das Für und Wider gegeneinander ab, obwohl ihm eigentlich absolut klar war, was das Richtige war und was er zu tun hatte.


    Sein Blick fiel auf die Aschepartikel, die noch immer wie ein feiner Schleier in der Luft schwebten, um sich dann lautlos auf die Zigarettenstummeln und Tabakkrümeln zu legen, die sich auf den Fliesen verteilt hatten. Gedankenverloren betrachtete Chris die Szene... und mit einem Mal nahm seine Miene einen harten Zug an. In seinen Augen blitzte es grimmig auf, als er sich abrupt umdrehte und ins Bad ging. Er brachte seine Haare in Ordnung, zog sich das graue Jackett an und verließ fast fluchtartig die Wohnung.


    Der Beamte, der ihn hergebracht und auf ihn gewartet hatte, fuhr los, kaum das Chris wortlos auf der Rückbank des Streifenwagens Platz genommen hatte. Während der Fahrt warf der Polizist einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel und er sah, wie sein Passagier mit starrem Blick aus dem Fenster schaute.
    Auf Chris’ Gesicht zeigte sich eine gefährliche Entschlossenheit... eine Entschlossenheit, die deutlich zu Tage brachte, dass er genau wusste, was er tun würde und er bereit war die Konsequenzen dafür zu tragen...

  • Das Medieninteresse an diesem Prozess war bereits im Vorfeld sehr hoch gewesen. Fast täglich waren in den vergangenen Wochen Berichte in den verschiedenen Zeitungen veröffentlicht worden, in denen mehr und mehr Ungeheuerlichkeiten von Gehlens Machenschaften bekannt wurden. In einigen Lokalradios waren sogar hitzige „Diskussionen“ zu hören gewesen, in denen die Hörer einem Sensation geifernden Publikum mitteilten, wie sie mit solchen Verbrechern umgehen würden oder was ihrer Meinung nach die gerechten Strafen für solch brutale Taten wären.


    Daher war es auch nicht verwunderlich, das sich bereits Stunden vor Prozessbeginn am Haupteingang des Gerichtes ein unruhiger Pulk von Menschen drängte, die möglichst schnell in das Gebäude eingelassen werden wollten. In jeder Miene war der Wunsch und die Hoffnung zu erkennen, bei einem Aufsehen erregenden Prozess dabei sein zu dürfen.
    Viele davon waren Medienvertreter, die unbedingt Bilder entweder von dem Angeklagten und seinem Verteidiger oder von der Staatsanwaltschaft und ihren Zeugen bekommen wollten. Jeder einzelne von ihnen erhoffte sich, das Foto zu schießen oder die Story zu schreiben. Einige Kamerateams, die ebenfalls warteten, überbrückten die Zeit, indem sie Aufnahmen von dem Gebäude machten oder durch Interviews ein Stimmungsbild einfingen.


    Als Kurt Janzen am Gericht eintraf, stürzte die sich gegenseitig schubsende Pressemeute auf ihn und unter dem aufbrandenden Blitzlichtgewitter bombardierten sie ihn mit Fragen:
    „Wie geht es Ihrem Mandanten heute?“
    „Was schätzen Sie, wie lange Ihr Mandant bekommen wird?“
    „Zeigt Ihr Mandant Reue?“
    „Werden Sie auch diesmal einen Freispruch erreichen?“
    „Gauben Sie, dass das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft nachgehen und die Höchststrafe verhängen wird?“
    Ohne eine Erklärung oder Antwort zu geben, bahnte sich Gehlens Anwalt mit einem arroganten Lächeln einen Weg durch das Gewühl und verschwand hinter der Absperrung. Murrend drehten die Berichterstatter ab.


    Doch nur Sekunden später wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Streifenwagen gelenkt. Kaum hatte der erste Fotograf erkannt, wer in dem Wagen saß, riss er die Kamera hoch und versuchte ein Bild vom Insassen auf der Rückbank zu bekommen. Augenblicklich taten es ihm die Kollegen gleich und kurzzeitig war die Luft vom grellen Licht der Blitzlichter erfüllt. Doch so schnell der Wagen aufgetaucht war, genauso schnell war er auch wieder um eine Ecke verschwunden.
    Sofort kontrollierten die Fotografen die geschossenen Fotos auf den kleinen Bildschirmen ihrer digitalen Spiegelreflexkameras. Die meisten waren zufrieden mit ihren Bildern, auch wenn sie nur einen Mann erkennen konnten, der sich schützend die Hand vors Gesicht hielt.


    Kurz darauf gaben die Sicherheitsbeamten den Eingang zum Gerichtsgebäude frei. Die aufgeregte Menschenmenge kam nur langsam hinein. Da noch immer befürchtet wurde, dass einer von Gehlens Hintermänner einen Befreiungsversuch starten oder einen Anschlag verüben könnte, wurde jeder einzelne, der hinein wollte, intensiv kontrolliert.
    Anschließend strömten die Reporter und Zuschauer zum großen Gerichtssaal. Die meisten Zuschauer setzten sich gleich in die Bänke und reservierten sich einen Platz, um einen guten Blick auf das Spektakel zu haben.
    Einige Reporter und die Kamerateams positionierten sich in die Nähe der Tür, um von der Ankunft der Zeugen oder den Anwälten berichten zu können. Manche von ihnen waren so begierig darauf, das Bild oder die Aufnahme zu machen, dass sie erst durch das Erscheinen von Sicherheitsleuten davon abgehalten werden konnten, in abgesperrte Bereiche vorzudringen.

    Einige Minuten später flammten noch einmal kurz die Blitzlichter auf, als die Staatsanwältin in Begleitung einer Frau am Ende des Ganges entlang ging. Doch auch sie ignorierte den Schwall Fragen, die man ihr zurief und bog mit energischen Schritten um die Ecke.
    Was die Presseleute nicht mehr sahen, aber kurz darauf zu spüren bekamen, war, wie die Staatsanwältin die Order erteilte, die Meute vom Gang zu entfernen. Sie wollte nicht, das der Druck auf ihre Zeugen nicht noch größer wurde.
    Nur widerwillig folgten die Reporter dem Befehl und ließen sich von den Sicherheitsbeamten zurückdrängen.


    Doch mit jeder Minute war deutlich zu spüren, wie die Anspannung bei allen Beteiligten wuchs...

  • Als der Wagen um die Ecke gebogen war und das Blitzlichtgewitter aufgehört hatte, ließ Chris seine zur Abwehr erhobene Hand fallen und atmete unbewusst die angehaltene Luft aus. Er hasste Reporter und ihre Sensationsgier.
    Eine Gier, bei der manche von ihnen keine Skrupel kannten,... eine Gier, die sie über Leichen gehen ließ,... eine Gier, mit der schon viele Leben zerstört wurden... unter anderem auch seines als verdeckter Ermittler.
    Was er aber am meisten hasste, war, das er sich von den Reportern in eine Lage gedrängt fühlte, in der er sich wehrlos fühlte..., denn plötzlich wurde er vom Jäger zum Gejagten.


    Er, der sich bei seinen Undercover-Einsätzen nicht ohne Grund den Namen „Jäger“ gegeben hatte und somit schon viele Verbrecher zur Strecke gebracht hatte, wurde zu einem hilflosen Gejagten. Er hasst es, wenn er den Reportern ausgeliefert war und er sich nicht verteidigen konnte. Schließlich konnte er nicht einfach seine Waffe ziehen und um sich schießen... auch wenn er es liebend gern getan hätte.


    Das Auto passierte eine Sicherheitsschleuse und Chris stieg aus. Wortlos übergab er beim Wachhabenden seine Pistole, unterzog sich einer Leibesvisitation und unterschrieb das übliche Formular. Anschließend wurde er von einem Polizeibeamten, dem man aufgrund seiner etwas dicklichen Figur ansah, das er schon seit Jahren Schreibtischdienst verrichtete, mit einem Kopfnicken in Empfang genommen. Dieser watschelte schweigend vor ihm her den Flur entlang und führte ihn durch die Gänge und einige Treppen hinauf. Schnaufend wie ein Walross öffnete der Beamte schließlich eine Tür und deutete hinein.


    Das erste, was Chris sah, war die Chefin, die sich mit der Staatsanwältin unterhielt. Als die beiden Frauen hörten, wie die Tür aufging, unterbrachen sie ihr Gespräch und richteten ihre Blicke auf ihn. Mit einem grimmigen: „Guten Morgen“, betrat Chris das Zimmer.
    Die Chefin überhörte den grantigen Ton und kam freundlich lächelnd auf ihren Mitarbeiter zu. Sie reichte ihm die Hand und nachdem sie ihm ebenfalls einen: „Guten Morgen!“, gewünscht hatte, fragte sie: „Wie geht es Ihrer Familie?“


    Chris erkannte an ihrer fürsorglichen Stimme, das sie wirklich interessiert war. Er nickte kurz, wich aber ihrem Blickkontakt aus und antwortete knapp: „Sie hatten alle eine relativ ruhige Nacht.“
    Anna schaute ihn ein wenig besorgt an. „Und was ist mit Ihnen?“ wollte sie wissen. „Haben Sie sich wenigstens auch ein bisschen ausruhen können?“


    Chris, der sich ausgelaugt, müde und matt fühlte, erkannte, das er seiner Chefin nichts vormachen konnte. Ihre Augen waren voller Mitgefühl auf ihn gerichtet und ihre Miene zeigte deutliche Anteilnahme. Er hatte sogar den Eindruck, das sie zu ahnen schien, dass ihn etwas bedrückte..., dass er sich seiner Sache unsicher war... dass er einen Rat benötigte.
    Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, sah aber gleich sofort wieder an ihr vorbei. Trotz ihrer warmherzigen Art, die ihre Gestik, ihre Stimme, ihre Mimik und ganz besonders ihre Augen ausstrahlten, widersprach es ihm, sich bei ihr sein Herz auszuschütten. Mit einem abweisenden Schulterzucken murmelte er: „Es geht so.“


    Claudia Schrankmann, die das Gespräch der beiden mitverfolgte, trat nun hinzu. „Fühlen Sie sich denn stark genug, Ihre Aussage zu machen?“ Auch ihre Stimme klang sorgenvoll, wenn auch aus einem anderen Beweggrund. „Wenn Sie wollen, spreche ich mit dem Richter und beantrage eine Vertagung.“


    Vehement schüttelte Chris mit dem Kopf und straffte die Schultern. „Nein!“ kam es schärfer, als er beabsichtigte. „Ich will es endlich hinter mich bringen.“
    Von Chris’ scharfen Ton verärgert, erwiderte die Staatsanwältin bissig: „Es ist nur, das wir uns in diesem Verfahren keine Fehler leisten können.“
    „Es wird keine Fehler geben“, versicherte Chris gereizt und warf ihr einen bösen Blick zu. „Jedenfalls nicht von mir!“ In seinen Augen funkelte es gefährlich auf.


    Die Anwältin hielt dem Blick stand und mit ihren Augen taxierte sie ihrerseits Chris. Das mulmige Gefühl, welches sie schon so oft bei Chris’ Aussagen verspürt hatte, machte sich erneut in ihrem Unterleib bemerkbar und bereitete ihr Magenschmerzen. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie ahnte, das Chris nicht meinte, was er sagte.
    Ihre Mimik verriet ihre Gedanken und die Engelhardt befürchtete, das zwischen den beiden erneut ein Streit losbrechen könnte. Daher ging sie schnell beschwichtigend dazwischen.


    Fest sah sie Chris an. „Natürlich werden Sie keine Fehler machen und niemand unterstellt ihnen, das Sie welche machen werden.“ Beim letzten Teil des Satzes schaute sie die Schrankmann vernichtend an.
    Ihre Augen gingen zurück zu Chris und ihr Gesichtsausdruck nahm mildere Züge an. Mit sanfter Stimme meinte sie: „Ich weiß, wie wichtig Ihnen dieser Prozess ist und das sie nichts riskieren würden, um das zu gefährden.“


    Eine Weile herrschte Schweigen im Raum und Anna glaubte schon, Chris hätte sie in seiner aufsteigenden Wut nicht gehört. In seinen Augen loderte für einen kurzen Moment ein gefährliches Feuer auf. Doch genauso schnell war es wieder verschwunden und dann nahm sie ein leichtes Nicken seines Kopfes wahr...


    War es ein zustimmendes..., ein dankbares..., ein abwehrendes Nicken? Sie war sich nicht sicher...


    Ihr blieb keine Zeit darüber zu grübeln. Denn mit einem tiefen Einatmen, bei dem sie mehr als deutlich erkennen konnte, das er sich um Kontrolle bemühte, drehte sich Chris um und machte einige unruhige Schritte hin und her. Schließlich stellte er sich vor das Fenster, verschränkte seine Arme vor der Brust und starrte hinaus.


    Die Schrankmann wollte gerade den Mund öffnen, um Chris für sein Verhalten zu rügen und ihn daran erinnern, das er sich vor Gericht dieses Gebaren nicht erlauben durfte, als die Engelhardt ihr einen strafenden Blick zuwarf.
    Ohne auf das empörte Schnauben zu achten, welches die Staatsanwältin von sich gab, wandte sich Anna ihrem Mitarbeiter so zu, das sie sein Gesicht in der Scheibe erkennen konnte. Chris’ Augenbrauen waren eng zusammengezogen, sein Blick grimmig in die Ferne gerichtet und sein Mund hatte harte Züge angenommen.


    Irgend etwas stimmte nicht... das spürte sie.

  • In den letzten Wochen hatte sie oft bei Chris beobachten können, wie er trotz seiner abweisenden Art bei den Vorbereitungen auf den Prozess stets ein leises, hoffnungsvolles Leuchten in seinen Augen hatte. Ein Leuchten, das ihr gezeigte hatte, wie wichtig es ihm war, den Mörder von Bernd Simon hinter Gitter zu bringen. Ein Leuchten, das nicht von Rache, sondern von dem Willen nach Gerechtigkeit geprägt war.
    Doch dieses Leuchten schien verschwunden und statt dessen meinte sie in seinen Augen feste Entschlossenheit zu sehen... eine feste Entschlossenheit, die sie an Unerbittlichkeit erinnerte.
    Es erschreckte sie und Zweifel, die schon seit einiger Zeit in ihrem Unterbewusstsein nagten, kamen in ihr hoch.


    Sollte an den Gerüchten, die ihr über Chris zu Ohren gekommen waren, etwas dran sein?
    Sollten sich die Warnungen, die sie stets mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite geschoben hatte, bewahrheiten?
    Sollte sie es heute bereuen, das sie sich für ihn eingesetzt hatte? Das sie ihn in ihr Team geholt hatte?
    Sollte sie sich wirklich so sehr in ihm getäuscht haben...?


    Ihre Gedanken wurde von Chris’ Stimme unterbrochen: „Haben Sie was von Landwehr gehört? Hat seine Suchaktion inzwischen was ergeben?“
    Für einen Moment blinzelte Anna, um ihre Gedanken zu sortieren. Dann schüttelte sie den Kopf und antwortete: „Nein, nichts. Die Spur des Mannes, den Sie verfolgt hatten, verliert sich im Wald. Und bis jetzt ist auch nirgendwo jemand Verdächtiges aufgetaucht...“
    Sie stutzte: Bildete sie sich das ein oder blitzte in Chris’ Miene Erleichterung auf?
    „... Aber“, fuhr sie leicht irritiert fort, „so wie ich Landwehr kenne, wird er das fragliche Gebiet von seinen Männern gründlich durchsuchen lassen. Letzte Nacht hat es keinen Regen gegeben. Vielleicht haben wir Glück und es findet sich noch eine Spur.“


    Die Engelhardt registrierte Chris’ regungslose Miene, doch etwas meinte sie in seinen Augen gesehen zu haben...
    Enttäuschung...? Angst...? Verzweiflung...? Hoffnung...?
    Sie war sich nicht sicher, wie sie das kurze Aufflackern deuten sollte.
    Aufmerksam beobachtete sie ihn, als sie ihre nächste Frage stellte: „Können sie uns denn gar nichts zu dem Mann sagen? Etwas, was uns weiterhilft?“
    Bevor Chris langsam, aber entschieden den Kopf schüttelte und antwortete: „Nein, ich habe ihn im Halbdunkel nur kurz gesehen. Er flüchtete sofort, als er mich bemerkte.“, sah sie, wie sein Gesicht einen harten Ausdruck annahm. Wieder spiegelten sich widersprüchliche Emotionen in seiner Miene. An seinen zusammengezogenen Schulterblättern und seinen mahlenden Wangenmuskeln, erkannte sie, das Chris diese Angelegenheit zum einen näher ging, als er zugeben wollte und das er zum anderen nicht weiter über dieses Thema reden wollte.


    Annas Alarmglocken schrillten auf und sie spürte..., nein wusste, das Chris ihr in diesem Augenblick nicht die Wahrheit sagte. Doch nach einem kurzen Zögern entschloss sie sich, die Angelegenheit fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. Irgendwie ahnte sie, dass, wenn sie jetzt auf eine Antwort beharren würde, sich Chris noch mehr verschließen würde. Aber sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit das Gespräch darauf zurückzubringen.


    Die Schrankmann jedoch war nicht zufrieden. Sie war entrüstet über Chris’ Verhalten und darüber, das die Engelhardt nicht energischer durchgriff. Ohne die Signale, die Chris aussendete zu beachten, öffnete sie den Mund, um ihn zu maßregeln. Doch bevor sie auch nur ein Wort hervorbrachte, kam ihr Chris zuvor.


    Denn plötzlich drehte sich dieser zu ihr herum, sah sie mit ärgerlich funkelnden Augen an und machte eine abwehrende Handbewegung.
    „Lassen Sie es!“ grollte er gefährlich und mit Genugtuung nahm er wahr, wie die Staatsanwältin unwillkürlich vor Schreck zusammenzuckte. „Ich verstehe nicht, wieso Sie mich hier nach unwichtigen Dingen zu fragen, wenn Sie weiß Gott etwas besseres zu tun haben. Ich dachte, Sie wollen Gehlen hinter Gitter bringen? Ist das denn heute nicht erst einmal wichtiger?“
    Chris machte eine kurze Pause. Er beobachtete ihre wachsende Empörung und fügte in einem Ton, der zwischen Arroganz und Sarkasmus schwang, hinzu: „Sie wissen, dass Sie mich brauchen und das nur ich Ihnen Gehlen ans Messer liefern kann. Nur durch meine Aussage werden Sie in der Lage sein, Gehlen für immer wegzusperren.“
    Sein Blick ging flüchtig zur Engelhardt und sah sie entschuldigend an. Dann wendete er sich wieder der Schrankmann zu und fauchte: „Also, lassen Sie mich in Ruhe und konzentrieren Sie sich auf ihre Aufgabe. Denken Sie lieber daran, was Sie mir gestern Abend versprochen haben.“
    Während er sie eindringlich ansah, richtete er sich zu seiner vollen Körpergröße auf. „Und Sie brauchen nicht auf eine Entschuldigung von mir hoffen... Wenn Ihnen das alles nicht passt, können sie sich einen anderen Zeugen suchen.“
    Chris drehte sich erneut dem Fenster zu, stemmte seine Hände an die Hüfte und blickte entschlossen hinaus. Seine Körperhaltung drückte mehr als deutlich aus, das für ihn das Thema erledigt sei.


    Die Schrankmann, die sich zwischenzeitlich von ihrem kleinen Schrecken erholt hatte, kochte innerlich. Dieser Ritter brachte sie jedes Mal zur Weißglut. Wieso glaubte dieser Mann, er könne sich die Regeln so zurecht biegen, wie es ihm am besten in den Kram passte? Und wieso glaubte er, ihr Vorschriften machen zu können? Sie war diejenige, die Anweisungen erteilte und nicht umgekehrt. Wo käme Sie denn hin, wenn das jeder mit ihr täte? Schließlich stand ihr Ruf auf dem Spiel!
    Doch zähneknirschend musste sie einsehen, das dieser unausstehliche Mann am längeren Hebel saß. Aber eins stand fest: Wäre Ritter für ihre heutige Prozessführung nicht so wichtig, würde sie ihn augenblicklich in Beugehaft nehmen lassen.
    ‚Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben!’ dachte sie grimmig bei sich. ‚Wenn wir hier durch sind, bekomme ich Antworten über diesen mysteriösen Fremden. Dafür werde ich sorgen!’


    Sichtlich um Fassung bemüht, unternahm sie einen weiteren Versuch, Chris an das zu erinnern, was er vor Gericht zu sagen hatte. Doch erneut unterbrach er sie, indem er einfach, ohne sich umzudrehen, die Hand hob und knurrte: „Und bevor Sie fragen: Ja, ich weiß, was ich gleich zu sagen habe.“
    Völlig verdutzt schloss die Staatsanwältin ihren Mund und schaute die Engelhardt erstaunt an. Die hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen und hob in gespielter Ratlosigkeit ihre Schultern. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte und war heilfroh, wie sich in diesem Augenblick die Tür öffnete und Semir eintrat.

  • In einem gepanzerten Wagen war Roman Gehlen zum vierzig Minuten entfernten Gerichtsgebäude gefahren worden.
    Durch die Sicherheitsschleuse eines Hintereinganges gelangte der Transporter nun in einen abgegrenzten Bereich in der Tiefgarage. Von vier schwer bewaffneten Beamten begleitet, wurde er zum Aufzug gebracht. Kurz darauf stieg er in der vierten Etage aus und wurde zu einen kleinen Raum geführt, in dem bereits sein Anwalt Kurt Janzen wartete.


    Während man Roman Gehlen die Handschellen abnahm, fing er einen Blick seines Anwaltes auf. Dessen siegessicheres Lächeln verriet ihm, das ihr Plan aufgegangen war. Das konnte nur bedeuten, das er gute Nachrichten für ihn hatte und ein öliges Lächeln huschte über sein Gesicht. Nur schwer seine Vorfreude unterdrückend setzte er sich hin und wartete, bis sich die Tür hinter dem Beamten geschlossen hatte.


    „Ich sehe es Dir an. Du hast einen Film für mich“, stieß er begierig hervor.
    Janzens selbstherrliches Lächeln verschwand und nach ein, zwei Sekunden nickte er verhalten.
    „Und?“ wollte Gehlen geifernd wissen, während er sich erwartungsvoll nach vorn beugte. „Lebt Ritters Sohn noch?“ Er war so mit seinen Rachegedanken beschäftigt, das ihm die Reaktion seines Anwaltes nicht auffiel.
    Ohne seinem Mandanten in die Augen zu schauen, drehte ihm Janzen seinen Laptop zu. Bevor er eine Taste drückte, murmelte er: „Ich hoffe, dass Dich das zufrieden stellt.“


    Gehlen blickte seinen Anwalt flüchtig fragend an, der sich aber, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, erhob, ans Fenster stellte und die Hände hinter seinem Rücken verschränkte.
    Zuerst war Gehlen etwas irritiert, doch als die ersten Bilder auf dem Monitor aufflimmerten, klebten seine Augen voller Verlangen an dem Bildschirm. Schnell hatte er sein Umfeld vergessen.


    Janzen starrte unterdessen aus dem Fenster, welches, obwohl sie sich hier im vierten Stock befanden, vergittert war. Er wusste, was auf der CD zu sehen war und hörte nur mit halben Ohr hin. Zum ersten Mal seit vielen Jahren regten sich so etwas wie leise Zweifel in ihm.
    War es wirklich richtig, was er hier tat? War es das wirklich wert, dass er, nur um sich eine goldene Nase zu verdienen, den Mord an zwei unschuldigen Kindern deckte?


    Nein, die Morde machten ihm nichts aus...


    Die jungen Frauen und Mädchen, die in den letzten Jahren für Gehlens Bordelle eingeschleust wurden, waren auch noch fast Kinder gewesen. Diejenigen, die das Glück hatten, die Überfahrt in den Containern nicht zu überleben, mussten nicht durch die Hölle, die sie hier erwartete. Was aber die jungen Dinger, die es bis Deutschland schafften, für schreckliche Szenen erlebten, wenn ihnen klar wurde, worein sie geraten waren, konnte sich Janzen an den Erzählungen, die ihm zu Ohren gekommen waren ausmalen.
    Gehlens Handlanger waren nicht zimperlich, besonders nicht bei den Mädchen, die sich zierten oder gar weigerten. Wie brutal die Kerle sein konnten, hatte er an den Beweisfotos gesehen, auf denen das eine oder andere Todesopfer abgebildet gewesen war.


    Nein, die kriminellen Taten interessierten ihn nicht...


    In den letzten Jahren hatte Janzen eine gewisse Distanz und Kaltblütigkeit zu den „Geschäften“ seiner Mandanten aufgebaut. Er hatte sich eingeredet, das diese jungen Mädchen selber schuld an ihrem Unglück waren. Wieso waren die auch so naiv? Jeder vernünftige Mensch hätte erkennen müssen, das mit den verlockenden Jobangeboten in Europa etwas nicht stimmen konnte...


    Nein, die Schicksale der Opfer ließen ihn kalt...


    Das mussten sie auch! Schließlich verdiente er sich dumm und dusselig mit der Tatsache, das er Leuten wie Gehlen und seinen „Freunden“ half, Morde zu vertuschen. Oder sie vor Gericht, egal mit welchen Mitteln, herausboxte...


    Nein, das Morden machte ihm nichts mehr aus...
    Eigentlich...


    Was Janzen aber dieses Mal abschreckte, war viel mehr die Tatsache, das es sich diesmal um die Kinder eines Polizisten handelte.
    Kinder, die nur deshalb sterben mussten, weil ihr Vater seinem Mandanten ein Dorn im Auge war...
    weil sein Mandant mit dem Vater eine offene Rechnung hatte...
    weil es in der blinden Rache seines Mandanten keinen Platz für Gnade gab...
    auch nicht für Kinder...


    Sein achtjähriger Neffe fiel ihm plötzlich ein und er fragte sich, ob Gehlen wohl auch ihn hinrichten lassen würde, sobald er als sein Anwalt einen Fehler machte. Sein Magen krampfte sich für einen Moment zusammen, als er sich diese Frage mit „Ja“ beantworten musste. Ja, Gehlen würde auch davor nicht zurück schrecken!


    Ohne sich umzudrehen, richtete er seine Aufmerksamkeit kurz auf das ‚Gespräch’, das aus seinem Laptop zu hören war. Er hörte Borcherts Stimme und wie er die Frau ‚befragte’. Er wusste: Gleich würde der tödliche Schuss fallen...


    Mit einem innerlichen Schaudern konzentrierte er sich zurück auf seine Gedanken und fragte sich weiter: Wie weit würde Gehlen in seiner blinden Rache noch gehen? Würde er wirklich erst Ruhe geben, wenn er Ritter und Gerkhan, sowie deren Familien ausgelöscht hatte?
    Er würde es ihm zutrauen. Gehlen war schon immer ein Mann gewesen, der bekam, was er wollte und der bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Besonders wenn er sich an einer Sache festgebissen hatte... und bei dieser Sache beherrschte der Gedanke an Rache sein ganzen Denken. Er war regelrecht besessen davon!


    Tief atmete Kurt Janzen ein. Auch er war ein Typ, der sich durchbeißen konnte,... es sogar musste. Sonst hätte er bei seinen zahlreichen, fragwürdigen Klienten sicher nicht so lange überlebt. Und wenn er jetzt die Nerven behielt, würde er noch viele, schöne Jahre leben können. Energisch schob er seine Zweifel beiseite.
    ‚Du hast immer gewusst, auf was Du Dich da einlässt’, schalt er sich selber. ‚Verlier jetzt um Gottes Willen nicht die Nerven und werd bloß nicht weich!’


    In seinem Unterbewusstsein registrierte Janzen den Knall einer Waffe und er konnte sich eines kurzen Zusammenzucken nicht erwehren, als er Gehlens kaltes Auflachen hörte. Er wartete noch eine Weile, bis er seine letzten Zweifel gänzlich verscheucht hatte. Dann straffte er seine Schultern und drehte sich entschlossen zu seinem Mandanten um...

  • Roman Gehlen sah seinen Anwalt hoffnungsvoll an. „Und...?“ fragte er mit leuchtenden Augen. „Hat Borchert den toten Jungen schon bei Ritter abgeliefert?“
    Janzen schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er mit fester Stimme, die nicht erkennen ließ, das er noch vor wenigen Sekunden Zweifel hatte. Er setzte sich an den kleinen Tisch und drehte den Laptop zu sich herum. Im geschäftigen Ton fuhr er fort: „Borcherts Mann hat eine kleine Notiz in der CD hinterlassen. Demnach wollen sie warten, bis die Verhandlung vorbei ist. Sobald Du draußen bist, werfen sie den Jungen vor der Dienststelle, mit einer entsprechenden Nachricht versehen, den Bullen vor die Füße... So wie Du es Dir gewünscht hast.“


    Nachdenklich legte Gehlen seinen rechten Zeigefinger an den Mund und nickte schließlich: „Ja, das ist gar keine so schlechte Idee. Wer weiß: Sonst würden dieser Ritter und sein Kollege Gerkhan vielleicht während der Verhandlung noch auf dumme Gedanken kommen.“
    „Ich glaube nicht, das Ritter heute morgen dazu fähig ist, auf dumme Gedanken zu kommen“, erwiderte Janzen leichthin. „So fertig, wie der aussah!“
    Gehlen riss die Augen auf. „Du hast ihn gesehen?“ fragte er mit kehliger Stimme und beugte sich lauernd nach vorn, nachdem Janzen genickt hatte. „Wann?“
    „Vorhin, als ich gekommen bin“, ließ Janzen Gehlen wissen und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. „Am Ende des Ganges hat die Staatsanwaltschaft einen Raum für ihre Zeugen. Ritter wurde von einem Polizisten dorthin begleitet.“


    „Und...? Wie sieht er aus?“ wollte Gehlen mit begierig funkelnden Augen wissen.
    „Wie halt jemand aussieht, wenn er verzweifelt ist, wenig Schlaf hatte und in Sorge um seine Familie ist“, zuckte der Anwalt gleichgültig mit den Schultern. „Jedenfalls war er mit seinen Gedanken ziemlich weit weg. Ist einfach an mir vorbei gegangen, ohne mich zu bemerken.“
    Ein befriedigendes Grunzen entwich Gehlens Kehle, als er sich wieder aufrichtete. „Das ist gut!“ freute er sich und warf einen Blick auf die Uhr.


    Erwartungsvoll rieb er sich die Hände. „Ich kann es gar nicht abwarten, bis es losgeht! Ich will endlich in ihre dummen Gesichter sehen, wenn sie mit ihren Aussagen dafür sorgen, das ich frei komme!“
    Schadenfrohes Gelächter brach aus Gehlen heraus und er brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Mit dem Handballen wischte er sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. Er atmete tief durch und grinsend verkündete er: „Und dann kann ich endlich meine Rache zu Ende bringen! Ich habe mir letzte Nacht einige Gedanken darüber gemacht, wie ich die beiden vernichten werde.“


    Seine Augen strahlten voller Euphorie und nahmen einen verträumten Ausdruck an. „Ritters Tochter und seine Schwester werden das Startkapital für ein neues Bordell sein. Besonders die Kleine wird gutes Geld bringen, wenn sie erst einmal von den richtigen Männern gezähmt worden ist.“ Ein sadistischer Ausdruck huschte über seine Miene. „Und ich werde dafür sorgen, das Ritter alles, aber auch wirklich alles, mitbekommt. Sein Herz...“, in einer theatralischen Geste presste Gehlen seine gekrallte Faust an seine Brust, „... es soll ihm in der Brust zerreißen, wenn er seine Schwester flehen und seine Tochter wimmern hört...“
    Sein leuchtender Blick ging in die Ferne und in seinen Gedanken hörte er Ritters verzweifeltes Betteln und jammerndes Wehklagen.


    Mit gemischten Gefühlen sah Janzen seinen Mandanten schweigend an. Nach einer Weile wollte er verstohlen wissen: „Und was hast Du mit Gerkhan vor?“
    Augenblicklich war Gehlen im Hier und Jetzt und seine irre Begeisterung schlug in schäumende Wut um.


    „Gerkhan!“ schnaubte er und seine Stimme war voller Verachtung. „Für den Mann, der meinen Sohn in den Tod gehetzt hat, habe ich mir auch schon etwas ausgedacht...“ Seine Augen glühten frenetisch auf. „Ich werde mit ihm eine Treibjagd veranstalten!“ Er atmete wohlig ein und ein teuflisches Grinsen ließ seine gebleckten Zähne aufblitzen. „Ich habe Kontakte zu Personen, die ab und an mal gern eine Jagd auf Menschen veranstalten... Diese Leute können ihn jagen... jagen und verletzten...! Immer nur ein bisschen mehr werden sie ihn verletzen, aber nicht töten...!“ Die bebenden Nasenflügel zeugten von seiner Erregung. „Quer durch die ganze Stadt sollen sie ihn hetzen... Durch dichten Wald und unwegsames Gelände... Und ganz besonders durch Wasser...! So lange sollen sie ihn jagen, bis er nicht mehr kann.“


    Schwer atmend ballte Gehlen seine rechte Hand zu einer Faust. „Und dann, wenn er mit seinen Kräften am Ende ist, sollen sie ihn mir in die Arme treiben. Ich werde ihn erwarten und mir sein Betteln und Winseln anhören. Ich werde mich an seinem Gejammer und seinen Schmerzen weiden. Und dann, wenn er anfängt mich zu langweilen, werde ich ihm den Gnadenstoß versetzen.“
    In seiner Fantasie stieß er zu und hieb seine Faust, in der er ein imaginäres Messer hielt, auf den Tisch.
    Für einen Moment war es sehr still und ein unheilvolles Schweigen lastete auf dem kleinen Zimmer.


    Janzen registrierte Gehlens fanatisches Glitzern in den kalten Augen und erschauderte... dieser Blick erinnerte ihn an einen Wahnsinnigen! Die voller Inbrunst gesprochenen Worte hallten in seinem Kopf nach und er war sich sicher: Selbst wenn sie heute verlieren würden und sein Klient für immer im Gefängnis bleiben musste,... Gehlen würde alles daran setzen, das seine Rache ausgeführt würde!


    Das Klopfen an der Tür riss die beiden Männer aus ihren unterschiedlichen Gedanken. Ein Angestellter des Gerichts steckte seinen Kopf herein und sagte: „Herr Anwalt, ich möchte Sie daran erinnern, das Sie und der Angeklagte in fünf Minuten abgeholt und in den Gerichtssaal gebracht werden. Seien Sie also bis dahin mit ihrem Mandanten fertig, damit es keine Verzögerungen gibt.“


    Mit einem Nicken bestätigte Janzen, das er verstanden hatte und nachdem der Mann die Tür hinter sich zugezogen hatte, ging sein Blick zurück zu Gehlen. „Hast Du noch Fragen, Roman?“
    Zufrieden lächelnd lehnte sich der Angesprochene auf seinem Stuhl zurück. „Ich habe nur eine Frage...“ Er hob seine Hände und betrachtete sie gedankenverloren von allen Seiten. „Was meinst Du: Hat die Kosmetikerin morgen noch einen Termin für mich frei?“

  • Als Semir den Raum betrat, registrierte er sofort die angespannte Atmosphäre. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, begrüßte er die Anwesenden mit einem neutralen: „Guten Morgen“ und schüttelte anschließend seiner Chefin und der Staatsanwältin die Hand.
    Er schaute zu Chris, der noch immer regungslos aus dem Fenster starrte. Für einen Moment blieb sein Blick an dem verkrampften Rücken seines Partner hängen, dann wandte er sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an die Chefin.
    Die Augen der Engelhardt zuckten schnell zwischen Chris und der Staatsanwältin hin und her, dann deutete sie ein Seufzen an und Semir verstand: Die beiden Sturköpfe waren erneut aneinander geraten!
    Wäre die Situation nicht so ernst, wäre ihm wahrscheinlich ein Lächeln übers Gesicht gehuscht.


    Doch Semirs Sinne nahmen noch etwas anderes wahr,... etwas, das schwer in der Luft hing...
    etwas Beklemmendes,... etwas Beunruhigendes,... etwas Unheilvolles...
    Er richtete erneut seine Aufmerksamkeit auf Chris, dessen Körpersprache unterschiedliche Emotionen signalisierte: Er wirkte angespannt und müde; zornig und niedergeschlagen; ärgerlich und unsicher zugleich. Wie die Engelhardt schon Minuten zuvor, spürte auch Semir das etwas nicht stimmte und das seinen Partner etwas belastete. Er konnte Chris’ Gesicht nicht erkennen, doch er meinte die zweifelnde Falte zwischen den Augenbrauen sowie seine innere Zerrissenheit zu fühlen.


    Mitfühlend wollte sich Semir gerade ihm zuwenden, als ihn die Schrankmann harsch ansprach: „Ich hoffe, das Sie heute morgen besser aufgelegt sind wie ihr Partner. Denn mit zwei Zeugen, die meinen, sie könnten vor Gericht machen, was sie wollen, werde ich keine Anklage gewinnen. Und unangenehme Überraschungen kann ich heute beim besten Willen nicht gebrauchen! Schließlich wollen Sie, das ich eine Verurteilung gegen Gehlen erwirke.“
    Sie warf einen bissigen Blick in Chris’ Richtung und mit sarkastischer Stimme fügte sie hinzu: „Das ist es doch, was Sie von mir erwarten!“


    Semir hörte Chris’ um Beherrschung bemühtes einatmen und beobachtete, wie er seinen Kopf senkte und gleichzeitig die Schultern zusammenzog. Sein Partner machte den Eindruck eines Stieres, der gleich zur Attacke übergehen würde. Schnell hob er abwehrend die Hände, stellte sich zwischen Chris und die Schrankmann.
    „Hören Sie...“, sagte er und versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, „... ich weiß nicht, was heute morgen zwischen Ihnen und meinem Partner vorgefallen ist. Aber…“
    „Ihr Partner enthält uns Informationen! Das ist vorgefallen!“ brauste die Anwältin auf.


    Augenblicklich fuhr Chris auf dem Absatz herum. „Informationen, die für Sie und die heutige Verhandlung nicht von Bedeutung sind!“ stieß er gepresst hervor und in seinen Augen funkelte es bedrohlich.
    „Das sollten Sie wohl lieber meinem Urteilsvermögen überlassen. Meinen Sie nicht?“ fauchte die Schrankmann gallig zurück.
    Chris öffnete den Mund, um eine scharfe Antwort zu geben, als Semir ihm mit einer energischen Geste zu verstehen gab, nichts zu sagen. In seinen Augen, die Chris fest ansahen, lag eine Art Flehen und einen unausgesprochene Bitte.


    Mit Erstaunen registrierte Anna, wie Chris nach einem kurzen Zögern den Mund schloss, verhalten nickte und sich etwas zurückzog. In seiner Miene meinte sie, für den Zeitraum eines Wimpernschlags, so etwas wie Dankbarkeit erkannt zu haben. Doch sofort war auf seinem Gesicht wieder die harte Maske zu sehen die sie nur zu gut kannte und Anna war sich im selben Augenblick nicht mehr sicher, dass das, was sie gesehen zu haben glaubte, wirklich statt gefunden hatte. Irritation und Zweifel keimten in ihr auf und sie beobachtete die Szene weiter.


    Unterdessen hatte sich Semir langsam der Anwältin zugewandt und mit bestimmten Ton sagte er jetzt: „Sie haben gehört was mein Partner gesagt hat. Es ist nicht wichtig.“ Einen raschen Blick über seine Schulter zu Chris werfend, fuhr er leiser, aber überzeugt fort: „Und ich glaube ihm!“
    „Schön, das Sie ihm glauben!“ gab die Schrankmann schnippisch zurück. „Doch ich traue Ihrem Partner nicht. Er ist mir zu unbeherrscht und solche Ausrutscher wie eben, gestern oder letzte Woche können wir heute nicht gebrauchen!“


    Am grimmigen Aufblitzen in Semirs Augen, merkte die Schrankmann, das sie in diesem Moment vielleicht einen Tick zu weit gegangen war. Sie stockte kurz, rief sich innerlich zur Ordnung und erklärte mit verkniffenem Mund: „Was heute ganz wichtig ist: Das Gericht muss ihm glauben! Er muss den Richter mit seiner Aussage überzeugen und darf nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen. Ebenso darf er sich von Gehlens Anwalt nicht provozieren lassen.“
    Sorgenvoll krauste sie ihre Stirn und hob skeptisch die Augenbrauen. „Ich kenne Kurt Janzen. Er ist zwar ein Feigling, aber auch auch ein gewiefter Fuchs. Da er Ritter von früher kennt, weiß er um seine Schwächen und wird diese zu seinem Gunsten ausnutzen wollen. Alles hängt nur von ihm...“ dabei machte sie eine anklagende Handbewegung in Chris’ Richtung, „...ab. Ich muss mich darauf verlassen können, das es heute keine Pannen gibt und sich ihr Partner zusammenreißt. Doch sein Verhalten in den letzten Tagen trägt nicht gerade dazu bei, das ich ihm mein Vertrauen schenken könnte.“


    In Chris brodelte es gewaltig auf. Zwei Nächte hatte er aus Sorge und Angst um seine Familie so gut wie nicht geschlafen und Chris wusste, das er deswegen zur Zeit etwas dünnhäutig und empfindlich war. Er versuchte die spitzen Worte der Anwältin nicht an sich heran kommen zu lassen. Doch der zermürbende Schlafmangel, die ausgestandenen Ängste und die aufsteigenden Zweifel, ob er heute das richtige tat, raubten ihm die letzte Kraft. Es fiel ihm schwer, seine abwehrende Mauer aufrecht zu halten.
    Zum anderen machte ihn die arrogante Art ärgerlich, mit der die Staatsanwältin so von ihm sprach, als wäre er nicht anwesend. Ebenso regte ihn die Tatsache auf, das sie anscheinend keinerlei echtes Mitgefühl für seine Situation empfand. Konnte sie denn nicht verstehen, dass so, wie er gehandelt hatte, die einzige Möglichkeit gewesen war seine Schwester und die Kinder zu retten? Das er für die Menschen, die ihm einfach alles bedeuteten, alles riskieren musste? Und er es jederzeit wieder tun würde?
    Nur schwer konnte er seinen aufsteigenden Frust beherrschen und er spürte, das er kurz davor stand seinem Ärger Luft zu machen.


    Erneut waren es Semirs Worte, die ihm zuvor kamen und ihn davor bewahrten, etwas unüberlegtes zu tun. Er hörte wie sein Partner voller Überzeugung sagte: „Aber Sie können mir vertrauen und ich verspreche Ihnen: Sie können sich auf uns verlassen. Wir werden Sie nicht enttäuschen.“
    „Wie können Sie sich da sicher sein?“ fauchte die Staatsanwältin gereizt.
    Semir sah Hilfe suchend zur Chefin... und stutzte. Irritiert bemerkte er, wie sie ihn mit Augen anschaute, in denen leichte Zweifel und Skepsis zu erkennen waren. Für eine Sekunde antwortete er nicht und überlegte, ob er sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnte. Doch er erinnerte sich daran, was er sich zu Hause in Gedanken versprochen hatte. Sein Kinn leicht nach vorn schiebend antwortete er mit fester Stimme: „Weil er mein Partner ist!“


    Verächtlich schnaubend verschränkte die Schrankmann ihre Arme vor der Brust und holte zu einem verbalen Gegenschlag aus, als es diesmal die Engelhardt war, die sie unterbrach. Eindringlich sah sie von einem zum anderen und sagte energisch: „Frau Schrankmann,... meine Herren... Vielleicht sollten wir uns jetzt alle wieder etwas beruhigen und uns auf das konzentrieren, was heute morgen wichtig ist. Nämlich dafür zu sorgen, das der Mörder von Tom...“, ihr Blick blieb kurz an Semir hängen, bevor sie sich an Chris wandte, „... und Bernd Simon verurteilt wird.“


    Auf den Mienen der beiden Männer zeigte sich Einsicht und Verständnis und nach einigen Sekunden bemerkte Anna, wie sich die angeheizte Stimmung abkühlte. Selbst Chris, dessen finsterer Blick noch einen Moment auf der Schrankmann haftete, drehte sich mit einem verhaltenen Seufzer weg. Erleichtert atmete sie auf.
    „Gut!“, sagte sie und machte eine einladende Geste zum Tisch, auf denen einige Unterlagen und ein dicker Ordner lagen.
    „Lassen Sie uns die letzten verbleiben Minuten nutzen, um noch einmal alles durchzusprechen. Ich glaube, wenn ich das eben richtig verstanden habe, schlägt die Staatsanwältin nach dem gestrigen Tag schlägt eine leicht veränderte Vorgehensweise vor.“


    Die Engelhardt wandte sich der Schrankmann zu und hoffte, das sie das Wort ergreifen würde. Doch noch immer zogen dunkle Wolken über das Gesicht der Anwältin und Anna schwante, was in ihr vorging. Schnell appellierte sie: „Werte Frau Schrankmann,... Herr Ritter hat im Vorfeld zu diesem Prozess Ihnen jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen und durch seine Informationen können Sie heute einen Schwerverbrecher für lange Zeit hinter Gitter bringen. Darum lassen Sie uns erst diese Angelegenheit abhaken, dann,... und darauf haben Sie mein Wort!..., kümmere ich mich um das andere Problem.“


    Nach einigen Sekunden, in denen deutlich zu sehen war, das sie mit sich rang, nickte die Anwältin und nahm auf einem Stuhl Platz. Die anderen folgten ihrem Beispiel. In den nächsten Minuten erklärte sie ihre neu überdachte Taktik und Semir zeigte sich von dem Plan angetan. Er nickte zustimmend und warf einen fragenden Blick zu Chris. Der hatte bisher nichts dazu gesagt, tat aber mit einem akzeptierenden Schulterzucken seine Billigung kund.


    Als alles besprochen war, packte die Schrankmann zufrieden ihre Sachen zusammen. Zur gleichen Zeit erschien eine ihrer Mitarbeiterinnen im Türrahmen und deutete mit einem Fingerzeig auf die Uhr an, das es Zeit war, in den Gerichtssaal zu gehen. Augenblicklich stand die Schrankmann auf, drückte der jungen Frau einen Stapel Papiere in die Hand und wies sie an, die Sachen auf ihren Platz zu legen. Kaum war die Frau verschwunden, klemmte sie sich den Ordner unter den rechten Arm und nahm ihre Aktentasche in die Linke.


    Bevor sie den Raum verließ, sah sie noch einmal eindringlich Semir an. „Denken Sie daran, was Sie mir versprochen haben! Wenn Sie und Ihr Partner Ihre Aufgabe gut machen, werden wir heute der Gesellschaft einen großen Dienst erweisen.“
    Dann drehte sie sich um, straffte ihren Rücken und rauschte aus dem Zimmer.
    Anna sah ihre beiden Kommissare zuversichtlich an und meinte voller Überzeugung: „Sie schaffen das, davon bin ich überzeugt!“ Sie nickte ihnen ermutigend zu, dann folgte sie der Staatsanwältin.


    Die beiden Frauen wurden von einem Sicherheitsbeamten begleitet, der ihnen einen Weg durch die Presse bahnte. Während sich die Staatsanwältin an den Tisch der Anklage setzte und geschäftig ihre Unterlagen sortierte, ließ sich Anna auf einem für sie reservierten Platz in der ersten Reihe nieder.
    Die nervöse Stimmung im Saal übertrug sich auch ein bisschen auf sie und sie spürte die wachsende Anspannung. Sie war froh, das besonders Chris sich dazu entschlossen hatte, die Verlesung der Anklageschrift nicht mitzuverfolgen. Diese Unruhe, und davon war sie überzeugt, war nicht förderlich für seine seelische und wankelmütige Verfassung, die ihr noch immer ein bisschen Sorgen bereitete.


    Sie hoffte, dass, wenn dieses alles vorbei war, Chris endlich zur Ruhe kam, er umgänglicher wurde und weniger Schwierigkeiten bereiten würde. Auch Semir würde es gut tun, wenn er einen Partner hätte, mit dem er durch dick und dünn gehen konnte... so wie er es mit Tom getan hatte.
    Sie brauchte einfach wieder ein Team, auf das sie sich hundertprozentig verlassen konnte!

  • Heute gibt es leider nur ein kurzes Stück. Aber ich verspreche, dass das nächste (mit ganz viel Glück morgen Abend...) wieder wesentlich länger ist!!Ich wünsche aber trotzdem viel Spaß beim Lesen!

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    Roman Gehlen spielte seine Rolle, die er sich selbst zugedacht hatte, perfekt. Gramgebeugt und in Handschellen folgte er, von zwei Polizeibeamten eskortiert, seinem Anwalt mit schweren Schritten.
    Kaum bogen sie um die Ecke, flammten die kleinen Scheinwerfern an den Fernsehkameras auf und es brach ein heftiges Blitzlichtgewitter los. Unzählige Objektive waren auf ihn gerichtet und die Luft war vom hektischen Klicken und Summen der Fotoapparate erfüllt.


    Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen, als Gehlen den Gerichtssaal betrat und neugierig reckten die Menschen in den hinteren Bänken ihre Hälse, um einen Blick auf den Angeklagten zu erhaschen. Gehlen wurde zu seinem Platz geführt und niedergeschlagen ließ er sich auf seinen Stuhl sinken. Nachdem man ihm die Handschellen abgenommen hatte, blickte er zutiefst betrübt auf die Tischplatte. Nach einer Weile griff er in seine Innentasche, holte ein Foto seines Sohnes Erik hervor und starrte es mit Tränen schimmernden Augen an.


    Dieses 'herzzerreißende' Motiv war ein gefundenes Fressen für die Journalisten und gierig dokumentierten die Fotografen jeden Schritt und jede Bewegung. Selbst als sie Minuten später aufgefordert wurden, den Saal zu verlassen, hörte das fotografieren nicht auf. Bis zuletzt klickten die Apparate, dann wurden die Türen geschlossen.


    Eine Zeit lang erfüllte undeutliches Murmeln und zischendes Flüstern den Raum, während die Zuschauer unruhig auf ihren Plätzen hin und her rutschten und mit ihren scharrenden Füßen über den gebohnerten Marmorboden kratzten. Doch als der Richter aus einer Tür hinter dem Richtersitz trat, wurde es schlagartig still im Saal. Kaum hatte er Platz genommen, konnte die Verhandlung beginnen.


    In devoter Haltung saß Gehlen zusammengesunken auf seinem Stuhl und hörte sich mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck die Verlesung der Anklageschrift an. Nach außen hin wirkte er wie ein trauriger, gebrochener Mann.
    Doch wer im Zuschauerbereich im richtigen Winkel saß und genau hinschaute, sah, dass es in seinen Augen ab und zu belustigt aufblitzte und sich in seinen Mundwinkeln ein verstohlenes Lächeln zeigte...

  • Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen, stieß Chris zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Diese Frau...! Die macht mich rasend!“
    Unwillkürlich musste Semir auflachen. „Gewöhn Dich dran“, sagte er und gab Chris einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Du glaubst gar nicht, wie oft die Schranke Tom und mich in den Wahnsinn getrieben hat.“


    Für einen kurzen Augenblick hielt Semir inne... Er war erstaunt über sich selbst.
    Ganz spontan hatte er von seinem alten Partner gesprochen und die Erinnerung an ihn war ihm leicht über die Lippen gekommen. Doch was viel wichtiger war: Es fühlte sich für ihn gut an! Eine leise Erleichterung entfaltete sich in ihm.


    Sein Blick ging zurück zu Chris und ein neckisches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht: „Nur bei Dir ist es irgend wie interessanter... Zu beobachten, wie die gute Frau ebenfalls rasend wird, wenn Ihr beiden aneinander geratet, ist echt klasse!“
    Chris schaute Semir schräg an und musste, als er dessen schelmischen Gesichtsausdruck sah, auch flüchtig grinsen. „Schön, das wenigstens Du Deinen Spaß hast“, gab er zynisch von sich.


    Semir schaute Chris von der Seite an und beobachtete, wie dieser seine gefalteten Hände, die auf dem Tisch ruhten, betrachtete. Obwohl er sich sicher war, das Chris leise lächelte, registrierte er die sorgenvoll zusammen gezogenen Augenbrauen. Etwas beschäftigte Chris und es lag nahe, dass es mit der Verhandlung zusammenhing. Auch Semir spürte zunehmende Nervosität und da er als Erster aussagen musste, würde er bestimmt in einigen Minuten in den Gerichtssaal gerufen werden.


    Allerdings verspürte er aber nicht die geringste Lust, hier nur schweigend zu sitzen. Viel mehr wollte er die Zeit nutzen, um mit Chris zu reden. Daher fragte er interessiert: „Wie geht es den Kinder?“
    „Gut“, nickte Chris und fügte, als er den Anteil nehmenden Blick Semirs erkannte, leise seufzend hinzu: „Sie haben einigermaßen ruhig geschlafen. Auch Richard ist heute morgen aufgewacht und es scheint ihm gut zu gehen... Auch wenn die Ärzte immer noch nicht wissen, was ihm gespritzt wurde.“


    Über Chris’ Augen legte sich ein quälender Schatten. Bei dem Gedanken, was der ‚Doc’ seinem Neffen angetan haben könnte, wenn dieser gewusste hätte, das er, Chris Ritter, derjenige war, der erpresst werden sollte, verspürte er einen harten Schlag in seinem Magen. Er war sich sicher: Der ‚Doc’ hätte noch ganz andere, schrecklichere Dinge mit seinem Neffen veranstaltet! Er hätte nicht davor zurückgeschreckt, ihm, seinem ehemaligen Opfer, noch mehr seelische Schmerzen zuzufügen.
    Dieses Wissen erschreckte Chris bis ins Mark und es bestätigte seine Befürchtungen: Der ‚Doc’ stellte eine große Gefahr für seine Familie dar. Besonders jetzt, da dieser um deren Existenz wusste und mit diesem Wissen viel Schaden anrichten könnte...


    Er musste etwas gegen diese Gefahr unternehmen! Soviel stand fest! Er musste einfach einen Weg finden, bei dem er auf der einen Seite seine Familie schützen konnte und auf der anderen Seite nichts von seiner Vergangenheit preisgeben musste. Doch wie sollte er es anstellen? Wie konnte er, ohne seine Grundsätze zu verraten, für die Sicherheit seiner Familie sorgen? Erneut kamen die nagenden Zweifel, die ihm das Gefühl gaben, nicht das Richtige zu tun, in ihm hoch. Was sollte er machen...?


    Unterdessen deutete Semir die Regungen, die sich in Chris’ Miene spiegelte als Kummer und Sorgen. Mit einem aufmunternden Lächeln versuchte er ihn zu beruhigen: „Hey, Du hast gehört, was der Arzt gestern gesagt hat... Er ist jung und kräftig. In ein paar Tagen spielt er wieder Fußball.“
    Blinzelnd konzentrierte sich Chris zurück auf Semir und versuchte ein Lächeln. Doch so richtig wollte es ihm nicht gelingen.
    Schnell versuchte Semir seinen Partner von den trüben Gedanken abzulenken und erkundigte sich: „Und wie geht es Gaby?“


    Chris atmete tief ein, bevor er sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Stirn und bemühte, seine Gedanken zu sortieren. Schließlich erwiderte er: „Körperlich ist sie noch etwas schwach. Doch...“, jetzt huschte ein echtes Lächeln über Chris’ Gesicht, „... seit sie weiß, das Richard lebt, geht es ihr viel besser. Als sie heute morgen aufwachte war sie noch sehr traurig und niedergeschlagen. Nachdem sie ihren Sohn jedoch in den Arm nehmen durfte, ist sie einfach nur noch glücklich!“
    „Das ist schön“, freute sich Semir und lächelnd hingen die beiden Männer für einen Augenblick ihren Gedanken nach.


    Nach einem verhaltenen Räuspern schaute Chris kurz auf die Tischplatte, fegte einen nicht vorhandenen Fussel weg und fragte fast beiläufig: „Wie geht es denn Andrea? Hat sie die Schrecken der letzten zwei Tage gut verkraftet?“
    Zuerst wiegte Semir seinen Kopf nachdenklich hin und her, dann nickte er: „Ich denke schon. Wir haben uns gestern Abend und heute morgen über die Geschehnisse unterhalten und ich hatte den Eindruck, das sie es gut verarbeitet. Sie redet jedenfalls ganz offen mit mir darüber.“ Nach einem glucksenden, ironisch klingenden Kichern meinte er weiter: „Außerdem habe ich das Gefühl, das sie eher mir helfen will, als umgekehrt.“
    Auf Chris’ fragenden Blick reagierte er mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Das erkläre ich Dir später mal“, und grinste leise in sich hinein.


    Nach einiger Zeit wandte sich Semir erneut seinem Partner zu: „Möchtest Du, nachdem das heute hier alles vorbei ist, ins Krankenhaus fahren?“
    „Ja,...“, bestätigte Chris, „ich habe versprochen, das ich so schnell wie möglich zurück kommen werde.“
    Einen Moment zögerte Semir, dann fragte er vorsichtig: „Würde es Dir etwas ausmachen, wenn ich mitkäme? Ich möchte gern sehen, wie es ihnen geht... Ich bleibe auch nur kurz!“ fügte er schnell hinterher, als er Chris’ stutzende Reaktion sah. „Also, ich würde nur schnell ‚Hallo’ sagen und wieder gehen... Ich meine, ich könnte Dich auch nur zum Krankenhaus bringen und dann wieder fahren...“, haspelte er und machte eine vage, von sich wegdeutende Geste.


    Chris stieß ein kurzes, befreites Lachen aus. „Schon ok, Semir, ich habe verstanden. Natürlich kannst Du mit zu ihnen kommen. Bestimmt freuen sich Gaby und die Kinder, wenn sie Dich sehen.“
    Ein dankbaren Lächeln ließ Semirs Gesicht erstrahlen. „Schön, ich freue mich darauf.“
    Während ihm Chris nickend bestätigte, das er genauso dachte, fuhr Semir fort: „Hoffentlich geht die Verhandlung zügig über die Bühne. Um so schneller können wir von hier weg. Nicht, das uns letzten Endes noch unangenehme Überraschungen erwarten.“


    Schlagartig veränderte sich Chris’ Miene und er wurde ernst. Zu ernst für Semirs Geschmack und der sorgenvolle Blick, den Chris zur Decke warf, unterstrich seine unheildrohende Ahnung.

  • Chris rieb sich mit einer müden Geste übers Gesicht und stand mit einem Seufzer auf. Er ging erneut zum Fenster und stütze seine Hände auf der Fensterbank ab. Seine Stirn gegen die Scheibe lehnend, schloss er seine Augen und während er die Zähne aufeinander biss, waren seine Wangenmuskeln in ständiger Bewegung.


    Besorgt verfolgte Semir jede Bewegung, jede Gestik und jeden Gesichtsausdruck von Chris. Das Gefühl, das seinen Partner etwas bedrückte und ihn quälte, wurde stärker. Er erhob sich ebenfalls, stellte sich neben ihn und betrachtete ihn nachdenklich eine Weile. Er überlegte, ob er es riskieren sollte, ihn anzusprechen. Schließlich gab er sich einen Ruck und entschloss sich, es zu wagen.
    „Chris, was ist los?“, fragte er sanft. „Irgend etwas bereitet Dir doch Sorgen.“


    Sekundenlang kam keine Reaktion und Semir befürchtete schon, das Chris sich wie immer in sein Innerstes zurück ziehen und blocken würde. Doch dann richtete sich Chris mit einem müden Seufzer langsam auf und legte seine Hände an die Hüfte. Sein Blick war für eine Weile gedankenverloren in die Ferne gerichtet, bevor er mit kehliger Stimme fragte: „Wie wirst Du eigentlich mit der Angst fertig?“
    Leicht verwirrt schüttelte Semir den Kopf. „Angst?“, hinterfragte er und wusste nicht, worauf Chris anspielte.
    „Ja, Angst...“ Chris wandte sich einen Augenblick Semir zu und sah ihm in die Augen. „Besonders mit der Angst um Deine Familie.“
    „Aber warum sollte ich Angst um meine Familie haben?“ Irritiert legte Semir seine Stirn in Falten. Worauf wollte Chris hinaus?


    Chris’ Blick richtete sich wieder aus dem Fenster und er machte den Eindruck, als ob er Semirs Frage nicht beantworten wollte. Schließlich drehte er sich mit einem tiefen Einatmen vollends um und setzte sich auf das Fensterbrett. Er verschränkte die Arme vor der Brust, wandte sich Semir zu und wollte von ihm wissen: „Hast Du nicht Angst, nachdem was in den letzten Tagen passiert ist, das Deine Familie wieder in Gefahr gerät?... Das sich einer von Gehlens oder Borcherts Handlangern rächen könnte...? Und das Leute wie Gehlen es auch aus dem Knast heraus schaffen, haben wir erlebt.“


    Auf Semirs Gesicht zeichnete sich allmählich Verständnis ab, als er merkte aus welcher Richtung der Wind wehte und was Chris bewegte.
    In seinen Jahren als verdeckter Ermittler war Chris meist nur für sich verantwortlich gewesen. Er hatte sich nur um sein eigenes Leben und Überleben Gedanken machen müssen. In dieser für ihn gefährlichen Zeit war seine Familie ein gut gehütetes Geheimnis gewesen und er hatte einen Vorgesetzten gehabt, der ihn bei diesem Unterfangen unterstützt hatte. Er hatte sich kaum Sorgen um sie machen müssen, da er sie in Sicherheit wusste.
    Und diese Tatsache hatte ihm Halt geboten. Wie hatte sich Chris noch gleich im Garten seiner Schwester ausgedrückt...? „Nicht ohne Grund nenne ich diesen Ort meine Zuflucht,... meinen sicheren Hafen...“


    In Gedanken nickte Semir und verstand eigentlich erst jetzt, wie viel Bedeutung diese Worte für Chris hatten.
    Das Haus seiner Schwester... es war für ihn eine Zuflucht...
    Ein Ort, an dem er sich sicher fühlen konnte..., an den er sich zurück ziehen konnte..., an dem er ganz er selbst sein konnte...
    Seine Familie... sie war für ihn wie ein Hafen...
    Ein Hafen, in dem er zu Hause war..., in dem er sich geborgen fühlen konnte..., in dem er auftanken konnte...


    Und all das, was ihm in den ganzen Jahren Sicherheit geboten hatte, war jetzt in Gefahr. Denn unvermittelt war seine Familie in den Mittelpunkt von Gangstern gerückt und plötzlich war Chris’ heile Welt zerstört worden. Das war eine Situation, mit der Chris erst einmal klar kommen musste.


    Bevor Semir seinem Partner jedoch eine Antwort geben konnte, lehnte Chris den Kopf gegen das Fensterglas, richtete seine Augen sinnierend an die Decke und fuhr mit unsicherer Stimme fort: „Wenn Du eine Chance hättest, etwas zu unternehmen... Ich meine etwas, damit Deine Familie nie mehr in Gefahr gerät... Würdest Du diese Chance ergreifen? Also,... wenn Du dafür sorgen könntest, das Andrea und Aida keine Angst mehr um Dich haben müssten,... würdest Du die Gelegenheit nutzen...?“


    Etwas in Chris’ Stimme, die zum Schluss immer leiser wurde, ließ Semir aufhorchen. Er meinte aufsteigenden Zweifel heraus zu hören und versuchte in der regungslosen Miene seines Gegenübers zu erkennen, was ihn bewegte. Doch das Gegenlicht, welches durch die Scheibe fiel, tauchte sein Gesicht in einen diffusen Schatten.
    „Ich weiß es nicht“, antwortete Semir gedehnt und zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Das käme auf die Situation an.“


    Chris nagte kurz an seiner Unterlippe, bevor er mit rauem Ton weiter sprach: „Wenn Du nun die Wahl hättest und könntest Dich zwischen dem Wohl Deiner Familie oder Deiner Arbeit entscheiden... Was würdest Du tun...? Wie weit wärst Du bereit, Deine Prinzipien als Polizist aufrecht zu erhalten, wenn Du weißt, dass das Wohl Deiner Familie davon abhängig ist...? Auch wenn Du dafür jemanden herb enttäuschen müsstet?“


    Auf Semirs Gesicht zeichnete sich Unverständnis ab. Was sollte diese Gerede? Hatte Chris etwa Zweifel, das er, Semir, klein beigeben würde? Das er einknicken würde? Hatte Chris etwa kein Vertrauen zu ihm? Oder was wollte Chris ihm andeuten?
    Zögernd antwortete Semir deshalb: „Es käme darauf an...“
    Lauernd blickte Chris zu Semir: „Worauf käme es an?“
    Chris’ Stimme bereitete Semir Unbehagen und er nahm erneut die negativen Schwingungen wahr, die er bereits beim Eintreten bemerkt hatte. Etwas lief hier nicht so, wie er es erwartet hatte und unwohl trat er von einem Bein auf das andere...

  • Mit hilflosen Gesten stammelte Semir unsicher: „Ich weiß es nicht... Wie gesagt, es käme auf die Situation an... Was am Ende auf dem Spiel steht... oder wer daran beteiligt ist... Bestimmt spielt es auch eine Rolle, wem ich dafür in den Rücken fallen müsste... Aber...“, betonte er plötzlich und blickte Chris fest an, „... wenn es zum Beispiel ein guter Freund ist, der mir nahe steht oder sehr viel bedeutet, würde ich es nicht machen. Das könnte ich mir selber nicht verzeihen.“


    Es entstand ein kurzes Schweigen. Chris schien mit gesenktem Kopf über Semirs Worte nachzudenken und Semir hatte seine Sinne aufmerksam auf Chris gerichtet. Noch immer wusste er nicht, worauf Chris eigentlich hinaus wollte, doch er hoffte, das er ihm das richtige Signal vermitteln konnte. Er hoffte inständig, dass Chris verstand, das er ihm vertrauen konnte.


    Leise erkundigte sich Chris: „Du willst mir also sagen, das Du eine gute Freundschaft niemals aufs Spiel setzen würdest? Auch dann nicht, wenn Du Deinen Frieden hättest und keine Angst haben mehr müsstest?“
    Semir nickte nachdrücklich: „Ich will Dir damit vor allem sagen, dass man sich bei einer guten Freundschaft, aufeinander verlassen kann. Egal was ist! Man ist füreinander da..., steht füreinander ein..., ganz selbstverständlich und ohne zu fragen. Man vertraut dem anderen und hilft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das ist es, was für mich eine gute Freundschaft ausmacht!“


    Einen Moment sagte Chris nichts, dann beugte er kurz den Kopf zustimmend nach vorn. „Für einen Freund würdest Du also alles tun...“, murmelte er. Mit einer Drehung seines Kopfes sah er Semir von der Seite her an und ein leises Flehen lag in seinen Augen. „Und was ist mit Deinem Partner?“
    „Auch für meinen Partner!“ kam es von Semir wie aus der Pistole geschossen und mit vollster Überzeugung. Er registrierte sofort, wie Chris unmerklich aufatmete und ein Anflug von Erleichterung über Chris’ Miene zu huschen schien. Doch es währte nicht lange und zweifelnde Augen prägten wieder seinen Gesichtsausdruck.


    Semir, dem das nicht verborgen blieb, hatte langsam die Nase von diesem Katz-und-Maus-Spiel satt und wollte nicht länger im Ungewissen sein. Fordernd blickte er Chris an. „Als mein Partner kannst Du mir vertrauen! Ich verspreche Dir, dass ich für Dich da bin... Also, was ist los?“ wollte er energisch wissen.
    Chris stieß sich von der Fensterbank ab. Unruhig durchwanderte er den Raum und rieb er sich mit der rechten Hand den Nacken. Mit einem Mal wirkten seine Köperbewegungen kraftlos und müde. Auf Semir machte er den Eindruck eines Tieres, das sich seinem Schicksal fügt, wenn es erkennt, das es in der Falle sitzt und keinen Ausweg findet...


    Falle... keinen Ausweg...


    Da war es wieder... dieses ungute Gefühl... das Gefühl, dass etwas nicht stimmte... das etwas bedrohliches in der Luft lag...


    Semir kniff leicht die Augen zusammen und während er mit seinem Blick Chris’ taxierte, ließ er in Gedanken die Worte, die Chris in den letzten Minuten gesprochen hatte, Revue passieren. Hatte er vielleicht eine versteckte Andeutung gemacht? Oder einen Hinweis geliefert? Irgend etwas über das, was ihn beunruhigte, gesagt?
    Er hatte von Angst gesprochen... Angst um die Familie... Angst vor Rache... Angst vor Gehlens Vergeltungsmaßnahmen... Angst vor Borcherts Schlägern...
    Doch er hatte auch von möglichen Chancen gesprochen... der vagen Möglichkeit, seine Familie schützen zu können... der leisen Hoffnung, in Frieden leben zu können... der sehnliche Wunsch nach Vertrauen...


    Semirs Gedanken wurden abgelenkt, als Chris langsam seinen Kopf hob und seine matten Augen auf ihn richtete. Seine Stimme klang erschöpft und traurig, als er leise sagte: „So einfach, wie Du Dir das vorstellst ist das alles nicht...“
    Verunsichert, was Chris meinte, erwiderte Semir den Blick. Neben Müdigkeit und Kummer sah er Zweifel... nagendem Zweifel...
    „Was ist los, Chris?“ erkundigte er sich besorgt. „Was ist nicht einfach? Erklär es mir. Ich kann Dir nicht helfen, wenn Du...“ Semir stockte. Mit einem Mal keimte eine schreckliche Ahnung in ihm auf...


    Der Streit...! Der Streit zwischen der Schrankmann und Chris... Ihm fiel ein, das es dabei um Informationen gegangen war... Informationen, die er zurück hielt... Doch warum?
    Hingen sie mit dem Mann zusammen, den Chris gestern am Motel verfolgt und dessen Spur er angeblich verloren hatte? Hatte er ihn etwa absichtlich entkommen lassen? Doch warum sollte Chris das tun? Semir erinnerte sich an die Unerbittlichkeit, die er zeitweise in Chris’ Miene hatte aufflackern sehen, als sie die Kidnapper verfolgten. Chris hatte den Eindruck gemacht, das er am liebsten alle mit eigenen Händen umgebracht hätte. Warum sollte er also einen Mann entkommen lassen, der seiner Familie etwas angetan hatte? Das machte keinen Sinn...
    Doch was für eine Bedeutung hatte dieser Mann? Warum schwieg Chris? Was könnten Chris’ Beweggründe sein...?


    Ein starker Schreck durchzuckte Semir: Chris wurde doch nicht etwa schon wieder erpresst? ‚Nein’, beruhigte er sich sofort in Gedanken, ‚er hat gesagt, dass es seiner Familie gut geht. Und in seinen Augen war keine Traurigkeit zu sehen gewesen. Nein, das kann es nicht sein...’


    Wortfetzen hallten in seinem Ohr: "...das Wohl Deiner Familie... Deine Prinzipien als Polizist... Auch wenn Du jemanden herb enttäuschen müsstet?... Was würdest Du tun?"


    Laut schrillten plötzlich Semirs Alarmglocken auf und kaltes Entsetzen umkrallte sein Herz, während sich seine Gedanken überschlugen...


    Falle... Zweifel...
    kein Ausweg... Angst...
    Enttäuschung... kein Vertrauen...


    Chris hatte doch nicht etwa vor, eine Dummheit zu begehen? Warum sonst sollte er plötzlich an der Richtigkeit seines Tun zweifeln? Trug er sich wirklich mit dem Gedanken, nicht gegen Gehlen auszusagen? Doch was versprach er sich davon? Glaubte er wirklich, dann in Ruhe leben zu können? Was könnte ihn dazu bewegen, so zu denken?


    „Chris...? Was hast Du vor?“ brach es leicht panisch aus ihm heraus und er berührte ihn am Arm. „Du hast doch nicht etwa vor..., ich meine, Du willst... Du willst doch nicht wirklich Deine Aussage revidieren?“
    Ruckartig drehte sich Chris von Semir weg und machte einige Schritte um den Tisch herum, bis dieser sich zwischen ihnen befand. Er wandte ihm den Rücken zu und atmete tief ein.


    Entsetzt riss Semir die Augen auf. Das konnte nicht Chris’ Ernst sein!



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    Und... was machen Eure Nerven jetzt? :P

  • Ich bin zwar nicht so ganz zufrieden, aber ich will Euch nicht mehr länger warten lassen... Danke für die Geduld!

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    Fassungslos schüttelte er nach einigen Sekunden seinen Kopf und stieß die unbewusst angehaltene Luft aus. „Chris! Was soll das? Das kannst Du nicht machen!... Ich meine...“, mit einer hilflosen Geste breitete er die Arme auseinander. „Warum...?“
    Chris gab keine Antwort, sondern senkt nur den Kopf und schloss die Augen.


    Gerade, als Semir eine Erklärung fordern wollte, klopfte es und ein Gerichtsdiener öffnete die Tür. „Herr Gerkhan, Sie wurden als Zeuge aufgerufen. Kommen Sie bitte mit mir mit.“
    Ohne den Mann zu beachten, starrte Semir Chris an.
    „Herr Gerkhan,... kommen Sie bitte?“ wiederholte der Gerichtsdiener etwas eindringlicher.
    Semir schaute über seine Schulter. „Ich komme sofort. Geben Sie mir bitte eine Minute.“
    „Das geht nicht!“ empörte sich der Mann. „Sie können das Gericht doch nicht warten lassen! Sie müssen jetzt...“
    „Ich sagte: Geben Sie mir eine Minute!“ fauchte Semir gefährlich und warf dem uniformierten Mann einen vernichtenden Blick zu. Dieser schluckte schwer, als er die funkelnden Augen sah und zog schleunigst die Tür hinter sich zu.


    Kaum hörte Semir hinter sich das Schließen der Tür, konnte er nicht länger an sich halten. Er machte zwei schnelle Schritte auf den Tisch zu, stütze seine Hände darauf ab und forderte: „Ich will sofort eine Erklärung! Was hast Du vor? Willst Du etwa die Verhandlung zum kippen zu bringen? Und wenn ja, will ich wissen, warum.“
    Wieder antwortete Chris nicht. Regungslos stand er einfach nur da, die Hände an die Hüfte gestemmt.
    Angesichts der teilnahmslosen, fast schon abwehrenden Haltung von Chris, wallte heiße Wut in Semir hoch. Ärgerlich schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: „CHRIS!!“


    Langsam, fast schon wie in Zeitlupe, drehte sich der Angesprochene um. Er trat an den Tisch heran und mit kalten Augen und unbeweglicher Miene schaute er von oben auf Semir herab, der vor Aufregung und verhaltener Wut schwer atmete. Sekundenlang starrte er auf seinen Partner... Sekunden, die Semir wie eine Ewigkeit vorkamen und in denen er den Blick mit vor Zorn sprühenden Augen erwiderte.
    „Und...?“ kam es hart von Chris. „Was, wenn ich es mache...? Was könntest Du schon dagegen unternehmen?“


    Die Worte trafen Semir einem scharfen Peitschenhieb gleich und er zuckte erschrocken zurück. Er war so vor den Kopf gestoßen, das seine Gedanken wild durcheinander wirbelten und er im ersten Augenblick nichts sagen konnte. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf... so, als ob er damit den Worte, die er von Chris gehört hatte, einen Sinn geben könnte...so, als ob er damit seinen schlechten Traum, den er anscheinend hatte, verscheuchen könnte.
    Anfangs starrten seine Augen Chris entsetzt an. Dann irrten sie eine Antwort suchend umher, während in seinem Innersten die unterschiedlichsten Gefühle tobten. Seine Seele schrie verzweifelt mit der aufbrandenden, schäumenden Wut und dem brennenden Zorn auf: ‚Das konnte alles nicht wahr sein!’
    Er versuchte seiner Emotionen Herr zu werden.


    Seinen Blick, in dem sich Unverständnis und Verzweiflung spiegelten, zurück zu Chris werfend, fragte er mit fast versagender Stimme: „Warum, Chris...? Warum?“
    Chris schnaubte widerwillig und machte eine abfällige Geste in Semirs Richtung. „Ich muss mich nicht vor Dir rechtfertigen.“
    Als Semir die Verachtung in Chris’ Worten hörte, brodelte erneut haltlose Wut in ihm hoch. Angriffslustig lehnte er sich wieder nach vorn, donnerte seine Fäuste auf die Tischplatte und grollte fast schon hasserfüllt: „Doch, Chris... Das musst Du! Wenn Du schon alles verrätst, wofür wir in den letzten Tagen gekämpft haben, will ich wenigstens wissen, warum.“


    Chris beugte sich ebenfalls vor und brachte sein Gesicht ganz nah an Semirs heran. In der Mitte des Tisches berührten sie sich fast. Sie waren nur Zentimeter voneinander entfernt und sekundenlang starrten sich die beiden schweigend an. Ihre Blicke, in denen es hin und wieder gefährlich aufflackerte, waren fest auf den anderen gerichtet.
    Keiner wagte es auch nur zu zwinkern... keiner wollte klein beigeben... keiner wollte eine Schwäche zeigen...
    Wie sehr es in ihnen kochen musste, erkannte man an der kurzen, ruckartigen Atmung, sowie den weißen Fingerknöcheln, die sich an den Fäusten abzeichneten.


    In Chris’ Augen blitzte es mit einem Mal abwertend-spöttisch auf und sie verengten sich anschließend zu schmalen Schlitzen. „Willst Du mich etwa zwingen?“ knurrte er kehlig.
    Zuerst wollte Semir aufbrausen und holte schon tief Luft, um auf die angedeutete Drohung eine entsprechende Antwort zu erwidern. Doch plötzlich hielt ihn etwas davon ab...


    Denn mit einem Mal brach maßlose Enttäuschung wie ein Bulldozer durch seine aufgewühlte Gedankenwelt und hinterließ eine immer breiter werdende Schneise stummen Vakuums. Diese bodenlose Enttäuschung, die sich wie ein schwarzes Loch öffnete, entriss seiner Wut jegliche Grundlage und er spürte, wie sich sprachlose Leere in ihm ausbreitete.
    Der tiefen Enttäuschung folgte das bittere Gefühl von Verrat. Es füllte das Loch, welches in Semirs Seele klaffte. Dieser Verrat schmerzte... schmerzte mehr wie eine Schusswunde... mehr wie grausame Folter... mehr wie alles, was er sich vorzustellen vermochte...


    Er konnte es immer noch nicht fassen... und doch empfand er immer mehr Mitleid, je länger er in Chris’ Miene schaute. Denn mit einem Mal wurde ihm klar, das sich Chris erneut hinter seiner Mauer aus Selbstschutz zurück gezogen hatte. Sein harter Gesichtsausdruck, sein bedrohliches Gebaren, seine verletzenden Worte... sie waren nichts anderes als Abwehrmechanismen.
    Es waren Reaktionen, mit denen er nicht seine innerstes Gefühle preisgeben wollte... mit denen er niemanden zu nahe an sich heran kommen lassen wollte... mit denen Chris jegliche Vertrautheit im Keim erstickte... Wie oft hatte er dieses Schutzverhalten in den vergangenen Wochen bei ihm beobachtet!

  • Mit seinen Blicken versuchte Semir die Schutzmauer zu durchdringen und es überraschte ihn nicht, als er meinte zu erkennen:
    Tief in Chris’ bedrohlich funkelten Augen glomm die Bitte um Hilfe...
    Im Nachhall der gereizt gefauchten Worte klang Verzweiflung mit...
    Mit seinen wütenden Gesten überspielte er seine Hilflosigkeit...
    Hinter seinen harten Gesichtszüge versuchte er seine Angst zu verbergen...


    Schlagartig wurde Semir klar, das Chris mit seinem Verhalten nur nach einem Grund suchte, damit er sich von ihm abwenden konnte! Er brauchte einen Sündenbock für das, was er vorhatte! Jemand, dem er die Schuld an seiner weiteren, aber falschen Vorgehensweise geben konnte!
    Und was war da besser, als ein Partner, der ihn in Frage stellte,... dem er nicht vertrauen konnte,... der ihn allein ließ,... der ihn nicht unterstützte...!


    Doch Semir war nicht bereit, diese Rolle einzunehmen! Den aufkeimenden Trotz nur schwer unterdrückend richtete er sich auf, machte einen Schritt vom Tisch weg und sah für einen Moment niedergeschlagen auf den Boden. Enttäuschung war in seiner Stimme zu hören, als er verneinend den Kopf schüttelte und sagte: „Nein, Chris. Ich werde Dich nicht zwingen.“
    Nach einem resignierten Zucken mit den Schultern hob er den Blick, schaute Chris fest an. Obwohl er sich heute morgen fest vorgenommen hatte, Chris keine Vorhaltungen mehr zu machen, brach es mit einem Mal aus ihm heraus und er fuhr im verbitterten Ton fort: „Ich weiß nicht, was Du vorhast oder was Du damit bezweckst... Aber über eines solltest Du Dir im Klaren sein: Du begehst Verrat!


    Vorwurfsvoll spie Semir den letzten Satz aus und seine Miene nahm einen verächtlichen Ausdruck an. Er hob seine rechte Hand und zeigte anklagend auf Chris: „Du begehst Verrat an Bernd und an Tom... Du verrätst, wofür sie eingestanden haben und wofür sie ihr Leben gelassen haben...! Du verrätst Deine Schwester und die Kinder und zerstörst ihren Glauben an die Gerechtigkeit...! Du begehst Verrat an dem, was wir gemeinsam durchstanden haben... Du verrätst unsere Partnerschaft und...“ Abrupt hielt Semir inne und senkte seine tadelnde Hand.


    Als er merkte, wie er sagen wollte: „... und unsere Freundschaft...“, versagte ihm schlichtweg die Stimme. Etwas in ihm weigerte sich, das Wort „Freundschaft“ auszusprechen... Er konnte es nicht sagen... Auch wenn er es sich noch so sehr wünschte, aber dieses Wort hatte in diesem Augenblick für ihn in Bezug auf Chris an Bedeutung verloren.


    Sich mit der Hand über die Stirn streichend, atmete Semir tief durch und senkte für einen Augenblick seine Lider. Er musste am Tom denken und das er so ganz anders gewesen war wie Chris. Klar sah er Toms Antlitz vor seinem inneren Auge und ihm wurde zum wiederholten Male bewusst, was er mit dem Tod seines Freundes verloren hatte: Einen Teil seines Herzens..., einen Teil seiner Seele..., ein Stück von sich! Es tat ihm weh, als er erkennen musste, das Chris nicht fähig war, dieses fehlende Stück zu ersetzen.


    Als er erneut aufschaute, bemerkte er, das Chris’ Gesichtszüge einen anderen Ausdruck angenommen hatten. Seine Miene wirkte nicht mehr ganz so hart. Doch seine Körperhaltung war noch immer von Abwehr geprägt und es schien, als ob er keinerlei Anstalten machen wollte, etwas zu den Vorwürfen zu sagen.


    Seufzend drehte sich Semir um und machte einige Schritte auf die Tür zu. Doch plötzlich hielt er erneut inne und starrte gedankenverloren auf den Boden... Wollte er die Hoffnung wirklich aufgeben? Sollte er nicht doch noch einen Versuch starten, um Chris’ Vertrauen zu gewinnen? Sollte er die Gelegenheit, das sie vielleicht doch noch Freunde werden könnten, ungenutzt verstreichen lassen? Seine Emotionen waren hin und her gerissen und innerlich rang er mit sich...


    Schließlich gewann sein Optimismus die Oberhand und er entschloss sich Chris eine letzte Chance zu geben. Er drehte sich halbwegs zu ihm um, sah ihn von der Seite her an und meinte: „Erinnerst Du Dich daran, was ich vorhin gesagt habe?... Für einen Freund bin ich bereit, alles tun!
    Semir machte eine kurze Pause und ließ die Worte wirken. Er wandte sich ganz um, richtete seine volle Aufmerksamkeit auf seinem Partner und blickte ihn erwartungsvoll an. Leise redete er weiter: „Und damit würde ich auch gern Dich meinen!“


    Auf eine Antwort hoffend, beobachtete er Chris genau. Doch auf dessen Gesicht tat sich keine Regung. Wieder spürte Semir den bitteren Stich der Enttäuschung in seinem Herzen und er konnte dieses Gefühl in seinen nächsten Worten nicht verbergen, die gallig aus ihm heraus brachen: „Weißt Du, Chris, ich habe es langsam satt...! Du wirfst mir vor, das ich Dich nicht verstehen würde und das ich Dir nicht helfen kann... Doch wie soll ich das machen? Du redest ja nicht mit mir! Du sprichst nicht mit mir über Deine Vergangenheit, über Deine Erlebnisse oder was Du sonst so Furchtbares durchgemacht hast. Du...“


    „Woher willst Du wissen, das ich etwas Schreckliches in meiner Vergangenheit erlebt habe?“ unterbrach ihn Chris scharf und Semir zuckte unwillkürlich zusammen. Deutlich konnte er sehen, wie Chris gespannt den Atem anhielt und ein ängstliches Flackern in seinen Augen aufleuchtete.
    „Deine Schwester hat so etwas angedeutet“, erklärte Semir ihm und augenblicklich breitete sich auf Chris’ Miene panisches Entsetzen aus.
    „Was hat sie Dir erzählt?“ wollte Chris mit zitternder Stimme wissen.
    „Nichts! Absolut nichts!“ stieß Semir schon fast wütend aus. „ Das ist es ja: Sie hat mir nichts erzählt!“
    Aufgebracht holte Semir tief Luft und mit einem fast höhnischen Ton fügte er hinterher: „Also keine Angst: Dein Geheimnis wird auch weiterhin ein Geheimnis bleiben!“


    Kaum merklich, atmete Chris beruhigt auf und warf einen erleichterten Blick zur Decke. Semir bemerkte die Reaktion und schnaubte: „Siehst Du? Und genau das ist das Problem...!“
    Als er Chris irritierten Ausdruck sah, fuhr er zornig fort: „Du erzählst mir nichts von Deinen Sorgen, von Deinem Kummer oder von Deinen Ängsten... Du sagst mir nicht was Dich bedrückt, was Dich grämt oder was Dich sonst so quält!... Wie kann ich Dir da helfen?“ Fragend beugte sich Semir leicht nach vorn und hob seine Augenbrauen. Mit einer hilflosen Geste breitete er seine Hände auseinander. „Ich würde Dir sehr gern helfen, aber Du lässt es ja nicht zu!“


    Herausfordernd starrte er seinen Partner an. Während er ein paar Mal tief Luft holte, um sich etwas zu beruhigen, bemerkte Semir, wie Chris’ Miene langsam, ganz langsam, mildere Züge annahm. In seinen Augen meinte er sogar ein leises Lächeln zu sehen und Hoffnung kam in Semir hoch.
    Doch dann fiel sein Blick auf Chris’ Mund, dessen Lippen noch immer fest zusammen gepresst waren. Auch die vor der Brust verschränkten Arme zeigten ihm, das Chris nicht bereit war, sich zu öffnen.
    ‚Damit ist wohl auch die letzte Chance vertan’, dachte Semir traurig. Er stieß einen mutlosen Seufzer aus und zuckte resigniert mit den Schultern. „Und ich Trottel habe wirklich geglaubt, Du würdest endlich verstehen, das Du mir Vertrauen schenken kannst. Aber da habe ich mich wohl getäuscht.“


    Sich auf dem Absatz umdrehend, ging Semir zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke. Bevor er sie öffnete, schaute er noch einmal zu Chris. „Ich hoffe für Dich, das Du weißt was Du tust!“ Während er die Tür aufmachte und einen Schritt hinaustrat, fügte er hinterher: „Jedenfalls werde ich jetzt in den Gerichtssaal gehen und dafür sorgen, das meinem Freund Tom Gerechtigkeit widerfährt. Sein Tod soll nicht umsonst gewesen sein!... Alles weitere hängt dann von Dir ab und musst Du mit Dir klar machen.“


    Ohne auf eine Antwort oder Reaktion von Chris zu warten, zog Semir die Tür mit einem heftigen Ruck zu. Nach einem tiefen Durchatmen sah er sich um und entdeckte den Gerichtsdiener, der ihn ins Gericht geleiten sollte. Dieser winkte ihn auch nervös heran und kaum war Semir bei ihm, schritt der Mann eilig voran. Während Semir ihm folgte, drehten sich seine Gedanken um Chris und er hoffte inständig, das dieser Sturkopf ihn endlich verstanden hatte...

  • Die ganze Zeit hatte Roman Gehlen regungslos, ja fast schon teilnahmslos auf seinem Platz gesessen. Erst als die Staatsanwältin ihren ersten Zeugen aufrief, zeigte er eine für alle sichtbare Reaktion. Sein Kopf zuckte nach oben und er sah sich suchend nach Semir Gerkhan um. Als dieser endlich den Saal betrat, folgte er ihm mit seinen Augen, in denen es für den Bruchteil einer Sekunde hasserfüllt aufloderte...


    Oh ja, er verabscheute Semir Gerkhan aus tiefsten Herzen! Er hasste den Mann, der mit seiner Unnachgiebigkeit seine Organisation zu Fall gebracht hatte, der sich mit Mark Jäger alias Chris Ritter verbündet hatte, der seinen einzigen Sohn in den Tod gehetzt hatte, der...


    Gehlen spürte, wie sein Anwalt ihm warnend eine Hand auf den Arm legte und schnell verwandelte sich das Feuer der Rache in seinen Augen in einen kummervollen Blick. Auf Außenstehende machte er den Eindruck, als ob es ihm schwer fiele, dem Mörder seines Sohnes gegenüber zu sitzen. Doch in seinem Innersten gab er sich bereits erneut bösartigen Rachegedanken hin, während er sorgfältig die Gestik und Mimik von Gerkhan beobachte. Unter keinen Umständen wollte er verpassen, wenn dieser kleine, miese Autobahnbulle von seinem Anwalt in der Luft zerrissen würde.





    Anna Engelhardt schwante Böses, als Semir so lange brauchte, um im Gerichtssaal zu erscheinen. Sie spürte die eigene wachsende Unruhe und die der anderen Zuschauer im Saal, welches sich in aufkommendem, ungeduldigem Gemurmel zeigte. Schließlich betrat Semir den Gerichtssaal durch einen Seiteneingang und sie wusste sofort, dass in der Zwischenzeit etwas vorgefallen sein musste.


    Ohne jemanden ins Gesicht zu sehen, ging ihr bester Kommissar mit steifen Schritten zum Zeugenstand. Sie kannte Semir lange genug, um seine Stimmung auch an seinen versteckten Signalen zu erkennen. Seine zusammen gezogenen Schultern zeigten ihr seine Anspannung. Gleichzeitig verrieten ihr seine fahrigen Bewegungen und sein nervöser Blick, das er innerlich sehr aufgewühlt war.
    Beunruhigt verfolge sie aufmerksam, wie er umständlich den Knopf an seinem Jackett öffnete, sich mit starrer Miene hinsetzte und seine Hände auf die Tischplatte legte. Nach einer Sekunde jedoch wischte er in einer flatterigen Bewegung über den Tisch und faltete sie schließlich ineinander. Sie konnte genau beobachten, wie sich seine Finger verkrampften.


    Semir hob seinen Kopf etwas an, lugte vorsichtig über seine rechte Schulter und suchte Blickkontakt mit ihr. Irritiert registrierte sie, wie in seinem Blick ein Hauch von Zweifel und Angst lag. Leicht alarmiert erwiderte sie den Blick und stellte mit ihren Augen eine stumme Frage. Kaum merklich deutete er mit einem verhaltenen Seufzen ein Schulter zucken und ein Kopfschütteln an.
    Unruhig beugte sich Anna etwas nach vorn, doch bevor sie weitere ‚Fragen’ an Semir stellen konnte, wurde sie von dem Richter unterbrochen, der die üblichen Fragen an den Zeugen, seine Person betreffend, stellte.


    Ein vages, bedrohliches Gefühl kroch an ihrem Rücken hoch, setzte sich zwischen ihre Schulterblätter und krallte sich dort fest. Ihre Ahnung, das etwas nicht stimmte verhärtete sich, als sie hörte, wie Semir auf die Fragen antwortete. Für einen Fremden hörten sich die Antworten fest und klar an.
    Sie als seine langjährige Vorgesetzte jedoch, konnte am Klang seiner Stimme wahrnehmen, wie sehr er sein aufgewühltes Temperament unterdrücken musste..., wie es in ihm brodelte..., wie er versuchte ruhig und sachlich zu bleiben.


    Was ihr allerdings mehr Sorge bereitete war, dass neben der Wut auch Besorgnis und Enttäuschung mitschwang. Doch woher kamen diese Emotionen? Was war in der Zeit passiert, seit sie den Raum verlassen hatte? Hatte es etwas mit Ritters sonderbarer Stimmung zu tun, die ihr bereits heute Morgen an ihm aufgefallen war?
    Die nagende Skepsis, die sie schon seit Tagen in Bezug auf ihren neuen Mitarbeiter spürte, meldete sich in ihrem Unterbewusstsein. Sollten sich die Unkenrufe bewahrheiten und sie nun die Quittung für ihre Gutmütigkeit vorgesetzt bekommen? Hatte sie, als sie Ritter in ihr Team holte, zu hoch gepokert? Würde Chris Ritter sie alle enttäuschen?


    Als sie bemerkte, wie sich Semir mit einer müden Geste über Stirn und Augen wischte, wurde ihr mit wachsendem Entsetzen klar, das der Fall auf der Kippe stand. Augenblicklich schrillten ihre inneren Sirenen auf und ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen.
    Sollte das wirklich heißen, dass sie alles verlieren konnten? Den Prozess..., Hoffnung auf Gerechtigkeit..., die Möglichkeit für einen Neuanfang..., ein neues Team...?


    In dem fruchtlosen Versuch, die Anspannung, die sich in ihr ausbreitete, in den Griff zu bekommen, legte sie ihre Hände auf ihrem Schoß zusammen und knetete nervös ihre Finger. Besorgt rutschte sie auf ihrem Platz hin und her und während sie wachsam, aber mit versteinerter Miene die weitere Verhandlung beobachtete...





    ... jubelte Roman Gehlen innerlich voller Vorfreude auf. Er hatte das stumme Zwiegespräch zwischen Semir Gerkhan und seiner Vorgesetzten aus den Augenwinkeln mitbekommen und zog seine eigenen Rückschlüsse.
    Für ihn bedeutete das Schulterzucken und Kopfschütteln, dass Gerkhan und Ritter wohl gehofft hatten, bis zum Beginn der Verhandlung die Geiseln befreien zu können. Allem Anschein nach hatten sie das Versteck von Lorenz und seinen Männern nicht entdeckt und somit war das Vorhaben der Polizisten wohl gescheitert.
    In dem letzten Blick, den Gerkhan seiner Chefin zuwarf, war deutlich Angst zu sehen. Auch das unruhige Verhalten, welches diese Engelhardt jetzt an den Tag legte, waren für ihn Anzeichen eines gescheiterten Planes.


    Noch einmal huschten seine Augen zu ihnen hinüber. Gerkhans furchtsamer Blick und Engelhardts aschfahle Miene ließen Gehlens Innerstes schadenfroh auflachen und er entspannte sich vollends. ‚Sie sehen aus, als ob sie eine Todesnachricht erhalten hätten’, gluckste er gedanklich.
    Nach einer Weile verengten sich seine Lider unmerklich und er dachte voller Hass: ‚Und damit liegen sie auch gar nicht so falsch. Wenn ich hier raus bin, werden sich die Todesfälle in den Reihen der Polizei häufen... Und mit Euch drei mache ich den Anfang!’
    Angesichts der mit Rachgier erfüllten Zukunft, seufzte Gehlens Seele wohlig auf und er lehnte sich etwas auf seinen Stuhl zurück. Er würde diese Farce genießen und es fiel ihm schwer, seine Regungen nicht nach außen zu zeigen...

  • Staatsanwältin Schrankmann bemerkte diesen Austausch der Blicke nicht. Darum bemüht, ihre Nervosität zu unterdrücken und einen selbstbewussten Eindruck zu machen, legte sie sich mit dem ihr typischen Gesichtsausdruck einige Papiere zurecht. Nachdem Semir seinen Eid geleistet hatte, gab ihr der Richter mit einer Geste zu verstehen, dass der Zeuge ihr gehöre.
    Claudia Schrankmann stand auf, nahm einen Kugelschreiber auf und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Sie richtete ihren Blick auf Semir und für den Bruchteil einer Sekunde huschte über ihre verkniffenen Lippen ein ermutigendes Lächeln. Nach einem kurzen Räuspern fing sie mit einer für sie ungewöhnlich sanften Stimme ihre Befragung an. Sie bat ihn zu erzählen, was sich an jenem verhängnisvollen Tag ereignet hatte.


    Semir, der ganz bewusst sein Augenmerk auf die Staatsanwältin gerichtet hatte, senkte für einen Moment seinen Kopf und blickte auf seine gefalteten Hände. Er sammelte seine Gedanken, räusperte sich und begann mit sachlicher Stimme zu berichten:
    „Mit meinem damaligen Partner Tom Kranich befand ich mich wie an jedem Morgen auf einer Kontrollfahrt über die Autobahn. Gegen 10.30 Uhr, wir waren gerade auf der A 59 in Richtung Bonn unterwegs, hörten wir über Funk, das ein dunkler Ford Transit eine Polizeisperre durchbrochen hatte und sich nun auf der Autobahn eine Verfolgungsjagd mit den Streifenwagen lieferte. Da wir uns in der Nähe befanden, eilten wir den Kollegen zur Hilfe. Nachdem wir es geschafft hatten, den Wagen zu stoppen, wollten wir den Fahrer festnehmen. Diesem war jedoch, ohne das wir es bemerkt hatten, zwischenzeitlich die Flucht gelungen. Bei der Kontrolle des Laderaums dachten wir zunächst, der Wagen wäre leer, da sich auf der Ladefläche nichts befand. Ich bemerkte, dass das Fahrzeug anfing zu brennen und wollte meinen Partner von dem Wagen wegziehen. Doch dieser hörte plötzlich ein Klopfen und eine leise, flehende Stimme, die aus dem Inneren des Fahrzeuges kam. Wir näherten uns den Geräuschen und stellten fest, das es sich bei der Rückwand um ein gut getarntes Versteck handelte. Eine junge Asiatin war dort eingesperrt und nur knapp konnten wir sie vor dem sicheren Tod retten, denn das Auto explodierte aufgrund des Feuers kurz darauf. Nachdem das Mädchen notärztlich versorgt worden war, nahmen wir sie zunächst mit zur Dienststelle, um ihre Personalien aufzunehmen. Doch sie war so verstört und verängstigt, das sie kein Wort sagte. Noch während wir uns darum bemühten ihr Vertrauen zu gewinnen, tauchten Bernd Simon und Stefan Fried von der Abteilung „Organisierte Kriminalität“ auf. Die beiden baten uns, ihnen die junge Asiatin zu übergeben. Da das Mädchen für ihre laufenden Ermittlungen um den Verdächtigen Roman Gehlen eine wichtige Zeugin darstellte, unterstellten wir sie schließlich ihrer Obhut. Sie versprachen uns, sich um sie zu kümmern, sie in ein Kinderheim zu geben und für ihren Schutz zu sorgen... Es war das letzte Mal, das ich sie lebend sah.“


    Traurig sog Semir die Luft durch die Nase ein, senkte für einen kurzen Augenblick seine Lider und machte eine kurze Pause. Erneut wurde ihm bewusst, das es auch das letzte Mal war, wo er Tom unverletzt und voller Leben gesehen hatte. Es schmerzte ihn, wenn er an das letzte Lächeln und das schelmische Leuchten in den Augen seines ehemaligen Partners dachte, als er ihm anbot, die Berichte zu schreiben. Nur, damit er sich um sein türkisches Sommerfest kümmern konnte.
    Das Sommerfest...


    Sofort nagten die quälenden Gewissensbisse erneut an ihm und beinah hätten ihn die Emotionen überwältigt. Doch sie wurden durch die nächste Frage der Staatsanwältin unterbrochen: „Herr Gerkhan, ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt, davon zu berichten... Doch können Sie uns bitte die weiteren Ereignisse schildern, die sich am Abend zugetragen haben?“


    Langsam nickte Semir und fuhr nach einem leisen Seufzer fort: „Am Abend des selben Tages bekam ich gegen 21.45 Uhr einen Anruf, in dem mich mein Partner dringend um Hilfe bat. Er sei im Kinderheim „Jerusalem“ und stehe unter Beschuss. Durch das Telefon konnte ich deutlich vier Schüsse hören und das verängstigte Aufschreien einer weiblichen Stimme vernehmen. Danach brach der Kontakt ab.“


    Semir musste schwer schlucken, bevor er mit belegter Stimme weiter reden konnte: „Als ich am Kinderheim ankam, sah ich im Eingangsbereich den Kollegen, der für die Bewachung der Asiatin eingeteilt war. Er war von einem Schlag auf den Hinterkopf noch halb benommen und zeigte mir an, in welche Richtung mein Partner gelaufen war. Ich rannte ebenfalls in die Richtung, doch in dem weitläufigen Gebäude und den verwinkelten, dunklen Gängen hatte ich keine Chance ihn zu finden. Erst der Knall eines Schusses, lenkte meine Aufmerksamkeit in die richtige Richtung und ich eilte durch eine Hintertür auf den Innenhof. Dort lagen mein schwer verletzter Partner und das tote Mädchen.“


    Semir presste seine Lippen zusammen und bemühte sich sichtlich darum, seine Fassung zu wahren. Nach einem erneuten, traurigen Seufzer brachte er stockend heraus: „Für beide... kam jede Hilfe zu spät... Das Mädchen war bereits tot... Und wenige Sekunden später starb...“
    Auf Semirs Gesicht breitete sich unsäglicher Schmerz aus und in seinen Augen spiegelte sich die qualvolle Erinnerung, bevor er zitternd weiter sprach: „... starb mein Freund... und Partner... Tom Kranich in meinen Armen.“


    Ein beklemmendes Schweigen erfüllte den großen Raum, als Semir geendet hatte. In den Gesichtern einiger Zuschauer war deutlich zu sehen, wie sehr ihnen die Sache zu Herzen ging und andere kämpften mit den Tränen. Selbst die Journalisten, die sich die ganze Zeit Notizen gemacht hatten, hielten für kurze Zeit inne...

  • So..., genug inne gehalten! ;)
    Bin aus dem Urlaub zurück und nun geht es weiter. Viel Spaß!
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    Auch die Schrankmann bemerkte die Reaktionen des Publikums und atmete innerlich erleichtert auf. Es war so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte: Es war ihnen gelungen, das Mitgefühl der Zuhörer zu wecken und die Anteilnahme auf ihre Seite zu ziehen.
    ‚Wenn jetzt Gerkhan im Kreuzverhör keinen Fehler macht und Ritter nicht ausrastet, haben wir ganz sicher gewonnen!’ dachte sie hoffnungsvoll. In das Schweigen hinein bedankte sich die Staatsanwältin mit leiser Stimme für seine Aussage und setzte sich zufrieden an ihren Platz.


    Plötzlich schob Kurt Janzen seinen Stuhl nach hinten. Kreischend und lärmend kratzten die metallenen Stuhlbeine über den marmornen Boden. Das durchdringende Geräusch dröhnte durch den großen Saal, brach sich widerhallend an den Wänden und drang in die an die Stille gewöhnten Ohren der Anwesenden. Brutal wurden diese aus ihrer betrübten Stimmung gerissen und einige Frauen zuckten auch erschrocken zusammen.


    Dessen ungerührt stand der Anwalt auf, nahm eine selbstsichere Haltung an und sah den Zeugen mit harten Augen an.
    „Herr Gerkhan...“, sein Tonfall und seine Miene waren eine Mischung aus Anklage und Tadel, „... haben Sie bei Ihrer Aussage nicht ein wichtiges Detail vergessen?“


    Obwohl Semir mit dieser Frage gerechnet hatte, war er für einen Moment verwirrt, da er mit seinen Gedanken noch bei Tom gewesen war. Blinzelnd holte er sich in das Hier und Jetzt und atmete tief durch. Doch bevor er zu einer Antwort anheben konnte, setzte der Anwalt seine Befragung fort.
    „Warum haben Sie es nicht für nötig gehalten zu erwähnen, dass, als sie den Hinterhof betraten, neben dem Körper Ihres verletzten Partners ein Mann kniete?“ Ein herablassender Unterton schwang in der Stimme des Verteidigers.


    Während er in gespieltem Erstaunen seine Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: „Ein, bis dahin Ihnen völlig Fremder kniet neben ihrem Partner... Ein Fremder, bei dem es sich offensichtlich um den Mörder handeln musste... Ein mutmaßlicher Mörder, der nun augenscheinlich versuchte sein Werk zu Ende zu bringen...“
    Mit einem schnellen Griff hob Janzen eine aufgeschlagene Akte hoch und pochte dramatisch mit seinem Zeigefinger auf das oberste Blatt Papier. „Schließlich, und das haben sie auch damals so zu Protokoll gegeben, ergriff dieser Fremde sofort die Flucht, nachdem er Sie bemerkte.“
    Ohne den Zeugen aus den Augen zu lassen, warf er die Akte zurück auf den Tisch. „Wieso haben Sie das dem Gericht verschwiegen?“ verlangte er zu wissen.


    „Sie wissen so gut wie ich, das der Mann, von dem Sie reden, nicht der Mörder war“, begehrte Semir auf. „Der Mann, von dem Sie sprechen, ist mein neuer Partner Chris Ritter und er war zu der Zeit als verdeckter Ermittler an Ihrem Mandanten dran.“
    „Wussten Sie denn, das Herr Ritter, der sich zu dem Zeitpunkt Mark Jäger nannte, ein verdeckter Ermittler ist?“ schoss Gehlens Anwalt kalt zurück.
    Semir schüttelte den Kopf: „Nein! Aber...“
    „Wie konnten Sie sich dann sicher sein, dass es sich bei dem Mann nicht um den Mörder Ihres früheren Partner handelt?“ herrschte ihn der Anwalt an.


    „Zuerst habe ich ja geglaubt, das es sich um den Mörder handelt und habe ihm einige Kugeln hinterher geschickt. Doch...“ Semir hatte die Worte heftig ausgestoßen. Jetzt atmete er tief durch und bemühte sich um Beherrschung. „... doch im Laufe der Untersuchungen wurde immer deutlicher, dass es sich bei dem Mörder um Erik Gehlen, dem Sohn Ihres Mandanten, handeln musste.“
    Zum ersten Mal, seit Semir den Gerichtssaal betreten hatte, richtete er sein volles Augenmerk auf Roman Gehlen und schaute ihn hasserfüllt an. „Und Ihr Mandant hatte den Auftrag dazu gegeben, das Mädchen zu erschießen!“


    „Ach...? Woher wollen Sie das so genau wissen?“ Neugierig legte Janzen seine Stirn in Falten. „Waren Sie denn dabei, als dieser ominöse...“, mit Zeige- und Mittelfinger deutete der Anwalt Anführungszeichen an, „... Auftrag erteilt wurde? Sofern es denn überhaupt diesen Auftrag gab.“
    „Nein“, gab Semir offen zu. „Aber Ihr Mandant musste die einzige Zeugin beseitigen, sonst hätte sie...“
    „Herr Gerkhan,...“, fuhr ihm der Anwalt barsch über den Mund, „darf ich sie daran erinnern, das Sie hier sind um eine Aussage zu machen und nicht um Mutmaßungen zu äußern?“


    Mit Genugtuung sah Janzen, wie es in Gerkhans Augen ärgerlich auffunkelte und er seine Lippen kurz zusammenpresste. Auch blieb ihm nicht verborgen, wie sich der Zeuge händeringend darum bemühte, seine Fassung zu bewahren. Er wartete ein, zwei Sekunden, bevor er in einem zwar ruhigerem, aber immer noch fordernden Ton seine Frage wiederholte: „Also, Herr Gerkhan... Waren Sie nun anwesend, als mein Mandant diesen angeblichen Mordauftrag erteilt hat?“
    „Nein“, murmelte Semir zähneknirschend.
    Leicht beugte sich der Anwalt von Gehlen etwas nach vorn, wendete dem Zeugen sein rechtes Ohr zu und tat irritiert: „Was haben Sie gesagt?“
    Auf Semirs Gesicht war für einen Moment verhaltene Wut zu sehen, dann stieß er ein deutlich hörbares: „Nein! Ich war nicht dabei!“ aus.


    Zufrieden richtete sich Kurt Janzen zu seiner vollen Größe auf und nickte genügsam. „Gut“, erwiderte er befriedigt und machte eine wegwischende Handbewegung, „das wäre geklärt.“
    Dann nahm seine Miene erneut einen geschäftigen Ausdruck an und er taxierte Semir mit seinen Augen. „Kommen wir noch einmal auf Ihre Anschuldigungen über den angeblichen Mörder Ihres Partners zu sprechen.“
    Vehement kopfschüttelnd hob Semir eine Hand und bellte in die Richtung des Anwaltes: „Das sind keine Anschuldigungen! Das sind Fakten! Ich weiß, das Gehlens Sohn Erik meinen Partner erschossen hat.“


    „Herr Gerkhan!“ Der Tonfall von Janzen war schon fast mitleidig. „Wie Sie eben sehr mitfühlend...“, versteckter Sarkasmus troff aus seinen Worten, „... beschrieben haben, sind Sie doch erst zu Ihrem Partner gekommen, als dieser bereits verletzt am Boden lag. Das ist doch richtig, oder?“
    Nachdem Semir mit einem kurzen Nicken bestätigt hatte, wollte Gehlens Verteidiger wissen: „Also gehe ich richtig in der Annahme, das Sie gar nicht gesehen haben, wer Ihren Partner erschossen hat?“


    Obwohl er wusste, was er jetzt zu antworten hatte, zögerte Semir. Denn in ihm tat sich eine Zwickmühle auf. Er wusste, das Gehlens Anwalt darauf hinaus wollte, dass er zugeben musste, den Mörder gar nicht gesehen zu haben.
    Doch genau das war auch die Taktik der Schrankmann. Sie wollte die Gegenseite in Sicherheit wiegen. Sie wollte ihr die Karten zuspielen und ihr glaubhaft machen, das ihr perfider Plan geglückt war..., um dann mit Chris’ Aussage den großen Schlag zu landen!


    Jedoch hatte diese Vorgehensweise nun für die Seite der Anklage einen Haken: Sie waren davon ausgegangen, das die Aussagen klar waren und sich alle an das Besprochene halten würden. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Chris einen Rückzieher machen könnte.
    Was sollte er also machen?

  • Sollte er bei der vereinbarten Strategie bleiben und riskieren, das ihre Arbeit umsonst war? Oder sollte er alles daran setzen, Gehlen mit seiner Aussage festzunageln? Auch wenn das bedeuten würde, dass er einen Meineid leisten müsste?


    Semirs Blick huschte zu Anklagebank. Für einen minimalen Moment schaute er Gehlen in die ihn verhöhnenden Augen. Abscheu und Zorn kochten siedend heiß in Semir hoch und er war versucht, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um Gehlen seine Faust in die blasierte Visage zu schlagen! Es fehlte nicht viel und er hätte seine ganze Wut herausgeschrieen...


    Oh ja, Semir war wütend!
    Wütend auf Gehlen, der so viel Leid und Elend verbreitet hatte...
    wütend auf Tom, der ihn mit seinem Tod allein gelassen hatte...
    wütend auf Chris, der ihn nun im Stich ließ...
    wütend auf das Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit...
    wütend auf sich selber...


    Gerade, als ihn seine aufschäumende Wut überrollen wollte, blitzten plötzlich die Gesichter von Andrea, Aida, der Engelhardt und den Kollegen vor seinem inneren Auge auf. Das waren Menschen, die ihm vertrauten, die ihm den Rücken stärkten, die ihm Halt gaben, die zu ihm standen. Immer...
    Sie wären zu Recht von ihm enttäutscht, wenn er etwas Unrechtes tun würde, nur um jemanden wie Gehlen hinter Gitter zu bringen.


    Und würde er sich mit so einer Tat nicht eher auf eine Stufe mit Gehlen stellen? Bei dem Gedanken daran lief es Semir fröstelnd den Rücken hinunter. Auch wenn seine Absichten nachvollziehbar wären, ahnte er, dass er sich in seiner Haut nie wieder wohl fühlen würde. Schweren Herzen entschloss er sich, das einzig Richtige zu tun: Bei der Wahrheit zu bleiben.


    Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Gehlens Verteidiger, um ihm zu antworten. Zwischenzeitlich jedoch dauerte Kurt Janzen das Zögern zu lange und mit schneidender Stimme wiederholte er seine Frage: „Haben Sie nun gesehen wer Ihren Partner erschossen hat, oder nicht?“
    „Nein“, gab Semir mit fast bebender Stimme aufrichtig zu.


    Auf dem Gesichtsausdruck des Anwaltes entfaltete sich ein breites Lächeln und seine Körperhaltung erinnerte an einen eitelen Pfau, als er im siegessicheren Tonfall sagte: „Ich darf also noch einmal zusammen fassen: Obwohl Sie hier wiederholt ausgesagt haben, das mein Mandant einen Mordauftrag erteilt hat, waren Sie weder zugegen, als dieser Autrag ausgesprochen wurde, noch haben Sie, entgegen Ihrer Behauptung, gesehen, wer genau ihren Partner erschossen hat. Ist das so korrekt?“


    Obwohl Semir für alle deutlich sichtbar nickte, forderte ihn Gehlens Verteidiger belehrend auf: „Antworten Sie bitte so, das Sie jeder hören kann!“
    Semir fühlte sich gedemütigt und es fiel ihm immer schwerer die Beherrschung zu bewahren. Unter Aufbringung der letzten Willensstärke antwortete er gepresst: „Ja, das ist korrekt.“
    „Danke, Hauptkommissar Gehrkan!“ Janzens süffisantes Grinsen war widerlich. Eine leichte Verbeugung andeutend, fügte er an den Richter gewandt hinzu: „Ich habe keine weiteren Fragen.“


    Mit seiner schwarzen Robe vollführte der Anwalt eine gekünstelt, elegante Bewegung und strich den fließenden Stoff etwas glatt, bevor er sich hinsetzte. Sein Mandant berührte ihn kurz am Arm und während er sich eine Notiz machte, neigte er seinen Kopf zu Gehlen. Dieser flüsterte ihm etwas ins Ohr und kurz darauf nickten beide zufrieden.
    Dann wandte sich Roman Gehlen leicht zu Semir. In seiner Miene war neben Triumph und Selbstgefälligkeit auch Kaltblütigkeit und blanker Hass zu sehen.


    Der Richter gab unterdessen Semir ein Zeichen, das er den Zeugenstand verlassen durfte. Einen vernichtenden Blick in Gehlens Richtung werfend, stand er schließlich auf und begab sich in die Reihen der Zuschauer. Er setzte sich neben die Chefin und stieß ein frustriertes Knurren aus.
    Die Engelhardt, deren Sorge sich im Laufe des Kreuzverhöres vergrößert hatte, beugte sich zu ihm und raunte: „Was ist los, Semir?“
    Er warf seiner Chefin einen grimmigen Blick zu. „Ich bin mir nicht sicher..., aber ich glaube, Chris wird sich nicht an seine besprochene Aussage halten“, flüsterte Semir verbittert.
    „Was?“ hauchte die Engelhardt entsetzt und riss ihre Augen erschrocken auf. „Wie kommen Sie darauf, Semir?“
    „Er hat, nachdem Sie weg waren, so eine vage Andeutung gemacht“, antwortete Semir leise.
    Entgeistert starrte Anna Engelhardt ihren Mitarbeiter an. „Hat er gesagt, warum?“, wollte sie wissen.
    „Nein“, schüttelte Semir mit dem Kopf. „Ich habe ihn gefragt und er hat mir keine klare Antwort gegeben.“


    Die Erinnerung an das ungute Gefühl, welches die Engelhardt vorhin in Gegenwart von Chris gespürt hatte, kehrte zurück. Sie hatte geahnt, das es etwas nicht stimmte... das ihn etwas bedrückte... das ihm etwas Sorgen bereitete. Warum hatte sie nicht ihrem Instinkt vertraut und ihn gefragt? Ärgerlich mit sich selbst, erkundigte sie sich schnell: „Haben Sie eine Ahnung, was passiert sein könnte?“
    „Ich weiß es nicht, Chefin“, zuckte Semir hilflos mit den Schultern. „Aber ich vermute, dass es entweder was mit seiner Familie oder seiner Vergangenheit zu tun hat. Denn er hat mir eben fast den Kopf abgerissen, als ich es beiläufig erwähnte.“
    „Verdammt!“, fluchte die Chefin zwischen den Zähnen hindurch. Fieberhaft dachte sie darüber nach, was sie unternehmen könnte. Ob es wohl was bringen würde, wenn sie jetzt zu Chris gehen und mit ihm ein Gespräch führen würde? Oder sollte sie ihm eine Nachricht zukommen lassen? Vielleicht könnte sie auch...


    Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als der Richter sich an die Bank der Anklage wendete und sagte: „Frau Staatsanwältin, rufen Sie bitte Ihren nächsten Zeugen auf.“
    Sie sah, wie die Schrankmann den Mund öffnete und mit einem Mal wurde ihr bewusst: Sie musste die Staatsanwältin warnen! Auf keinen Fall durfte die Schrankmann jetzt Chris aufrufen! Nicht, bevor sie nicht Klarheit hatte, was Chris’ Absichten waren!
    Doch bevor Anna der Schrankmann ein Zeichen geben konnte, hörte sie, wie diese laut sagte: „Die Staatsanwaltschaft ruft Hauptkommissar Chris Ritter in den Zeugenstand.“
    „Oh, nein“, stöhnte die Engelhardt leise auf, „das gibt ein Desaster!“

  • Erst das heftige Zuschlagen der Tür riss Chris aus seiner entgeisterten Starre, mit der er Semir konsterniert und wie vor den Kopf geschlagen hinterher sah. Heftig blinzelnd stieß er mit einem fassungslosen: „Pfft“ die unbewusst angehaltene Luft aus. Wie konnte Semir es wagen...! Er hatte doch gar keine Ahnung...!


    Kopfschüttelnd lief Chris wie ein eingesperrtes Tier unruhig an der Wand entlang. Chris’ Gefühle schwankten zwischen nachtragendem Groll, aufbrausender Empörung und verletztem Stolz, während er sich noch einmal die erlebte Situation ins Gedächtnis rief. Noch immer konnte er es nicht glauben, das Semir so mit ihm gesprochen hatte.
    ‚Dieser kleine Giftzwerg!’, dachte er aufgebracht. ‚Was bildete der sich eigentlich ein?!’


    Semirs Worte hatten ihn hart getroffen! Sehr hart!
    Dabei war es weniger der Inhalt gewesen, der ihn verletzt hatte. Nein..., der Schmerz wäre zu verkraften gewesen. Schließlich hatte sein Partner nur ausgesprochen, was er noch vor wenigen Stunden selber gedacht hatte. Die Worte entsprachen ja voll und ganz der Wahrheit.
    Aber was ihn verletzte und noch immer einen Stich versetzte, war die Art und Weise gewesen, mit der Semir die Worte ausgesprochen hatte:


    Entsetztem Unverständnis... „Warum, Chris? Warum?“
    Kalter Verachtung... „Du begehst Verrat!“
    Bitterem Vorwurf... „Verrat an Bernd; an Deiner Schwester und den Kindern; an die Gerechtigkeit; an dem, was wir gemeinsam durchstanden haben; an unserer Partnerschaft.“
    Beißendem Hohn... „Keine Angst: Dein Geheimnis wird auch weiterhin ein Geheimnis bleiben!“
    Tiefer Enttäuschung... „Und ich Trottel habe wirklich geglaubt, Du würdest endlich verstehen, dass Du mir Vertrauen schenken kannst.“


    Zuerst hatte es Chris geschafft, die Worte an sich abprallen zu lassen. Mit aller Willenskraft hatte er sich selbst davon überzeugen können, dass in Semirs Stimme Zweifel an ihm mitschwang. Er hatte sich in seinem Vorhaben bestätigt gefühlt und wusste, dass er das Richtige tat.
    Besonders als Semir ihm Kontra bot, hatte er es als einen Angriff auf ihn ausgelegt. Gleichzeitig hatte er gespürt, wie sich seine Abwehr zu jenem festen Bollwerk aufgebaute, welches er sich früher immer zugelegt hatte, um niemanden an sich heran kommen zu lassen.


    Nichtsdestoweniger hatten Semirs verächtliche Äußerungen seine schützende Festung langsam zum bröckeln gebracht. Jede einzelne Vorhaltung war wie eine Granate an Chris’ inneres Mauerwerk geschlagen und hatte erste Risse verursacht. Einige diese Granatsplitter fanden schließlich ihren Weg durch die entstandenen Spalten und verletzten sein Innerstes.
    Seine starre Wand hatte begonnen zu schwanken und verzweifelt hatte Chris versucht, sich dagegen zu stemmen. Doch die Worte, die wie heransirrende Projektile sein Herz trafen, es durchbohrten und verletzten, weckten grausame Erinnerungen. Sie waren wie Geschosse, die seine Seele durchschlugen, sie peinigten und alte Ängste in ihm auslösten.


    Er hatte gespürt, wie seine Kräfte durch das ständige und erbarmungslose Bombardement nachließen. In seiner Verzweiflung hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst und Semirs Stimme ausgeblendet. Viel zu spät erkannte er, wie Semir ihm seine Freundschaft anbot und ihm vorbehaltlose Unterstützung versprach. Doch bevor er sich auf das Angebot einlassen konnte, war Semir in verbittertem Ton fortgefahren und seine scharfen Wortspitzen hatten sich wie Pfeile in seine Seele gebohrt: „Wie kann ich Dir da helfen...? Du lässt es ja nicht zu!“


    Als Chris in diesem Moment in Semirs Augen geschaut hatte, die ihn anklagend und doch mit einem Hauch Hoffnung anblickten, war ihm eines ganz klar geworden: Semir meinte es wirklich ernst mit dem, was er sagte! Die Absichten seines Kollegen waren absolut ehrlicher Natur. Semir war kein Verräter, der ihn verkaufen würde. Er war nicht wie Lemercier, der ihm die Partnerschaft nur vorspielte. Semir war sein Partner!


    Seine unruhige Wanderung unterbrechend, blieb Chris stehen und blickte nachdenklich zu Boden. ‚Nein..., Semir ist mein Partner!’, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Partner...
    Innerlich spürte Chris, wie eine beruhigende Welle ihn durchrollte. Sie übermittelte ihm das Gefühl von Geborgenheit und Wärme und ließ ihn wohlig aufseufzen. Tief atmete er ein und schloss für einen Augenblick seine Lider.
    „Für einen Freund bin ich bereit, alles tun!“ Semirs Worte hallten in seinem Kopf wider.

    Chris fühlte, wie sich in seinem Innersten etwas ausbreitete, was er in Bezug auf seine Arbeit schon lange nicht mehr erlebt hatte und auf seine Lippen stahl sich ein leises Lächeln. Wie lange hatte er sich nach diesem Gefühl, dem Gefühl von vertrauter Sicherheit, gesehnt!
    „Und damit würde ich auch gern Dich meinen!“ Dieser eine Satz, voll Erwartung und Zuversicht ausgesprochen, klang in Chris’ Erinnerung nach. Später konnte er nicht sagen warum, aber diese Worte lösten eine Kettenreaktion in ihm aus, die von da an alles verändern sollte. Denn in diesem Augenblick zerbarst Chris’ letzter Widerstand! Der Rest seiner inneren Mauer stürzte in sich zusammen, zerfiel in tausend Stücke und hinterließ ein wahres Trümmerfeld...


    Ohne das er es gemerkt hatte, war Chris erneut zum Fenster gegangen. Er schaute hinaus und er merkte, wie sich seine rauchende Wut auf Semir nach und nach in Bewunderung umwandelte. Dieser kleine, hartnäckige Kerl hatte es durch seine Beharrlichkeit doch tatsächlich geschafft, seine harte Schale zu knacken! Eine Schale, der vorher es nur zwei Menschen gelungen war, sie zu brechen: Bernd und seine Schwester Gaby.
    Plötzlich fühlte sich Chris befreit und erleichtert. Verhalten musste er auflachen. „Danke, für den Tritt in den Hintern, Partner!“, murmelte er voller Dankbarkeit.

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