Nicht Aufgeben!

  • Anna blieb keine Zeit zum Ausruhen oder Nachdenken über Gabrielas Worte. Die entzündeten Wunden am Rücken und am restlichen Körper mussten ebenfalls gereinigt und versorgt werden. Die Ärztin hatte schon bemerkt, dass die Sedierung langsam nachließ. Verzweifelt suchte sie mit ihren Blicken den kleinen Medikamentenvorrat ab. Da war nichts mehr, was sie Ben zur Sedierung verabreichen konnte. Der Bestand an starken Schmerzmitteln war begrenzt und sie wollte deren Verabreichung solange wie möglich hinauszögern. „Halt noch ein bisschen durch Schatz!“ murmelte sie vor sich hin. Behutsam begann sie an der linken Schulterwunde die Wundränder zu säubern. Kleine Stofffasern und die Maden pulte sie mit einer Pinzette heraus, spülte mit dem letzten Rest Kochsalzlösung die Wunde aus. Diese Verletzung war entzündet und sah richtig übel aus.


    Ihre Augen tränten von der Anstrengung Sie seufzte vor sich hin. Als sie ungefähr die Hälfte der Wunden gesäubert hatte, teilweise mit einer Naht verschlossen hatte, begann Ben seinen Kopf unruhig hin und her zu bewegen. Anna hatte ihn auf den Bauch gedreht, um leichter die Wunden aus seinen Rücken versorgen zu können. Sein Stöhnen wurde intensiver und lauter. Die Schmerzlaute glichen anfangs einem leisen Wimmern, wurden lauter und lauter. Seine rechte Hand war zu einer Faust geballt. Er krallte sie in die Bodenmatte, dass das weiße seiner Fingerknochen hervortrat. Er versuchte seinen Oberkörper aufzurichten und nur mit Mühe gelang es der jungen Frau ihn zurück in die liegende Position zu drücken.


    „Ben … Ben … alles gut! … Um Himmels Willen bleib liegen! … Bitte!“ flehte sie ihn an. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Qualen er im Moment durchlitt. „Alles gut … alles gut! … Ich gebe dir was gegen die Schmerzen! Aber bitte, bewege dich nicht mehr!“
    Sie drehte sich zu den bereitgelegten Medikamenten um, wählte ein starkes Schmerzmittel aus und verabreichte es ihm. Seine dunklen Augen blickten sie angsterfüllt und voller Schmerz an.
    Für Ben war das Auftauchen aus dem dunstigen Nebel der Dunkelheit, die ihn umgeben hatte, die Rückkehr in die Folterkammer. Irgendein wildes Tier schien sich in seiner linken Bauchseite festgesetzt zu haben und hatte begonnen, daran zu nagen, einzelne kleine Stückchen herauszureißen. Der Schmerz durchflutete jede einzelne seiner Körperzellen. Er wollte seinen Schmerz herausschreien, doch nur ein erbärmliches Stöhnen kam über seine Lippen. Sein Rücken brannte wie ein Höllenfeuer … probierte dieser grauhaarige Sadist wieder seine Schlachtermesser an ihm aus … seine Hände waren frei … er musste sich wehren … aufstehen … wegrennen ….Sein Herzschlag hämmerte … hallte in seinem Kopf wider. Sein Geist war völlig verwirrt … gaukelte ihm furchterregende Bilder vor … weg … er wollte weg … Auf einmal war da diese vertraute Stimme … Anna … was redete sie denn zu ihm … er spürte ihre weiche Hand an seiner Wange … etwas durchströmte seine Adern … verbreitete ein angenehmes Gefühl … der Schmerz ebbte ab. ….Langsam verstand er, was seine Freundin zu ihm sagte.
    „Ich habe es gleich geschafft … nur noch eine dieser grauenhaften Striemen …. Ja, halt nur noch ein bisschen durch! Die kleinen Kratzer schaffst du auch noch!“


    Der Nebel hüllte ihn wieder ein und er schien zu schweben. Langsam driftete er wieder ab in die Schattenwelt.
    Als Anna bemerkte, wie sich der Körper ihres Patienten wieder ein wenig entspannte, fuhr sie mit ihrer Versorgung der Wunden fort. Den Abschluss bildeten die verschorften Brandwunden. Jede einzelne Verletzung führte Anna vor Augen, welche physische Gewalt und Qualen Ben in den letzten Tagen durchlebt hatte. Einige der Verletzungen waren mindestens schon über eine Woche alt. Sie fasste ihn am Oberarm und Schulter an und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Unter seinen Kopf schob Anna eine der zusammengefalteten Decken, die ihr die junge Russin gebracht hat. Mit einer anderen deckte sie ihn sorgfältig zu und versuchte ihn auf der harten Unterlage so gut es ging zu betten. Zärtlich strich sie ihm eine der verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn und studierte sein Gesicht. Keine Regung, kein Zucken eines Muskels entging ihr. Mehr als einmal flatterten seine Augenlider und sie hoffte, dass er diese aufschlug. Längst hatte sie die blutverschmierten Handschuhe abgestreift und auf den Haufen mit blutdurchtränken Kompressen geworfen. Mit ihren Händen umschlang sie seine Rechte. Bildete sie sich es nur ein oder hatte er tatsächlich den Druck ihrer Finger erwidert? Sie verharrte einige Minuten in ihrer knienden Haltung und wartete. Aber aus einem schmerzerfüllten Stöhnen kam keine Reaktion mehr von Ben. Während die letzte Infusion über den Zugang in Bens Venen floss, sortierte Anna ihre verbliebenen Medikamente und das restliche Verbandsmaterial. Alles was sie nicht akut benötigen würde, legte sie zurück in den Rettungsrucksack. Nur Präparate, die sie für den Notfall benötigte, ließ sie griffbereit neben sich auf der Bodenmatte liegen.
    Nachdem sie den leeren Infusionsbeutel ab gestöpselt hatte, lies sie sich völlig erschöpft neben ihrem verwundeten Freund nieder. Mehrmals hatte sie seine Vitalwerte geprüft. Seine Atmung war sehr flach und sie betete inbrünstig, dass sein Kreislauf nicht versagte oder es zu anderen Komplikationen kommen würde. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand an und kämpfte gegen ihre Müdigkeit an. Bens Kopf hatte sie auf ihrem Schoß gebetet. Keine Regung von ihm entging ihr. Mehr konnte sie im Augenblick nicht mehr für Ben tun. In ihren Gedanken betete sie darum, dass Semir sie und Ben finden möge.
    Als draußen ein schmaler Lichtstreif am nächtlichen Himmel den kommenden Tag ankündigte, schlief sie vor Erschöpfung ein.

  • Zurück auf der PAST in der gleichen Nacht


    Semir saß mit Susanne, die er aus dem Bett geklingelt hatte, vor den Monitoren und studierte die Videobänder der Notaufnahme. Seine Augen tränten bereits vor Anstrengung und die sechste Tasse Kaffee bewahrte ihn vor dem Einschlafen. Er schüttelte kurz den Kopf, rieb sich die Schläfen und die Augenlider, als es vor seinen Augen flimmerte.


    „Sollten wir nicht lieber Schluss machen Semir? … Du kannst kaum noch die Augen offen halten! … Machen wir morgen früh weiter! Es ist schon zwei Uhr nachts!“

    „Nein! … Nein!“, verkündete der eigensinnig. „Das letzte Band schauen wir uns auch noch an!“ und seine Beharrlichkeit wurde belohnt. Kaum war das Videoband angelaufen, schrie er Susanne an: „Halt! … Halt! … Spul noch mal zurück … Da … da bei Minute drei und zwanzig Sekunden!“
    Der Türke erhob sich aufgeregt von seinem Stuhl und stellte sich direkt vor den Monitor, in der Hoffnung so noch mehr Details erkennen zu können.
    Man erkannte auf dem Video einen Mann, der es geschickt verstanden hatte, außerhalb des Blickwinkels der Kamera sich dem offen stehenden Rettungswagen zu nähern. Er trug ein graues Kapuzenshirt und hatte sich die Kapuze weit über den Kopf gezogen. Zusätzlich hatte er noch eine Baseballmütze ohne Werbeaufdrucke auf dem Kopf, um sein Aussehen unkenntlich zu machen.
    „Da .. schau der Kerl! … Zoome mal näher ran …!“ Semir deutete aufgeregt auf den Handrücken des Mannes „noch näher! …. Treffer …“ Deutlich konnte man das Tattoo, das einen Skorpion darstellte, erkennen. „Jag das mal durch den Computer Susanne!“
    „Wie jetzt? Semir schau mal auf die Uhr!“
    Doch der kleine Türke gab nicht nach. Genervt rollte die Sekretärin ihre Augen nach oben.
    „Ja jetzt sofort!“, bekräftigte Semir seinen Wunsch, „Es geht um Ben und Anna! … Schon vergessen?“
    „Nein, habe ich nicht. Du brauchst mich auch nicht daran zu erinnern. Ich möchte nur nicht vor lauter Müdigkeit einen Fehler machen!“, rechtfertigte sie ihren Protest gegen die Verlängerung ihrer unfreiwilligen Nachtschicht. Geschickt tippte sie auf der Tastatur herum und durchsuchte die Datenbanken.


    Währenddessen kochte Semir eine neue Kanne Kaffee und tigerte anschließend mit der Kaffeetasse in der Hand durchs Büro. Nach dreißig Minuten wurde Susanne fündig.
    „Hier schau! … das könnte passen!“
    Auf ihrem Bildschirm erschien eine Akte des BKA über eine serbische Söldnertruppe, die sich durch ihre Greueltaten im Kosovo Krieg einen blutigen Ruf verschafft hatte. Deren Erkennungszeichen war diese Tattoo: der bewusste Skorpion. Wieder ein Indiz mehr, das bestätigte, dass mit größter Wahrscheinlichkeit Gabriela Kilic hinter der Entführung von Anna steckte. Zwischen dem Türken und der Sekretärin entbrannte ein neues Wortgefecht, bis Semir endlich einsah, mehr konnte man zu so später Nachtstunde nicht erreichen. Er gab sich geschlagen und versprach Susanne, ebenfalls nach Hause zu fahren, um einige Stunden zu schlafen, als diese völlig übermüdet die PAST verließ. Doch statt heim zu fahren, legte er sich im Bereitschaftsraum zum Schlafen nieder.


    *****


    Nachdem Susanne das Bürogebäude verlassen hatte, begab sich Semir in den Bereitschaftsraum und legte sich auf einer der unbequemen Pritschen zum Schlafen nieder. Er verfiel in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Noch vor Beginn der Frühschicht erwachte er. Als er sich aufrichtete und seine Füße auf den Boden stellte, fühlten sich seine Glieder bleischwer an, so als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Mit müden Schritten schleppte sich der Türke zurück in sein Büro. In trüben Gedanken versunken saß Semir an seinem Schreibtisch. In seiner Verzweiflung rief er trotz der frühen Morgenstunde Andrea auf dem Handy an und riss seine Frau aus dem Schlaf. Es war wie Balsam auf seine Seele ihre Stimme zu hören. Andrea war entsetzt, als er ihr von Annas Entführung berichtete. Sie sprach ihm Mut zu, machte ihm Hoffnung, dass er Ben und Anna finden würde. Um ihn ein bisschen von seinen Sorgen abzulenken, erzählte sie von Aida und Lilly, wie die beiden Mädels zusammen mit Mehmets Kindern am Strand und im Meer spielten und glücklich waren. Aber die Mädchen vermissten ihren Papa. Mehmet und dessen Familie hatten mit Andrea und den Kindern Ausflüge unternommen und alles gemacht, damit der Urlaub in der Türkei ein unvergessliches Erlebnis für die Kinder werden würde. Es war für ihn beruhigend zu wissen, dass seine Liebsten in Sicherheit waren. Doch er war auch gleichzeitig unsagbar traurig darüber, dass er nicht bei seiner Familie sein konnte. Zum Abschied versprach er seiner Frau, „Andrea! Versprochen! Sobald ich Ben und Anna gefunden habe, sitze ich im nächsten Flieger und komme zu euch!“ Er hauchte einen liebevollen Kuss auf das Display.


    In Wehmut zu verfallen, würde ihm nicht helfen seine beiden Freunde zu finden. Also versuchte er sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Über Interpol hatte er eine weitere Suchanfrage zu dieser serbischen Spezialeinheit gemacht. Die Antwort des BKAs stand noch aus. Wahrscheinlich würde sich erst mit Beginn des normalen Dienstes dort jemand die Mühe machen, die Anfrage zu sichten und zu beantworten.
    Zum X-ten Mal hatte er alle Berichte studiert, die mit dem Verschwinden von Ben und dem Ausbruch von Gabriela Kilic zusammenhingen. Er war sich sicher, irgendein winziges Detail hatte er übersehen. Diesen einen entscheidenden kleinen Hinweis … Der kleine Türke fühlte sich so hilflos, er suchte im wahrsten Sinn des Wortes nach der Stecknadel im Heuhaufen.

  • So nach und nach trudelten die ersten Kollegen der Frühschicht ein und erkundigten sich nach dem Stand der Ermittlungen. Die Gespräche lenkten Semir ein bisschen ab, bis Susanne als Letzte gegen neun Uhr eintraf. Sie musterte den Kommissar von oben bis unten und schüttelte den Kopf. Der Türke war unrasiert, die Kleidung zerknittert und dunkle Ringe lagen um seine geröteten Augen.


    „Guten Morgen, Semir!“, begrüßte sie ihn „Sag nichts, du hast den Rest der Nacht hier verbracht oder!“ Sie erwartete gar keine Antwort und hielt ihm statt dessen eine Tüte vom Bäcker hin, der in der Nähe ihrer Wohnung eine Filiale hatte. „Hier Frühstück! … Essen und keine Widerrede! Andrea killt mich sonst!“
    Semir zog sich in sein Büro zurück. Neben einem belegten Brötchen und zwei Croissants fand er auch einen großen Becher mit extra starken Kaffee in der Papiertüte. Ohne Appetit vertilgte er das Essen und schlürfte langsam das heiße Getränk. Dabei beobachtete er das Treiben im Großraumbüro. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass Frau Krüger noch nicht eingetroffen war. Mit dem Kaffeebecher in der Hand stellte er sich neben Susannes Schreibtisch.
    „Wo bleibt denn die Krüger heute? Weißt du was?“
    Die Sekretärin zuckte mit den Schultern und setzte zu einer Antwort an „Naja, das war vielleicht ….“


    Frau Krüger betrat im gleichen Augenblick die PAST, gefolgt von Oberstaatsanwalt van den Bergh. Die vergangene Nacht hatte auch die Chefin gezeichnet. Ihre Augen lagen tiefer in den Höhlen und hatten dunkle Ringe. Sie hielt an Susannes Schreibtisch inne. Nach einer Begrüßung in die Runde, ordnete sie eine Besprechung im großen Besprechungszimmer in zehn Minuten an, um alle Beteiligten der Dienststelle auf den aktuellen Stand der Ermittlungen zu bringen. Der Anblick des Staatsanwalts, dem Semir nach wie vor eine Hauptschuld an der Entführung von Anna gab, wirkte auf ihn wie ein rotes Tuch. Doch er riss sich zusammen und beherrschte sich. Das Klingeln seines Handys lenkte ihn zusätzlich ab. Er fischte das Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und blickte auf das Display. Hartmut rief an. Er drehte sich um, schaute durch das Fenster auf den Parkplatz hinaus und nahm das Gespräch an.


    „Guten Morgen Einstein! Sag mir bitte, dass du was gefunden hast!“ Angespannt lauschte der Kommissar den Ausführungen seines Kollegen. „Sehr gut! … Sehr gut … Endlich mal ein Lichtblick! … Schick mir alles, was du zu dem Kerl gefunden hast! … Und du hast etwas gut bei mir Hartmut!“
    Eine gewisse Erleichterung spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder, als er das Gespräch beendet hatte und sein Handy in der Hosentasche verstaute. Erwartungsvoll schaute ihn Susanne an.
    „Hartmut hat an Annas Wagen einen verwertbaren Fingerabdruck sichern können. Dazu gibt es einen Volltreffer in der Datenbank das BKAs. Er sendet uns alles per Mail rüber!“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als an Susannes Bildschirm ein Popup aufblinkte. ‚Sie haben eine neue Nachricht‘.
    „Ja mach halt“, forderte er ungeduldig.
    Susanne öffnete die Mail und den dazugehörigen Dateianhang. Darin befand sich eine Ermittlungsakte, auf der sich das Passbild von Remzi Berisha befand, das schon ein paar Jahre alt war. Darauf waren die Haare des Serben noch schwarz und er trug einen dunklen Vollbart. Das BKA war vor einigen Jahren auf ihn im Laufe von Ermittlungen gestoßen, die im Zusammenhang mit Waffenschmuggel im Bosnienkrieg durchgeführt worden waren. Damals konnte ihm nichts nachgewiesen werden, so dass der erlassene internationale Haftbefehl wieder zurückgenommen wurde. Darüber hinaus stand er auch im Verdacht, als Ausbilder in diversen Söldnercamps tätig gewesen zu sein.
    „Susanne fordere mir alle Unterlagen vom BKA an, an die du ran kommst! … Ach ja, und schalte Interpol ein, vielleicht kennen die den Typen ja auch. Ich informiere zwischenzeitlich Frau Krüger, falls die überhaupt aufnahmefähig ist, für solche Fakten“, meinte er lakonisch und setzte sich in Bewegung Richtung Büro der Chefin.
    „Ähm Semir, schon vergessen?“, unterbrach ihn Susanne und erhob sich gleichzeitig von ihrem Bürostuhl „Wir haben gleich Besprechung im großen Besprechungsraum!“ Sie deutete auf den Flur „Da geht es entlang.“


    Semir brummte nur eine Antwort und folgte seiner Kollegin. Sie waren die Letzten, die dort eintrafen. Im Besprechungsraum waren neben Dieter Bonrath und Jenny noch vier weitere Kollegen vom Streifendienst anwesend. Der Oberstaatsanwalt lehnte lässig an einem Fensterbrett und hielt seine Arme vor der Brust verschränkt, während er den Ausführungen folgte, die Kim Krüger hielt. Die Chefin der PAST stand vor der Videoleinwand und informierte die Anwesenden über die Vorkommnisse und Ermittlungsergebnisse der vergangenen Nacht auf dem Parkplatz der Uni-Klinik. Als sie geendet hatte, übergab sie das Wort an Susanne und Semir, die ihrerseits ihre neuesten Erkenntnisse mit Hilfe der Videoleinwand darlegten. Zum Schluss kam das Foto von Remzi Berisha als möglichen Entführer von Anna.


    An dieser Stelle fiel ihm der Oberstaatsanwalt ins Wort und meine mit einem süffisanten Unterton.
    „Respekt Herr Gerkan! Sie waren ja mächtig fleißig gewesen vergangene Nacht!“
    Dieser Satz wirkte auf Semir wie eine Provokation und er stapfte auf den Oberstaatsanwalt zu. Innerhalb von einer Minute entbrannte zwischen den beiden Männern ein heftiger Streit.
    „Verdammt noch Mal es reicht jetzt meine Herren!“, brüllte Kim Krüger los und schlug mit voller Wucht die Akten in ihrer Hand auf die Tischplatte. Es gab einen mächtigen Knall, der die Anwesenden zusammenzucken ließ. „Mit diesen gegenseitigen Schuldzuweisungen kommen wir keinen einzigen Schritt weiter.“
    Sowohl der Hendrik van den Bergh, als auch Semir verstummten und starrten Kim an. Gleichzeitig ging Bonrath zu seinen Kollegen, umfasste dessen linken Oberarm mit einem eisernen Griff und zog ihn vom Staatsanwalt weg. Mit seiner ruhigen Stimme sprach er auf Semir ein.
    „Lass mal gut sein Semir!“ Der schlaksige Mann stellte sich praktisch als Prellbock zwischen dem Türken und van den Bergh.


    „Danke!“, murmelte Kim in Richtung ihres Dienst-ältesten Mitarbeiters. „Ich denke, wir sollten alle unseren Job machen, umso größer sind die Chancen, Frau Dr. Becker und Herrn Jäger wieder zu finden.“ Sie drehte sich zum Oberstaatsanwalt. „Hendrik, die Beweise von Herrn Freund sollten doch ausreichen, um gegen diesen Remzi Berisha einen Haftbefehl zu erwirken und diesen zur Fahndung ausschreiben zu lassen? Kümmerst du dich darum? … Am besten sofort!“, meinte sie bestimmend.
    „Natürlich!“, gab dieser etwas kleinlaut zurück, zückte sein Handy aus der Anzugjacke und verließ den Raum.
    „Gut! Ich setze mich selbst mit dem BKA in Verbindung und mache den Herrschaften mal Feuer unterm Hinterm, damit die die Daten und Unterlagen zu diesem Remzi Berisha so schnell wie möglich rausrücken!“ So verteilte sie nach und nach Aufgaben an die einzelnen Beamten, bis zum Schluss nur noch sie und Semir im Raum verweilten.


    „Sie haben zusammen mit Frau König vergangene Nacht hervorragende Arbeit geleistet!“ Ihr Tonfall wurde ruhig und fast schon ein wenig beschwörend. „Herr Gerkan, bitte, wir alle haben Fehler gemacht. Sie …. Ich … der Oberstaatsanwalt! … Wir haben alle die Gefahr unterschätzt, in der Frau Becker schwebte. Doch nichts und niemand kann es rückgängig machen. Verstehen sie?“
    Semir verstand worauf seine Chefin hinauswollte und blickte etwas schuldbewusst zu Boden.
    „Wenn wir uns hier gegenseitig zerfleischen, hat letztendlich nur eine gewonnen: Gabriela Kilic!“, fuhr Kim mit ihrer Ansprache fort und umfasste die Schultern ihres Mitarbeiters. „Bitte! …“
    „Schon gut … schon gut Chefin! … Ich werde mich zukünftig beherrschen!“, lenkte er etwas zerknirscht ein.
    „Danke! Und keine Sorge, ich werde mit Herrn van den Bergh ebenfalls diesbezüglich noch ein ernstes Gespräch führen.“ Sie zog einen Notizzettel aus der Ermittlungsakte, die Susanne ihr zu Beginn der Besprechung übergeben hatte. „Ich denke die Adresse in Düsseldorf werden sie selbst überprüfen wollen. Anschließend fahren sie bitte nach Hause, duschen sich und frische Kleidung würde auch nicht schaden.“, meinte sie mit einem leichten Lächeln im Mundwinkel.


    Der Türke steuerte den Ausgang der PAST an, nicht wissend, dass ab diesem Augenblick, als er in seinen silbernen BMW einstieg und vom Parkplatz der Dienststelle fuhr, jeder seiner Schritte beobachtet wurde.

  • Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das große Fenster in den Kellerraum. Die Wärme der Sonne war es, die Anna weckte. Sie schlug die Augen auf. Die Helligkeit der Sonnenstrahlen blendeten sie im ersten Moment. Zuerst blinzelte sie ein bisschen und überlegte, wo sie sich befand. Mit einem Schlag kehrten alle Erinnerungen zurück. Das Gewicht von Bens Kopf lastete auf ihrem rechten Oberschenkel. Sie strich ihm zärtlich über das bleiche Gesicht und tastete nach seinem Puls an der Halsvene. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie das kräftige Pochen spürte. Wie nahe er in diesem Augenblick mit seinem Kopf bei seinem Kind war. Die junge Frau schloss wieder die Augen und horchte in sich hinein, ob sie irgendetwas von diesem kleinen Wesen in sich spürte. Der Termin bei ihrer Frauenärztin wäre heute gewesen. Sie hatte sich schon so darauf gefreut, das Baby auf dem Ultraschall zu sehen. Wehmut überfiel die junge Frau. Auch wenn die Schwangerschaft ungeplant war, das Schicksal hatte entschieden und letztendlich wollten sie und Ben ja zusammen Kinder haben. Gedankenverloren streichelte Anna ihrem Freund über die Wangen.


    In den letzten Tagen hatte sie lange darüber nachgedacht, wann es zu der Schwangerschaft gekommen sein könnte. Es blieb nur eine Begebenheit übrig, die Geburtstagsfeier zum 60. Geburtstag von Konrad Jäger oder die Tage danach. Sie hatte sich an jenem Tag furchtbar mit Peter Kreuzer, Julias Mann, gestritten. Peter hatte ihr, wie so oft, unterstellt, dass sie nur an Bens Geld interessiert sei. Er hatte versucht, sie vor den anwesenden Verwandten der Familie Jäger und Bekannten bloß zu stellen. Sie war damals so wütend über sich selbst gewesen, dass sie auf sein intrigantes Spiel hereingefallen war. Das beherzte Eingreifen von Ben und Julia hatten Schlimmeres verhindert. Nur etwas konnte Ben an jenen Abend nicht verhindern, Anna trank zu viel Bowle und Rotwein und hatte einen regelrechten Blackout.


    Sie wusste nicht mehr, wie und wann Ben sie ins Gästehaus gebracht hatte. Nur etwas hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, den Rest der Nacht und teilweise den darauffolgenden Vormittag hatte sie vor der Toilette im Badezimmer des Gästehaueses verbracht. Ben hatte sich so rührend um sie gekümmert, als sie vor sich hin gejammert hatte, sie würde sterben und nie wieder in ihrem Leben Alkohol trinken. Sie hatte in der Folge noch tagelang Probleme mit ihrem Magen gehabt, der ihr das Saufgelage richtig übel genommen hatte. Seit jenem Tag hatte sie keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, nicht einmal im Italienurlaub.
    Im Nachhinein betrachtet, könnte sich Anna für ihre eigene Dummheit selbst ohrfeigen. Naiv, wie ein unerfahrener Teenager hatte sie sich benommen, auf eine zusätzliche Verhütung verzichtet, obwohl Ben ihr mehrmals vorgeschlagen hatte, ein Kondom zu verwenden. „Sicher ist sicher!“, meinte er damals und sie hatte nur gelacht, weil sie der Meinung war, die Pille würde wirken. Tja, da hatte sie sich wohl gründlich getäuscht.


    Anna schüttelte unbewusst ihren Kopf, war schon irgendwie ein Witz, da war sie selbst Ärztin und hatte nicht mal bemerkt, dass sie seit mehreren Wochen schwanger war. Das Unwohlsein am Morgen und ihre Stimmungsschwankungen hatte sie auf den Stress und die Hektik auf der Arbeit geschoben, dazu kamen die Sorgen um Ben. Sie hatte die Anzeichen ihres Körpers einfach ignoriert. Ihre Hand wanderte zu ihrem leicht gewölbten Unterbauch und die andere Hand an Bens Wange, die sie leicht in Richtung ihres Bauches drückte.
    Leise murmelte sie: „Hörst du mein Schatz? … Da drinnen schlägt das kleine Herz unseres Babys? Spürst du die sanfte Wölbung meines Bauches? … Da drinnen wächst es heran und du ahnst noch gar nichts von dem kleinen Wesen. … davon das du Vater wirst … Es ist unser Baby … Ben! … Unsere gemeinsame Zukunft als Familie!“


    Sie seufzte abgrundtief auf. Von einer Sekunde zu anderen übernahmen düstere Gedanken ihr Denken. Sie schalt sich eine einfältige Närrin. Von welcher gemeinsamen Zukunft träumte sie denn? Die Realität sah anders aus. Ben und sie waren Gefangene dieser von Rachsucht besessenen Frau. Flucht? Niemals … niemals würde sie Ben noch einmal im Stich lassen … alleine lassen. Und Rettung? Würden Semir und seine Kollegen sie jemals finden? Die nächste Frage keimte in ihr auf. Hätte sie das hier alles verhindern können, wenn sie Ben geglaubt hätte? Die Entführung? All die Qualen, denen er ausgesetzt war? Es ließ sich nicht mehr ändern. Jetzt und hier ging es nur noch ums Überleben. Anna durchfuhr ein Schauer nach dem anderen. Die Gänsehaut rannte über ihren Körper. Sie merkte wie eine unbeschreibliche Angst sie in Besitz nahm, fast schon übermächtig wurde. Mit all ihrem Willen, den sie aufbrachte, kämpfte sie dagegen an. Noch lebten sie? Noch gab es Hoffnung? Es war langsam an der Zeit, den Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, näher in Augenschein zu nehmen. Sie zwang sich ihre Augen aufzuschlagen und scannte regelrecht den Fitnessraum. Ihr gegenüber befand sich die Eingangstür. Links neben der Tür waren im Halbkreis verschiedene Fitnessgeräte aufgestellt, die sie aus ihrem Sportscenter kannte. Unter dem einzigen Fenster befand sich eine Ruderbank. Ein Teil des Kellergeschosses ragte aus dem Erdreich heraus. Das Kellerfenster glich einem Panorama-Fenster und erstreckte sich fast über die komplette Breite des Raumes. Nur links und rechts war ein schmaler Streifen Mauerwerk. Es begann unterhalb der Decke und endete knapp über dem Erdreich. Doch es gab kein Entkommen. Ein Eisengitter war vor dem Fenster angebracht worden. Die einfallenden Sonnenstrahlen zeichneten durch das Gitter bizarre Muster an die gegenüberliegende Wand. Dahinter lag ein Badezimmer. Bei diesen Gedanken meldete sich ein menschliches Bedürfnis. Vorsichtig schälte sie sich unter Ben hervor und bettete seinen Kopf auf dem provisorischen Kopfkissen. Ihre Beine waren von der starren Sitzhaltung völlig steif und schmerzten, als sie sich aufrichtete. In ihrem rechten Bein kam die Blutzirkulation in Gang und es kribbelte in den Zehen, als würde eine Heerschar Ameisen daran hochlaufen. Langsam, ein bisschen humpelnd, bewegte sich Anna auf die Badezimmertür zu. Als sie sich auf der Toilette erleichterte, ließ sie ihren Blick im Raum umherschweifen. Verglichen mit dem Bad in ihrer Wohnung, war dieser Raum in seinen Dimensionen ein Tanzpalast. Es war in schwarzem Marmor gehalten, der mit feinen weißen Fäden durchzogen war. Das Waschbecken, die Toilette und die begehbare Dusche waren in Grautönen gehalten und bildeten einen farblichen Kontrast. In einer Ecke lagen auf einem Haufen getürmt, benutzte Handtücher und Duschtücher. Nach dem Händewaschen öffnete sie die verschiedenen Fächer des Badezimmerschrankes unter dem Waschbecken. Außer einem Vorrat an frischen Handtüchern befand sich nichts darin. Durch den Türspalt drang das Stöhnen von Ben zu ihr und mahnte sie zur Eile.


    Ben hatte sich auf seine rechte Seite gedreht. Anna umrundete die Bodenmatte und sank neben dem Verletzten auf die Knie. Mit Hilfe von Stethoskop und Blutdruckmanschette prüfte sie gründlich Bens Vitalwerte. Mehr als einmal war ein leises Stöhnen über seine Lippen gekommen. Er regte sich ein wenig und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis Ben erwachen würde. Sie prüfte die verbliebenen Ampullen mit Schmerzmittel und spritzte ihrem Freund eines der Medikamente, dessen Wirkung sollte zumindest die Schmerzen der Operation etwas dämpfen. Sie verharrte noch einige Minuten in der knienden Haltung und beobachtete Ben. Langsam wanderte ihr Blick über die Bodenmatte und deren Umgebung. Überall befanden sich eingetrocknete Blutspritzer, lagen blutdurchtränkte Kompressen und Verbandsmaterial, Operationsbesteck. Es glich einem Schlachtfeld.


    Am Ende der Fußmatte stand der Weidenkorb mit ein wenig Obst, belegten Broten und Mineralwasserflaschen. Ihr Magen grummelte vor sich hin und signalisierte ihr: Hunger. Sie holte sich eine Banane und einen Apfel aus dem Weidenkorb, biss mit Appetit hinein. Während sie hungrig das Obst vertilgte, führte ihr Gang in Richtung des Fensters. Dort stellte sie zu ihrer Enttäuschung fest, sie war wieder einmal einige Zentimeter zu klein geraten war, denn sie konnte den Fensterriegel nicht ergreifen. Auf dem zweiten Blick erkannte sie zudem, dass dieser abgeschlossen war. Keine Chance auf frische Luft. Sie drehte sich um und verharrte in der Bewegung. Ben war zwischenzeitlich wach geworden und beobachtete sie aus seinen dunklen Augen. Anna eilte zu ihm hin und fiel vor ihm auf die Knie.


    Als Ben langsam wieder zu sich kam, öffnete er die Augen. Sein Blick wanderte in Richtung des Fensters, wo er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Dann erkannte er Anna. Sie trug eine hellblaue Leinenhose und darüber ein cremefarbenes Shirt. Ihre Kleidung war mit Blutflecken übersät. Er wurde sich bewusst, was geschehen war. Seine Hand wanderte zu der Schussverletzung am Bauch, tastete über den Rand eines großen Wundpflasters. Das wütende Tier, welches ihn innerlich aufgefressen hatte, war verschwunden, der Schmerz auf ein erträgliches Maß reduziert. Seine Kehle brannte, er hatte furchtbaren Durst. Er setzte an, nach ihr zu rufen, als sie sich zu ihm umdrehte. Ein freudiges Leuchten huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, dass er wach war. Sie eilte auf ihn zu und kniete sich neben ihm nieder und er schaffte es tatsächlich, dass ein Laut über seine spröden Lippen kam.


    „Durst …!“ krächzte er.


    Sie schob ihre Hand unter seinem Kopf, hob ihn an und ließ ihn aus einer Mineralwasserflasche, die in Reichweite gestanden hatte, trinken.


    „Besser?“ fragte sie und er nickte. „Wie fühlst du dich?“


    „Als wäre ich … bei einem … Crash zwischen zwei LKWs geraten!“, ächzte er.


    Annas Hand hielt fortwährend seinen Kopf. Sie war ihm so nahe. Ihr vertrauter Geruch, seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und er zog sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen fanden. Es war ein Augenblick des Friedens für beide, bis sie sich voneinander lösten.

  • „Ich liebe dich!“, raunte Anna ihm zu und legte seinen Kopf sanft zurück auf die Unterlage. Ihr entging nicht, wie ihr Freund das Gesicht schmerzhaft verzog.
    „Hast du starke Schmerzen?“, fragte sie besorgt nach.
    „Hmm!“, brummte er, „ist gerade noch auszuhalten!“ Er wandte den Kopf ein wenig von ihr weg und sein Körper verspannte sich, als er sich ein wenig bewegte.
    „Ben, was ist los?“ Sie umfasste sein Kinn und drehte den Kopf in ihre Richtung.
    Er seufzte auf und blickte sie an. „Ich fühle … mich schuldig! …. Ich bin daran schuld, dass du entführt wurdest … Wegen mir schwebst du in Lebensgefahr! … Wenn ich …!“
    „Scht!“, wisperte Anna und legte ihren Finger auf seine Lippen und versuchte Optimismus auszustrahlen. „Scht! … Vergiss es! … Rede nicht so! Noch sind wir am Leben! …und auch du hast eine Chance am Leben zu bleiben!“
    „Hast du es geschafft? … Ist … die … Kugel draußen?“, wisperte er und sie sah, wie seine Finger unter der Decke über die Bauchwunde strichen.
    „Ja!“, hauchte Anna, „Ich habe dir sogar beide Kugeln rausgeholt!“ In seinen Augen stand eine unausgesprochene Frage. „Und ja, du hast eine realistische Aussicht zu überleben. Verstehst du?“
    Mit wenigen Worten beschrieb sie ihm den Schaden den das Geschoss in seinem Bauchraum angerichtet hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Inhalt ihrer Antwort begriff. Das Schicksal hatte sich als gnädig erwiesen. Es gab die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft mit Anna, wenn sie aus diesem Gefängnisloch entkommen könnten. Sie fuhr mit ihrer Erklärung fort, „Ich will dir nichts vormachen Ben.“ Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf den verteilten Inhalt des Rettungsrucksacks und des Notarztkoffers. „Ich habe nicht mehr viele Medikamente, um dir zu helfen. Nur noch wenige Schmerzmittel … kein Antibiotika … nichts. … Wirst du das trotzdem schaffen?“
    Für einen Moment verflochten sich ihre Finger ineinander.
    „Ja … Keine Sorge, … ich habe die Hölle schon hinter mir, … viel schlimmer kann es nicht mehr werden!“ Der Ansatz eines Lächeln zeichnete sich in seinem Mundwinkel ab. „Alles wird gut, weil du wieder bei mir bist!“
    „Gut! … Bist du bereit, ich muss mir die Wunden anschauen.“ Sie hielt ihm ein Stück Verbandsstoff hin „Zum drauf beißen!“


    Er schob sich das Stückchen Mull zwischen die Zähne. Währenddessen schlug Anna die Decke zurück und löste das Wundpflaster. Aus der Bauchwunde sickerte durch die provisorische Wunddrainage Sekret. Sie versorgte diese und die anderen Wunden. Mehr als einmal sog Ben deutlich hörbar die Luft ein, als die Wogen des Schmerzes über ihn hereinbrachen. Sein gepresstes Stöhnen, seine Schmerzensschreie wurden von dem Stück Stoff in seinem Mund erstickt. Seine Finger hatten sich in die Decke gekrallt, bis das Weiße der Fingerknöchel hervortrat. Zu ihrer Verwunderung schaffte er es dennoch relativ ruhig liegen zu bleiben. Als Anna mit der Behandlung fertig war, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Krampfhaft versuchte er seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen und Herr über seine Schmerzen zu werden.


    Nach einigen Minuten ächzte er: „Wie … schaut es aus? … Zufrieden?“
    „Ja, sieht alles gut aus!“ gab sie als Antwort zurück und strich ihm zärtlich über die Stirn.


    Sie wollte ihn nicht beunruhigen, er fühlte sich warm an und seine Augen hatten einen leicht glänzenden Ausdruck. Die Wundränder der Schusswunde im Bauchraum waren angeschwollen und dunkelrot. In der entzündeten Wunde an der Schulter und einer weiteren Verletzung am Rücken hatte sich abermals eitriges Sekret gebildet und sie hatte keinen Plan, wie sie diese ohne Narkose reinigen sollte, ohne Ben über die Maßen zu quälen. Selbstzweifel plagten sie, hatte sie nicht sauber und sorgfältig in der Nacht gearbeitet, war die Entfernung der Kugel im Bauchraum so sinnvoll gewesen oder hatte diese Operation Bens geschundenen Körper nur noch mehr geschwächt? Hatte sie mehr zerstört als geholfen? Doch da war auch diese tödliche Bedrohung durch die Kroatin gewesen. Hatte sie denn eine Wahl gehabt?


    Seine nächste Frage riss sie aus ihren düsteren Gedanken. „Anna, weißt du etwas von Julia?“ Den Rest der Frage, vom geplanten Attentat, konnte er nicht aussprechen, zu sehr quälten ihn diese Erinnerungen. Ein Strahlen huschte über Annas Gesicht.
    „Julia und dem Kleinen geht es gut! Ich habe sie erst gestern Nachmittag besucht. Ihnen ist bei dem Anschlag nichts passiert und sie werden mittlerweile gut bewacht! An die beiden kommt nicht einmal eine Maus heran!“
    „Dem Kleinen?“, fragte er überrascht und richtete seinen Kopf und Oberkörper ein wenig auf, um gleich drauf mit einem Stöhnen wieder zurückzusinken.
    „Ja, du bist Patenonkel … Julia hat einen Sohn, ein Grund mehr zu kämpfen … durchzuhalten. Du willst ihn doch sehen, den kleinen Finn … in den Händen halten …!“


    Anna setzte sich bequem hin, ließ den Verletzten nochmals aus der Mineralwasserflasche trinken und bettete anschließend seinen Kopf auf ihrem Schoß. Ihr war das Aufleuchten seiner Augen nicht entgangen und so erzählte sie haarklein jedes Detail von dem Besuch bei Julia und Finn und dem Gespräch mit seinem Vater auf dem Krankenhausflur. Dabei spielte sie mit seinen Haarsträhnen, versuchte sie mit ihren gespreizten Fingern zu glätten. Sie beschrieb ihm ausführlich das Baby und wie glücklich seine Schwester war. In dem Augenblick, als sie ansetzte, um ihm zu erzählen, dass sie ebenfalls schwanger sei, vernahm sie dieses Verräterische: Klick … Klick.

  • Ein Schlüssel wurde im Türschloss umgedreht und mit einem lauten Knall flog die Tür auf und schlug gegen die Wand. Anna spürte, wie Ben anfing zu zittern, als Remzi auf sie beide zu marschiert kam. Gabriela stand unter dem Türrahmen und zog angewidert die Nase hoch, als ihr der penetrante Geruch aus dem Raum entgegen schlug.


    „Der Kerl lebt noch!“, lautete der kurze Kommentar des Serben über die Schulter in Richtung der Tür. Die Kroatin näherte sich ebenfalls dem Verletzten und seiner Freundin an.
    „Du scheinst ja echt was drauf zu haben Herzchen!“, meinte sie anerkennend. „Wird nur Zeit, dass du hier mal sauber machst! Es sieht hier nicht nur aus wie in einem Schweinestall, es stinkt auch so!“ Sie musterte die junge Frau von oben bis unten verächtlich.
    „Vielleicht sollte man dir zuerst mal eine Dusche verpassen! Ich kann dir gerne dabei ein bisschen Gesellschaft leisten!“, griff der Grauhaarige in das Gespräch ein und trat neben Anna.


    In Remzis Augen leuchtete das Begehren auf. Er packte mit der einen Hand Annas Arm und mit der anderen ergriff er ihren Pferdeschwanz, wickelte ihn um seine rechte Hand und zog sie rücksichtslos in die Höhe. Anna schrie vor Schmerz und Angst auf. Sie konnte seinen widerlichen Atem riechen, so nahe drückte er sie an sich ran. Sie versuchte sich aus dem Klammergriff zu winden, jedoch gegen die Bärenkräfte des Söldners hatte sie keine Chance. Er hatte die junge Ärztin so gedreht, so dass sie mit ihrem Rücken direkt vor ihm stand. Mit seinem starken Arm drückte er gegen ihren Bauch und fixierte ihr linkes Handgelenk. Ihr rechter Arm war bewegungsunfähig eingeklemmt. Sie keuchte und ihr Herzschlag fing an zu rasen. Die junge Frau versuchte die aufkommende Panik, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Sie merkte, wie alle Techniken und Kniffe, die ihr Lehrer ihr im Selbstverteidigungskurs beigebracht hatte, wirkungslos verpufften. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich aus dem Klammergriff des Grauhaarigen nicht befreien. Angestachelt durch ihre Abwehrreaktionen, machte Remzi weiter. Gierig presste er seine Lippen auf ihren Hals, seine Zunge sabberte an ihrem Hals entlang, dabei keuchte er lüstern auf. Deutlich hatte sie spüren können, dass sich sein Penis dabei verhärtete und gegen ihre Gesäßmuskeln drückte.


    „Na komm schon Schätzchen, so einen kleinen Vorgeschmack kannst du mir gönnen! … Gleich unter der Dusche!“ Erneut versuchte sich Anna aus der Umklammerung zu lösen, nach hinten auszutreten. „Ja mach weiter so, du kleine Wildkatze. Mir gefallen Frauen mit Temperament! Spürst du es … ich kann es dir gleich besorgen!“ Rüde griff er mit der anderen Hand von oben in den Ausschnitt nach ihrer Brust, quetschte diese zusammen und grunzte erregt vor sich hin. „Boah Schätzchen, du hast ja richtig geile T.itten.“ Remzi kam langsam so richtig in Fahrt. Seine andere Hand bahnte sich ihren Weg zu Anna Hosenbund. Über den Bauchnabel suchte er seinen Weg zu ihrer Körpermitte. „Freust du dich auf mich? … Ich kann dich gleich hier nehmen und es dir besorgen!“


    Die Angst um ihr ungeborenes Kind trieb Anna an den Rand des Wahnsinns. Sie schrie völlig hysterisch vor sich hin, wand sich unter dem eisenharten Griff des Söldners. Panisch schlug sie um sich, hatte in diesem Augenblick sämtliche Kunst der Selbstverteidigung vergessen.


    Gabriela kicherte im Hintergrund vor sich hin. Diese Vorstellung von Remzi mit der Wildkatze gefiel ihr. In den Augen der Kroatin war dies ganz großes Kino … ja so, so hatte sie sich es vorgestellt. Sie weidete sich förmlich am Elend der jungen Frau und des Verletzten am Boden. Dessen Pupillen weiteten sich vor Angst und Sorge um seine Freundin. Sie sah seine verzweifelten Bemühungen, sich zu bewegen und kicherte noch lauter vor sich hin.


    In Ben flackerte eine unheimliche Wut und Hass auf den Grauhaarigen auf. Er wusste wozu dieser Kerl in der Lage war. Schon allein die Vorstellung, was dieser Folterknecht seiner Freundin antun wollte, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Der Dunkelhaarige wollte nur noch seine Freundin beschützen. Der Schmerz, seine Verletzungen, all das wurde in den Hintergrund gedrängt. Das Adrenalin, welches in diesem Augenblick durch seine Adern schoss, mobilisierte tief verborgene Energiereserven. Mit seiner rechten Hand tastete er den Boden ab und fand ein Skalpell, das von der nächtlichen OP noch neben ihm lag. Wie in einem Tunnelblick fixierte Ben die Wade seines Widersachers. Eisern umklammerte er in der geballten Faust das Instrument. Unbemerkt von Remzi richtete er sich über seine linke Seite etwas auf. Aus der Körperdrehung heraus rammte er mit voller Wucht das Messer in den Wadenmuskel des Söldners und zog die Klinge durch den Muskel. Vor Überraschung und Schmerz jaulte Remzi lautstark auf und lies Anna augenblicklich los. Diese taumelte rückwärts bis zur Wand und glitt daran entlang haltlos zu Boden und verfiel in einer Art Schockstarre. Kraftlos sank Ben zurück auf die Bodenmatte und Gabrielas Lachen verstummte im Hintergrund augenblicklich.


    Ungläubig betrachtete der Grauhaarige sein Bein, in dem das Skalpell noch steckte. Er spürte wie langsam das Blut aus der Wunde rann. Sein Gesicht verwandelte sich in eine wutverzerrte Fratze und er wandte sich dem Verletzten zu.
    Wütend brüllte er auf: „Du Bastard! … Elender Bastard! … Schon wieder so viele Lebensgeister? … Da kann man Abhilfe schaffen! Dir werde ich Manieren beibringen!“
    Er bückte sich und zog das Messer aus seinem Bein und schleuderte es achtlos bei Seite. Anschließend holte er mit seinem verletzten Bein aus und trat mit voller Wucht gegen Bens Handgelenk, der nächste Tritt landete in der linke Seite. Die gellenden Schmerzensschreie des Schwerverletzten, der sich am Boden krümmte, hallten durch den Raum … durch das komplette Haus.


    „Hör auf Remzi!“, befahl Gabrielas Stimme bereits nach dem ersten Tritt aus dem Hintergrund. Einige Oktaven höher und schriller wiederholte sie den Befehl, „Hör auf! … Tot nützt uns der Kerl erst mal nichts!“
    Remzi trat blind vor Wut erneut zu. Sie zog ihre Waffe aus dem Hosenbund und schoss in die Zimmerdecke. Der Grauhaarige erstarrte und hielt inne.


    „Hör auf! Der Kerl soll noch ein bisschen leben! Verstanden! Lass die Finger von der Kleinen! … Alles zu seiner Zeit! Reiß dich zusammen, wir haben noch etwas vor! Wenn du es so nötig hast, dann nimm dir die Russin! … Komm jetzt!“, befahl sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.


    Notgedrungen ließ Remzi von seinem Opfer ab. Vor Schmerz und Wut atmete er keuchend ein und aus. Auf dem Weg zur Tür lag der Notarztrucksack, der den aufgestauten Groll des Söldners abbekam. Ein wütender Tritt des Grauhaarigen ließ den Rucksack quer durch das Zimmer fliegen. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Absichtlich trat er mit dem Absatz seines Stiefels auf Medikamentenampullen, die zerbarsten. Ein anderer Teil der Ampullen war davon gerollt und teilweise unter die Fitnessgeräte gekullert. Humpelnd und vor sich hin schimpfend, folgte Remzi der Kroatin. Diese grinste zynisch vor sich hin, als sie beim Verlassen des Raumes die junge Frau im Hintergrund leise wimmern hörte. Gut, dachte sie bei sich, sehr gut, die kleine Wildkatze ließ sich also doch einschüchtern. Genugtuung machte sich in ihr breit. Keiner widersetzte sich ihr. Währenddessen waren die Schreie des Polizisten verstummt, der regungslos am Boden lag.

  • Anna saß wie ein Häufchen Elend zusammengekauert am Boden. Ihre Tränen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg über ihre Wangen, sie zitterte am ganzen Körper und nahm das Geschehen um sie herum überhaupt nicht mehr wahr. Bens Schmerzensschreie, die wie durch Watte zu ihr durchgedrungen waren, waren verstummt. Sie war wie gelähmt, unfähig sich zu bewegen, rationell zu denken. Mit tränenerstickter Stimme murmelte sie monoton, gleich einer Beschwörung vor sich hin, „Semir … bitte finde uns! … Oh Gott! Semir, wo bleibst du nur! …Semir!“


    *****
    Auf dem Weg ins Erdgeschoss spuckte Remzi Berisha Gift und Galle, verwünschte seinen Leichtsinn, dass er den verletzten Polizisten wieder einmal unterschätzt hatte. Der Schmerz brannte in seiner Wade und fachte seinen Zorn noch zusätzlich an. Unaufhaltsam rann das Blut in seinen Stiefel, durchtränkte seine Hose und hinterließ eine Blutspur auf der Treppe, während er hinter der Kroatin her humpelte.


    In der Eingangshalle wurden Gabriela und der Söldner von Camil erwartet, der eben einen Anruf von Sascha und dessen Handlangern erhalten hatte.

    „Gerkhan hat die Polizeidienststelle der Autobahn vor einer halben Stunde verlassen. Sascha und Maurice folgen ihm. So wie es aussieht, will er in Richtung Ruhrgebiet.“, gab er kurz und bündig seine Informationen weiter.
    Gabrielas Augen leuchteten voller Vorfreude auf. Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis sie den verhassten Türken in ihrer Gewalt hatte. Sie deutete auf das verletzte Bein und befahl Camil: „Vorsorge die Wunde und dann macht euch auf den Weg!“ In Richtung von Remzi meinte sie mit einem spöttischen Unterton, „Das kommt davon, wenn der Verstand unterhalb der Gürtellinie landet. Pass das nächste Mal auf! Die Ärztin ist vorerst tabu für dich!“
    „Pffff…!“, entfuhr es dem Söldner wütend, „wir haben eine Abmachung, schon vergessen Gabriela!“
    Sie schüttelte bestimmend den Kopf, schürzte ihre Lippen und fauchte zurück: „Alles zu seiner Zeit mein Freund. Noch habe ich das Sagen hier!“


    Ausgerüstet mit Remzis Armeerucksack für Erste Hilfe machte sich der Schnauzbärtige an die Versorgung der Beinverletzung. Mehr als einmal entwich Remzi ein schmerzhaftes Stöhnen, als Camil die Wunde desinfizierte und die Wundränder beim Anlegen des Verbandes zusammendrückte.
    „Man, stell dich doch nicht so an! Ist nur ein Kratzer, der zwar eigentlich genäht werden müsste!“, maulte ihn sein jüngerer Freund an, der wusste, dass Remzi zwar andere Menschen gerne quälte aber selbst nicht gerade hart im Nehmen und ertragen von Schmerzen war. Geschickt legte er einen Druckverband an, der die Blutung stoppte.

    Sascha meldete sich zwischenzeitlich nochmals per Handy und berichtete darüber, dass der Türke scheinbar in einem Düsseldorfer Vorort erreicht hatte. Gabriela hielt das Risiko für zu groß, mitten in dem Gewerbegebiet zuzuschlagen. Nochmals würde sie nicht den Fehler begehen und den Türken unterschätzen. Drei Mann waren ihr zu wenig, um den Autobahnpolizisten zu überwältigen. Daraufhin fand eine kleine Lagebesprechung im Treppenhaus der Villa statt, an der auch Sascha mittels eines auf Lautsprecher gestellten Handys teilnahm. Einstimmig wurde beschlossen, dass der ursprüngliche Plan bei behalten würde und den Kommissar direkt in seinem Haus zu überwältigen und zu entführen. Camil drängte zum Aufbruch.


    Da die Fahndung nach Gabriela auf Hochtouren lief, blieb ihr auch dieses Mal schweren Herzens nichts anderes übrig, als in der Villa zu verweilen. Sie fluchte leise vor sich hin, als sie auf dem Podest des Eingangsportals stand und dem Wagen ihrer Komplizen nachblickte, wie dieser über die Zufahrt in Richtung Tor rollte. Das war nicht ihre Absicht gewesen, aus dem einen Gefängnis zu entfliehen und letztendlich in dieser Villa eine Gefangene der Umstände zu sein. In dieser Beziehung hatte Remzi gestern Recht gehabt. Es wurde Zeit, dass sich etwas änderte. Sie wollte frei sein, ein neues Leben beginnen. Die Passbilder für ihre neue Identität mussten angefertigt werden. Brauer wollte sich unbedingt mit ihr in den nächsten Tagen an einem sicheren Ort außerhalb von Deutschland treffen, um weitere Einzelheiten für ihre Flucht nach Übersee zu besprechen. Darüber hinaus hatte er ihr angeboten, eine Tarnidentität im Zeugenschutzprogramm des BKAs zu geben. Missmutig verzog sie das Gesicht, als sie daran dachte, dass dieser Mistkerl sie dafür ein kleines Vermögen zahlen ließ. Sie musste an ihr Geld rankommen, das in den Schließfächern einer bekannten Schweizer Bank in Zürich lagerte. Und es wurde Zeit, dass gewisse Leute, wie ein Justin von Gronau, seine Schulden für ihre Dienstleistungen in der Vergangenheit zahlten. Diese und noch mehr Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, als sie im Türrahmen der geöffneten Eingangstür lehnte und eine ihrer geliebten Zigarillos rauchte. In ungefähr zwei Stunden erwartete sie die Ankunft der vier Kovac Brüder, ehemalige Söldner und Mitstreiter von Remzi Berisha, die aus Serbien stammten. Die Kerle würden in der ehemaligen Chauffers-Wohnung über der Garage einquartiert werden. Sie wollte diese Söldner nicht im Haus haben. In Gedanken versunken betrachtete sie die Auffahrt, das riesige Parkgelände, das Carport mit der angebauten Garage. Eigentlich wäre das Grundstück mit dem Anwesen genau da, was sie sich als Domizil mit entsprechendem Personal vorstellen würde. Nur in Deutschland gab es für sie keine Zukunft.


    Das Unwetter am gestrigen Nachmittag hatte einen kleinen Wetterumschwung eingeleitet. Die schwülen, hochsommerlichen Temperaturen waren verschwunden. Die Wärme der Sonnenstrahlen, die ihr ins Gesicht schienen, empfand sie einfach nur als wohltuend und weckte angenehme Gefühle in ihr. Aus dem Augenwinkel beobachtete die Kroatin Elena, die in der Küche das Frühstücksgeschirr laut klappernd in der Spülmaschine verstaute. Gabriela überlegte, wie sie die Wartezeit bis zur Ankunft von Semir Gerkan und den Kovac Brüdern überbrücken sollte … telefonieren? …. Elena? …
    „Hmm!“, brummte sie unwillkürlich vor sich hin. Vielleicht sollte sie sich wohl erst mal um Jäger kümmern, nicht dass Remzi ihm mit seinen Tritten den Rest gegeben hatte.
    „Elena!“ rief sie die Russin zu sich, „pack Putzzeug zusammen! Und für die Wildkatze da unten im Keller, was zu essen und zu trinken! … Beeile dich!“
    Wir wollen ja nicht unmenschlich sein, dachte sie leise bei sich und fing an, vor sich hin zu kichern. Nach wenigen Minuten stand Elena voll bepackt da und folgte Gabriela in den Keller. Die junge Frau hatte die Schmerzensschreie von Ben Jäger bis in die Küche gehört. Sie fürchtete sich vor dessen Anblick und empfand gleichzeitig Mitleid für den Gequälten und dessen Freundin. Die beiden ungleichen Frauen waren vor der bewussten Tür zum Fitnessraum angekommen, hinter der eine merkwürdige Stille herrschte.

  • Semir saß bei geöffneter Autotür in seinem BMW. Locker hing ein Fuß im Freien und baumelte. Er hatte sich das Funkmikro aus der Halterung geschnappt. „Cobra 11 ruft Zentrale!“


    Nach einigen Augenblicken erklang Susannes Stimme. „Zentrale hört!“


    „Susanne, ich bin hier in Düsseldorf, in der Bruchstraße vor diesem Nachtclub. So wie das Gebäude von außen aussieht, hat da drinnen schon seit ein paar Jahren keine Party mehr stattgefunden. Ein paar Penner, die in der Lagerhalle gegenüber ihr Nachtlager aufgeschlagen haben, erzählten mir, dass hier immer wieder Fahrzeuge mit ausländischen Nummernschildern auftauchen. Zumeist handelte es sich um Kleinbusse oder kleine Lieferwagen, in denen sechs bis acht Männer saßen. Laut den Pennern sahen die nicht so aus, als sei mit denen zu spaßen. Einer der Obdachlosen meinte sogar, er hätte unser Tattoo mit dem Skorpion gesehen. Jedenfalls hat er es sehr genau beschrieben. Versuch mal alles über das Gebäude, das Grundstück usw. rauszukriegen. Da brennt auch regelmäßig nachts Licht. Sprich irgendjemand muss eine Stromrechnung bezahlen. Vielleicht kann unser Schlipsträger von Staatsanwalt mal seine Beziehungen spielen lassen. So ein kleiner Durchsuchungsbeschluss wäre zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht schlecht. Ich fahr noch kurz zu Hause bei mir vorbei und kultiviere mich ein bisschen. Cobra 11, Ende!“
    „Alles klar Semir, Zentrale Ende!“


    Er hackte das Mikro zurück in die Halterung. Der Autobahnpolizist schälte sich aus seinem Autositz, lehnte seine Arme auf das Autodach und sondierte mit seinen Blicken nochmals eingehend die Umgebung. Sein Bauchgefühl regte sich und schlug Alarm. Die Fensterscheiben des ehemaligen Nachtclubs „Flamingo“ waren mit Zeitungspapier und Kartonagen zugeklebt worden, um so einen Blick ins Innere des Gebäudes zu verhindern. Die Zugangstüren waren durch einbruchsichere Spezialschlösser gesichert. Da hatte er mit seinem Dietrich keine Chance gehabt. Er war sich sicher, hier den Anfang einer verheißungsvollen Spur gefunden zu haben.


    *****


    Die wohltuende Ohnmacht dauerte nur wenige Minuten an. Langsam wich die Schwärze und machte einem gleißende Schmerz Platz, der Bens Körper mehr und mehr zu beherrschen schien. Und dennoch, das jammervolle Wimmern seiner Freundin überlagerte alles. Er kämpfte gegen die Schwerkraft seiner Augenlider an, an denen tonnenschwere Gewichte zu hängen schienen. Er konzentrierte sich und schaffte es, seine Augen zu öffnen. Vor seinen Augen lag ein Schleier, der sich mit jedem Atemzug mehr und mehr lichtete. Langsam drehte er seinen Kopf in die Richtung, aus der das herzzerreißende Schluchzen erklang. So hilflos hatte Ben seine Anna noch nie erlebt. Ihre Not weckte ungeahnte Kraftreserven in ihm. Seine Freundin brauchte ihn. Sein eiserner Wille half ihm, sich zu überwinden … für Anna. Er stützte sich auf seinen rechten Unterarm und robbte ein paar Zentimeter vorwärts … ein winziges Stück in Richtung seiner Geliebten. In seinem Körper entbrannte ein wahrer Feuersturm durch die kleine Bewegung, sein gesamter Bauchraum stand in Flammen und doch schaffte er es Zentimeter für Zentimeter näher an sie heran zu kriechen. Er keuchte und stöhnte vor Schmerz. Als seine Hand die ihre berührte, schrie sie hysterisch vor Entsetzen auf und verkrampfte sich, wollte von ihm weg rutschen. „Weg! … Geh weg! … Weg!“


    „Anna! …. Anna!“, mehrmals flüsterte er ihren Namen. Langsam drang seine Stimme zu ihr durch und ihr Widerstand erstarb. „ Anna, Schatz …Scht … nicht mehr weinen!“ wisperte er. Ben drückte sich gegen die Wand und stemmte seinen Oberkörper in die Höhe, ignorierte den Protest, den seine Verletzungen am Rücken aussandten, unterdrückte seine Schmerzensschreie. Irgendwann saß er halb aufgerichtet hinter ihr da und zog Anna zu sich heran, bis ihr Kopf auf seiner Brust ruhte und ihr Arm seinen Brustkorb umschlang.


    „Komm … her … Schatz!“ Er legte schützend einen Arm um sie und seine Finger glitten beruhigend durch ihr Haar. „Er ist … weg … Scht! … Hörst du mein Sonnenschein? … Scht! … Alles … wird … gut! … Semir wird uns …finden!“ Das Beben ihres Körpers ließ nach, das laute Schluchzen aus ihrem Mund. „Scht … alles wird gut! … Komm Schatz, …. Du bist doch … mein starkes Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt …meine kleine Wildcat, die niemals aufgibt und bis zum Ende kämpft!“


    Ihre Tränen benetzten seine Haut. Er streichelte ihr tröstend über die Wange und wischte mit dem Daumen die Tränen beiseite. Einige Minuten saßen die beiden Gefangenen so ineinander verschlungen da. Zu seiner Erleichterung bemerkte Ben, dass Anna sich durch die Geborgenheit, die er ihr spendete, sich zusehends beruhigte. „Ich liebe dich mein Schatz!“, murmelte er und hauchte ihre einen Kuss auf ihr Haar, „unsere Liebe macht uns stark! Hörst du, wir lassen uns nicht unterkriegen und kämpfen bis zur letzten Sekunde! … Verstehst du? … Wir halten durch, bis Semir uns findet!“, beschwor er sie förmlich und versuchte auch sich selbst Mut zuzusprechen, denn Ben bemerkte, wie die Schwäche von seinem Körper Besitz nahm, sowie der Adrenalinspiegel in seinem Blut sank. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, der Raum begann sich um ihn herum zu drehen, zu schwanken und ihm wurde schlagartig übel. Viele bunte Sterne tanzten vor seinen Augen, so dass er die Augenlider schloss. In seinem Kopf hämmerte es. Der Takt seines Herzschlags beschleunigte sich, sein Pulsschlag fing an in ungeahnte Dimensionen zu rasen. Er kämpfte gegen die aufkommende Ohnmacht an.


    Es tat der jungen Frau unheimlich gut, so tröstend an Bens Brust zu liegen, den vertrauten Rhythmus seines Herzschlags zu hören, das Spiel seiner Muskeln zu spüren. Jedes seiner Worte der Hoffnung und Zuneigung half ihr den Schock zu überwinden, die Angst zu verdrängen, der Grauhaarige könnte ihr oder ihrem ungeborenen Kind etwas antun. Ihr wurde bewusst, dass es fast schon an einem Wunder grenzte, dass es Ben trotz seiner schweren Verletzungen gelungen war, sie zu beschützen. Es gab ihr die Hoffnung zurück, dass das Schicksal doch noch ein Einsehen mit ihnen hatte, es einen Weg aus der verzweifelten Lage, in der sie sich befanden, gab. Ihr Lebensmut und Optimismus krochen wieder aus den Löchern hervor, in die sie sich versteckt hatten und gaben ihr die die Kraft, gegen dieses Gefühl, bedingungslos ihren Entführern ausgeliefert zu sein, anzukämpfen, ihre Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen. In dem Augenblick, als sie ihm zu wisperte, „Ich liebe dich mehr als mein Leben Ben!“, geschah es.
    Sein Herzschlag fing an zu rasen und sie spürte die Feuchtigkeit des Schweißfilms auf seiner Haut an ihrer Wange. Bei ihr schrillten die Alarmglocken im Kopf los.
    „Oh Gott! … Anna, … bitte hilf mir!“

  • Die flehenden Worte ihres Freundes taten ihr Übriges und ließen das Leben in Anna endgültig zurückkehren. Sie löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung und richtete sich auf. Ohne den Halt ihres Körpers sackte Ben in sich zusammen. Sein Oberkörper kippte nach vorn. Mit viel Mühe gelang es ihr, ihn ein wenig abzufangen und lagerte ihn über ihre Oberschenkel. Ihr Blick schweifte durch den Raum und in Sekundenbruchteilen erfasste sie, was geschehen war.


    Ben war zu ihr über den Rand der Bodenmatte hinaus gekrochen. Auf der grauen Matte und dem Boden hatte er auf seinem Weg zu ihr eine blutige Spur hinterlassen. Die Wolldecke, mit der sie ihn zugedeckt hatte, hatte sich in seinem Bein verfangen. Warme Feuchtigkeit durchtränkte ihre Leinenhose. Mit ihren Fingern tastete sie nach, spürte die klebrige Flüssigkeit, Bens Blut, zwischen ihren Fingerspitzen. Die Schusswunde am Bauch war aufgebrochen.


    „Ben … Oh mein Gott Ben! …“


    Ihre Atmung wurde keuchend und hektisch. Sie unterdrückte die erneut aufkommende Panik und besann sich auf das wirklich Wichtige. Ben benötigte dringend ihre Hilfe. Diese Erkenntnis setzte in ihrem Kopf einen Automatismus in Gang, der die Ärztin in ihr wach rief. Langjährige berufliche Routine bestimmten in den nächsten Minuten ihr Denken und Handeln. Sie zog die Wolldecke heran und bettete den Oberkörper ihres Freundes darauf. Mit ihrem Zeigefinger prüfte sie an der Halsschlagader seinen Pulsschlag, mit der anderen Hand, die auf dem Brustkorb lag, erfasste sie anschließend seinen Atemrhythmus.

    „Scheiße!“, entfuhr es ihr entsetzt. „Scheiße … !“ wiederholte sie sich mehrmals. „Ben, das kannst du nicht machen!“, schrie sie ihn an, als sie ihn auf die Wangen tätschelte, um ihn wach zu bekommen.


    Keine Chance!


    Der Verletzte war in die Tiefen einer Bewusstlosigkeit abgetaucht. Blitzschnell richtete sich Anna auf, brachte Ben auf der rechten Seite in eine stabile Seitenlage und suchte dabei krampfhaft ihre Umgebung ab. Der Notarztkoffer lag geöffnet in der Mitte des Fitnessraumes, dessen Inhalt großflächig über dem Boden verstreut war. „Verdammt!“, fluchte sie ungehalten vor sich hin und fügte unbewusst noch einige Schimpfworte hinzu, die überhaupt nicht damenhaft klangen. Die junge Frau verschloss den leeren Koffer und nutzte ihn für ihre Zwecke, um Ben zusätzlich noch in eine Schocklage zu bringen und lagerte seine Füße darauf. Nicht nur um seine Blöße zu bedecken, sondern um auch einen weiteren Wärmeverlust zu vermeiden, hüllte sie seinen Unterkörper in die Decken, die ihr Elena in der vergangen Nacht gebracht hatte.
    Dann machte sie sich an die Untersuchung der Schussverletzung am Bauch. Das Wundpflaster hatte sich gelöst und klebte nur noch an einer Ecke auf der Haut. Die Drainage, die sie in der Nacht zum Abfließen der Wundflüssigkeit gelegt hatte, war herausgerissen worden. Unter dem Pflasterrand sickerte ein dunkelroter Blutstrom aus der Wunde. Einen Wimpernschlag lang musterte sie die Verletzung, bevor sie mit einem Ruck das Pflaster abriss. Ihr Blick schweifte im Raum umher und suchte voller Verzweiflung nach dem Verbandsmaterial. Neben der Eingangstür entdeckte sie den Rettungsrucksack und rannte zu dem Objekt ihrer Begierde und schnappte sich Kompressen und Binden. Inbrünstig hoffte sie durch einen Druckverband die Blutung stoppen zu können.

  • Der schwarze Toyota wurde geschickt durch die engen Straßen des Kölner Vorortes gelenkt. Ungeduldig trommelte Remzi schon während der kompletten Fahrt mit den Fingern auf dem Armaturenbrett herum.
    „Kannst du nicht damit aufhören?“, maulte Camil genervt.


    Die beiden angeheuerten Ex-Söldner bogen mit ihrem Wagen in die Seitenstraße, auf der sich die Zufahrt zu Semirs Haus befand, ein. Sascha und seine Komplizen warteten mit dem Kleinbus, der zum Transport des Entführten vorgesehen war, in sicherer Entfernung auf das vereinbarte Startzeichen. Camil stieß seinem Kumpel in die Seite und deutete auf den silbernen BMW, der in der Zufahrt zu Gerkhans Haus stand.
    „Schau, der Türke ist bereits zu Hause! Wird wohl nichts mit einem Überraschungsangriff im Haus.“
    „Ich sag den Albanern Bescheid!“, blaffte Remzi wütend und zog etwas umständlich sein Handy aus der Hosentasche.
    „Warten wir, bis er wieder raus kommt oder versuchen wir unbemerkt ins Haus einzudringen?“, fragte der Schnauzbärtige bei seinem Partner nach. Camil erkannte, wie dieser fieberhaft nachdachte und dabei die Umgebung mit seinem Blick scannte. Von seiner erhöhten Sitzposition im Auto hatte der Grauhaarige erkannt, dass viele Nachbarn der Gerkhans sich in ihren Gärten oder vor ihren Grundstücken auf der Straße aufhielten. Zu groß war seine Angst, dass ein übereifriger Zeitgenosse die Polizei rufen würde, wenn er und Camil über den Garten das Anwesen des Türken betreten würde.


    Der Ältere schüttelte den Kopf und antwortete bestimmend: „Nicht hier! Wir holen uns den Türken am besten auf der Autobahn … sprich Plan B. Hier erregen wir zu viel Aufmerksamkeit!“


    Die Geduld der Kidnapper wurde belohnt. Nach einer guten Stunde kam der Autobahnpolizist zurück und fuhr mit seinem BMW los. Recht schnell erkannte Remzi, dass der Türke zurück auf seine Dienststelle fahren wollte und informierte seine wartenden Komplizen genau über die Stelle, an der sie den Türken in die Zange nehmen wollten, um ihn zu entführen.


    Einige Zeit später ….


    Als Semir auf den Zubringer zur Autobahn einbog, fiel ihm der schwarze Toyota RAV4 im Rückspiegel zum Wiederholten Male auf. Der Fahrer verhielt sich äußerst geschickt und trotzdem hatte der Türke bemerkt, dass ihm das Fahrzeug folgte. Er dachte an ein Ereignis ein paar Wochen zurück, als genau ein solches schwarze Auto ihn und Ben verfolgt hatte. Sein Misstrauen erwachte und sein Bauchgefühl warnte ihn.
    „Cobra 11 an Zentrale!“
    „Zentrale hört!“, lautete Susannes Antwort aus dem Mikro. „Was kann ich für dich tun Semir?“
    „Susanne, ich werde von einem schwarzen Toyota verfolgt. Ich bin mir sicher, dass die Kerle Ben und mich mindestens schon einmal verfolgt haben. Schick mir mal Verstärkung! Ich fahre auf der A3 in Richtung Köln – Leverkusen, habe gerade die Mühlheimer Abfahrt passiert und fahre weiter in Richtung zu unserer Dienststellenzufahrt.“ Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass der Toyota näher zu ihm auffuhr, als sie den Großraum Köln verlassen hatten. „Die Jungs sollen sich mal beeilen! Cobra11 Ende!“


    Semir beschleunigte sein Fahrzeug. Der Fahrer des verdächtigen Fahrzeugs schien Lunte gerochen zu haben und schloss noch weiter auf. „Na warte, nicht mit mir Freundchen, da musst du schon früher aufstehen!“, kommentierte er das Verhalten seines Widersachers. Zusätzlich schaltete er noch Blaulicht und Sirene ein, um sich einen freien Weg durch den dichten Verkehr zu bahnen. Geschickt lenkte er mit höchster Geschwindigkeit den BMW über die Autobahn, indem er alle drei Fahrspuren ausnutzte.


    „Na Jungs, wo bleibt ihr denn?“, meinte er ironisch, als eine kleine Lücke zwischen ihm und den Toyota entstanden war. Doch die Ironie verging im augenblicklich. Im Rückspiegel suchte er verzweifelt die flackernden Blaulichter der Kollegen. Wieder drückte er die Funktaste.
    „Cobra 11 an Zentrale! Susanne, wo bleibt die Verstärkung? Mach den Jungs mal ein wenig Feuer unter dem Hintern! Meine Verfolger haben sich soeben vermehrt!“
    Zu dem schwarzen Toyota, der ihn die ganze Zeit über verfolgt hatte, gesellte sich dunkler Jeep, mit einem silbernen Kuhfänger vor der Motorhaube. Perfekt, um jemanden zu Rammen, durchfuhr es Semir. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er den Schlag am Heck seines BMWs spürte.

    „A.rschloch!“, entfuhr es ihm voller Wut, „wegen dir kassiere ich wieder einen Anschiss von der Krüger!“


    Der Wagen ließ sich ein wenig zurückfallen, fuhr seitlich versetzt zum BMW und dann verschlug es Semir den Atem. Das Seitenfenster des Jeeps öffnete sich und die Mündung eines Gewehrlaufs wurde sichtbar. Ein Mündungsfeuer blitzte an der Gewehrmündung auf und Semir hörte den Einschlag der Kugel im Kofferraum. Auch aus dem Toyota wurde auf ihm geschossen. Die Fahrer der beiden Fahrzeuge schienen nicht nur beschlossen zu haben, ihn in die Zange zu nehmen und von der Fahrbahn abzudrängen, sondern wollten ihn mit allen Möglichkeiten außer Gefecht setzen. Die Situation wurde langsam für ihn brenzlig.
    Über die Freisprecheinrichtung seines Fahrzeugs wählte er die Nummer der Dienststelle.


    „Nun mach schon! … Geh ran!“, stieß er ungeduldig hervor. Nach einigen Klingelzeichen antwortete Susanne am anderen Ende der Leitung. Semir fiel ihr ins Wort und schrie sie „Verdammt, wo bleibt die Verstärkung, die machen gerade ein Küchensieb aus meiner Karre!“


    Die Antwort der Sekretärin hörte Semir schon nicht mehr. Wutentbrannt brüllte er „Verdammte Sch…!“
    Ein Geschoss hatte seinen rechten Hinterreifen zerfetzt. Der BMW kam auf Grund der hohen Geschwindigkeit ins Schlingern. Der Autobahnpolizist verlor die Kontrolle über seinen Wagen. Susanne vernahm nur noch seine Schimpftriade dann herrschte Stille.
    „Semir, was ist los? …. Antworte doch! … Semir!“


    Der silberne BMW hatte die Leitplanke durchbrochen und sich mehrmals überschlagen, bevor er in einem naheliegenden Getreidefeld auf dem Dach liegen blieb. All das bekam Semir nicht mehr mit, Dunkelheit hüllte ihn ein.

  • Zurück in der Villa
    Gabriela schloss die Tür auf und gab Elena mittels Handzeichen zu verstehen, dass sie als Erste das Zimmer betreten solle. Die Kroatin ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, der bei Anna und dem am Boden liegenden Verletzten haften blieb. In Sekundenbruchteilen erfasste sie jedes Detail. Die Blutspur am Boden, die mit frischem Blut befleckte Kleidung und die blutverschmierten Hände der jungen Ärztin und deren Blick aus ihren geröteten und verquollenen Augen, der aus einer Mischung von Hass und Verzweiflung bestand. Sie heulte vor Wut auf brüllte in ihrer Muttersprache lauthals los: „Remzi du verdammtes A.rschloch!“ Ihr war klar, dass die Tritte des Grauhaarigen für den Zustand von Ben Jäger verantwortlich waren.

    Elena blieb wie angewurzelt stehen, da sie vermutete, dass Ben verstorben war. Gabriela verpasste ihr einen kräftigen Stoß in den Rücken und forderte sie auf: „Na los! Beweg dich endlich! Auf was wartest du noch! … Hilf ihr!“


    Die Russin stolperte zu dem am Boden liegenden Verletzten und der Ärztin hin. Auf der gegenüberliegenden Seite von Anna ließ sie sich auf die Knie fallen und schaute sie fragend an. In ihrer jetzigen Position konnte sie erkennen, dass sich der Brustkorb des Dunkelhaarigen noch schwach hob und senkte. Die Ärztin löste ihre Hand von der Schusswunde, nahm eine frische Kompresse aus einer Verpackung und drückte die Mullauflage Elena in die rechte Hand. Gleichzeitig führte sie die Rechte zur Bauchwunde und befahl ihr: „Drück einfach nur fest drauf!“


    Hektisch suchte die Ärztin unter dem verstreuten Inhalt des Notarztkoffers und im Rettungsrucksack nach einem gefüllten Infusionsbeutel. Völlig frustriert leerte sie den Inhalt des Rucksacks aus. Da war nichts mehr. Die Enttäuschung machte sich nicht nur auf ihrem Gesicht breit, sondern die Ärztin schrie sie hinaus. Keuchend stand sie da und betrachtete die verstreuten Gegenstände aus dem Rucksack. Anschließend unternahm sie alles, was in ihrer Macht stand, um die Blutung zu stoppen.


    Argwöhnisch beobachtete Gabriela die Bemühungen von Anna, um Bens Leben zu retten. Wie ein trotziges Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte, stampfte sie mehrmals mit ihrem Fuß auf, um wanderte das Trio am Boden. „Nein …. Nein … Nein!“, jaulte sie dabei auf und fluchte in ihrer Muttersprache vor sich hin. Ihr Gesicht hatte sich dabei zu einer Fratze verzogen. „Nicht so Jäger! … Nicht so! .. So haben wir nicht gewettet!“ fauchte sie dabei böse. Sie allein wollte bestimmen, wann der verhasste Polizist seinen letzten Atemzug machte, durch ihre Hand sollte er sterben. Doch nicht jetzt, nicht in dieser Minute, nicht in dieser Stunde … der Türke fehlte noch. Der sollte dabei sein und hilflos zusehen, wie sein Freund starb.


    Anna blickte aus ihrer knienden Haltung auf, direkt in diese eisgrauen und kalten Augen der Kroatin.
    „Was willst du wirklich, du Hexe? … Tue Ben und mir den Gefallen und erspare uns diese Farce! Diese Gejammer …. Dieses Gezeter … Warst es nicht du, die heute Morgen gehässig gelacht hat und deinen Bluthund auf mich und Ben losgelassen hast?“ Als Anna diese Worte voller Zorn aussprach, spürte sie, wie weiter Bens Blut durch ihre Finger rann … sein Leben in ihren Händen zerrann.
    Anna sah sehr deutlich, dass ihre Worte nicht spurlos an der Kroatin vorbeigingen. In deren so eiskalten Mimik begann es zu arbeiten. Die Ärztin merkte sehr deutlich deren Zwiespalt. Doch ein leises Stöhnen von Ben erinnerte sie daran, wem ihre Aufmerksamkeit galt, bevor sie noch einmal in dem wunden Punkt ihrer Gegnerin nachbohren konnte. Auf ihr Handzeichen hin nahm Elena die Atemmaske von Bens Gesicht und reichte der Ärztin weitere Mullkompressen und Verbandsmaterial.


    Mit einer gewissen Erleichterung registrierte Anna nach einigen Minuten, dass die Menge des Blutes, das aus der Wunde heraussickerte, weniger wurde und versiegte. Geschickt legte sie mit Elenas Hilfe einen Druckverband an und forderte die Brünette auf, aus dem Badezimmer noch einige der Badetücher zu holen, um Ben zuzudecken. Immer wieder prüfte sie dabei seine Herzfrequenz und Atmung. Langsam stabilisierte sich sein Kreislauf. Aber Anna war klar, das war ein Spiel auf Zeit, sie benötigte dringend eine Infusion, um zumindest den Blutverlust ein wenig auszugleichen und Ben weiter zu stabilisieren.


    Elena, die die Szene bisher schweigsam verfolgt hatte, griff in das Geschehen ein. „Kranker Mann brauchen Bett … Boden nicht gut … sein kalt!“ und zog damit Gabrielas Aufmerksamkeit auf sich. In deren Augen blitzte es wütend auf. „Seit wann, hast du denn hier etwas zu melden? … Prostitutka!“
    Die Russin ignorierte die unterschwellige Drohung und Beleidigung. Auch ihr war die Reaktion der Kroatin bei Annas Anschuldigungen nicht entgangen, also stellte sie die nächste Frage: „Sollen Mann leben oder sterben?“ und wies dabei auf den verstreuten Inhalt des Rettungsrucksacks. „Was wirklich wollen?“

  • „Pfff … !“ Laut entwich der Kroatin die Atemluft. Ein wenig nachdenklich betrachtete sie den Schwerverletzten. Ihr Innerstes spielgelte sich in dem Mienenspiel ihres Gesichtes wieder. „Gut, schaff ein paar Decken und Kissen runter, wenn du meinst, er braucht so was!“, billigte ihr Gabriela zu.


    Elena beschloss auszureizen, wie weit sie gehen konnte. „Und was Frau brauchen?“ Dabei deutete sie auf Anna. Zur großen Verwunderung von der kleinen Russin nickte die Kroatin zustimmend.


    Anna glaubte nicht recht zu hören und zu sehen, was da im Augenblick um sie herum geschah. Sollte sie unerwartet Hilfe bekommen, von dieser jungen Frau, die selbst scheinbar eine Gefangene in dieser Villa war. Hoffnung glomm in ihr auf, dass Ben noch eine Chance bekam, die nächsten Stunden und vielleicht die nächsten Tage zu überleben, bis … ja bis Semir sie vielleicht fand.


    In der Hosentasche der Kroatin dudelte ein Handy los. Sie fischte es heraus, blickte auf das Display und nahm das Gespräch an. Angespannt lauschte sie, was ihr Gesprächspartner zu berichten hatte. Nach Beendigung des Gesprächs beschloss Gabriela auf der Terrasse erst einmal in Ruhe eine Zigarillo zu rauchen. In ihren Augen bestand keine Gefahr, dass Anna oder gar Ben Jäger flüchteten. Bei dem Gedanken musste sie sogar vor sich hin grinsen. In Richtung der Russin blaffte sie: „So lange du hier drinnen sauber machst, ist mir egal, was du reinschleppst. Sorg dafür, dass es hier nicht mehr aussieht wie in einem Schlachthaus und stinkt! … Verstanden!“ Die Russin nickte und kümmerte nicht weiter um die Kroatin, sondern kniete sich vor Anna und Ben hin.
    „Ich bin Elena!“ Die junge Frau blickte misstrauisch über die Schulter, ob Gabriela tatsächlich den Raum verlassen hatte und außer Hörweite war. „Mir vertrauen! Was du brauchen?“ Sie umschlang dabei Annas Hand und suchte Blickkontakt.


    „Ich bin Anna und das ist mein Freund Ben. Du willst uns wirklich helfen?“, murmelte Anna ungläubig.
    „Ja?“, bekräftigte die Russin ihre Aussage „Was brauchen? Matratze … Bettzeug Wäsche … Essen … sagen was?“
    Anna dachte angespannt nach, in ihrem Kopf reifte ein Plan, vielleicht war die Russin tatsächlich die Retterin in höchster Not. Sie nannte ihr einige Sachen, die sie dringend brauchen konnte, vor allem Schmerztabletten, Verbandszeug, das langsam zur Neige ging und noch einiges mehr. Elena nickte.
    „Nichts versprechen! Schauen, was im Haus sein …!“
    „Gut!“, erwiderte Anna. Anschließend machte sie der jungen Frau klar, dass sie dringend eine Infusion für Ben benötigte. Sie beschrieb der Russin genau, wie lange sie wieviel Wasser abkochen sollte, wieviel Gramm Salz sie dem Wasser hinzufügen musste. Dann kam das größte Problem, der Behälter. Da hatte die Russin die Idee eine der Wasserflaschen auszukochen. Als erstes half sie Anna, den Bewusstlosen zurück auf die Bodenmatte zu tragen. Dort betteten ihn die beiden Frauen so gut es ging.
    „Alles werden gut … du werden sehen!“, meinte Elena zuversichtlich, bevor sie aus dem Zimmer huschte.


    Einen Augenblick lang, war die Verlockung für Anna groß, durch die geöffnete Tür zu flüchten. Doch was würde danach kommen? Nie würde sie aus eigener Kraft die Villa oder das Grundstück verlassen können, dass hatte sie bereits bei ihrer Ankunft am gestrigen Abend begriffen. Außerdem könnte sie Ben niemals in seinem Zustand im Stich lassen.


    Innerhalb der nächsten Stunde entwickelte die junge Russin eine unheimliche Aktivität. Zuerst reinigte sie zusammen mit Anna den Raum, beseitigte die Blutspuren, sammelte das verbrauchte Verbandsmaterial ein und steckte alles in einen großen grauen Müllsack. Die junge Ärztin durchsuchte indessen den verteilten Inhalt des Rucksacks und des Notarztkoffers nach Verbandsmaterial und sonstige Ausstattungsteile, die sie bei der Versorgung von Ben noch brauchen konnte. Sorgsam sortierte sie alles in den Arztkoffer ein. Der geleerte Rucksack blieb achtlos neben der Eingangstür liegen. Unter anderem hatte Anna noch etliche Ampullen mit Medikamenten gefunden, die sie wie einen sorgsam gehüteten Schatz, als sie alleine im Raum war, im Badezimmer versteckte.


    Währenddessen schleppte Elena unter Aufbietung all ihrer Kräfte eine Matratze aus dem Obergeschoss in den Kellerraum. Darauf folgten Kopfkissen und weiteres Bettzeug, Decken und Laken. Gemeinsam betten die beiden Frauen den schwer Verletzten auf der Matratze. Dem folgten das abgekochte Salzwasser, das Elena im Spülbecken bereits vorgekühlt hatte und eine Mineralwasserflasche mit Verschluss, die sie genau nach Annas Anweisung ausgekocht hatte. Sorgsam füllte Anna die Salzlösung in die Glasflasche, verschloss diese und legte sie zum weiteren Abkühlen des Inhalts ins Waschbecken des Badezimmers.
    Anna traute ihren Augen nicht zu glauben, als Elena ihr im Anschluss daran neue Kleidung hinlegte, eine hellgraue Sportcapri und eine smaragdgrüne Haremshose, dazu noch drei bunte T-Shirts, die weit geschnitten waren, Unterwäsche und Duschgel. „Von mir! … Duschen!“ … sie deute in Richtung des Badezimmers „passen auf Ben auf!“ Aber nicht nur für Anna hatte die junge Frau Kleidung angeschleppt, sondern auch für Ben frische Wäsche. Was die junge Ärztin nicht ahnte, die sportliche Kleidung samt Boxershorts hatte einmal Rashid gehört, der eine ähnliche Statur wie Ben gehabt hatte. In Rekordzeit duschte sich Anna und wechselte die Kleidung. Ihr nasses Haar klebte am Kopf, als sie zurück in den Fitnessraum kam. In ihren Händen hielt sie die Glasflasche mit der Infusionslösung. Sorgsam desinfizierte sie den Metallverschluss, bevor sie mit dem Dorn des Infusionsbestecks ein Loch hineinbohrte. Der Rest war reine Routine. Innerhalb weniger Minuten hatte sie ihrem bewusstlosen Freund einen neuen Zugang gelegt und die selbst hergestellte Infusionslösung mit Hilfe des Schlauches verbunden. Langsam tropfte die Lösung in die Tropfkammer und rann in Bens Adern. Zufrieden seufzte sie auf.


    Wann immer die beiden jungen Frauen alleine und unbeobachtet im Kellerraum waren, nutzten sie die Gelegenheit miteinander zu sprechen und Informationen auszutauschen. So erfuhr Anna in wenigen Sätzen die traurige Lebensgeschichte von Elena, etwas über die Lage der Villa und deren Bewohner. Im Gegenzug erzählte die Ärztin einiges über sich und Ben, vor allem warum Gabriela den Verletzten mit ihrer tödlichen Rachsucht verfolgte. Nicht nur ihre gegenseitige Not machte die beiden Frauen zu Verbündeten, sondern sie fanden einander sympathisch. Wären sie sich unter normalen Umständen begegnet, wer weiß, wir hätte bestimmt gute Freundinnen werden können, dachte Anna bei sich, als die Russin wieder einmal den Raum verließ, weil Gabriela im Erdgeschoss nach ihr brüllte.

  • Einige Zeit später kehrte Elena zurück, gefolgt von Gabriela die mit einer undurchdringlichen Miene vor Bens provisorischem Lager stehen blieb und jedes Detail akribisch mit ihren Blicken scannte.
    „Wie geht es ihm?“, blaffte sie Anna an, die neben ihrem Patienten am Boden kniete und wiederholt seine Vitalwerte prüfte.
    „Den Umständen entsprechend!“, gab die Ärztin knapp zurück und ließ die Luft aus der Blutdruckmanschette.
    „Das ist keine Antwort auf meine Frage!“, kam mit einem wütenden Unterton zurück.
    Anna erhob sich aus ihrer knienden Haltung und baute sich vor Gabriela auf. „Was erwartest du denn? … Das ich Wunder vollbringe?“ Mit ihrer Hand deutete die Ärztin auf den kläglichen Rest der medizinischen Ausrüstung. „Ich habe unter diesen Umständen alles Menschenmögliche getan, um Ben am Leben zu erhalten. Wenn DU willst, dass er überlebt, dann schaffe ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus!“, zischte sie mit funkelnden Augen ihre Widersacherin an.
    „Pfffff….! Niemals!“ Die Kroatin drehte sich um die eigene Achse und warf Elena einen Gegenstand zu. „Lüfte! Hier stinkt es!“
    Zum wiederholten Male klingelte ihr Handy. Sie ging sofort ran und verließ den Raum. Im Treppenhaus hörte man ihr wütendes Geheule.


    *****
    Einige Zeit vorher …. Auf der Autobahn
    Semir war völlig benommen. Etwas hämmerte in einem gleichbleibenden Takt auf seinem Schädel ein. Warmes Blut sickerte ihm ins Haar. Er wollte sich zwingen seine Augen aufzuschlagen, es ging nicht. Sein Körper gehorchte ihm einfach nicht. Wie aus weiter Ferne drangen Stimmen auf ihn ein. Seine Widersacher, waren sie gekommen um ihm den Rest zu geben? Er wartete auf den tödlichen Einschlag einer Kugel! War es das gewesen, fragte er sich? Vor seinem inneren Auge waren da auf einmal die Gesichter seiner Kinder … Andrea … er streckte seine Hand aus, um diese zu berühren und wurde mit einem Schlag in die Realität zurückgeholt.
    Jemand tätschelte ihn vorsichtig an der Wange. „Hey Semir! … Kollege Gerkan! … Hörst du mich!“ Der Autobahnpolizist überlegte, woher kannte er die jugendliche Stimme, die zu diesem Kerl gehörte.
    „Lebt er noch?“, erkundigte sich eine zweite Männerstimme, die ihm ebenfalls vertraut war.
    „Ja! Ich denke, er kommt langsam wieder zu sich!“
    „Na, lang mal richtig zu und schau, dass du die Fahrzeugtüre aufkriegst! … Oh Gott, stell dich nicht so doof an!“, meinte die erste Stimme genervt und brüllte los: „Hey Mister! … Ja, du da drüben in dem gelben Pullover! … Komm her und helfe mit, anstelle nur Maulaffen feil zu halten!“
    An dem auf dem Dach liegenden BMW wurde gerüttelt. Das Knarzen und Ächzen des Metalls ging Semir durch und durch, als mit brachialer Gewalt die verzogene Fahrertür geöffnet wurde.
    „Man mach hin, Turbo! Die Kiste fängt gleich an zu brennen! … Der Qualm aus der Motorhaube wird immer Dunkler! … Mann, zieh ihn endlich raus!“, forderte die andere Männerstimme energisch.
    Der Deutsch-Türke spürte wie jemand den Sicherheitsgurt durchtrennte und der Druck auf seine schmerzende Brust nachließ. Kräftige Hände fingen ihn ab, umfassten seinen Oberkörper und zogen ihn aus dem Fahrzeugwrack heraus. Der Schock über das Erlebte, ebbte ab und der Schmerz setzte ein. Seine Retter gingen nicht gerade zimperlich mit ihm um, als sie ihn schnellst möglich aus dem Gefahrenbereich brachten. In dem Unfall waren außer Semirs BMW noch drei weitere Fahrzeuge verwickelt worden, die quer über den Standstreifen, der rechten und mittleren Fahrbahn standen und diese blockierten. Der restliche Verkehr quälte sich mit Schritttempo auf dem linken Fahrstreifen an dem Unfall vorbei. Im Hintergrund diskutierten die erschrockenen Unfallbeteiligten und Schaulustige, die sich dazu gesellt hatten, über die Ursache der Verfolgungsjagd und der anschließenden Schießerei.
    Endlich gelang es Semir seine Augen aufzuschlagen. Sein Blick war anfangs noch verschwommen und klärte sich langsam. Man hatte ihn zurück an den Fahrbahnrand geschleppt und ihn gegen eine Leitplanke gelehnt.
    „Hallo Kollege! Auch wieder wach!“, vor ihm kniete ein besorgter junger Polizist, namens Turbo.
    Semir stöhnte gequält auf. „Das muss ausgerechnet mir passieren!“, ächzte er schmerzgeplagt, „Ausgerechnet ihr zwei Chaoten rettet mir den A.rsch!“ Seine Augen leuchteten dabei voller Dankbarkeit auf.
    Während sich Turbo um den Autobahnpolizisten kümmerte, sorgte sein Kollege dafür, dass sich alle Unfallbeteiligten und Zeugen aus dem Gefahrenbereich entfernten und sicherte den Tatort. Die Leiche von einem der Attentäter deckte er mit einer Decke zu. Dabei erwiesen sich einige Schaulustigen, die ihre Smart-Phones in den Händen hielten, um die Leiche und den brennenden BMW zu filmen und zu fotografieren, als unbelehrbar.
    „Hey Freunde, wenn ihr nicht sofort diese Quasselknochen verschwinden lasst, lernt ihr mich richtig kennen!“, blaffte er die Gaffer wütend an und legte seine Hand demonstrativ auf den Griff seiner Waffe. Erschrocken wichen diese zurück und ließen ihre Mobiltelefone verschwinden. In diesem Augenblick trafen noch weitere Streifenwagen ein, die zur Unterstützung des Türken unterwegs gewesen waren. Die Kollegen vom Streifendienst unterstützten die Bemühungen des jungen Polizeibeamten.
    Zum Glück war es nur bei Blechschäden geblieben und die Insassen der anderen Fahrzeuge waren mit dem Schrecken davongekommen. Der silberne BMW hatte angefangen zu brennen. Der Flammen züngelten unter der Motorhaube heraus und verbreiteten sich schnell. Der aufsteigende Rauch verbreitete einen stechenden Geruch, der die Atemwege reizte. Aus der Ferne erklangen bereits die Einsatzhörner der nahenden Rettungsdienste und der Feuerwehr.
    „Was wollten diese Vollpfosten von dir Semir?“, erkundigte sich Tacho, der sich neben seinem Freund und Kollegen im Gras des Standstreifens niederkniete und den Türken fragend anblickte. Mit seiner Hand deutete er auf die Fahrzeugwracks und dem brennenden BMW.
    „Wem bist du denn da wieder mal auf die Füße getreten? Die haben ja richtig ein Spektakel veranstaltet! …Übrigens, das Kennzeichen des Jeeps habe ich bereits an die Zentrale zur weiteren Ermittlung weitergegeben. Die Nummer des Toyotas konnte ich nicht erkennen, die war geschwärzt worden!“
    Auch wenn Semir jede Stelle seines Körpers schmerzte, hatte er sich so weit im Griff, dass er die Frage beantworten konnte. „Ich denke, das war ein Gruß von Gabriela Kilic, die vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entfliehen konnte!“
    „Du meinst die Bitch, die deine Familie und Ben vergangenes Jahr entführt hatte?“, fragte Turbo nach.
    Der Kommissar nickte, was sein Kopf gar nicht mochte. Er stöhnte auf, als der Schmerz auf seine Gehirn einhämmerte. Ein kleines Blitzgewitter tanzte vor seinen Augen und er schloss für einen Augenblick seine Lider um sich zu sammeln.
    „Ja genau die!“, gab er zurück.

  • „Fuck!!!“, entfuhr es dem Blonden.
    „Und bevor ihr fragt, meine Familie ist in Sicherheit in der Türkei! Aber Ben ist seit über zwei Wochen spurlos verschwunden!“, klärte er die Chaos-Polizisten auf. Mit knappen Worten schilderte der Autobahnpolizist seine beiden jungen Kollegen, die in Leverkusen Opladen ihren Dienst leisteten, was sich in den letzten Wochen zugetragen hatte und endete mit den Worten, „Gestern Abend wurde vermutlich seine Freundin Anna von den gleichen Tätern entführt, die es heute auf mich abgesehen haben.“

    Jemand zog an der Jacke des blonden Polizisten.
    „Treten Sie mal zur Seite!“ forderte ihn ein Rettungssanitäter auf, der zusammen mit seinem Kollegen und einem Notarzt am Unfallort eingetroffen war. „Der Verletzte gehört erst mal uns!“


    Die beiden jungen Polizisten traten einige Meter zurück und beobachteten das Geschehen um sie herum. Neben dem Rettungswagen, waren mittlerweile Einsatzkräfte der Feuerwehr eingetroffen, die das brennende Fahrzeug löschten und die Kollegen der Autobahnpolizei. Die Autobahn wurde während der Löscharbeiten komplett gesperrt. Unter ihnen war Frau Krüger die schnurstracks auf sie zu marschierte.
    „Na sie beide haben mir noch zu meinem Glück gefehlt!“, begrüßte sie Turbo und Tacho.
    „Also bitte Frau Krüger!“, begehrte Turbo auf „wir haben schließlich Kollegen Gerkhan gerade das Leben gerettet!“ Sein Kollege nickte beipflichtend und verzog feixend das Gesicht. „Da hätten wir schon paar nettere Worte und ein Lächeln oder ein kleines Lob von ihnen erwartet.“
    „Sie haben ja Recht!“, gab Frau Krüger kleinlaut zu und zwang sich die Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. „Nur momentan ist mir nicht mehr zum Lachen zu Mute!“ Sie kniff ihre Lippen zu einem Strich zusammen und beobachtete die Bemühungen des Notarztes und des Sanitäters, die Semir untersuchten und versorgten.
    Schlagartig wurden auch die beiden Chaoten ernst, die sich vor der Chefin der PAST aufgebaut hatten. „Semir hat uns bereits einiges berichtet! Wie können wir helfen? Schließlich schulden wir Ben und Semir ja einiges!“
    „Indem sie mir erst einmal erzählen, wie es zu diesem Chaos hier kam!“, gab sie trocken zurück und mit einer ausladenden Handbewegung zeigte sie auf die Fahrzeugwracks und die umherstehenden Personen. „Sind Sie dafür verantwortlich oder Herr Gerkhan?“


    Während Turbo mit wilden Gesten Frau Krüger darüber informierte, was sich hier vor etlichen Minuten ereignet hatte, hatte Tacho seine Hände in den Hosentaschen vergraben und lauschte fast regungslos seinem Kollegen. Ab und an warf er noch ein paar erklärende Worte ein, um den Bericht seines Freundes zu vervollständigen.


    Die beiden jungen Polizisten waren über Funk auf den Notruf ihres Kollegen aufmerksam geworden, als sie sich auf Streifenfahrt zu ihrem Revier in Leverkusen Opladen befanden. Ein dunkler Jeep und ein Toyota RAV4 versuchten den silbernen BMW des Türken von der Fahrbahn abzudrängen. Aus dem Jeep ragte ein Gewehrlauf heraus und zielte auf die Hinterreifen des BMWs und zerschossen den rechten Reifen. Der Kollege Gerkhan verlor die Kontrolle über seinen Dienstwagen, fing an zu schleudern und kollidierte mit mehreren Fahrzeugen, die auf der rechten und mittleren Fahrbahn unterwegs waren und nicht mehr rechtzeitig ausweichen oder bremsen konnten. Semirs BMW geriet auf den Seitenstreifen und durchbrach die Leitplanke. Der silberne BMW überschlug sich einige Male und blieb auf den Dach liegen. Die Attentäter stoppten ihre Fahrzeuge. Ein grauhaariger Riese und noch ein weiterer Typ stürmten mit Schusswaffen in der Hand auf das Unfallfahrzeug unseres Kollegen zu. Ohne zu zögern, griffen die beiden jungen Polizisten in das Geschehen ein. Es entbrannte ein Schusswechsel zwischen ihnen und den Entführern. Erst als einer der Männer aus dem zweiten Wagen tödlich getroffen zusammensank und der Grauhaarige ebenfalls angeschossen wurde, ließen sich die Kidnapper von ihrem Vorhaben, Semir zu töten, abbringen und verjagen.


    „Frau Krüger, ich bin mir sicher, dass ich den einen Kerl mit meiner Kugel schwer verletzt habe. Er stolperte und stürzte dort drüben zu Boden.“ Tacho deutete auf eine dunkle Stelle im dürren Gras. Kims Blick richtete sich auf die besagte Stelle und sie erkannte, dass es sich um Blut handelte. Währenddessen fuhr Turbo, Kai Schröder, mit seinem Bericht fort. „Der zweite Mann mit einem riesigen Schnauzbart war zuerst am Toyota geblieben, eilte zum Angeschossenen und musste ihm hoch helfen. Zu zweit mussten die den Grauhaarigen stützen, um zu deren Fahrzeug, dem Toyota, zu gelangen. Der Kerl braucht sicher einen Arzt oder ein Krankenhaus!“ schloss er den Bericht ab. „Wenn Sie sich die Blutlache und die Blutspur anschauen, der Kerl hat geblutet wie ein Schwein!“


    Die Chefin der PAST holte ihr Handy aus der Hosentasche, tippte etwas auf das Display und hielt es Kai Schröder hin. „War es der Kerl?“, fragte sie nach. Auf dem Display war das Fahndungsfoto von Remzi Berisha.
    „Wo haben Sie das Foto her? … Ja, das war der Schütze im Toyota. Da bin ich mir absolut sicher!“ Er drehte seinen Kopf zu seinem Freund. „Was sagst du Tacho?“
    Der nickte zustimmend. „Das war der Kerl.“
    „Der Mann heißt Remzi Berisha, seines Zeichens Söldner, der für die Entführung von Frau Dr. Becker am gestrigen Abend mitverantwortlich ist.“


    Währenddessen entbrannte zwischen dem behandelnden Notarzt und dem verletzten Autobahnpolizisten eine heftige Diskussion. Semir wollte sich absolut nicht ins Krankenhaus transportieren lassen.
    „Jetzt hören Sie genau zu Herr Gerkhan!“, belehrte ihn der Notarzt. „Da ich nicht ausschließen kann, dass ihr Kopf oder in diesem Fall ihr Gehirn bei dem ordentlichen Wumms etwas mehr abbekommen hat, muss ich darauf bestehen, dass Sie mit ins Krankenhaus kommen. Entweder Sie kommen freiwillig mit der ich verpasse ihnen eine Beruhigungsspritze! … Verstanden!“


    Die Ansage saß. Mit ein wenig Murren stimmte der Türke einer Untersuchung im Krankenhaus zu, ließ sich in den Rettungswagen verfrachten und wurde mit Blaulicht gen Marienklinik abtransportiert. Mit sorgenvollem Blick schaute die Chefin der PAST den abfahrenden Rettungswagen hinterher. Eine Frage bewegte Kim, machte sie fast verrückt und sie wusste darauf keine Antwort. War dies ein Mordversuch gewesen oder sollte Semir Gerkan ebenfalls entführt werden.


    Hartmut, der mit seinem Team aus der KTU ebenfalls eingetroffen war, begann damit akribisch die Spuren zu sichern. Kim beschloss das endgültige Ergebnis der Spurensicherung abzuwarten und anschließend dem Staatsanwalt van den Bergh gewaltig auf die Füße zu treten. Noch länger wollte sie sich von ihrem Vorgesetzten nicht hinhalten lassen, egal was sie beide privat verband.
    Turbo und Tacho war die sorgenvolle Mimik von Kim Krüger nicht entgangen. Tacho meinte: „Wenn es ihnen Recht ist, fahren wir hinter dem Rettungswagen her und passen auf Semir auf. Unsere Zeugenaussage und den Bericht haben sie spätestens am Nachmittag auf ihrem Schreibtisch. Vielleicht findet sich in der Fahndungskartei auch eine Akte zu dem Kerl mit dem Schnauzbart!“
    Kim Krüger nickte zustimmend. „Machen Sie das! Vor allen Dingen sorgen Sie dafür, dass Herr Gerkhan sich im Krankenhaus behandeln lässt!“

  • Nachdem Gabriela den Raum verlassen hatte, betrachtete Elena den Gegenstand in ihrer Hand. Sie hatte von ihr den Schlüssel für den Fensterriegel erhalten. Um den Größenunterschied auszugleichen, kletterte sie geschickt auf die Hantelbank unter dem Panoramafenster und öffnete einen der Fensterflügel. Gierig sogen sie und Anna, die ihr gefolgt war, die frische Luft in ihre Lungen. Mit einem Sprung hüpfte sie auf den Boden zurück und drückte der jungen Ärztin den Schlüssel in die Hand. Gleichzeitig erklang das wütende Gekreische von Gabriela aus dem Erdgeschoss bis in den Kellerraum.


    „Nicht gut!“, entfuhr es Elena bestürzt. „Gar nicht gut!“


    Diesen Tonfall der Kroatin kannte sie schon und bedeutete für sie Alarmstufe rot. Es dauerte nur wenige Sekunden, in denen sie auf den Boden starrte und das Risiko für sich abwog. Sollte sie zu ihrer eigenen Sicherheit lieber im Kellerraum bei den beiden Gefangenen bleiben, um Gabriela aus dem Weg zu gehen? Dabei hob Elena den Kopf und blickte in das besorgte Gesicht der Dunkelhaarigen, die ihr direkt gegenüberstand und ihr Blick wanderte weiter zu dem Verletzten, der leise vor sich hin stöhnte. Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, um den beiden Gefangenen in dem Kellerloch zu helfen, durfte sie sich nicht ängstlich wie ein Kaninchen in seinem Bau verkriechen. Da gab es noch einige Sachen, welche sie unbedingt noch den beiden Gefangenen bringen wollte und so wie die Kroatin gerade in der Eingangshalle tobte und tickte, war Eile geboten, bevor sie dem Ganzen einen Riegel vorschob.


    „Bleiben hier! … Kommen gleich zurück!“, raunte Elena der Ärztin entschlossen zu und huschte aus dem Fitnessraum. Die Zugangstür ließ sie unverschlossen. Das Gekeife in der Eingangshalle verstummte, während sie den langen Kellergang entlang lief. Elena hielt am Treppenabsatz zum Erdgeschoss an und sondierte vorsichtig ihre Umgebung. Wo war Gabriela abgeblieben? Als sie die verhasste Kroatin auf der Terrasse entdeckte, schlich sie in die Küche. So geräuschlos wie möglich, packte sie einige Essensvorräte für Anna und Ben zusammen. Die vorbereitete Brühe für den Verletzten füllte sie in eine Thermoskanne um, ebenso den Früchtetee, der mittlerweile mehr als gut durchgezogen war, für die junge Ärztin. Anschließend riss sie nacheinander alle Schubladen und Schränke auf und durchsuchte sie, nach der einen Schachtel Schmerztabletten.

    „Verdammt, irgendwo muss sie doch sein!“, murmelte sie leise in ihrer Muttersprache vor sich hin. Sie war sich sicher gewesen, dass irgendwo eine Packung liegen müsste. Nichts … die waren weg, einfach verschwunden. Mit zusammengekniffenen Lippen grübelte sie kurz nach, Anna hatte nach weiterem Verbandsmaterial gebeten. Durch die geöffnete Küchentür sah sie das Objekt ihrer Begierde. Wie eine Versuchung lag der gefleckte Armeerucksack auf der untersten Treppenstufe zum Obergeschoß. Der rote Halbmond auf weißen Untergrund leuchtete ihr förmlich entgegen. Doch das erschien ihr zu gewagt, ohne die Zustimmung der Söldner den Rucksack in den Kellerraum zu schaffen. In ihrer Position konnte es sich die junge Frau nicht leisten, die beiden Männer zu vergraulen. Noch einmal warf Elena einen prüfenden Blick in den großen Weidenkorb, als Gabriela mit ihrem Handy am Ohr in Richtung Eingangstür an der geöffneten Küchentür vorbei ging, ohne Elena eines Blickes zu würdigen. Vor dem Bedienungsmodul der Alarmanlage, das rechts neben der Tür angebracht war, blieb sie stehen und tippte einen Zahlencode ein.


    Elena wusste, dass man damit über Funk das Tor auf der Zufahrt zum Grundstück öffnen konnte. Solange Gabriela dort stand, wagte es die Russin nicht, die Eingangshalle zu durchqueren, um zum Treppenabgang in das Kellergeschoß zu gelangen. Sie drückte sich gegen den Türrahmen und beobachtete die Kroatin, die zwischenzeitlich die Eingangstür geöffnet hatte und nach draußen marschiert war. Wie üblich zündete sich Gabriela eine ihrer Zigarillos an und inhalierte den Rauch tief in ihre Lungen.


    Die Sonnenstrahlen fielen durch die offen stehende Eingangstür ins Innere der Villa, in denen feine Staubkörner flimmerten und ihren ureigenen Tanz vollführten. Eine angenehme Wärme verbreitete sich bis in die Küche.


    Der Kies auf der Zufahrt knirschte, ein Fahrzeug näherte sich dem Haus an. Schnell huschte Elena zurück zu dem Küchenfenster, das ihr einen Blick auf die Zufahrt und den Parkplätzen vor dem Eingangsportal erlaubte. Eng schmiegte sie sich an den Fenstersims, in der Hoffnung, dass man sie von draußen nicht sehen konnte. Durch den gekippten Fensterflügel drangen die Geräusche an ihr Ohr. Doch anstelle des erwarteten schwarzen Toyotas oder dem Jeep, der von Sascha und dessen Komplizen benutzt wurde, rollte dort ein schwarzer Passat Kombi mit einem ausländischen Kennzeichen heran. Gabriela stapfte die Treppe hinunter, um ihre Gäste dort zu begrüßen. Zuerst öffnete sich die Beifahrertür und ihr entstieg ein Mann, bei dessen Anblick Elena erst einmal schluckte. Er überragte die Kroatin um Haupteslänge. Seine glattrasierte Glatze spiegelte sich im Sonnenlicht. Im krassen Gegensatz dazu stand der dunkle Vollbart mit seinen silbernen Streifen, der den unteren Teil seines zerfurchten Gesichtes verdeckte. Mit seinen dunklen Augen musterte er Gabriela. Nach einigen Sekunden huschte der Ansatz eines Lächelns über ihr Gesicht und sie lief die letzten Meter auf den Glatzköpfigen zu. Die Begrüßung der Beiden fiel sehr herzlich und innig aus.


    Elena durchlief ein Schauer nach dem anderen bei dem Anblick des Mannes. Ihr Magen krampfte sich

    zusammen. Sie musste sich förmlich zwingen, wieder ruhig zu werden. Entschlossen packte sie den Weidenkorb, schnappte sich die kleine Autoverbandstasche und einen Sixpack Mineralwasser. Das Gemurmel in serbischer Sprache, das von der Eingangstür zu hören war, versuchte sie so gut es ging, zu verdrängen. Anna kniete neben ihrem verletzten Freund und spritzte ihm gerade etwas in den Zugang, als sie den Fitnessraum betrat.


    „Ich glaube, es dauert nicht mehr lange und Ben wird wach!“, erklärte ihr die Ärztin, während sie sich erhob und ihr einige Schritte entgegen kam. „Er war so unruhig in den letzten Minuten.“
    Elena stellte den Weidenkorb auf den Boden, der üppig mit belegten Broten, frischen Obst und zwei Tetra Pack Milch gefüllt war. Sie deutete auf die beiden Thermoskannen und fügte erklärend hinzu: „Tee für Anna!“ und ihr Finger wanderte zur roten Kanne „Brühe! Gut für kranken Mann!“
    „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll Elena!“, murmelte Anna.
    Die Russin holte eines der belegten Brote aus dem Korb und hielt es ihr auffordernd hin. „Essen …!“ Mit einem traurigen Miene verkündete sie Anna: „Keine Medikamente … Nichts da im Haus! … Nur das hier!“, dabei holte sie die kleine Verbandstasche aus dem Korb heraus und überreichte sie Anna, die ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte.
    „Das wird nicht lange reichen! Ich brauch mehr, verstehst du Elena? Viel mehr Verbandsmaterial!“
    „Einkaufscenter haben Apotheke … Nächstes Mal einkaufen … du aufschreiben!“ Elena unterstrich ihre Worte, in dem sie mit dem Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand Schreibbewegungen im linken Handteller macht. Sie versuchte Anna ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Komm … essen! Du brauchen viel Kraft!“ Ihr Blick wanderte dabei zu Ben und gleichzeitig hielt sie der Dunkelhaarigen erneut den Teller mit Essen hin.


    Anna griff zögernd nach einem der Brote, die mit Frischkäse und ein bisschen Rohkost belegt waren. Man sah ihr an, dass sie keinen Hunger hatte und sich regelrecht zwang, in das Brot hinein zu beißen.
    In der Eingangshalle wurde es laut. Gabriela brüllte lauthals nach der jungen Russin. Zum Abschied drückten sich die beiden Frauen herzlich. „Anna, bitte, Elena vertrauen!“ wisperte die junge Russin zum Schluss und huschte aus dem Fitnessraum und verschloss ihn sorgfältig, so wie es von Gabriela gefordert worden war.

  • Anna konnte nicht einschätzen, wieviel Zeit verstrichen war, seit Elena den Fitnessraum verlassen hatte, als die Zimmertür mit einem lauten Knall gegen die Wand flog. Der Schnauzbärtige stand unter dem Türrahmen und stieß vor Überraschung einen Pfiff aus. Akribisch scannte er mit seinem Blick die Veränderungen im Raum. Camil konnte sich im ersten Moment gar nicht vorstellen, dass dies mit dem Einverständnis von Gabriela geschehen war. Er verstand diese Frau immer weniger. Im Gegenteil ihr Verhalten war für ihn nicht mehr rational nachvollziehbar. Gabrielas Persönlichkeit war ein Widerspruch in sich selbst und dafür gab es nur eine vernünftige Erklärung: Die Kroatin war verrückt. Doch ihm sollte es egal sein, solange sie das fürstliche Gehalt, dass Remzi ihm zugesagt hatte, pünktlich auf sein Konto überwies. Nur das war für ihn ausschlaggebend. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole, deren Lauf auf Anna gerichtet war. Langsam näherte er sich der Bodenmatte an.


    „Boah ist hier der Luxus ausgebrochen!“, kommentierte er die neue Ausstattung des Raumes in seinem harten Akzent. Camil ging vor der Matratze in Höhe von Bens Kopf in die Hocke. Dabei behielt er Anna sichernd im Auge, die einige Schritte rückwärts in Richtung des Fensters zurückgewichen war. Mit einem geübten Griff überzeugte er sich, dass Ben noch am Leben war.
    „Eines muss man deinem Lover lassen, der Kerl ist unglaublich zäh! Ich hätte nicht erwartet, den noch einmal lebend anzutreffen!“ Er richtete sich wieder auf und wandte sich endgültig Anna zu. „Los, vorwärts!“, forderte er sie auf, vor ihm her zu gehen und deutete mit dem Lauf der Waffe in Richtung Ausgang, „Remzi braucht dich!“


    Das Erlebnis vom Morgen war sofort in Anna präsent. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich und ihre Handflächen wurden schweißnass. Unwillkürlich bewegte Anna sich rückwärts von dem Schnauzbärtigen wer, bis eine Hantelbank ihre Bewegung stoppte.


    „Nun mach schon Weib, wir haben nicht ewig Zeit!“, bekräftigte er seine Aufforderung. Mit einigen schnellen Schritten war Camil bei ihr, umfasste ziemlich rüde ihr Armgelenk und zerrte sie hinter sich her.
    „Na los, stell dich nicht so an Mädchen!“, fuhr Camil Anna genervt an, die ihm nur widerstrebend durch den Flur im Keller folgte. Immer wieder versuchte sie, sich aus seinen Griff zu winden. Er stoppte wandte sich der Ärztin zu und umfasste ihre Oberarme. „Man hör auf damit! Dir passiert schon nichts!“, versicherte er ihr und setzte den Weg fort.


    Sollte diese Aussage sie wirklich beruhigen? Anna konnte den gierigen Blick des Grauhaarigen nicht vergessen. Seine ekeliger Atem schwebte noch in ihrer Nase und seinen Speichel spürte sie förmlich noch am Hals runterlaufen. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und es fröstelte sie. Doch so leicht würde sie es ihm diesmal nicht mehr machen, sie war vorbereitet. Zusammen erreichten sie das Erdgeschoss. Die Eingangshalle wurde von einer Blutspur durchzogen, die sich auf den hellen Marmorplatten deutlich abzeichnete. Camil steuerte mit ihr einen Raum an, aus dem abwechselnd schmerzhaftes Gestöhne und das rüde Fluchen eines Mannes drangen. Durch die geöffnete Schiebetür betraten sie einen vom Sonnenlicht durchfluteten Raum, der das Esszimmer des Hauses darstellte. Wie die bisherigen Räume der Villa, die Anna gesehen hatte, strotzte auch der Essraum vor Luxus. Als Bodenbelag war der gleiche schwarze italienische Marmor wie im Badezimmer im Keller verwendet worden, der von feinen weißen Adern durchzogen war. Auf dem großzügig dimensionierten Esstisch, dessen Tischplatte aus weißem Marmor bestand, lag der grauhaarige Söldner, der am Morgen sie und Ben noch so furchtbar gequält hatte. Die Designerstühle waren achtlos zur Seite geschoben worden. Anna hatte keine Zeit, die aufgereihten Glasvitrinen an der Wand und die sich darin befindenden Kostbarkeiten zu bewundern.


    Ihr Blick blieb auf Remzi Berisha haften, der sich vor Schmerzen auf dem Tisch wand. Am Kopfende des Tisches stand ein schwarzhaariger Mann. Der südländische Typ musste seine ganze Kraft aufwenden, um den Verletzten mit einem eisernen Griff an beiden Schultern auf der Tischplatte zu fixieren. Deutlich zeichneten sich unter dessen hellblauen Shirt die Muskelstränge ab. Ein weiterer Mann, der dem anderen wie ein Ei dem anderen glich, versuchte eine stark blutende Wunde am linken Oberschenkel zu versorgen. Zwillinge, analysierte die Ärztin. Dessen hellblaues Boxershirt und die Jeanshose waren von Blutflecken und Spritzern überzogen. Unterhalb von Remzis Füßen lag ein eigentümlich gefleckter Rucksack, dessen Inhalt zwischen seinen Unterschenkeln verstreut lag. Aufgerissene Verbandspäckchen lagen am Boden. Ihr Blick schweifte weiter durch den Raum. Vor der Terrassentür entdeckte sie Gabriela, deren Gesicht vor Zorn gerötet war. Ihre eisgrauen Augen blitzten wütend in ihre Richtung.


    „Hilf ihm!“, befahl sie Anna barsch.


    Die junge Ärztin näherte sich dem Verletzten und konnte ihr Gefühl der Schadenfreude nicht unterdrücken, das in ihr aufwallte, als sie die Schwere der Verletzung mit einem geübten Blick erkannte. Zumindest schaffte sie es sich so weit zu beherrschen, dass man es auf ihren Gesichtszügen nicht ablesen konnte. Der verhasste Kerl blutete wie ein Schwein, wahrscheinlich war ein Gefäß verletzt worden. Der Südländer, der sich an der Versorgung der Wunde versucht hatte, hatte das Hosenbein aufgeschnitten und diese bereits freigelegt. Das Einschussloch war deutlich sichtbar.


    „Ist die Kugel wieder ausgetreten?“, fragte sie den Enddreißiger. Der hatte in seiner Not, das Bein mittlerweile abgebunden, um den Blutverlust zu begrenzen. Camil trat näher hinzu.

    „Nein!“, gab er als Antwort zurück, „Sie steckt noch drinnen. Deshalb bist du auch da, du sollst sie rausholen und die Blutung stoppen!“
    „Und mit was?“
    Anna hatte den Inhalt des Rucksacks, den der Südländer ausgeschüttet hatte, begutachtet, außer Verbandsmaterial war da nichts zum Entfernen eines Geschosses dabei. Die junge Ärztin streifte sich ein paar Handschuhe über.
    „Ich brauche meine schwarze Tasche aus dem Keller! Elena soll die Instrumente, die lose darin liegen in heißem Wasser auskochen!“, befahl sie dem Schnauzbärtigen und untersuchte dabei mit geschickten Fingern die Schussverletzung.
    „Habt ihr was zum Betäuben? … Die Medikamente aus der Notfallausrüstung sind aufgebraucht. Das könnte ihm ein bisschen wehtun, wenn ich die Kugel rausholen soll!“


    Oh, wie sie diesem perversen Schwein diese Schmerzen gönnte. Anna hatte dabei Bens Anblick vor Augen. Im Gegensatz stand da ihre Berufung als Ärztin, der sie sich verpflichtet fühlte, auch solch einem Menschen gegenüber, den sie mittlerweile abgrundtief hasste, zu helfen.
    „Außerdem brauche ich Rasierzeug, um diesen behaarten Affen die Haare zu entfernen.“
    Camil erteilte einige Befehle in seiner Muttersprache. Der dritte Mann, ein Glatzkopf, der bisher noch nichts gesprochen hatte, schleppte aus einer der Vitrinen eine geöffnete Flasche Wodka an, die er Remzi in die Hand drückte. Gierig trank der Grauhaarige, in der Hoffnung seinen Schmerz damit etwas zu lindern.
    Es dauerte nicht lange und die betäubende Wirkung des Alkohols tat langsam seine Wirkung. Der verletzte Serbe hatte die Flasche binnen weniger Minuten zur Hälfte geleert. Unruhig schaute Anna zur Verbindungstür zur Küche. Dort herrschte Stille.

    Wo blieb denn Elena nur?

    War etwas mit Ben?

  • Ben war es einfach nur fürchterlich kalt. Das Zittern seines Körpers und die Kälte holten ihn mehr und mehr in das hier und jetzt zurück. Stück für Stück nahm er seinen Körper wahr. Selbst seine rechte Körperhälfte auf der er ruhte, fühlte sich nur kalt an. Mit seinen Fingern tastete er den Untergrund ab. Er glaubte zu träumen, als er bemerkte, dass er auf etwas Weichem lag. Mehr und mehr tauchte er aus dem Schattenreich auf. Er zwang sich die Augenlider zu öffnen und suchte mit seinen Blicken nach Anna. Er wendete den Kopf, versuchte den Rest des Raumes zu erfassen. Die Zugangstür stand offen. Für seine Entführer schien er kein ernst zu nehmender Gegner mehr zu sein. Geräusche drangen zu ihm durch, laute Stimmen, Stöhnen und auch Schmerzensschreie. Anna! Panik überfiel ihm, hatte sich die grauhaarige Bestie seine Freundin geholt. Tränen schossen ihm in die Augen, da war nur noch Angst in ihm, die den Schüttelfrost und seine körperliche Not in den Hintergrund drängten. Adrenalin schoss in seine Adern. Helfen! Er musste ihr helfen! Zitternd stemmte er sich auf seinen rechten Unterarm und versuchte sich weiter aufzurichten. Ein Sturm von Schmerzen entbrannte in seinen Körper. Er drohte wieder in sich zusammenzusacken. Auf seine linke Handfläche gestützt, versuchte er den Schwindel aus seinem Kopf zu vertreiben.


    „Nein! … Nein! … Nicht!“, rief eine aufgeregte Frauenstimme.


    Eine energische Frauenhand drückte ihn zurück auf das Kopfkissen. Eine hübsche brünette junge Frau blickte ihn besorgt an. In Bens Kopf tobte nur eine Gedanke, wo war seine Freundin. „Anna?“ flüsterte er.
    „Alles gut!“, beruhigte ihn Elena, „Anna gut! … alles gut, ja … Liegen bleiben Ben! … ja … ich Elena!“ Sie konnte das Zittern seines Körpers und seine Gänsehaut unter ihrer Handfläche fühlen. „Dir kalt? … Frieren?“, erkundigte sie sich fürsorglich.
    Die Anspannung ließ bei ihm nach und seine Zähne fingen an zu klappern und ersparten ihm eine Antwort. Elena blickte sich um und schnappte sich zwei Wolldecken, die sorgsam zusammengefaltet am Ende der Matratze lagen und warf sie über Ben.
    „Besser?“ – „Ja!“ – „Nichts Unsinn machen… ja … liegen bleiben! … Anna kommen!“, wies sie den Verletzten an. Ben nickte verstehend und schloss erschöpft die Augen. Eine gewisse Unsicherheit blieb und seine Gedanken drehten sich nur um seine Freundin.


    *****


    Anna versuchte damit ihre Nervosität zu überspielen, indem sie das Verbandsmaterial, die Kompressen und was sie sonst noch zur Wundversorgung benötigte, sich zu Recht legte. Ihr Patient lag mittlerweile relativ ruhig auf der Tischplatte und wurde nur noch an den Schultern leicht festgehalten. Der Alkohol hatte seine Sinne benebelt. Gabriela stand unter der geöffneten Terrassentür und inhalierte den Rauch ihrer Zigarillo. Schweigend hatte sie die Erstversorgung ihres Kumpels beobachtet.


    „Camil, Iwan ….!“, rief die Kroatin lautstark.


    Den Rest ihrer Worte verstand Anna nicht, da sie in einer fremden Sprache gesprochen wurden. Die beiden genannten Männer setzten sich in Bewegung und folgten Gabriela auf die Terrasse. Dort entbrannte ein hitziges Wortgefecht zwischen Camil und der Frau, während der Glatzkopf den stillen Zuhörer mimte. Auch ohne Sprachkenntnisse kapierte Anna recht schnell, dass die Kroatin blind vor Wut war. Die Lautstärke schwoll an und immer wieder fiel der Name Gerkhan. Innerlich triumphierte die Ärztin auf. Scheinbar hatte sich die Bande bei Semir eine blutige Abfuhr geholt.


    Fast schon unbemerkt war Elena ins Esszimmer geschlichen. Durch ein Handzeichen gab sie Anna zu verstehen, ihr in die Küche zu folgen. Die Zwillinge hinderten sie nicht daran, sondern standen wie Statuen an ihrem Platz und verfolgten angespannt die Diskussion auf der Terrasse.
    Das Wasser im Kochtopf hatte schon längst den Siedepunkt überschritten. Wasserdampf vernebelte ein wenig die Sicht in der Küche. Vor dem Elektroherd blieben die beiden Frauen stehen.


    Elena hielt Anna die geöffnete Arzttasche hin und wisperte ihr zu: „Ben wach! … Ihm waren kalt … Elena ihn zudecken …!“, während die Ärztin nach und nach die benötigten Instrumente in das kochende Wasser warf. Die Russin verstummte schlagartig und bevor Anna eine weitere Frage zu Bens Zustand stellen konnte, erschien im Türrahmen einer der Zwillinge und herrschte sie in einer fremden Sprache an. Die Geste der Waffe, die er in der Hand hielt, war unmissverständlich. Sie sollte Elena alleine lassen. Auf dem Weg zurück zum Esstisch wusste Anna nicht, ob die Worte der Russin wirklich beruhigend für sie waren. Sie hatte ihrem Freund vor einer Stunde sicherheitshalber eine Dosis Schmerzmittel verabreicht. Diese sollte noch ein paar Stunden vorhalten, weil sie ja geahnt hatte, dass er mit Stabilisierung seines Zustandes erwachen würde. Zumindest würde er momentan nicht leiden, im Gegensatz zu dem Grauhaarigen. Remzi stöhnte und wimmerte lauthals vor sich hin, als Anna rund um die Eintrittsstelle der Kugel das Bein sorgsam rasierte und mit einer Lösung desinfizierte. Fast schon genüsslich legte an die ausgekochten Instrumente auf einem sterilen Tuch bereit. Ihr entging Remzis schmerzverzerrter und angstvoller Blick nicht. Du sadistisches Schwein, andere leiden lassen und selbst keinen Schmerz ertragen können, dachte sie bei sich. Ich werde nicht besonders zärtlich sein, das verspreche ich dir.
    Sie wandte sich an Camil, der zwischenzeitlich mit dem Glatzkopf zurückgekehrt war. „Haltet ihn gut fest, wenn ich anfange!“


    Mit dem Skalpell vergrößerte sie ein bisschen die Eintrittswunde und holte mit einer Sonde die Kugel heraus. Remzi versuchte sich vor Schmerz aufzubäumen, um sich zu schlagen und zu treten. Dabei schrie er sich die Seele aus dem Leib. Selbst zu viert gelang es den Männern nicht, den Verletzten zu bändigen. Kurz entschlossen, setzte ihn Camil mit einem Kinnhacken außer Gefecht.


    „Die Kugel war im Oberschenkelknochen gesteckt!“, erläuterte die Ärztin dem Schnauzbärtigen, was sie gerade machte, weil dieser ihr Tun misstrauisch verfolgte. Dank der extrem guten Beleuchtung über dem Esstisch gelang es ihr sogar abgesplitterte Knochenfragmente aus der Wunde zu holen. Anschließend vernähte sie ein verletztes Gefäß. Sorgsam legte sie aus dem Verbandsmaterial einen Druckverband an. Sie löste die Staubinde oberhalb der Verletzung. Zufrieden streifte sie sich die Handschuhe ab, als kein Blut den Verband rot färbte.


    Abschließend meinte sie zu Camil: „Mehr kann ich nicht für ihn tun! Der Knochen ist wahrscheinlich angebrochen. …“, sie zuckte mit den Schultern, „genau kann ich es nicht sagen, dazu bräuchte man eine Röntgenaufnahme!“ Während sie sich mit einem Tuch ein wenig säuberte und ihre Instrumente zusammenpackte, meinte sie: „Er wird die nächsten Tage ziemlich starke Schmerzen haben und das Bein vermutlich nicht belasten können. Wenn möglich sollte er liegen bleiben und das Bein ruhig halten!“
    Nicht nur der Schnauzbärtige, sondern auch seine beiden Komplizen waren während der Operation recht blass geworden. Suchend blickte sich Anna im Raum um. Die Kilic war verschwunden. Nur am Rande hatte sie während der Operation mitbekommen, dass die Kroatin im Treppenhaus mit einem Herrn Brauer telefoniert hatte. Sie hatte nur einzelne Wortfetzen verstanden, da sie sich auf den Eingriff konzentrieren musste.

  • Gabriela beendete das Telefongespräch mit dem Mann vom BKA. In ihren Augen war der Tag bisher richtig mies verlaufen. Ihr Grimm über die misslungene Entführung des Türken kannte keine Grenzen. Dazu kam die Schussverletzung von Remzi. Der Söldner war bisher ihr wertvollster Mitstreiter bei ihrem Rachefeldzug gewesen. Sein Ausfall in den nächsten Tagen traf sie hart. Remzi konnte Unternehmungen strategisch planen, Risiken einschätzen, Bomben bauen und sprach fließend deutsch. Solche Fähigkeiten brachten die vier anderen Söldner einfach nicht mit. Die Nachrichten, die der Kontaktmann ihr übermittelt hatte, steigerten ihre Wut ins Unermessliche. Seit heute Morgen stand Remzi Berisha auf der Fahndungsliste der Polizei in Nordrhein-Westfalen auf Platz eins. Man hatte ihn als Entführer von Anna Becker identifiziert. Darüber hinaus hatten die Ermittler am Tatort auf der Autobahn wertvolle Spuren sichern können. Brauer hatte sie eindringlich vor weiteren Aktivitäten gewarnt. Wie lautete sein letzter Satz:
    „Wenn Sie so weiter machen, kann ich Sie vor dem Zugriff der Justiz nicht mehr schützen!“


    ‚Was bildete sich dieser A.rsch ein?‘, schoss es ihr durch den Kopf. Schließlich zahlte sie ihm ein kleines Vermögen. Dafür konnte man entsprechende Gegenleistungen erwarten. So war das alles nicht geplant gewesen. Der Schuldige war in ihren Augen schnell gefunden: Semir Gerkan. In ihrem Kopf brannten im wahrsten Sinne des Wortes einige Sicherungen durch. Ihr Herzschlag hämmerte wie verrückt zwischen ihren Schläfen. Druck baute sich auf in ihren Kopf. Der Schmerz den sie dabei empfand trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Sie drückte ihre Stirn gegen die Wand, bis sie das Gefühl hatte er würde platzten. Ihre linke Hand hatte sie zu einer Faust geballt und pochte wie verrückt dagegen. Sie musste irgendwo Dampf ablassen, der aufgestaute Frust brauchte ein Ventil und so stapfte sie in das Kellergeschoss.


    Die Kilic stand neben dem provisorischen Bett und betrachtete den jungen Polizisten. Vor ihr lag der Mörder ihres Bruders, der Mann, der ihre letzten Familienmitglieder ausgelöscht hatte. Gleich einer Monsterwelle aus dem Meer den Strand und das dahinterliegende Land überflutete, ergriff der Hass von ihr Besitz. Was hinderte sie daran den Schwerverletzten hier und jetzt zu töten. Ihre Gedanken schweiften ab zum Morgen. Gleich einem Film, der vor ihrem inneren Auge ablief, sah sie die Szenen vor sich, das letzte Aufbäumen von Jäger, um seine Freundin zu schützen. Sein und ihr Kampf ums Überleben. Ihr Körper zitterte und vibrierte dabei vor Erregung. Ihre Atmung wurde laut und hektisch. Das Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich weiter und kam zu ihrem anderen Erzfeind: Den türkischen Autobahnpolizisten. Sie schnaufte hörbar durch. Eine Lösung musste her, wie konnte sie diesen knoblauch-fressenden Türken in die Finger bekommen? Ihr fiel der alte Spruch ihrer Mutter ein, mit Speck fängt man Mäuse. Ja, genau! Das war es. Sie musste ihn in eine Falle locken, ihn anlocken und der beste Köder, war der junge Mann zu ihren Füßen oder dessen Freundin. Sie wiegte ihren Kopf von rechts nach links und begann ihr Gedankenspiel wieder von vorne. Brauchte sie ihn wirklich noch? Völlig unerwartet schlug er die Augen auf. Seine Pupillen weiteten sich vor Entsetzen, als er sie erkannte. Ein wohliger Schauer rann ihr vor Entzücken über den Rücken.


    „Eines muss ich dir lassen, mein Freund, du bist bemerkenswert zäh. Ich habe schon Kerle abkratzen sehen, die weniger schlimm verwundet waren.“ Eine Idee schoss ihr durch den Kopf. Schon allein bei der Vorstellung, leckte sie sich genüsslich über ihre Lippen.


    „Ich … bin nicht … dein … Freund!“, konterte er mit schwacher Stimme zurück.


    In ihren Augen blitzte dieses seltsame irre Leuchten auf. „Sehe schon, du hast Lust auf Spielchen! … Kannst du gerne haben!“


    Albern kicherte Gabriela vor sich hin. Aus einem Gürtelholster am Rücken zog sie einen kleinen Trommelrevolver. Sie öffnete das Magazin und entnahm ihm alle Patronen, bis auf eine. Sanft ließ sie die Trommel über ihren rechten Arm gleiten, auf und ab. „Kennst du dieses Spielchen? …. Ich liebe es. …. Es hat so einen gewissen Kick, wenn du verstehst, was ich meine!“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Sie weidete sich förmlich an seinem Entsetzen, als sie weiter sprach. „Weißt du mein Freund, ich brauche dich nicht mehr unbedingt. Um den kleinen Türken zu kriegen, habe ich ja noch ein viel besseres Lockmittel: deine süße Freundin! Und wir beide hatten ja in den letzten Tagen schon unseren Spaß miteinander!“ Ein wahrer Schwall von Glückshormonen überflutete ihren Körper.


    Ben konnte die Boshaftigkeit, die diese Frau ausstrahlte, fast körperlich spüren. In ihren Augen loderte der blanke Wahn. „Na los, bring … es zu … Ende!“, forderte er die Kroatin heraus.
    Die lachte zynisch auf „Gibst du langsam auf? … So kenne ich dich nicht! …Kein Kampfeswille mehr???? … Gestern warst du noch bereit dich zu opfern! …“ Sie feixte vor sich hin und verzog ihr Gesicht zu einer enthemmten Fratze. „Denk doch an deine süße Freundin! … Remzi wird sich freuen, wenn er ein neues Spielzeug im Bett hat!“, provozierte sie ihr Opfer. Sie umrundete dabei die Matratze, auf der Ben lag.


    „Du Miststück! …. Du elendes Miststück!“, keuchte Ben wutentbrannt hervor und versuchte sich in die Höhe zu stemmen. Schmerzwellen brandeten durch seinen Körper und ließen ihn aufstöhnend zurücksinken. Er drehte sich auf den Rücken und schrie vor Schmerz auf. Gabriela fing an wie irre vor sich hinzukichern.


    „Na wer sagt es denn! … So gefällst du mir schon viel besser! Der verwundete Held kämpft um seine Braut!“
    Sie gluckste vor sich hin und ließ erneut die Trommel über ihren Arm rotieren. Lachtränen liefen ihr über die Wangen, als sie auf Ben anlegte. Bereit den Abzugshahn durchzuziehen, zielte Gabriela auf den Kopf ihres Opfers.


    „Sag in Gedanken ciao, zu deiner süßen Freundin!“


    Sie bog den Zeigefinger endgültig durch.

  • Ben spürte, wie ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand. Er hielt die Augen offen und fixierte die Mündung der Waffe. Fast wie Hartmut, begann er im Kopf mit einer mathematischen Formel seine Chancen abzuwägen. Würde der Abzugshahn auf diese einzige Patrone treffen oder eine leere Kammer? Sein Pulsschlag beschleunigte sich.


    Gabriela zog den Abzugshahn durch. Ben erwartete das Aufblitzen des Mündungsfeuers und den Einschlag der Kugel in seinem Körper. Es machte einfach nur klack. Leer! … Die Kammer war leer. Erleichtert atmete er auf, bis er erkannte, dass die Kroatin das perverse Spiel von neuem begann. Sie feixte vor Freude vor sich hin. Wieder ein Klack … Leer! … Sie befand sich wie in einem Rauschzustand. Völlig entrückt … weit weg …. und wiederholte es nochmals und nochmals. Als ihr Opfer keine Emotionen mehr zeigte, wurde sie dessen überdrüssig und es langweilte sie.


    „Du hast Glück Jägerlein, der Teufel will dich scheinbar noch nicht! … Genieß deine Schonfrist!“
    Auf dem Weg zur Treppe grinste Gabriela sadistisch vor sich hin. In den letzten Minuten hatte sie eine abgrundtiefe Befriedigung empfunden. Die Glückshormone, die ihre Adern durchströmten, hatten ihr den ultimativen Kick versetzt.


    Nachdem Gabriela den Raum verlassen hatte, ließ die Anspannung in Bens Körper nach. Der Adrenalinspiegel in seinem Blut sank und die Schmerzen kehrten zurück, weil auch die Wirkung des verabreichten Schmerzmittels nachließ. Gleich einer Horde wilder Tiere fielen die Schmerzen über ihn her, wüteten in seinen Eingeweiden. In seiner linken Schulter pochte es im Rhythmus seines Herzschlags und sein Rücken brannte wie ein kleines Höllenfeuer. Er veränderte seine Körperhaltung, dass zumindest der Schmerz ein wenig erträglich wurde. Nur nicht bewusstlos werden, nahm er sich vor und fixierte einen Punkt vor sich am Boden. Weil er sich einbildete, dass würde dem Toben in seinem Bauch Einhalt gebieten, verkrümmte er sich weiter, zog die Beine weiter an. Ben konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und seine Atmung. Der Druck in seinem Kopf ließ nach. Es gelang ihm den Schmerz ein wenig aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Angestrengt lauschte er auf die Geräusche, die bis zu ihm durchdrangen. Die Kilic hatte wie zum Hohn die Zugangstür offen gelassen. Der verletzte Polizist wusste, in seinem Zustand war er nicht fähig auch nur einen Zentimeter zu kriechen. So lag er da, von Schmerzen gepeinigt und wartete darauf, dass Anna zurückkehrte.


    Stimmen näherten sich, Schritte hallten im Gang vor dem Zimmer. Die Zugangstür wurde ins Schloss gezogen und versperrt. Jemand strich ihm sanft über die Wange.
    „Ben …. Ben? … Schau mich an!“, sprach Anna ihn liebevoll an.
    Ben riss sich zusammen und öffnete die Augenlider. Sein Blick suchte Kontakt zu ihren Augen und ohne Worte erkannte sie, welche Qualen er durchlitt.
    „Ich habe nichts mehr!“ meinte sie hilflos, „Ich kann dir nichts gegen die Schmerzen geben, Schatz!“
    „Ich …weiß!“, hauchte er. „Hat … ER … dir etwas …angetan?“
    Anna ergriff seine Hand und umschlang sie, küsste den Handrücken und fuhr damit über ihre Wange. „Nein, nein…. Das grauhaarige Schwein hat sich eine Kugel eingefangen. … Der kann dir und mir die nächste Zeit nichts mehr antun.“
    Erleichterung machte sich in Ben breit. „Das ist gut! …Das ist gut!“
    „Ich habe nicht genau verstanden was passiert ist. Es muss irgendetwas mit Semir zu tun haben. Sein Name ist mehrfach gefallen, als die miteinander stritten. Die Kilic war furchtbar sauer und aufgebracht. Ich dachte, die verliert die Kontrolle über sich und bringt alle anwesenden Personen im Esszimmer um!“
    Die hat sich bei mir abreagiert, dachte Ben bei sich. Mit einem Mal war ihm einfach nur kalt. „Kalt … es ist … so furchtbar kalt hier…Anna!“, gab er als Antwort zurück. „Bitte! … Halt mich … fest …. Halt mich einfach nur fest!“ flehte er sie an.

    Seine Hand ergriff ihren Arm und zog sie näher an sich ran.
    „Ich werde dir noch mehr Schmerzen bereiten Ben! Wie soll ich dich denn halten!“
    „Komm!“ hauchte er nur.


    Er brauchte sie … musste ihre Nähe spüren … ihre Wärme … er fror so entsetzlich. Seine Zähne klapperten aufeinander. Sie lupfte die Zudecke und schmiegte sich behutsam an ihn heran. Ihren Kopf legte sie auf ihren linken Unterarm ab, mit ihrem rechten Arm strich sie über seine Wangen, seine Haare und seinen Rücken, darauf bedacht, keine seiner Verletzungen zu berühren. Seine Kiefermuskeln arbeiteten vor Anspannung und Schmerz. In seinen Augen lagen so viel Zuneigung und Liebe für sie und gleichzeitig der Ausdruck von unendlicher Qual. Sie lagen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Mit seinem Daumen zeichnete er die Konturen ihrer Gesichtszüge nach.


    „Ich liebe dich, Anna! … Mehr als mein Leben, mehr als es diese drei Worte jemals ausdrücken können. … Ich möchte, dass du das weißt!“ Er biss sich vor Schmerz auf die Unterlippe und schloss für einen Augenblick die Augen. Leise stöhnte er vor sich hin und die junge Frau merkte, wie er sich vor Schmerz verspannte. Unvermittelt schlug er wieder seine Augen auf. Darin lag ein Ausdruck voller Melancholie und Schmerz, der Anna durch und durch ging, sie in dem Innersten ihrer Seele traf. „Jeder Tag mit dir war ein Geschenk des Himmels für mich. … Anna, ich habe … Angst! Furchtbare Angst, dass ich es nicht … schaffen werde … nicht überleben werde und dich hier … allein zurücklasse! … Es tut mir leid, … so unendlich leid mein Schatz, dass du … wegen mir in diese …. Situation geraten … bist! … Und ich dich …. nicht … beschützen kann!“


    Er sah die Panik in ihren Augen aufsteigen, den Tränenschleier und gleichzeitig diese zornige und trotzige Schnute, die er so an ihr liebte. Anna richtete sich etwas auf und umfasste mit ihren Händen vorsichtig seinen Kopf. Wütend schüttelte sie ihren Kopf und zischte ihn an: „Du gibst nicht auf Ben Jäger! …Hörst DU! So haben wir nicht gewettet. Es gibt da noch was, was du wissen solltest. Du wirst Vater …. Verstehst DU? …. Ich erwarte ein Kind von dir! …“


    „Ein Baby???“ Seine Augen leuchteten auf und in seinen Augenwinkeln schimmerte es feucht, „Ein Baby…!“ hauchte Ben. „Wirklich? … Ich … werde Vater?“ Eine einsame Träne rann an der Wange herab.
    „Ja, Du wirst Papa!“ wisperte sie zurück. „Wir werden bald zu dritt sein. Eine richtig kleine Familie!“ Mit ihren Lippen verschloss sie seinen Mund, legte all ihre Liebe und Zuneigung, die sie für Ben empfand, in ihren Kuss. Als sie sich voneinander lösten, bettete sie seinen Kopf auf ihren Oberarm und ihre linke Brustseite, so dass er ganz nah an ihrem Herzen lag. Seine Beine waren leicht angezogen und sie passte sich seiner Körperform an. Anna nahm seine linke Hand und führte sie unter ihr Shirt zu ihrem Unterbauch.
    „Spürst du es?“ Sie presste seine kalte Handfläche auf die Stelle, an der man die Gebärmutter ertasten konnte, „Genau hier! Hier wächst unser kleines Baby heran!“

    Das Leuchten in seinen Augen verstärkte sich, bekam einen liebevollen Glanz.
    „Ich kann es gar nicht glauben mein Schatz!“, flüsterte er leise.
    „Dieses kleine Krümelchen da drinnen möchte einen Vater haben. Ich möchte, dass wir gemeinsam erleben wie unser Kind groß wird. Verstehst du! Man sieht schon die leichte Wölbung meines Bauches. Du kannst mich nicht alleine lassen, nicht im Stich lassen, Ben. Nicht jetzt! … Nicht jetzt! … Wir haben doch noch so viel vor! … Du musst leben … durchhalten … kämpfen für MICH! … FÜR UNS … FÜR UNSERE KLEINE FAMILIE!“


    Tränen liefen Anna über die Wangen, tropften in sein Haar. Leise schluchzend flehte sie ihn an: „Bitte halt durch Ben! Du musst KÄMPFEN“, wisperte sie ihm zu „Du bist ein Krieger! Mein Ritter! Hörst du … nur noch ein bisschen durchhalten, verstehst du! Semir wird kommen!“

  • Vor Erschöpfung fielen Ben die Augen zu. Eine bleierne Müdigkeit kroch durch seinen Körper. Die Dunkelheit, die sich wie ein Schleier über ihn legte, lockte ihn verführerisch an. Die Versuchung war greifbar nahe, sich einfach fallen zu lassen, hinweg zu dämmern auf die andere Seite. Keine Schmerzen mehr zu verspüren. … Aufgeben. Doch da waren die Worte seiner Freundin, die durch seinen Kopf geisterten und eine völlig andere Zukunft voraussagten. Die Aussicht auf eine eigene Familie, die Erfüllung seines größten Wunschtraumes. So groß die Versuchung auch war, er durfte den Kampf nicht aufgeben, egal wie stark die Schmerzen ihn peinigten. Er durfte Anna nicht einfach im Stich lassen. Die Feuchtigkeit ihrer Tränen sickerte in sein Haar. Seine rechte Wange ruhte an ihrer linken Brusthälfte. Er lauschte dem gleichmäßigen Pochen ihres Herzschlages. Unter seiner linken Hand verspürte er ihre samtweiche Haut. Sie hatte Recht. Selbst in seinem Dämmerzustand nahm er die deutliche Wölbung ihres Unterbauches wahr. Unbewusst zeichneten seine Finger die Kontur der vergrößerten Gebärmutter nach. Danach ließ er seine Hand einfach auf der Stelle ruhen und gab sich der Vorstellung hin, darunter schlug ein kleines Herz, wuchs ein neues Leben heran, sein Kind.


    Mit einem Mal fühlte sich alles seltsam ab. Hatte er noch bis vor wenigen Minuten gefroren, so verbreitete sich von innen heraus eine unbeschreibliche Wärme, ihm wurde auf einmal heiß. Sein Körper schien mit einem Schlag in Flammen zu stehen. Der Schmerz in seinem linken Unterbauch strahlte mit einer unglaublichen Intensität bis in seine linke Flanke hinein. Es pochte und stach unaufhörlich in den entzündeten Wunden. So sehr sich Ben auch bemühte, er war an seine körperliche Grenze gelangt. Er konnte es nicht länger ertragen. Vor Schmerz stöhnte und wimmerte er leise vor sich hin. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er schaffte es einfach nicht mehr länger wach zu bleiben. Seine innere Stimme verstummte und er driftete endgültig in eine Art Dämmerzustand ab.


    Anna hielt ihren Freund an sich gedrückt. Mit ihrer Handfläche bedeckte sie seine linke Hand, die auf ihrem Unterbauch ruhte. Nachdenklich lauschte sie seiner abgehackten Atmung. …. Seinem Stöhnen und seinem leisen Wimmern, das mehr und mehr verstummte. Der Schlaf, der mehr einer Ohnmacht glich, musste für Ben eine Erlösung sein. Auch ihr war nicht entgangen, dass das Fieber in den Körper ihres Freundes zurückgekehrt war. Gedankenverloren starrte Anna auf Ben. Nachdem sie innerlich ein wenig zur Ruhe kam, begriff ihr Verstand so nach und nach, was sie seit dem Zeitpunkt ihrer Entführung am gestrigen Tag erlebt hatte. Im Mittelpunkt ihrer Gedankengänge stand Gabriela Kilic. Sie versuchte deren Handlungen und Vorgehensweise zu analysieren und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, welches perverse Spiel diese Kroatin trieb. Es diente nur einem einzigen Zweck, aus purer Rache Bens Qualen und Leiden zu verlängern und Gabriela Vergnügen zu bereiten. Und sie, Anna, war unfreiwillig zu einer Hauptspielfigur geworden. Auch das Schicksal, welches Gabriela für sie vorherbestimmt hatte, war der jungen Ärztin sonnenklar. Einen kleinen Vorgeschmack hatte sie heute Morgen bekommen. Wenn es nach der Kroatin ging, würde sie dieses Anwesen nicht mehr lebend verlassen. Ein Schauer nach dem anderen rann über ihren Körper. Mehrmals atmete sie tief durch und unterdrückte die aufkommende Angst. Anna zerbrach sich ihren Kopf darüber, welchen Ausweg es gab, das drohende Unheil abzuwenden. Ihre Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Zum einen, war da die Hoffnung auf Rettung, doch was wäre, wenn Semir und seine Kollegen zu spät kommen würden? Ihr Blick glitt über Bens misshandelten Körper. Wie lange würde der Schwerverletzte noch durchhalten? Und dann? Was kam danach? Immer mehr verstand sie, wie hoffnungslos die Lage für Ben am gestrigen Tag gewesen sein musste, dass er sich zu der Verzweiflungstat hat hinreißen lassen. War das der Ausweg, den auch sie als letzten Schritt gehen würde? Müde schloss sie die Augen. Voller Wehmut dachte sie an die gemeinsamen Träume und Pläne, die sie zusammen mit Ben im Urlaub geschmiedet hatte.


    Ein lautes Geräusch ließ sie zusammenzucken.


    *****


    Auf der Dienststelle – am gleichen Tag - abends
    Kim Krüger saß angespannt an ihrem Schreibtisch. Die Ellbogen auf der Tischplatte aufgestützt, die Handflächen gegeneinandergedrückt, fuhr sie sich mit den Handkanten nachdenklich über ihren Mund und ihre Nase auf und ab. Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie schwer gezeichnet. Sie zerging in Selbstvorwürfen. Hatte ihre Beziehung mit dem Staatsanwalt bewirkt, dass sie als Chefin versagt hatte? Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum hatte sie nicht auf Semir Gerkan gehört? Warum? Sie quälte sich, versank in Grübeleien, aus denen sie ein leises Klopfen an der Glastür herausriss. Sie hob den Kopf und ein überraschtes,

    „Herr Gerkan! Was machen Sie denn hier?“, entfuhr ihr.
    „Guten Abend, Frau Krüger! Glauben Sie wirklich, dass mich in dieser Situation irgendetwas im Krankenhaus halten könnte?“, gab er ihr als Antwort zurück und sah wie sie leicht ihren Kopf zustimmend bewegte. „Und bitte keinen ihrer üblichen Vorträge, weil ich das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verlassen habe! … Dazu ist die Situation wohl zu ernst!“


    Ohne dass ihn seine Chefin dazu aufforderte, schloss Semir die Bürotür und ließ sich in einem der Besucherstühle vor dem Schreibtisch nieder. So sehr er sich bemühte, die zischende Atmung ließ sich einfach nicht unterdrücken, als die zahlreichen Prellungen sich beim Hinsetzen bemerkbar machten.


    „Was hat die Ringfahndung ergeben?“
    „Nichts!“, Kim schüttelte dabei den Kopf um ihren Worten noch Nachdruck zu verleihen, „Alle Ausfallstraßen aus Köln heraus und Umgebung wurden binnen kürzester Zeit gesperrt und kontrolliert. Es ist mir ein Rätsel, wie die da durchschlüpfen konnten! Man kommt sich vor, als suche man die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen!“ Sie lehnte sich nach hinten in ihren Bürostuhl. Ihre Schultern fielen herab, sie sackte resignierend in sich zusammen. „Unsere letzte Hoffnung für eine Spur ist die Verkehrsüberwachung. Hartmut ist mit einigen Kollegen daran, die Bänder auszuwerten.“
    „Wir müssen reden Frau Krüger!“, meinte Semir bestimmend.


    Susanne stand am Fahndungscomputer und beobachtete die einlaufenden Ermittlungsergebnisse. Von ihrem Standort aus konnte die Sekretärin Kim Krüger und den Türken gut beobachten. Der Verlauf der Besprechung im Büro der Chefin war an deren Mimik und Gestik gut abzulesen. Anfangs war Kim sauer, aufgebracht … zum Ende hin saß sie ruhig an ihrem Schreibtisch und nickte ihrem Kommissar zustimmend zu. Nach einer guten Stunde, in der Kim Krüger mehrmals telefoniert hatte, öffnete sie die Tür zu ihrem Büro und bat Susanne und Jenny zu sich. Wenig später traf auch Dieter Bonrath ein, der für alle unterwegs auf einer Autobahnraststätte belegte Brötchen besorgt hatte. Es fand ein reger Gedankenaustausch unter den Mitarbeitern der PAST statt.


    Das enttäuschende Ergebnis blieb: Sie hatten keinen noch so winzigen Anhaltspunkt auf den aktuellen Aufenthaltsort von Ben und Anna, wussten nicht wohin die mutmaßlichen Entführer verschwunden waren, wo der Verletzte ärztlich versorgt worden war.


    Der Zeiger der Uhr rückte gen Mitternacht, als Kim die Runde auflöste und allen befahl nach Hause zu fahren. Die Chefin entschied, dass Semir aus Sicherheitsgründen bei ihr für die kommende Nacht im Gästezimmer zur Untermiete einziehen sollte.

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