Etwa zur gleichen Zeit, wie Chris vom Streifenwagen abgeholt wurde und Semir die Zeitung las, nahm Roman Gehlen den letzten Schluck seines dünnen Kaffees und stellte die Tasse mit einem angewidert verzerrten Gesicht zurück auf das Tablett. Verächtlich schob er es etwas von sich weg und besah sich die kaum angerührten Reste auf seinem Teller.
‚Das wird wohl das letzte Mal gewesen sein, das ich diesen billigen Fraß zu mir nehmen musste’, dachte er hoffnungsvoll bei sich.
Verträumt schloss er einen Moment die Augen. Er sah sich schon an einem reich gedeckten Tisch sitzen, auf dem sich unter anderem Rührei mit Lachs, zart blättrige Croissants, goldgelbe Butter, exquisite Marmeladen und erlesene Früchte türmten. In seiner Nase meinte er das unverkennbare, volle Aroma und den herrlichen Duft des besten Kaffees aus Puerto Rico riechen zu können und seine Vorfreude stieg.
‚Heute kommst Du aus diesem Loch und dann kannst Du wieder so leben, wie es Dir gebührt’, freute sich Gehlen.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, dass er in einer knappen halben Stunde abgeholt werden würde. Behäbig stand er auf und begab sich zum kleinen Waschbecken in der Ecke. Während er sich die Zähne putzte, schaute er prüfend in den Spiegel.
Sein Teint war blass und brachte die dunklen Ringe, die unter seinen Augen lagen, im krassen Gegensatz zum Vorschein. Seine Gesicht sah welk aus, seine Haut war trocken und seine Hände wirkten ungepflegt. Sobald er hier raus wäre, würde er seine Kosmetikerin kommen lassen und sich von ihr verwöhnen lassen, nahm er sich versonnen vor.
Doch für heute war ihm dieses Erscheinungsbild nur recht und ein hinterhältiges Lächeln umzuckte seine Lippen.
Der Richter, die Staatsanwältin, die Zuschauer, die Medienvertreter… sie alle sollten einen Mann sehen, der Opfer eines Justizirrtums wurde…
Einen traurigen Mann, der durch die Willkür der Polizei seinen Sohn verloren hatte…
Einen alten Mann, dessen Gesicht von Leiden und Sorgen gezeichnet war…
Einen gebrochenen Mann, der vom Gram gebeugt wurde…
Einen bedauernswerten Mann, mit dem man nur Mitleid haben konnte…
Mit einem verächtlichem Schnauben spuckte Gehlen den Zahnpastaschaum ins Becken, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Nachdem er sich mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, schaute er in den Spiegel. Er sah sich selbst in die Augen und gluckste kichernd: „Das heute wird Deine Show! Dann wollen wir den Idioten dort draußen mal was bieten.“ Er richtete sich auf, straffte seinen Rücken und schob trotzig sein Kinn hervor. „Und dann kann mein Leben wieder beginnen!“ lachte er hart.
Abfällig warf er das Handtuch ins Waschbecken, drehte sich um und trat an den wackeligen Spind. Daran hing, durch eine Kleiderhülle geschützt, sein neuer Anzug. Vorsichtig öffnete er den Reißverschluss der Schutzhülle und das dunkelblaue Jackett wurde sichtbar.
Mit der Rückseite seiner Finger strich er über den sündhaft teueren Stoff und kennerhaft schnalzte er mit der Zunge. Er wusste, dass allein die Jacke mehr wert war, wie die gesamte Einrichtung seiner lausigen Zelle.
Bedächtig zog er sich an und warf zum Schluss einen kontrollierenden Blick in den kleinen, schlierigen Spiegel. Zufrieden, mit dem was er sah, zupfte er noch einmal an den Ärmeln und rückte seine Krawatte zurecht. Ein erneuter Blick zur Uhr sagte ihm, das er jeden Moment abgeholt werden würde.
Er trat ans Fenster und schaute gedankenverloren in den Innenhof. Nach einer Weile verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen und er presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Die Natur seiner Gedanken ließ sich an seinen geballten Fäusten und an seiner hektischen Atmung erkennen.
Als sich wenige Minuten später die Zellentür öffnete, drehte sich Gehlen entschlossen um und verließ seine Zelle, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen. Er war sich sicher:
Dies waren die ersten Schritte in die Freiheit!