Time of Revenge

  • Ben erwachte von seinem eigenen Stöhnen. Tausend kleine Nadelstiche malträtierten seinen geschundenen Körper. Benommen registrierte, dass er nicht mehr an diesen Seilen hing, sondern in Bauchlage auf einem Holzboden lag. Der vertraute modrige Geruch verriet ihm, dass man ihn zurück in sein kleines Gefängnis gebracht hatte. Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken und tastete mit seinen Fingern behutsam über seinen Körper. Der Begriff „Gespickter Hasenrücken“ bekam für ihn eine neue Bedeutung. Denn genauso fühlte er sich, als seine Fingerkuppen über die Schnittverletzungen strichen. Das verkrustete Blut hatte sich mit den Resten seines zerschlissenen T-Shirts und seiner Hose verklebt. An seinen Oberarmen bedeckte Wundschorf die Schnitte. Mehr und mehr ebbte der Schmerz auf ein erträgliches Maß ab. Nur noch die tieferen Verletzungen brannten.


    Eine Schmeißfliege hatte den Weg in sein Verlies gefunden und umschwirrte ihn. Ihr ständiges Surren war das einzige Geräusch in der Dunkelkammer. Sie krabbelte über sein Gesicht und mehrmals versuchte der Polizist sie mit einem Wischen seiner Hand zu verjagen. Irgendwie schaffte er es unter großen Anstrengungen sich zum Sitzen aufzurichten. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand und schloss die Augen. Gabrielas Worte, er würde sich den Tod wünschen, herbeiflehen, bekamen langsam einen anderen Sinn. Tausend Dinge geisterten durch seinen Kopf.


    Erinnerungen
    Fragen
    Ängste


    Die Rachsucht von Gabriela Kilic kannte keine Grenzen! Und alles nur, weil sein Partner und er im vergangenen Jahr zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Anfangs hatte sich der Kommissar noch schwere Vorwürfe gemacht, dass Andrea und er Luca, den Bruder der Kroatin, bei ihrer gemeinsamen Flucht mit Aida blutend in dem Schuppen zurückgelassen hatten. Keiner konnte zu dem Zeitpunkt ahnen, dass es dem widerlichen Typen, laut der Aussage seiner Schwester, die Schlagader am Hals zerfetzt hatte. Als er im Nachhinein bei Recherchen raus gefunden hatte, dass es sich bei dem Mann um einen Schänder der übelsten Art und kaltblütigen Mörder gehandelt hatte, war es mit seinen Gewissensbissen vorbei gewesen.
    Ben tauchte weiter ab in die Bilder der Vergangenheit. Gleich einem Film spielten sich die Szenen in dem Schuppen vor seinem inneren Auge ab. Szenen, von denen er dachte, er hätte sie schon längst aus seinem Gedächtnis vertrieben. Gabriela hatte ihren Bruder abgöttisch geliebt und alles verziehen, was er angestellt hatte. Während der Gerichtsverhandlung, bei der er als Zeuge aussagen musste, hatte sie ihm mehr als einmal eine tödliche Vergeltung geschworen.


    Eine unbändige Angst und Panik stiegen in ihm hoch, wenn er daran dachte, was man ihm noch antun würde. Gleichzeitig war da noch dieser Urinstinkt in ihm, der ihm eintrichterte: Du musst überleben, weiter leben … weiterkämpfen. Fliehen!
    Wie so oft in den letzten Tagen, richtete er sich auf und humpelte zur Stahltür. Mehrfach hatte er schon versucht eine Schwachstelle in der Zugangstür zu finden. Ein Schlupfloch in die Freiheit.


    Enttäuscht rutschte er an der Stahltür runter auf den Boden. Durst quälte ihn. Vorsichtig begann er in dem finsteren Loch über den Boden zu robben und suchte diesen mit seinen Händen nach einer Wasserflasche ab.
    Nichts … da war einfach nichts.
    Verzweiflung machte sich in ihm breit. Ben schrie lauthals los. Schrie all seinen Frust, seine Wut heraus. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlichster, als wieder in diesen wohltuenden Abgrund ohne Schmerz und Leid abzutauchen. Die wildesten Hirngespinste malte sich ein gequälter Geist aus und alle endeten mit einem Ergebnis, was für eine Erlösung es für ihn wäre, wenn es jetzt und hier zu Ende wäre.


    *****


    Auf der PAST


    Semir erreichte müde und verschwitzt am späten Abend des gleichen Tages die Dienststelle. Den kompletten Arbeitstag hatten er und seine Kollegen in der prallen Sonne Dienst geschoben. Dank der Ringfahndung, die auf Grund der Anschläge am frühen Morgen in der Kölner Innenstadt vom Innenministerium angeordnet worden war, kontrollierten er und Jenny irgendwelche verdächtigen Fahrzeuge samt Insassen auf Autobahnrastplätzen. Laut Zeugenaussagen, hätten es zig verschiedene KFZ-Kennzeichen gewesen sein können. Nur in einem waren sich alle Zeugen einig. Das Täterfahrzeug, aus welchem auf die Richterin geschossen worden war, war ein roter VW Passat, älteres Modell, mit einem Kölner Kennzeichen und einer fünf am Ende gewesen. Alle in Frage kommenden Fahrzeuge wurden kontrolliert. Und der Erfolg war gleich Null. Keine Spur von den Verdächtigen! Nur ein Einbrecher-Duo konnte zufällig verhaftet werden.


    Für den Autobahnpolizisten war es ein verlorener Tag bei seiner Suche nach Ben.


    Erschöpft ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Aus dem Getränkeautomat hatte er sich vorher ein gekühltes Mineralwasser geholt, welches er schluckweise trank, während er über die Ereignisse des Vormittags nachdachte. Es hatte nicht nur Anschläge in Köln gegeben. Zusätzlich zu den Anschlägen in der Nacht zuvor waren ein Richter des Landgericht Düsseldorfs und drei Beamte des LKAs ebenfalls Opfer von Mordanschlägen geworden. Für den Türken war klar. Das waren keine Zufälle, keine Terroranschläge, wie es die Presse behauptete, sondern es war ein groß angelegter Rachefeldzug. Im Falle der Opfer im Großraum Köln war der Zusammenhang zu Gabriela Kilic offensichtlich. Nur der dämliche Oberstaatsanwalt schien sich nicht für diese These zu interessieren. Am Morgen war es deshalb zu einem erbitterten Streit zwischen Semir und seiner Chefin gekommen, weil der Türke lieber nach Ben und der Kilic gesucht hätte. Stattdessen musste er die Fahndung nach den Tätern der Anschläge mit unterstützen. Erst als ihm Frau Krüger mit disziplinarischen Maßnahmen bis hin zu Entzug des Falles Ben Jäger gedroht hatte, lenkte der Türke widerwillig ein.


    Mit einem kritischen Blick begutachtete Semir die Aktenberge, die ihm Susanne auf die Schreibtischplatte gelegt hatte, bevor sie Feierabend gemacht hatte. Na die Lektüre für den Abend und die Nacht war gesichert. Er beschloss erst einmal duschen zu gehen und die verschwitzte Kleidung zu wechseln. Anschließend wollte er zusammen mit den Kollegen vom Nachtdienst sich einen kleinen Imbiss bei einem Pizza-Service bestellen. Es machte seiner Ansicht nach keinen Sinn nach Hause zu fahren. Wozu auch, es war keiner da, der auf ihn wartete und wenn er müde war, konnte er sich im Bereitschaftsraum auf eines der Feldbetten zum Schlafen hinlegen.

  • Am darauffolgenden Morgen


    Semir stand am Fenster in seinem Büro und blickte hinaus auf den Parkplatz, währenddessen er geräuschvoll an seiner mittlerweile dritten Tasse Kaffee, Marke extra stark, schlürfte. Jenny saß auf Bens Stuhl und studierte die Akten, machte sich viele kleine Notizen und brummte vor sich hin.
    „Ich glaube es nicht!“ entfuhr es dem Türken überrascht, „Jenny komm her und schau dir das an! Unsere Chefin hat was mit diesem Großkotz von Staatsanwalt laufen!“


    „Bitte was? … Das ist doch nicht dein Ernst!“


    Augenblicklich stand die junge Frau neben dem älteren Kommissar und traute ihren Augen nicht. Ein schwarzer BMW X5 hielt mit laufendem Motor vor der Eingangstür. In der halb geöffneten Beifahrertür konnte man Kim Krüger erkennen, die sich sichtlich angeregt mit dem Fahrer unterhielt und ihn zum Abschied küsste.


    „Na Klasse! Da haben sich ja die zwei Richtigen gesucht und gefunden. Das perfekte Paar: Mister Kotzbrocken und die eiserne Lady!“ kommentierte Jenny ironisch. Auch sie hatte gestern mit der arroganten und überheblichen Art des Staatsanwalts während der Vernehmung von einigen Verdächtigen Bekanntschaft gemacht. „Da stehen uns ja goldene Zeiten ins Haus Semir!“


    Dieser bewegte seinen Kopf nachdenklich zur Bestätigung auf und ab. Er beobachtete, wie die Krüger mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen die PAST betrat. Die schwebte eindeutig auf Wolke sieben. Susanne schien ebenfalls neugierig geworden zu sein und sprach Kim an, die sich entspannt auf der Schreibtischkante der Sekretärin niederließ und sich mit ihr angeregt unterhielt.


    Jenny klopfte dem Dienstälteren aufmunternd auf die Schulter. „Komm, gönne ihr doch ihr kleines Glück. Und wer weiß, guter Sex soll entspannend wirken.“, versuchte sie zu scherzen. „Vielleicht wird die Chefin ja auch mal ein bisschen lockerer. Bei Hartmut hat das wahre Wunder bewirkt.“
    Unwillkürlich fing Semir an zu grinsen. Das stimmte, seit der Rothaarige und Jenny ein Paar sind, hatte er sich zu seinem Vorteil verändert.


    Semir seufzte auf. „Komm lass uns weiter machen! … Wir tappen völlig im Dunkeln, wenn es darum geht, wo Ben sein könnte und wer ihn entführt hat?“
    Er schaute dabei frustriert auf die Aktenberge, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Der Türke hatte sich zwischenzeitlich wieder hingesetzt und spielte nervös mit seinem Kugelschreiber herum, der auf der Schreibtischplatte unendliche Kreise drehte.
    „Ich weiß einfach nicht, wo wir ansetzen sollen Jenny! Es gibt so viele Spuren und Hinweise und letztendlich verlaufen alle im Nichts!“ Er raufte sich durch seine kurz geschnittenen Haare. „Mein Bauchgefühl sagt mir, diese Kilic steckt dahinter. Nur wo ist die Verbindung zu allem? Sie war zum Zeitpunkt von Bens Verschwinden doch im Knast?“


    „Ich glaube, wir fahren erst mal zu Hartmut. Anschließend können wir uns ja noch einmal nach Hürth fahren, wo Ben ja offensichtlich entführt worden ist!“


    Jenny eilte voran in die KTU, dicht gefolgt von Semir. Hartmut befand sich nicht an seinem gewohnten Platz hinter dem Computer oder Elektronenmikroskop.


    „Hartmut! Hartmut, wo bist du?“, hallte ihr Schrei durch die Hallen.


    Gedämpft erklang aus einem der Nebenräume eine Antwort. „Jenny? Bist du das? Ich bin hier drüben, in der KFZ-Halle! … Autsch!“ entfuhr es ihm, als er sich den Kopf schmerzhaft an einer offen stehenden Tür eines Hängeschrankes angestoßen hatte. Zusammen mit einem erfahrenen Kollegen vom LKA, Florian Weil, einem Endvierziger, stand er vor einer Werkzeugbank und untersuchte einen kleinen verkohlten Gegenstand. Hinter den beiden Technikern war ein ausberanntes Fahrzeugwrack auf der Hebebühne zu sehen, welches sich bei näherem Betrachten als die kümmerlichen Überreste des Autos von Staatsanwältin Schrankmann entpuppte. Am Unterboden des Fahrzeugs brannten einige Arbeitslampen.


    „Hallo Jenny“, meinte Harmut nur kurz angebunden und hauchte seiner Freundin einen Kuss auf die Lippen. „Was verschafft mir denn die Ehre eures Besuches?“


    Semir übernahm das Sprechen. „Wir wollten mal nachhören, wie weit du mit der Spurenauswertung von Hürth bist?“


    Der Rothaarige rollte genervt die Augen. „Pffff, wie ihr seht, bin ich gerade im Mega-Stress! Die Staatsanwaltschaft und auch das LKA sitzen uns im Genick und wollen dringend den Untersuchungsbericht über das zerstörte Fahrzeug der Staatsanwältin. Alles andere muss warten!“


    „Mensch Harmut! Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, maulte Semir enttäuscht drauf los. „Du warst doch bereits am Samstag am Tatort und heute ist Dienstag!“


    „Danke für das Gespräch Kollege! Hast du auch schon mal dran gedacht, dass der Mensch ein Privatleben hat?“, konterte der Techniker und sein Augenmerk richtete sich verliebt auf Jenny. „Ich habe am Samstag noch eine Nachtschicht eingelegt und am Sonntag hatte ich frei! Brauch ja schließlich auch mal eine Mütze voll Schlaf! … Und das mit der Schrankmann und den anderen Anschlägen im Großraum Köln konnte keiner voraussehen!“


    Wider Erwarten ergriff Jenny das Wort. „Hey Bärchen, es geht hier um Ben! Der ist unser Freund und Kollege. Glaubst du nicht, dass ich dafür Verständnis hätte, wenn du deswegen ein paar Überstunden mehr machst!“


    Sie kraulte dabei dem Rothaarigen über die Brust, der ein wohliges Brummen nicht unterdrücken konnte.


    „Ist ja schon gut!“, lenkte er missmutig ein. „Florian, machst du mal hier ein paar Minuten ohne mich weiter. Kommt mal mit rüber ins Labor!“, forderte er die beiden Autobahnpolizisten, auf ihm zu folgen. „Es ist ja nicht so, dass ich noch nichts getan hätte. Ein bisschen was, habe ich in dem Dreck ja schon gefunden. Ich bin mir nicht sicher, ob es euch wirklich weiterhilft!“


    Auf dem Labortisch war der Straßenkehricht von Hürth fein säuberlich sortiert. „Ich hätte dich ja schon noch angerufen Semir! Das eingetrocknete Blut auf dem Asphalt des Gehsteigs stammte eindeutig von Ben.“ Der Türke wollte ihm ins Wort fallen und verstummt auf eine Geste von Hartmut hin. „Ich kenne deine nächste Frage. In der Blutlache waren auch menschliche Haare. Diese Analyse läuft noch, ob sie von Ben stammen. Und ja, ich gehe davon aus, dass man ihn an dieser Stelle niedergeschlagen hat. Wobei ich kein Hellseher bin? Das gleiche gilt für die Zigarettenstummel, die dort rumlagen. Der DNA-Test läuft. Auf Bens Motorradhelm befand sich noch ein Fingerabdruck, der nicht von Ben stammt. Die Anfrage läuft momentan durch die Datenbanken, auch vom BKA und ich habe ihn an Interpol ebenfalls weitergeleitet. Zufrieden?“, beendete er seine Ansprache.


    Das waren nicht die Antworten, die sich Semir erhofft hatte. Niedergeschlagen begab er sich mit seiner Kollegin zurück zum BMW. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und hieb wütend auf das Lenkrad ein. Dabei fluchte er leise vor sich hin.


    „Hey Semir! Lass den Kopf nicht hängen! Komm, wir finden Ben!“, versuchte sie ihn aufzumuntern, obwohl ihr selbst der Glaube daran gerade eben fehlte. Der Türke blickte zu seiner Beifahrerin. Seine Augen drückten seine Hoffnungslosigkeit aus, die er mit seinen Worten noch unterstrich. Kaum hörbar murmelte er: „Weißt du, was mir diesmal wirklich Angst einjagt Jenny? Dass wir nichts, absolut nichts, nicht einmal den kleinsten Anhaltspunkt haben, wo wir mit der Suche nach Ben beginnen sollen. Ich frage mich immer zu: Steckt diese Kilic dahinter? … Denn, wenn ja, dann Gnade uns Gott!“


    Er wandte sich dabei seiner Beifahrerin zu und unterstrich seine Aussage mit der Geste seiner Finger. Seine wahren Gedanken wagte er nicht auszusprechen. Wenn er alle Fakten nüchtern betrachtete und sollte die Kilic tatsächlich hinter der Entführung seines Freundes stecken, war Ben mit größter Wahrscheinlichkeit vielleicht gar nicht mehr am Leben.


    Er startete das Fahrzeug und fuhr zurück auf die PAST.

  • Zum wiederholten Mal hatten die beiden Söldner Ben erbarmungslos an seinen Armen zurück in die Folterkammer geschleift. Seinen aufkommenden Widerstand hatten sie mit brachialer Gewalt im Keim erstickt. Wieder hing er an diesen Seilen und wartete darauf, was sich Gabrielas krankes Hirn diesmal für ihn ausgedacht hatte.


    „Hallöchen, na wieder wach?“, begrüßte sie ihn, ohne dass er sie sehen konnte. „Hat sich mein kleiner Lieblingsbulle ein bisschen von unseren letzten Spielereien erholt!“, verspottete sie ihn.
    Dann stand sie neben ihm. Wieder hatte sie eine ihrer grässlichen Zigarillos zwischen die Lippen geklemmt und sog genüsslich daran. Den Rauch blies sie ihm ins Gesicht. Er reizte seine Schleimhäute und seine geprellten Rippen rebellierten bei der aufkommenden Hustenattacke. Schmerzhaft verzog Ben das Gesicht und unterdrückte krampfhaft ein Stöhnen.


    „Ach ich sehe schon Bennilein, wir beide verstehen uns perfekt. Ich darf dir die nächste Überraschung ankündigen. Du bist Premierengast bei der nächsten Vorstellung des neuesten Films von unserem Starregisseur Rashid Stojkovicz.“
    Sie deutete eine Verbeugung in Richtung des jungen Mannes an. Anschließend schnippte sie mit den Fingern und gab dem jungen Albaner zu verstehen, dass er das Video starten sollte.
    Schon als die erste Szene am Bildschirm aufflackerte, hielt Ben den Atem an.
    Es war eine Sache, etwas zu erahnen und es glich für ihm einen Alptraum, als Zeuge am Bildschirm den Unfall seiner Schwester beizuwohnen. Gabrielas Helfer hatten tatsächlich an Julias Wagen herummanipuliert. Aus der Ferne hatten sie nicht nur den Unfall, sondern auch sein anschließendes Eintreffen am Unfallort gefilmt. Blankes Entsetzen griff nach seinem Herzen. Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Ben zerrte außer sich vor Wut und Zorn an seinen Fesseln herum, als das Video zu Ende war.
    Er schrie die Kroatin an: „Du elendes Miststück! …. Der Teufel soll dich holen und dich in den tiefsten Abgründen der Hölle schmoren lassen! …. Lass Julia aus dem Spiel! Was hat DIR denn meine Schwester getan? … Du bist doch völlig krank im Hirn!“
    Seine Stimme überschlug sich am Schluss vor Verbitterung. Noch etwas wuchs in ihm: Hass …. Grenzenloser Hass auf diese Frau, die seine Schwester umbringen lassen wollte, die für Julias Unfall verantwortlich war, für das Zerwürfnis mit seinem Vater, es raubte ihn den Verstand.


    „Schon vergessen, dreckiger Bulle!“, zischelte sie ihn an. Sie stand unmittelbar vor ihm. Die winzigen Tröpfchen ihres Speichels trafen sein Gesicht. „Du hast meinen Bruder auf dem Gewissen! Schon in der Bibel steht geschrieben: Auge um Auge … Zahn um Zahn …. Deine Schwester hätte bei dem Unfall sterben sollen! Drauf gehen sollen! Bei lebendigen Leibe vor deinen Augen verbrennen sollen!“
    Sie legte eine künstlerische Pause ein, um ihre Worte bei dem Polizisten wirken zu lassen. Die Kroatin fischte aus ihrer Hosentasche ein Foto, das Julia in einem Krankenbett zeigte, die Augen geöffnet und ihr Mann Peter saß händchenhaltend neben ihrem Bett. Peters andere Hand lag auf Julias gewölbten Schwangerenbauch. Gabriela fasste Bens Kinn an und hielt ihm das Foto mit der rechten Hand direkt vor die Nase. Die Bewegung mit ihrem verletzten Arm bedeutete eine Riesenanstrengung für sie.
    „Die Stunden deiner Schwester sind gezählt. Aber keine Sorge, Herr Hauptkommissar Ben Jäger! Dank modernster Technik wirst du dem Ableben deiner Schwester live beiwohnen, wenn die Zeit dafür gekommen ist! … Versprochen!“ Sie deutete mit ihrer linken Hand in Richtung der Videokamera und in ihren Augen trat ein irres Flackern. „Was wird wohl dein lieber Vater Konrad Jäger sagen, wenn er erfährt, dass sein Sohn am Tod seiner einzigen Tochter und seines ersten Enkels schuld ist. Ob sein krankes Herz das übersteht? Ts … ts … ts!“


    Ben flippte daraufhin endgültig aus, als er sich der Tragweite von Gabrielas Worten bewusst wurde. Er belegte seine Widersacherin mit seinem Repertoire von Schimpfwörtern. Dabei hing er an den Seilen und wie ein Fisch an der Angel. Hilflos zappelte er herum. Gabriela trat einen Schritt zur Seite und kicherte zuerst leise fast schon unheimlich anmutend vor sich hin. Ihr Lachen wurde lauter und lauter und hallte förmlich von den Wänden wieder.


    Als der Polizist mit seinen Beschimpfungen einen ihrer wunden Punkte traf, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig, mutierte zu einer hässlichen Fratze.
    „Um deinen Bruder war es nicht schade! … Dieser kleine perverse Bastard hat nur das bekommen, was er verdient hatte. … Der Tod kam viel zu schnell und gnädig für so einen Schänder wie ihn.“, blaffte er sie an.
    Bens Worte reizten die Kroatin bis zur Weißglut. Die Quittung bekam er postwendend. Sie gab Remzi mit der Hand ein Zeichen. Lautlos trat dieser von hinten an den Polizisten heran. Ein leises Surren erfüllte den Raum und der Serbe drückte zu. Ben zuckte zusammen und schrie gellend auf, als ein Stromstoß seinen Unterleib durchfuhr.


    „Na wie steht es Bulle? Lust auf mehr?“, fragte dieser gehässig neben ihm stehend. Der Schockgeber summte in dessen Hand weiter.


    Mühsam presste Ben eine Bemerkung hervor, nachdem der Schmerz am abebben war, „Besorge es dir doch selber du schwule Sau!“


    Remzi drückte den Schocker erneut in Bens Leistengegend und lachte dabei hämisch auf. Ein Stromstoß … und noch einer … Entsetzliche Schmerzensschreie entwichen Bens Kehle, die irgendwann in unartikulierte Laute übergingen. Die Qualen des Polizisten zauberten das Lächeln auf Gabrielas Gesicht zurück, überfluteten ihren Körper mit wahren Glückshormonen.


    Wieder ein Stromschlag … Von einem Augenblick zum anderen wurde Bens rechte Seite taub, während ein prickelnder Schmerz durch seine Körperzellen raste. Seine Schreie erstarben. Der junge Polizist schloss die Augen und erwartete die nächste Attacke, die alles Bisherige in den Schatten stellte.
    Der Schockgeber summte in Remzis Hand auf. Er verwandelte Bens Blut in glühende Lava, gab ihm das Gefühl seine Knochen, sein Körper würde dahinschmelzen. Der Stromstoß war schlimmer als die anderen vorher und forderte seinen Tribut. Die Dunkelheit einer Ohnmacht erlöste ihn von seinen Qualen. Sein gepeinigter Körper erschlaffte und hing regungslos in den Seilen, sein Kopf sank nach unten auf die Brust.


    „Kannst du nicht besser aufpassen, du Trottel!“, fauchte Gabriela wütend. „Ich war mit dem Dreckskerl für heute noch nicht fertig. Die Lektion war noch nicht zu Ende! Weck ihn wieder auf!“ Jähzornig stampfte sie mit ihrem Fuß aus, „Na los! … Mach den Scheißkerl wieder munter!“


    „Sorry, Gabriela!“, entschuldigte sich der Folterknecht und blickte schuldbewusst zu Boden. „ich konnte doch nicht ahnen, dass der Kerl so schnell schlapp macht!“ Das Surren verstummte. Remzi legte den Schockgeber auf den Billardtisch zurück und trat an den Bewusstlosen heran. Mit einem gekonnten Griff kontrollierte er den Pulsschlag seines Opfers. „Keine Sorge er lebt noch!“ verkündete er mit einer Spur der Erleichterung. „Nur ich glaube, er braucht eine längere Auszeit, außer du willst, dass er gleich über den Jordan geht!“


    „Na gut, schafft ihn zurück und versorgt ihn!“ gab sie widerwillig die Anweisung.

  • Am darauffolgenden Tag …


    Im Laufe des Vormittags kam Semir mit einiger Verspätung zum Dienst auf der Wache an. Er hatte die vergangene Nacht zu Hause geschlafen. Bis weit nach Mitternacht hatte er sich Dank Harmuts Hilfe, der ihm das Programm am Laptop eingerichtet hatte, mit Andrea und den Kindern über Skype unterhalten. Er war so was von erleichtert gewesen, als er gehört hatte, wie rührend sein Bruder und dessen Familie sich um Andrea und die Kinder kümmerten. Er vermisste seine drei Mädels so sehr.


    Auf der Höhe von Susannes Schreibtisch hielt er einen Moment inne und murmelte ein leises „Guten Morgen, Susanne! Sorry, für die Verspätung! Hat sich die Krüger schon aufgeregt?“


    Dabei wanderte sein Blick in Richtung des Büros seiner Chefin. Träumte er, nein, der Kotzbrocken von einem Staatsanwalt saß doch tatsächlich schon wieder im Zimmer der Krüger und raspelte Süßholz mit der Chefin. Unmut brodelte in ihm bei dem Gedanken auf, dass die beiden mehr mit ihrer augenblicklichen Liebesaffäre beschäftigt zu sein schienen, als an der Lösung des Falles interessiert zu sein.


    Egal, wie sich das anhörte, es ging darum Ben zu finden. Unwillig schüttelte er den Kopf und betrat sein gemeinsames Büro mit Ben. Jenny war schon richtig fleißig gewesen. Überrascht blieb Semir unter der Tür stehen und betrachtete das Werk seiner jungen Kollegin.
    „Wow!“ entfuhr es ihm, „Guten Morgen! … Sorry, dass ich so spät dran bin! … Erklärst du mir mal bitte, was das Ganze hier soll?“
    Semir deutete auf die riesige Pinnwand, die Jenny aus dem großen Besprechungsraum in das kleine Büro geschoben hatte. Auf der Metallplatte waren unzählige kleine Zettel mit Magneten befestigt worden. Vor der Polizistin lagen noch einige dieser farbigen Kärtchen, die die angehende Jungkommissarin scheinbar in einer bestimmten Systematik an der Wand angeordnet hatte.


    „Guten Morgen Semir“, begrüßte sie ihren Kollegen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. „Du meintest doch gestern, dass wir uns bei den Ermittlungen im Kreis bewegen, nicht wirklich vorankommen.“ Sie blickte kurz auf und erklärte weiter: „Ich habe gestern Abend mit Hartmut darüber gesprochen und der hat mir den Tipp gegeben, die Fakten mal anders darzustellen. Damit bin ich noch beschäftigt! … Susanne hat mir geholfen. Wir sitzen seit heute Morgen um sieben daran!“


    Als wäre ihr Name ein Zeichen gewesen, betrat die Sekretärin das Büro und hielt ihrem türkischen Kollegen eine Tasse duftenden Kaffee unter die Nase.


    „Danke Susanne, wer könnte da widerstehen. Dann lege mal los Jenny!“
    Er lehnte sich bequem in seinem Bürosessel zurück, auf dem er zwischenzeitlich Platz genommen hatte. Ab und an schlürfte er einen Schluck des heißen Getränks. Jenny fing mit ihren Ausführungen an. Susanne unterstütze ihre Kollegin, indem sie bei den Ausführungen auf der Videowand dazu noch passende Fotos, Ermittlungsunterlagen und Zeitungsberichte präsentierte.


    „Ich dachte an deinen Satz gestern Abend Semir, dass dein Bauchgefühl dir sagt, dass alle diese Fälle zusammenhängen, etwas gemeinsam haben!“
    Sie deutete dabei auf die Kärtchen die mit Julias Unfall, die Namen der Polizisten, die als Zeugen aufgetreten sind. Da stand der Name Jessica Habermann, Boris, Rashid und Zladan Stojkovicz, die Attentate auf den Richter, die Richterin, die LKA und SEK Beamten und die Staatsanwaltschaft.


    Alle Fälle hatten eine eigene Kartenfarbe und Jenny hatte sie teilweise mit einem farblich passenden Edding-Stift miteinander verbunden. In der Mitte der Tafel prangte der Name Gabriela Kilic. Nachdenklich betrachtete Semir das Gebilde an der Pinnwand und versuchte die Informationen der beiden Frauen im Schnelldurchlauf zu verarbeiten und seine Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.


    „Gute Arbeit Frau Dorn“, erklang die Stimme von Kim Krüger aus dem Hintergrund. Sie stand zusammen mit dem Staatsanwalt unter dem Türrahmen und hatte anscheinend dem Vortrag der Kommissars-Anwärterin ebenfalls zugehört. Semir drehte sich mit dem Stuhl zu seiner Chefin um.
    „Ihnen ist doch klar Frau Krüger, was das bedeutet, wenn Jenny Recht hat! Dann war der Unfall von Julia Jäger, vielleicht gar kein Unfall? … Ein Mordversuch? …“


    Der Staatsanwalt fiel dem Kommissar ungehalten ins Wort. „Tut mir leid Kim! Aber ich kann der jungen Frau da nicht beipflichten und ihnen auch nicht Herr Gerkhan. Laut Bericht der Sachverständigen und Unfallzeugen, kann beim Unfall von Julia Jäger ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden. Es handelte sich eindeutig um einen Fahrfehler. Schwangere Frauen sollten halt nicht hinters Steuer!“ meinte er abfällig. „Und zu ihnen Frau Dorn, ist ja schön, dass sie sich die Mühe und Arbeit gemacht haben, sieht aus, als wenn ein Schulmädchen ihre Hausaufgaben erledigt hat. Doch das führt doch zu nichts!“ Seine verächtliche Handbewegung tat ihr Übriges. „Pure Zeitverschwendung!“


    Jenny wurde zuerst leichenblass und anschließend schoss ihr die Röte in die Wangen. Sie schluckte und kämpfte mit sich. Ihre Augen schimmerten feucht. Semir fing innerlich an zu kochen, erhob sich aus seinem Stuhl und baute sich vor dem Staatsanwalt auf, der ihn um Haupteslänge überragte. Seine Augen funkelten zornig und er schnaubte wie ein wild gewordener Wasserbüffel durch die Nase.


    „Das ist alles was sie dazu sagen, HERR STAATSANWALT! … Mehr fällt ihnen nicht dazu ein! Was haben SIE und ihre tolle Behörde denn Großartiges bei den bisherigen Ermittlungen in all diesen Fällen geleistet?“
    Semir stellte sich auf die Zehenspitzen und wippte dabei. Seine Nasenspitze berührte fast das Kinn des Staatsanwalts. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, den großgewachsenen Dunkelhaarigen nicht mit seinen geballten Fäusten zu berühren. Wütend fauchte er ihn weiter an.
    „Unserer Chefin haben sie schöne Augen gemacht und sie mit ihrem schmeichelnden Getue eingeseift? Wann machen sie mal endlich ihre Arbeit?“
    Das Gesicht des Türken war vor Zorn gerötet. Er nahm einen Schritt Abstand vom Staatsanwalt und ließ sich auch durch die warnenden Blicke seiner Chefin nicht mehr in seinem Redefluss stoppen.
    „Da draußen laufen zwei korrupte Streifenpolizisten rum, während mein Partner verschwunden ist und wegen dieser Typen eine Mordanklage am Hals hat. Wie viele Beweise brauchen Sie denn noch?“, mit wilden Gesten seiner Hände unterstrich er seine Wutrede, „Langt es noch nicht aus, dass dieser Villmoz Schulden wie ein Stabsoffizier hatte und diese plötzlich wie durch ein Wunder vor zehn Tagen begleichen konnte? Hat der im Lotto gewonnen? So blind und bescheuert können doch nicht mal sie sein, Herr Oberstaatsanwalt!“, bei seinem letzten Satz klopfte er sich gegen die Stirn.
    Bevor es endgültig zum offenen Streit zwischen den beiden Männern kommen konnte, ging Kim Krüger energisch dazwischen.


    „Verdammt noch mal, es reicht jetzt Gerkhan!“ Sie trat einen Schritt zu Seite. „Versuchen Sie professionell zu bleiben!“ Ihre Augen blitzten wütend in Richtung des Staatsanwaltes. „Und du Hendrik, gehst am besten in mein Büro und wartest dort auf mich! Ich regle das hier selbst mit meinen Leuten!“

  • Kaum hatte van den Bergh Semirs Büro verlassen, da flog die Glastür mit einem lauten Knall zu. Demonstrativ mit vor der Brust verschränkten Armen stellte sich Kim davor und musterte jeden einzelnen ihrer Mitarbeiter mit einem Blick, auf dem der Spruch zu traf, wenn Blicke töten könnten, würden sie alle drei auf einmal umfallen. Auf ihrer Stirn hatten sich Zornesfalten gebildet.
    „So meine Herrschaften! Um ein für alle Mal etwas klar zu stellen! Meine private Beziehung zu Herrn Oberstaatsanwalt Hendrik van den Bergh hat keinen Einfluss darauf, dass wir hier eine professionelle Arbeit abzulegen haben und dies auch zukünftig erledigen werden. Es gab auch in der Vergangenheit schon das eine oder andere Mal Reibereien und Meinungsverschiedenheiten mit der Staatsanwaltschaft und das wird sich auch zukünftig nicht ändern. Ist das GEKLÄRT?!“

    Das letzte Wort brüllte sie so laut heraus, dass es wahrscheinlich auf der Autobahn zu hören war. Die Köpfe der drei Mitarbeiter bewegten sich auf und ab. Susanne schaute leicht betreten zu Boden.

    „Gut! Dann fassen wir noch einmal ein paar Fakten zusammen! Die Ermittlungen gegen die beiden Streifenpolizisten ist Sache der Staatsanwaltschaft und der Internen Ermittlungsabteilung. VERSTANDEN, Herr Gerkhan.“ Ihr Blick schien den Türken förmlich zu durchbohren. „Ich denke auch nicht, dass die beiden Herren etwas mit dem Verschwinden von Herrn Jäger zu tun haben.“ Als Kim erkannte, dass der Kommissar ihr ins Wort fallen wollte, schnauzte sie ihn an „Nein Gerkhan! Jetzt rede ICH! … Lassen sie die Finger von den Beiden oder ich ziehe sie von dem Fall ab!“ Die Drohung wirkte. Semir wurde blass um die Nase.

    „Konzentrieren sie sich lieber auf diesen Stojkovicz Clan. Susanne veranlassen sie eine Fahndung nach diesem Rashid Stojkovicz. Herr Gerkhan, durchsuchen sie zusammen mit Frau Dorn die Wohnung des jungen Mannes, ich kümmere mich zwischenzeitlich um den Durchsuchungsbefehl. Hartmut wird sie mit seinem Team dabei unterstützen. Diese Familie hat eindeutig ein Motiv sich an Herrn Jäger zu rächen. Und kommen sie mir nicht wieder mit ihrer These von dieser Gabriela Kilic. Die saß zu diesem Zeitpunkt in Haft und kommt höchstens für die Attentate auf die Staatsanwältin und die Richterin in Frage aber nicht für Bens Verschwinden.“

    Kleinlaut meldete sich Jenny. „Auch wenn es ihnen nicht gefällt Frau Krüger“, man sah der jungen Frau an, wie sie allen Mut zusammennahm, „ich bin Semirs Meinung. Hinter all diesen Aktionen steht diese Kilic. Sie sollten mal das Persönlichkeitsprofil dieser Kroatin lesen, welches das BKA angelegt hat. Es gibt eine Verbindung zwischen der Familie Stojcovicz und dieser Kilic: Beide wurden oder werden durch die gleiche Anwaltskanzlei vertreten. Was ist, wenn dieser Anwalt Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen auch Dreck am Stecken hat? Das fehlende Verbindungsglied in der Kette ist?“

    Dabei deutet die Jungkommissarin auf ihre im Kreis angeordneten Kärtchen. Mit jedem Satz war das Selbstbewusstsein bei Jenny zurückgekehrt. Überrascht zog Kim Krüger die Augenbrauen hoch. Sie wollte diesen Gedanken nicht zulassen, gar nicht darauf näher eingehen.

    „Es bleibt dabei. Herr Gerkhan! … Frau Dorn! Sie kümmern sich um diesen Stojcovicz Clan. Finger weg, von diesem Rechtsanwalt, während ich mal schaue, was man bei der Staatsanwaltschaft erreichen kann!“

    Mit diesen Worten verließ die Kim Krüger das gemeinsame Büro der Autobahnkommissare und kehrte in ihr eigenes zurück. Hendrik van den Bergh hatte auf einem der Besuchersessel Platz genommen und trommelte ungeduldig mit den Fingern seiner Linken auf der Schreibtischplatte herum. Mit einem wütenden Blick empfing er Kim und polterte drauf los.
    „Was sollte das da drüben gerade Kim? Du hast mich wie einen dummen Schuljungen vorgeführt!“
    Erbost erhob er sich von seinem Sessel.

    „Die gleiche Frage kann ich an dich stellen Hendrik! Was sollte das da drüben im Büro? Wie kannst du meine Mitarbeiter so vor den Kopf stoßen? Dort drüben sitzt das beste Ermittlungsteam, mit dem ich bisher zusammengearbeitet habe. Mit Herrn Jäger ist es nahezu perfekt.“ Sie stellte sich vor dem Staatsanwalt hin, verschränkte ihre Arme vor die Brust und schob ihre Unterlippe energisch vor. „Meine Leute sind hoch motiviert und haben bisher mehr und bessere Ermittlungsergebnisse vorzuweisen, als deine Staatsanwaltschaft, das LKA und die Innere Abteilung zusammen. Also, was sollte dein abfälliges Verhalten Frau Dorn gegenüber? Wo bleibt da die Anerkennung für deren Arbeit? … Warum sind die beiden Streifenpolizisten bei der Beweislage noch nicht suspendiert?“, blaffte sie ihn an.

    Innerlich war Kim hin- und her gerissen. Wie konnte ein Mensch, wie Hendrik van den Bergh, nur zwei so unterschiedliche Gesichter haben. Privat war er zärtlich, einfühlsam, konnte zuhören, war genauso, wie sich ihren möglichen Lebenspartner vorstellte. Er hatte sie am Samstagabend zu einem Abendessen eingeladen und letztendlich war sie im Laufe des Abends mit Hendrik in ihrem Bett gelandet. In den darauffolgenden Tagen waren die privaten Stunden, die sie mit van den Bergh verbracht hatte, wie ein Traumurlaub auf einer kleinen Insel gewesen.

    Doch im Berufsleben entpuppte sich der Mensch van den Bergh als ein arrogantes und überhebliches Arschloch, der voll von sich überzeugt war. In der Beziehung musste sie Semir Gerkhan und Susanne Recht geben. Er ließ jegliches zwischenmenschliche Einfühlungsvermögen gegenüber anderen vermissen. Seine Gefühlskälte gegenüber seinen eigenen und auch ihren Mitarbeitern erschütterte Kim ein ums andere Mal.

    Die Chefin erkannte, wie sich bei ihrem Gegenüber die Augenbrauen zusammenzogen und sich tiefe Zornesfalten auf dessen Stirn bildeten. Van den Bergh wusste scheinbar nicht, wie er auf ihre Vorwürfe reagieren sollte und wie er mit der Situation umgehen sollte.

    „So lasse ich nicht mit mir reden Kim!“ grollte er wütend zurück. Seine Hände zuckten vor Aufregung. In seiner Mimik arbeitete es.

    „Wieso? … Weil du ein Mann bist und ich eine Frau? … Oder du mein Vorgesetzter? Wo liegt dein Problem?“

    Für Kim völlig unerwartet griff der Oberstaatsanwalt nach ihrer Hand und zog sie nahe an sich heran, umarmte sie, streichelte ihr sanft über den Rücken. In Kim tobte augenblicklich ein Widerstreit ihrer Gefühle. Ein angenehmer Schauer rann über ihren Rücken. Oh, dieser Mann wusste genau, was ihr gefiel, wie er sie erregen konnte. Im letzten Moment gelang es ihr, ihre überschwappenden Hormone wieder in den Griff zu bekommen. Während er versuchte, sie zu küssen, meinte er siegessicher, fast schon so ein bisschen beiläufig, „Ach komm mein Mäuschen! Lass uns nicht streiten! Sei einfach wieder lieb zu mir. Die Sache ist es doch gar nicht wert!“

    Augenblicklich explodierte Kim innerlich. Wutentbrannt löste sie sich aus seiner Umarmung, trat einen Schritt von ihm weg und fauchte ihn wie eine Wildkatze an.
    „Das ist doch nicht dein Ernst, Hendrik! Wir reden hier über unsere berufliche Zusammenarbeit und nicht unsere private Beziehung. Schon vergessen, rein formal bist du, während der Abwesenheit von Frau Dr. Schrankmann, der Vorgesetzte dieser Dienststelle. Es geht hier um Kompetenzen und Zuständigkeiten und darum, dass andere Polizeibehörden ihre Arbeit nicht ordnungsgemäß erledigen und du scheinbar nicht in der Lage bist, den Herrschaften mal gewaltig in den Arsch zu treten!“

  • Ihr Gesicht rötete sich vor Zorn.

    „Ach Kim!“, versuchte er weiter einen versöhnlichen Tonfall einzuschlagen, „ich war noch nie in solch einer prekären Situation. Diese jüngsten Ereignisse in der Stadt, die neue Bombendrohung im Landgericht und der Staatsanwaltschaft, dazu die Attentate auf die Staatsanwältin und die Richterin …. Die LKA Beamten… das schlägt Wellen, bis in die höchsten politischen Kreise… weißt du, wie ich unter ständiger Beobachtung stehe, ob ich ja keinen Fehler mache! Ich will doch nicht meine Karriere gefährden! Die Stelle für den Generalstaatsanwalt soll kommendes Jahr wieder neu besetzt werden … Die Presse hat mich unter Beschuss … Ich werde von allen Seiten beobachtet, bin unter Zugzwang … Zum anderen ist da noch diese Affäre mit dir!“

    Der Chefin fielen bei seinem letzten Satz fast die Augen aus dem Kopf. Aufgebracht unterbrach sie ihn.
    „Bitte was? … Bitte was bin ich für dich? … Eine Affäre?“ Sie sog deutlich hörbar die Luft ein. „Eine Affäre? … So bezeichnest du die letzten Tage? … Ein One-Night-Stand mit Wiederholungscharakter?“

    Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Ihre langen Haare flogen wie wild hin und her. Kim drehte sich von ihm weg in Richtung des Fensters. Sie war kurz davor endgültig ihre Fassung zu verlieren. Wie eine Wildkatze fauchte sie ihn an: „Was haben dir die letzten Abende und Nächte wirklich bedeutet? … Deine Versprechungen? Eine leere Hülle um ein paar vergnügliche Stunden zu haben! … Freizeitvergnügen? Ein bisschen kostenlosen Sex?“ Sie wandte sich wieder ihm zu und stampfte wütend mit den Fuß auf den Boden. „So funktioniert das nicht mit mir Hendrik van den Bergh! Merke dir das! … Meinetwegen kannst du den arroganten Kotzbrocken woanders raushängen lassen, aber nicht bei mir! … Nicht hier bei meinen Leuten auf der Dienststelle! Außerdem solltest du grundsätzlich lernen Berufliches von Privaten zu trennen, sonst ist das zwischen uns beiden sofort beendet!“

    „Kiiim, das meinst du doch nicht wirklich? Ich liebe dich …“, fast flehentlich klang seine Stimme. Sein Gesichtsausdruck wurde weich, so wie sie es an ihm liebte. Der andere Hendrik kam zum Vorschein, der Mann, der ihr etwas bedeutete, in den sie sich verliebt hatte, der in ihr schon längst vergessene Gefühle zum Leben erweckt hatte.
    Dessen ungeachtet, Kim konnte nicht anders und unterbrach ihn, „Nein Hendrik! … Unter Liebe und Zuneigung verstehe ich etwas anderes! Vielleicht solltest du mal weniger deine Karriere im Focus haben und stattdessen mehr auf die Menschen um dich herum achten, bevor du auf deren Gefühlen, wie ein wild gewordener Elefant herum trampelst!“

    Kim errichtete einen inneren Schutzwall, um sich vor ihren eigenen Emotionen zu schützen. Ihre Gesichtszüge wirkten maskenhaft starr, fast wie aus Stein gehauen, als sie den Staatsanwalt mit ihrem letzten Satz aus ihrem Büro hinauswarf.
    „Denke bis morgen Abend darüber nach Hendrik, was du wirklich willst? … Was ich für dich bin? Sag mir deine Entscheidung! … Und jetzt, geh bitte! … Raus!“

    Demonstrativ wandte sie ihm den Rücken zu. Er sollte nicht sehen, wie sie gegen ihre Tränen ankämpfte, sich auf die Lippen biss, damit kein Laut herauskam. In diesem Moment hätte Kim alles dafür gegeben, wenn er zu ihr gekommen wäre, sie zärtlich in den Arm genommen und sich bei ihr entschuldigt hätte. Dieses Gefühl von Geborgenheit hatte ihr in den letzten Tagen so gut getan.

    Durch ihren Tränenschleier beobachtete sie Hendrik van der Bergh, wie er in seinen dunklen BMW einstieg und ihr noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zu warf.

    Hendrik van den Bergh haderte mit sich und seinem Schicksal. Da hatte er endlich einmal seine Traumfrau gefunden und versaute wieder alles. Warum schaffte er es einfach nicht über seinen Schatten zu springen, dem Schatten der Vergangenheit, der ihn wie ein böses Omen verfolgte.

    Der Staatsanwalt stammte aus einfachsten Verhältnissen. Sein Vater war sein komplettes Berufsleben lang als Trucker auf irgendeiner Autobahn in Deutschland oder in Europa unterwegs gewesen. Seine Eltern hatten sich auf einer Raststätte im Hessischen Bergland kennengelernt, wo seine Mutter im Restaurant Service gearbeitet hatte. Nur einen Kilometer entfernt lag das Dorf, in dem er aufwachsen war. Wie heißt es so schön am Ende der Welt, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. In seiner Kindheit wurde er von den anderen Jungs in seinem Dorf gehänselt, weil er durch seine Asthmaerkrankung körperlich sehr schwach war. Er fand keine Anerkennung bei den gleichaltrigen Jungen in der Freizeit, in der Schule, beim Bolzen auf dem Fußballplatz, was ihn zum Außenseiter machte. Also machte er das, was er am besten konnte: Lernen. Nach seinem Abitur mit Auszeichnung studierte er Jura. Doch auch im Studium und danach musste er sich jeden Schritt auf der Karriereleiter hart erkämpfen. Seine arrogante und spöttische Art war seine Schutzmauer den Mitmenschen gegenüber.

    Kim Krüger war einige der wenigen Personen in seinem Leben, die er hinter diese Fassade hatte blicken lassen. Umso mehr schmerzten ihn ihre Worte, hielten ihm einen Spiegel vor, der ihn sehr nachdenklich werden ließ.

  • Nirgendwo … am gleichen Tag

    Als Ben erwachte, murmelte er leise vor sich hin, „Wo bin ich nur?“

    Keine Holzlatten … kein rauer Untergrund … kein modriger Geruch … Er befand sich nicht in dem Holzverschlag, der ihm mittlerweile so was wie ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Langsam registrierte er, dass er nicht lag, sondern an irgendetwas hing. Seine Handgelenke wurden von rauen Fesseln umschlossen, die sich tief ins Fleisch hinein geschnitten hatten, während das Gewicht seines Körpers stundenlang daran gehangen hatte. Sein getrübter Blick wanderte an seinen Armen entlang nach oben zu seinen Händen. Er sah das Blut, das wie ein hauchdünnes Rinnsal herab geronnen war und von den Resten seines zerschlissenen Shirts aufgesogen worden war. Teilweise war es auch schon angetrocknet und verkrustet.


    Seine linke Körperhälfte fühlte sich noch seltsam taub an. Er vermochte nicht zu sagen, wie oft man ihn in den letzten Stunden oder waren es gar schon Tage in diesen Raum geschleppt hatte, um ihn mit Schlägen und dem Elektroschocker zu foltern.


    Er hatte aufgehört zu zählen, aufgehört darüber nachzudenken, wieviel Schmerz ein Mensch ertragen konnte, bevor er wahnsinnig wurde. Der junge Kommissar hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er sich schon in der Gewalt seiner Peiniger befand.

    Trotz all der Qualen, die man ihm zugefügt hatte, hatte es Gabriela nicht geschafft, ihn zu zerbrechen, seine Persönlichkeit zu zerstören. Ein ums andere Mal hatte sie einen Trumpf aus den Ärmel gezogen, um ihm seine aussichtslose Lage klar zu machen. Gestern servierte sie ihm auf einem Silbertablett den internationalen Haftbefehl, mit dem nach ihm, Ben Jäger, europaweit wegen Mordes gefahndet wurde. Sie zerstörte damit seine allerletzte Hoffnung, dass irgendjemand auf der PAST nach ihm suchen würde … ihn vermissen würde. Er war allein … völlig allein, isoliert vom Rest der Welt.


    Sein getrübter Blick wanderte im Raum umher. Zu seiner Überraschung schien er alleine zu sein. Die Zugangstür war halb geöffnet. Gedämpft drang eine Frauenstimme zu ihm durch. Gabriela? Es konnte nur die verhasste Kroatin sein. Der Dunkelhaarige schloss wieder seine Augen und lauschte auf die Geräusche seiner Umgebung und versuchte sich auf das Telefongespräch zu konzentrieren. Ja, es war Gabriela, die im Treppenhaus und dem langen Kellerflur zur Folterkammer telefonierte. Vereinzelte Wortfetzen drangen zu ihm durch. Ihr Gesprächspartner schien ein Mann zu sein, mit dem sie sich heftig zu streiten schien. Die Lautstärke ihrer Stimme schwoll an. Ihr Tonfall wurde keifender. Ein Name fiel …. Christian Wenzel … Ben überlegte, den Namen hatte er doch schon einmal gehört. Nur wo? …. Sie näherte sich der Tür. „Es ist mir egal, was dein Freund von Gronau denkt! Hast du verstanden Christian! ….Völlig egal! … Du schuldest mir noch fünf Millionen Euro! Und dein Freund von Gronau hat seine letzte Rechnung …. Schweizer Nummernkonto … !“ Ihre schrille Stimme entfernte sich wieder. Sie schien draußen im Gang hin und herzulaufen. Das Tack … tack … tack ihrer Absätze war überhörbar. Die beiden Namen hatten sich unwiderruflich in Bens Gehirn eingebrannt. Der Schleier der Benommenheit legte sich über ihn und verdrängte die Schmerzen, die seinen Körper durchströmten, in den Hintergrund.


    *****


    Zurück auf der PAST

    Susanne verfolgte den Abgang des Staatsanwalts mit gemischten Gefühlen. Zum einen tat ihr Kim furchtbar leid. Die Beziehung hatte ihrer Freundin gutgetan, sie war richtig gehend innerlich aufgeblüht. Die Sekretärin konnte gar nicht glauben, was ihr Kim in den letzten Tagen über den dunkelhaarigen Mann erzählte, wie er sich verhielt, wenn die beiden abends privat oder alleine zusammen gewesen waren. In ihren Augen war und blieb der Typ mit dem blendenden Aussehen ein Macho und ein arroganter A.rsch. Was er ja vor einer knappen Stunde in der Besprechung deutlich unter Beweis gestellt hatte. Sie war nach dessen Abfahrt zu ihrer Freundin ins Büro geeilt, hatte die Jalousien runtergelassen, um sie vor den unerwünschten Blicken ihrer Mitarbeiter zu schützen und hatte sie tröstend in den Arm genommen, bis sich Kim beruhigt hatte.


    Nachdem Susanne zurück an ihren Schreibtisch gekehrt war, fand sie dort eine Nachricht von Semir und Jenny, die sich in der Wohnung von Rashid Stojkovicz umschauen wollten. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete. Am anderen Ende der Leitung meldete sich das Sankt Agatha Krankenhaus aus dem Kölner Norden. Der Oberarzt, Dr. Geiger, wollte den Hauptkommissar Ben Jäger sprechen.

    „Tut mir leid, Herr Dr. Geiger, Herr Jäger befindet sich zur Zeit nicht im Dienst. Kann ich ihnen vielleicht weiter helfen?“

    „Hmm, das ist schlecht!“, kam es enttäuscht vom anderen Ende der Leitung. „Können sie mir sagen, wie ich Herrn Jäger erreichen kann oder kann er sich umgehend bei mir melden? Es ist äußerst dringend!“

    Susanne grübelte kurz nach, was sie dem Arzt sagen durfte. „Herr Jäger ist bis auf weiteres nicht erreichbar. Kann ihnen denn nicht ein anderer Kollege weiterhelfen? Vielleicht Herr Gerkhan? Er ist der Partner von Herrn Jäger.“

    „Also gut, es fällt ja sowieso in den Bereich der Polizei. Wir haben hier einen Patienten, der vor fast drei Wochen mehr tot als lebend eingeliefert wurde. Bis vor vier Tagen lag der Patient im künstlichen Koma. Dieser Mann weigert sich mit einem anderen Polizisten als Herrn Jäger zu sprechen. Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, wenn ihr Kollege Gerkhan vorbei kommt? Die Entscheidung überlasse ich ihnen. Ich habe noch bis 16.00 h Dienst, sprich zwei Stunden!“

    Nach dem sie das Telefongespräch beendet hatte, verständigte Susanne sofort über Funk Semir. Der wollte sich sofort mit Jenny auf dem Weg zum Sankt Agatha Krankenhaus machen.

  • Einige Zeit später im Nirgendwo


    Ein derber Hieb in die linke Seite holte den jungen Kommissar zurück in die Wirklichkeit. Der aufdringliche Duft ihres Parfums stieg in seiner Nase hoch. Gabriela stand vor ihm. Mühsam zwang er sich die Augenlider zu öffnen und den Kopf zu heben. Im Hintergrund erkannte er verschwommen die Gestalt des jungen Stojkovicz. Mit ihrer linken Hand umfasste sie Bens Kinn, hob es an und nötigte ihn, ihr direkt ins Gesicht zu schauen. Ihre Augen funkelten ihn hasserfüllt an.


    „Wieder wach? … Wir waren noch nicht fertig für heute!“, stellte sie fest. „Wir wollen doch nicht, dass es dir langweilig wird, Jägerlein, in deiner netten kleinen Unterkunft. Wir haben ein reichhaltiges Unterhaltungsprogramm für dich vorbereitet! … Schon vergessen?“
    Sie grinste ihn dabei höhnisch an und lauerte förmlich nach einer Reaktion in Bens Gesicht. „Ich wollte dich einmal in weitere Details meines kleinen Rachefeldzuges einweihen. Den Teil in Bezug auf deine kleine Schwester kennst du ja bereits“, verhöhnte sie Ben weiter „Da hätten wir zum anderen diesen kleinen Türken mit seiner Familie. Der meinte ja so schlau zu sein.“ Auf ihr Zeichen hin, flackerte der Zusatzbildschirm neben dem Laptop auf. In einer kleinen Diashow sah man Semir mit seiner Familie am Köln-Bonner Flughafen, wie sie gerade beim Einchecken waren. „Wie du siehst, brauchst du diesmal nicht auf deinen Freund zu vertrauen, dass er dich hier rausholt. Der hat sich eine Auszeit genommen. Aber keine Sorge, irgendwann kommt er wieder aus dem Urlaub zurück in die Heimat und dann ist er fällig. … Doch wer weiß, ob du diesen Tag noch erleben wirst.“


    Dieser Nadelstich saß bei Ben. Auf der anderen Seite machte sich eine gewisse Erleichterung in ihm breit, dass er Semir, Andrea und die Kinder vorerst in Sicherheit wusste.

    Sie wendete sich von ihm ab, kehrte im dem Rücken zu und stakste zwei Schritte in die Richtung von Rashid Stojkovicz. Auf dem Absatz machte sie eine Kehrtwendung, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen. Höhnisch grinsend, musterte sie ihren Gefangenen. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger ihrer Linken auf die Lippen.
    „Ach ja, das hätte ich glatt vergessen! Ts, ts, ts, …. Wie konnte ich nur?“ spottete die Kroatin weiter. „Da hätten wir noch deine hübsche kleine Ex-Freundin im Angebot, die könnten wir vorerst mal als Ersatz für den Türken nehmen, um die Wartezeit zu überbrücken. … Was hältst du von dieser kleinen Programmerweiterung? …. Perfekt, die Dame ist nach dem Ableben deiner Schwester als nächstes dran.“


    Rashid zeigte Ben über dem Monitor Fotos von Anna in Alltagssituationen vor der Klinik, in der Klinik und vor ihrer Wohnung. Der Zorn und der aufkommende Hass des jungen Mannes steigerte sich ins Unermessliche, schüttete Adrenalin ohne Ende in seinem Körper aus, das seine Schmerzen überlagerte und ihm ungeahnte Kräfte verlieh. Es geschah etwas, womit die Entführer nicht gerechnet hatten. Ben hing an den Seilen, wie ein Turner an den Ringen. Durch das Zappeln und seine wütenden Bewegungen fing das Seil an zu schwingen und Gabriela gelangte in die Reichweite von Bens Beinen. Der Polizist zog die Beine an und trat mit voller Wucht gegen den Oberkörper der Kroatin. Diese geriet ins Straucheln und konnte ihren Sturz nicht mehr richtig abfangen. Sie knallte mit dem verkrüppelten Arm zuerst auf den Marmorboden auf. Ihr gellender Schmerzensschrei hallte durch den Raum.


    Ben nutzte den neu gewonnen Schwung und fixierte seinen nächsten Widersacher, Camil. Dieser starrte ein bisschen fassungslos auf das, was sich soeben vor seinen Augen abspielte. Beim nächsten Vorwärtsschwung stieß Ben die Beine nach vorn und seine Füße landeten mitten im Gesicht des Schnauzbärtigen. Es gab ein hässliches Geräusch, als dessen Nase brach. Augenblicklich quoll ein Blutstrom aus den Nasenlöchern heraus. Der Söldner torkelte rückwärts, jaulte vor Wut und Schmerz lautstark auf, als er seine blutige Hand betrachtete.

    Ben heulte triumphierend auf. Doch sein Glücksmoment währte nur Sekundenbruchteile.
    „Na ihr Bastarde, wie hat euch das Gefallen! Wie fühlt sich das an, eines voll auf die Fresse zu bekommen?“, brüllte Ben schadenfroh in Richtung des Schnauzbärtigen, der laut fluchend versuchte den Blutstrom aus seiner Nase zu stillen. Der Polizist pendelte an den Seilen hin und her, genoss den Moment der Genugtuung, als das für ihn Unerwartete geschah. Zuerst hörte er einen Knall …. Dann setzte das Brennen auf seinem Rücken ein … ein erneuter Knall …ein Brennen … es wiederholte sich mehrmals…


    Zu Beginn beschimpfte Ben voller Wut seinen Widersacher: „Du feige Sau! … Schneid mich los! … Gib mir mal eine Chance dann besorge ich es dir du elende Drecksau!“


    Der Polizist zappelte wild an den Seilen herum, es gab kein Entkommen.… Remzi kannte kein Erbarmen, während er zuschlug. Die Schläge ließen Ben vor Schmerzen aufschreien … sein Shirt hing zerfetzt an seinem Leib herunter. Aus feinen Schnitten bahnten sich kleine Blutstropfen ihren Weg.


    „Hast du dir wohl so gedacht Bulle!“ brüllte Remzi hinter ihm. Ben konnte nur erahnen, dass sein Widersacher mit der Peitsche zu einem erneuten Schlag ausholte. „Aufmüpfig werden! Frech werden! … Widerstand leisten! … Warte nur, dass habe ich dir gleich ausgetrieben!“
    Ben verspürte den gleißenden Schmerz auf seinem Rücken, der von blutigen Striemen wie ein Netz überzogen war. Sein schmerzerfülltes Gebrüll schien den Grauhaarigen nur noch mehr anzustacheln, während er zuschlug.

    Gabrielas Zuruf ließ den Söldner in seiner Bewegung erstarren. „Hör auf Remzi! Der hat genug! … Schließlich soll er dem Schauspiel, das wir morgen mit seiner Schwester und Freundin veranstalten, noch bei halbwegs klarem Verstand beiwohnen können, bevor sich Herr Jäger von dieser Welt verabschieden wird.“


    Sie hatte sich mühsam vom Boden aufgerappelt. Mit ihrer linken Hand rieb sie ihren schmerzenden Arm und trat näher zu Ben hin und weidete sich förmlich an dessen schmerzverzerrten Gesicht. Gleichzeitig fletsche sie vor Wut und Schmerz ihre Zähne. In ihren Augen flackerte es bösartig auf. Ihr Blick verhieß nichts Gutes.

    „Nur so eine kleine zusätzliche Strafe hat sich mein Lieblingsbulle schon noch verdient!“ zischelte sie wie eine Giftschlange. Die Kroatin nahm einen der Schlagstöcke, die auf dem Tisch bereit lagen, in ihre linke Hand. Liebevoll leckte sie mit ihrer Zunge über dessen Oberfläche und strich mit ihren Fingerkuppen über die feuchte Stelle. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine hämisch grinsende Fratze, als sie mit ihrer Linken den oberen Teil des Stockes umfasste und ausholte. Mit voller Wucht traf sie das Schienbein des gefolterten Polizisten. Dieser glaubte förmlich den Knochen brechen zu hören. Ben brüllte lauthals los, „Aaaaaaah! ……… Oh Gott! … Oh Gott, du verdammtes Weibsstück!“, ihm wurde schlecht und er keuchte vor Schmerzen und Entsetzen vor sich hin. Sie gewährte ihm ein paar Minuten, bis der erste Schmerz abgeebbt war.

    Wenn Ben ihren Blick richtig gedeutet hatte, war das noch nicht alles an Vergeltung gewesen. Gabriela gab Remzi ein Zeichen. Der Polizist hörte Geräusche hinter sich, konnte sich aber nicht vorstellen, was der ältere Söldner hinter seinem Rücken trieb. Er bekam die Antwort schneller als ihm lieb war.

    „Hast du schon mal das Sprichwort gehört: Salz in eine Wunde streuen?“
    Sie lachte teuflisch auf und weidete sich an seinen Qualen. Der Autobahnpolizist hatte den Sinn der Redewendung durch sein schmerz-vernebeltes Gehirn noch nicht richtig begriffen, als auf seinem Rücken ein flammendes Inferno entbrannte. Seine schrillen Schmerzensschreie hallten in dem Raum wieder, als in den Wunden der Peitschenhiebe ein wahres Höllenfeuer entfacht wurde. Es raubte ihm den Atem und die Sinne. Schwärze stieg vor seinen Augen auf … er konnte, … nein er wollte nicht länger gegen die aufkommende Bewusstlosigkeit ankämpfen, die sich wie ein wohltuender Mantel um ihn legte.

  • Sankt Agatha Krankenhaus

    Auf der Intensivstation wurden Semir und Jenny bereits von Dr. Geiger erwartet. Dieser bat die beiden Autobahnpolizisten nach einer kurzen Begrüßung zuerst in einem Arztzimmer, das außerhalb der Station lag.

    „Wie gesagt Herr Gerkan, der Patient lehnte es strikt ab, sich mit ihren Kollegen von der Wasserschutzpolizei, die ihn aus dem Rhein gefischt hatten, zu sprechen. Er weigert sich, seinen Namen zu nennen und besteht darauf, dass der Polizist Ben Jäger kommt.“


    Der Oberarzt hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Aus einem Stapel Patientenakten suchte er eine bestimmte heraus und öffnete diese. Oben drauf lagen einige Fotos. „Und ich kann ihn irgendwie verstehen, dass er niemanden vertraut. Schauen Sie sich diese Fotos an, die unmittelbar nach der Einlieferung auf Wunsch der Polizei gemacht wurden, um die Verletzungen des Patienten zu dokumentieren!“ Der Arzt legte einige Fotos auf die Schreibtischkante vor die beiden Polizisten. Jenny wurde bei deren Anblick kreidebleich und fing an zu würgen. „Ich habe das letzte Mal solche Wunden gesehen, als ich für Ärzte ohne Grenzen im Sudan tätig war und im dortigen Krankenhaus die Opfer von Folterungen eingeliefert wurden.“

    „Sie wollen damit sagen, man hat den Mann auf brutalste Art und Weise gefoltert, Herr Dr. Geiger?“

    Dieser nickte zustimmend und fuhr mit seinen Ausführungen fort: „An der rechten Hand wurden ihm alle Finger gebrochen!“ Dabei deutete er auf das entsprechende Bild, „man hat ihm bewusst, den Unterkiefer ausgerenkt und gebrochen, er kann deswegen auch nicht richtig sprechen, sondern schreibt einzelne Worte auf eine kleine Schiefertafel, die dankbarerweise eine der Schwestern mitgebracht hat. Sein Körper war übersät mit Hämatomen und kleinen Schnittwunden. Er hatte schwerste innere Verletzungen, weshalb wir ihn für fast zwei Wochen ins künstliche Koma legen mussten. Bitte verstehen Sie mich richtig, es grenzt an ein Wunder, dass der Mann diese Verletzungen überlebt hat.“

    Semir hörte schweigend zu, während Jenny sich entschuldigte, das Zimmer verließ und mit der Hand vor dem Mund haltend nach einer Toilette suchte.


    „Ich bringe Sie dann rüber auf die Intensivstation zum Patienten. Vielleicht gelingt es ihnen ja, die Mauer des Schweigens, die ihn umgibt zu brechen. Noch ein Wort zur Kommunikation. Wir haben mit dem Verletzten vereinbart, dass wir nach Möglichkeit Fragen stellen, die er mit ja oder nein beantworten soll. Ja beantwortet er mit einmal blinzeln des Auges und nein mit zweimal!“


    Der Arzt erhob sich und bat Semir ihm zu folgen. „Da der Patient noch sehr schwach ist, würde ich Sie nur alleine zu ihm reinlassen und der Unterhaltung beiwohnen, wenn Sie einverstanden sind Herr Gerkhan. Ihre Kollegin kann ja so lange vorne im Wartebereich sich aufhalten!“ Er musterte Jenny, die ins Arztzimmer zurückgekehrt war und noch immer leichenblass war. „Ich denke die Schwester bringt ihnen ein Glas Wasser Frau Dorn!“


    Semir musste erst einmal schlucken, als er den Patienten vor sich in seinem Krankenbett liegen sah. Man hatte das Kopfteil etwas aufgerichtet. Hinter dem Bett blinkten auf den verschiedenen Monitoren Zahlen und Kurven auf, deren Bedeutung der Polizist nicht kannte. Der Kopf des Patienten glich dem einer Mumie, auch der Rest des Körpers war von Verbänden umhüllt. Der rechte Arm lag auf einer speziellen Schiene. Erwartungsvoll blickten die blauen Augen des Mannes die beiden Besucher an. Der Arzt trat ein bisschen zur Seite und ließ den Polizisten neben das Bett treten.


    „Hallo Herr Schmidt, zumindest, meinte Dr. Geiger, ich solle sie so anreden. Mein Name ist Semir Gerkhan. Ich arbeite zusammen mit Ben Jäger bei der Kripo Autobahn und bin dessen Freund und Partner.“
    Als Semir erkannte, wie die Augen des Patienten bei der Nennung von Bens Namen aufleuchteten und sich leicht weiteten, beschloss er aufs Ganze zu gehen. Er fischte aus seiner Hosentasche sein Handy, was ihm einen verärgerten Blick des Arztes einbrachte.


    „Sehen, Sie!“ Er legte das Display vor dem Patienten ab, „das bin ich mit Ben vor unserer Dienststelle, zu Hause bei meinen Kindern, sie können mir also wirklich vertrauen und glauben, dass ich Bens Freund bin.“ Diese Aussage brachte ihm ein Blinzeln als Antwort ein.

    Der Patient kritzelte mit seiner linken Hand etwas ungeschickt auf die Schiefertafel und drehte sie zu Semir hin. ‚Wo ist Ben? stand darauf.

    Der kleine Türke seufzte auf und beantwortete die Frage „Ben ist seit fast zwei Wochen spurlos verschwunden!“


    Entsetzt weiteten sich die Augen des Patienten, sein Pulsschlag beschleunigte sich, dass die Monitore Alarm schlugen. Dr. Geiger trat hinzu und wollte die Befragung sofort abbrechen, aus Angst, die Aufregung würde seinem Patienten schaden. Der Verletzte hob seinen linken Arm hoch und gab dem Arzt zu verstehen, dass er weiterreden wollte. Semir erkannte auf dem Unterarm ein Tattoo, das ihm Ben schon einmal sehr eindringlich beschrieben hatte. Es war eine dieser berühmten E-Gitarren, originalgetreu nachgezeichnet mit einem Autogramm. Schlagartig war ihm klar, wer da vor ihm im Krankenbett lag.
    „Sie sind Memphis, Bens Freund, der ihm das Gitarre spielen erst so richtig beigebracht hat. Ihr Vater war Amerikaner und sie heißen mit richtigen Namen Charles Callahan und waren früher US-Soldat.“
    Der Patient bestätigte jede dieser Angaben mit einem Blinzeln. Semir spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten und sein Herzschlag sich beschleunigte. Hatte er mit diesem schwer verletzten Mann endlich die heiß ersehnte Spur auf der Suche nach Ben gefunden. Mit knappen Sätzen berichtete der Polizist dem Musiker, was er über Bens Verschwinden wusste.

    „Bitte Herr Callahan! Es ist wichtig! Ich brauche alle Informationen zu den Männern, die ihnen das angetan haben!“ Dabei deutete Semir auf die geschiente Rechte. „Ich vermute, diese Kerle haben auch Ben in ihrer Gewalt. Jedes noch so kleine Detail kann wichtig sein, Namen einfach alles!“

    Der Türke hielt dem Kranken auffordernd die Schiefertafel hin. Sehr zum Missfallen des Arztes zog sich die umständliche Befragung länger als die eingeräumten 20 Minuten Besuchszeit hin. Mehrmals versuchte er, das Gespräch zu unterbrechen, als die Monitore warnend aufblinkten. Doch Memphis bestand nach kurzen Pausen darauf weiterzumachen.


    Nach einer Stunde verließ der Autobahnpolizist einen völlig erschöpften Patienten.

    Auf dem Weg über dem Parkplatz zu seinem silbernen BMW berichtete er Frau Krüger über das Handy von seinen neuesten Erkenntnissen. Jenny, die neben ihm herlief, lauschte aufmerksam dem Gespräch.

    „Frau Krüger, Gerkhan hier! Ich war gerade im Sankt Agatha Krankenhaus bei dem Patienten, der von der Wasserschutzpolizei vor drei Wochen aus dem Rhein gefischt wurde. Ich glaube, wir haben endlich ein paar fehlende Puzzleteile gefunden. Der Mann heißt Charles Callahan, genannt Memphis und ist ein Freund von Ben. Man hat ihn solange gefoltert, bis er Bens geheime Handy Nummer Preis gegeben hat. Klingelt es da bei ihnen?“

    „Oh, mein Gott, ich fasse es nicht. Jäger hatte also auch da Recht gehabt, als er behauptet hatte, man hätte ihn reingelegt!“

    „Ja, aber es kommt noch besser! Der Verletzte hat Rashid Stojkovicz eindeutig als einen seiner Entführer identifiziert. Ich habe ihm das Fahndungsfoto auf meinem Handy gezeigt. Der Kerl, der den Ärmsten so furchtbar zugerichtet hat, hieß mit Vornamen oder Nachnamen Remzi. Vermutlich Südosteuropäer, der aus dem Balkan stammen könnte. Auf der rechten Hand des Verdächtigen befindet sich ein Tattoo, ein Skorpion. Vielleicht kann ja Susanne schon mal in der Datenbank suchen, ob es einen passenden Eintrag gibt? So und das Beste zum Schluss? Dieser Memphis wurde von unserem lieben Kollegen Villermoz und noch einem Streifenbeamten in eine Falle gelockt und an seine Peiniger übergeben.“

    Am anderen Ende der Leitung herrschte fast schon Totenstille. Frau Krüger sog deutlich hörbar ihre Atemluft ein und aus. „Kommen sie sofort zurück zur Dienststelle. Kann jemand die Zeugenaussage bestätigen? Frau Dorn?“

    „Nein, Jenny war bei der Befragung nicht dabei. Allerdings der behandelnde Arzt war die komplette Zeit über anwesend und wird das Protokoll mit unterschreiben. Es steht also nichts im Wege, dass sie gegen diesen Villermoz einen Haftbefehl bei ihrem Freund dem Oberstaatsanwalt beantragen!“

  • Zurück im Nirgendwo …


    Ben nahm von seiner Umgebung kaum etwas war. Ihm war kalt, einfach nur kalt. Das Blut rauschte in seinen Ohren und der Pulsschlag hämmerte in seinem Kopf. Auf den gefolterten Polizisten wirkte alles so unwirklich, was um ihn herum geschah, als würde er nicht dazu gehören. An seinem Körper wurde gezerrt, gerissen, er wurde gezogen und geschleppt.


    Verzerrt erreichten ihn Stimmen, die sich immer weiter entfernten. Auf einmal herrschte Stille um ihn herum. Seine Peiniger schienen ihn alleine gelassen zu haben. Je mehr die Bewusstlosigkeit aus ihm wich, desto mehr spürte er seinen Körper. Stück für Stück kehrten seine Empfindungen zurück und mit ihnen der Schmerz. Seine Augen wollten ihm einfach nicht gehorchen, als er versuchte diese aufzuschlagen. Zuerst nahm er alles wie durch einen Schleier wahr. Er blinzelte. …. Es dauerte einige Minuten bis sein Blick klarer wurde und er erfasste, wo er sich befand: in der Folterkammer. Diesmal hatte man ihn während seiner Bewusstlosigkeit nicht zurück in sein kleines Verlies geschleppt.


    Zu seiner Überraschung leuchteten einige abgedimmte Halogenstrahler den Raum aus. Von seiner Position aus konnte er die gesamte Größe des Raumes erfassen und die verschiedenen Einrichtungsgegenstände. Zum einen war da links die aufgebaute Elektronik mit der Kamera, mit der man ihn während der Folterungen anscheinend gefilmt hatte. Ihr gegenüber befand sich der Teil des Raumes, den er bisher noch nicht richtig gesehen hatte, eine komplett ausgestattete Bar mit Theke und Barhocker. Daneben luden moderne Ledersofas zum gemütlichen Verweilen ein. Ein Billardtisch, der an die Außenwand geschoben worden war, vervollständigte das Inventar des Partyraumes. Auf dem Tisch lagen Kampfmesser aller Art, die Peitsche, mit der er schon Bekanntschaft gemacht hatte und einige andere Folterinstrumente, die Ben nur aus Horrorfilmen oder Zeichnungen des Mittelalters kannte. Das war absolut makaber, was seine Entführer unter „Wir veranstalten eine Party“ verstanden. Ben lachte gequält auf.


    Als der Polizist den Verwendungszweck der verschiedenen Marterinstrumente zum Brechen von menschlichen Knochen erfasste, wurde ihm speiübel. Bitterer Magensaft bahnte sich schwallartig seinen Weg nach oben, benetzte seine Kleidung, den Boden und teilweise die Außenwand. Ein abscheulicher Geschmack blieb in seinem Mund zurück. Das Erbrochene verbreitete einen widerlichen Gestank und es ekelte ihn vor sich selbst.


    Der Versuch seine Sitzposition zu verändern scheiterte kläglich. Man hatte Ben wie ein Paket in seiner sitzenden Haltung verschnürt. Zusammengekauert saß er auf einem harten und kalten Untergrund. Seine Hände waren mit Kabelbindern, die in seine geschundenen Handgelenke schnitten, an einen Eisenring fixiert, der extra zu diesem Zweck ins Mauerwerk geschlagen worden war. Seine Beine waren ebenfalls gefesselt worden, nahezu bewegungsunfähig lehnte er mit seiner rechten Körperseite an der Außenwand. Trotzdem zerrte er erneut an den Fesseln, mit dem Erfolg, dass an seinem Rücken einzelne der blutigen Striemen wieder aufbrachen. Langsam rann warmes Blut herunter und vermischte sich mit den Salzkristallen, die noch in seinem Shirt hingen. Es fühlte sich an, als würde jemand mit glühenden Nadelspitzen an seinem Oberkörper entlangstreifen. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und er stöhnte leise vor sich hin. Ben schloss seine Augen und wartete darauf, dass der Schmerz sich auf ein erträgliches Maß reduzierte.


    „Hallo mein Freund! Schön, dass du wieder wach bist! … Das erspart mir einige Arbeit!“, redete ihn eine tiefe Bassstimme an, in der er, ohne aufzublicken, den älteren der beiden Söldner erkannte. „Wie gefällt dir meine Spezialbehandlung mein Freund?“


    Ben konnte nicht vermeiden, dass ein Zittern seinen Körper durchlief. Der Grauhaarige war eindeutig der Brutalere seiner Peiniger und kannte keine Gnade. Er war ein sadistisches Schwein.


    „Ich bin nicht dein Freund! … Ich wüsste nicht, dass wir beide schon … einmal zusammen ein Bier getrunken hätten, du Bastard!“ quetschte der Polizist mühsam zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.


    Dies entlockte dem Folterknecht nur ein hämisches Lächeln. „Humor hast du mein Freund, das muss man dir lassen und vertragen kannst du auch einiges! Das verspricht noch sehr unterhaltsam mit dir in den nächsten Tagen zu werden!“


    Er öffnete den Schraubverschluss einer Wasserflasche und griff brutal nach Bens Kinn. Remzi setzte die Flasche an den Lippen des Verletzten an und zwang ihn, mit einem derben Griff in den Unterkiefer den Mund zu öffnen und die Flasche fast leer zu trinken. Er nahm keine Rücksicht darauf, dass Ben sich mehrmals verschluckte, hustete und fast erstickt wäre. Die Reaktionen des Polizisten quittierte er mit einem grässlichen Lachen.


    Der Söldner erhob sich, ging zum Billardtisch, schüttete etwas Salz in die Wasserflasche und kam zurück. Daraufhin entleerte er den Rest des Flascheninhalts über Bens zerschlagenen Rücken. Dieser schrie gepeinigt auf. Seine Schmerzensschreie hallten im Raum wieder, als sich ein wahrer Feuersturm über seinen Rücken entfachte und ihm letztendlich die Besinnung raubte.

  • Zurück auf der PAST


    Auf dem Weg zur Eingangstür der Dienststelle kamen Semir und Jenny der Rechtsanwalt Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen und sein Mandant, Zladan Stojkovicz, entgegen. Beide grinsten selbstzufrieden vor sich hin. Dr. Hinrichsen konnte es nicht lassen und meinte herablassend im Vorbeigehen, „Hallo Herr Hauptkommissar Gerkhan. Wie laufen denn ihre aktuellen Ermittlungen, wenn man fragen darf? Sind sie, wie üblich, auf der Seite der Verlierer?“
    Meckernd lachte der Anwalt lauthals vor sich hin, bis er in sein Auto einstieg.

    Der Türke hätte dem aalglatten Rechtsanwalt am liebsten seine Faust ins Gesicht gesetzt. Jenny, die schon so etwas vorausahnte, zog ihn am Ärmel mit.
    „Nicht Semir, lass es! Es bringt doch nichts, wenn du dich mit dem Kerl anlegst!“

    Der Körper des Türken bebte vor Wut, er zerrte, versuchte sich von seiner jungen Kollegin loszureißen. „Eines Tages poliere ich dem Typen die Fresse!“

    „Nein! ... Nicht Semir! ... Darauf wartet der Kerl doch nur! Na los! … Geh schon rein!“
    Energisch schob ihn die Polizeibeamtin durch die Eingangstür, bevor ein Unglück geschehen konnte. Als die beiden Autobahnpolizisten das Großraumbüro betraten, herrschte dort Hochbetrieb. Susanne hatte bereits ihren Schreibtisch aufgeräumt und war im Begriff Feierabend zu machen.
    „Gut, dass ihr da seid! Semir, du sollst sofort zur Chefin reingehen. Sie erwartet dich! Schönen Abend, noch, ich muss heute mal zur Abwechslung pünktlich gehen, habe noch einen dringenden Arzttermin“, meinte sie fast schon entschuldigend, schnappte sich ihre Handtasche und den Autoschlüssel und stürmte aus dem Büro.

    Neben Kim Krüger befand sich der Staatsanwalt van den Bergh im Büro seiner Chefin. Bereits auf dem Weg dorthin konnte Semir durch die geschlossene Zimmertür hören, dass zwischen den Beiden so richtig die Fetzen flogen. Die Lautstärke ihrer Unterhaltung war unüberhörbar.

    „…. Was erwartest du denn bitte von mir Kim? Soll ich auf Grund der Hirngespinste einer Berufsanfängerin eine Überwachung für einen renommierten Rechtsanwalt beantragen? Das wäre karrieretechnischer Selbstmord! Sag mir, wie soll ich eine Telefonüberwachung bei einem Richter beantragen? Begründen? … Sag mir wie? … Ohne handfeste Beweise!“

    Kim Krüger räusperte sich laut und versuchte durch eine Geste, den Staatsanwalt darauf aufmerksam zu machen, dass Semir und Jenny hinter ihm standen und bereits Teile des Gesprächs mit angehört hatten. Hendrik warf einen Blick zur Seite und fuhr in seinen Ausführungen fort.
    „Mir stinkt dieser aalglatte Typ auch. Doch der hat nun mal Verbindungen bis in die höchsten politischen Kreise.“ Sein Blick schweifte in die Runde, als suchte er für seine nächste Aussage eine Bestätigung. „Oder hat jemand von ihnen Lust bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn als Straßenkehrer in Köln Kalk tätig zu sein.“ Er schüttelte den Kopf und hob entschuldigend die Hände hoch, „Tut mir leid, ohne hieb- und stichfeste Beweise unternehme ich nichts gegen den Rechtsverdreher!“

    „Ist doch immer das Gleiche, Geld regiert die Welt! Doch wo bleibt da bitteschön die Gerechtigkeit? Es kann nicht sein, dass solche Drecksäcke ungeschoren davonkommen! … Was ist mit diesem Stojkovicz? Wieso konnte der so hämisch grinsend hier einfach raus spazieren?“, murrte Semir ärgerlich in Richtung des Staatsanwalts. „Wie viele Beweise brauchen sie denn noch, um den Kerl festzusetzen?“

    „Frage zurück!“, blaffte van den Bergh „Welche Beweise haben Sie denn Herr Gerkhan, die wir dem Haftrichter vorlegen können, dass Herr Zladan Stojkovicz für das Verschwinden von Herrn Jäger verantwortlich ist? … Dafür, dass er hinter diesen Intrigen stand, die ihren Partner unter Mordverdacht brachten? Sagen Sie mir welche?“, konterte der Staatsanwalt unwirsch zurück. „Alle Indizien, die wir haben, richten sich ausschließlich gegen Rashid Stojkovicz, gegen den bereits eine Großfahndung läuft. Sein Onkel behauptet er hat nichts mit den Machenschaften seines Neffen zu tun!“

    „Meine Herren, diese Diskussionen führen zu nichts! Der Streifenbeamte Villermoz wird momentan von den Verhörspezialisten der Inneren Abteilung befragt. Sollte sich hier ein Hinweis zum Verschwinden von Herrn Jäger ergeben, werden wir sofort informiert. Sein verdächtiger Kollege hat sich ins Ausland abgesetzt und wird ebenfalls per Haftbefehl gesucht. Außerdem hat mir der Oberstaatsanwalt van den Bergh gerade eben bestätigt, dass alle Anklagepunkte und der Haftbefehl gegen Herrn Hauptkommissar Jäger aufgehoben worden sind. Er gilt als ab sofort wieder im Dienst und als vermisst. Die Suche nach Herrn Jäger ist eine der vordringlichsten Aufgaben dieser Dienststelle für die kommenden Tage! Noch Fragen Herr Gerkhan? Ansonsten können Sie und Frau Dorn für heute Feierabend machen!“

  • Zurück im Nirgendwo bei Ben …


    Das lästige Summen einiger Fliegen riss Ben aus seiner Lethargie. Die kleinen Plagegeister quälten ihn schon seit Stunden. Der süßliche Geruch des Blutes hatte die Insekten angelockt. Etwas krabbelte über seine Nase, über seine nackte Haut am Oberkörper. Es kitzelte, kribbelte …. Ben wollte es mit seiner Hand zur Seite wischen. Keine Chance, seine Hände waren an dem Eisenring gefesselt.

    Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein, seit ihn Remzi in der Folterkammer alleine gelassen hatte. Sein geschundener Körper bestand nur noch aus einem unendlichen Schmerz und wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Früher oder später würde es zu Ende gehen. Seine linke Schulter brannte und pochte am Rücken im Rhythmus seines Herzschlags. Vermutlich hatte sich nicht nur eine der unzähligen Wunden entzündet. Früher oder später würde ihn solch eine Infektion umbringen. Doch bis dahin wollte sich der junge Polizist gar nicht ausmalen, was ihm noch bevorstand. Es war einer der Momente, in denen Ben über sein Schicksal nachgrübelte. Alles hätte so perfekt sein können in seinem Leben. Warum nur?


    Hatte ihm bisher die Liebe zu Anna, die Hoffnung sie eines Tages wiederzusehen, die Kraft und den Willen gegeben, all diese Folter und Qualen zu überstehen, so saß er in dieser Nacht in diesem Kellerloch und sehnte förmlich sein Ende herbei. Der junge Mann war an der Grenze seiner psychischen und körperlichen Belastbarkeit angelangt.
    Gabriela wollte seinen Widerstand, den er ihr entgegenbrachte, zerbrechen … ihn in jeder Hinsicht zerstören, die Person Ben Jäger zu einem menschlichen Wrack machen. Seine Widersacherin hatte ihr Ziel fast erreicht. Die Drohung, am kommenden Tag Anna und Julia vor seinen Augen zu ermorden und ihn zu zwingen, bei einem Livestream hilflos zu zusehen, raubte ihn fast den Verstand. Sein Gehirn lief bei dieser Vorstellung seit Stunden Amok. Er fing an nachzugrübeln … einen Ausweg zu finden. Das Gedankenkarussell in seinem Kopf begann sich unaufhörlich zu drehen und kam wieder zum gleichen Ergebnis.


    Ein Luftzug streifte seinen Körper. Dessen Kühle wirkte fast ein wenig belebend auf ihn. Eines der Kellerfenster über ihm und eine Terrassentür waren von Remzi geöffnet worden. Es war als wollte der Grauhaarige ihn damit zusätzlich quälen. Die geöffnete Tür war wie eine Einladung zur Flucht. Doch wie? Sein rechtes Bein war angebrochen, seine körperliche Verfassung so schlecht, dass er höchstens kriechen könnte. Davon mal abgesehen, dass er diese verdammten Kabelbinder, mit denen man ihn gefesselt hatte, nicht ohne Hilfsmittel durchtrennen konnte. Ironisch lachte er vor sich hin. Einige Tränen suchten sich ihren Weg über seine Wangen.

    Ben schloss seine Augenlider und lauschte dem Rauschen der Blätter im nächtlichen Sommerwind, das vom Zirpen einer Grille durchbrochen wurde. Kein weiteres Geräusch verriet ihm etwas über den Standort seines Gefängnisses. Oder war da nicht noch was anderes? Spielte seine Phantasie endgültig verrückt? Er träumte wohl von der Autobahn, denn ansonsten hätte er schwören können, dass sich so der Schall von schnell fahrenden Fahrzeugen anhörte, die eine Autobahn nutzten. Ben döste erschöpft wieder ein.


    Einige Zeit später auf der PAST …

    Im Großraumbüro auf der Dienststelle war nächtliche Ruhe eingekehrt. Draußen flammte die Parkplatzbeleuchtung auf und tauchte die die Umgebung der PAST in ein schummriges Licht. Die Hektik des Tages hatte ein Ende gefunden. Die Kollegen der Nachtschicht waren draußen auf der Autobahn unterwegs und fuhren Streife. Nur die Kollegin, die den Funk besetzte und noch ein weiterer Kollege am Eingangsschalter, waren anwesend.

    Frau Krüger und der Staatswalt schienen sich nach ihrem Krach recht schnell wieder versöhnt zu haben. Miteinander Händchen haltend, hatten sie zusammen schon vor zwei Stunden gemeinsam die Dienststelle verlassen. Semir hatte sich von einer Nahe gelegenen Raststätte einen kleinen Imbiss besorgt. Während er seinen Döner vertilgte, lümmelte er in seinem Schreibtischstuhl. Seine Füße hatte er bequem auf der Schreibtischplatte abgelegt. In seinen Gedanken ließ er die Ermittlungsergebnisse des vergangenen Tages nochmal vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Ein Ziel hatte er erreicht: Die Unschuld von Ben hatte er beweisen können, doch sein wichtigstes Ziel ist unerfüllt geblieben: Es gab keine Spur oder Hinweis auf den Verbleib von Ben.


    Zusammen mit Jenny hatten er und die Kollegen der Kriminaltechnik während des Nachmittags die Wohnung des Verdächtigen Rashid Stojkovicz in der Kölner Innenstadt durchsucht. Der Staatsanwalt hatte bei der zuständigen Richterin einen Durchsuchungsbefehl beantragt und prompt bekommen. Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung hatte sich als typische Junggesellenbude entpuppt. Ähnlich wie früher bei Ben, lagen überall Kleidungsstücke wild verstreut herum. In den Schränken und Regalen stapelten sich Fachzeitschriften und Bücher zu Computer und Elektrotechnik. Dazu türmten sich Bauteile für Computern, Kabel und viele elektronische Kleinteile und bunte Kabel, deren Bedeutung Semir nicht kannte. Das war ein klarer Fall für Hartmut gewesen. Laut den Aussagen der Nachbarn hatte sich der Verdächtige in den letzten drei Monaten nur noch sporadisch in der Wohnung aufgehalten.

    Was hatte den jungen Albaner dazu gebracht, sein scheinbar geordnetes Leben hinzuschmeißen? Seinen gut bezahlten Job vor Monaten zu kündigen und mehr oder weniger unterzutauchen?

    Was?

  • Nachdenklich fuhr sich der Türke mit der Hand über sein Gesicht und verfiel weiter in seinen Grübeleien. Zusammen mit Hartmut und den Kollegen der KTU hatten Jenny und er die Mietwohnung des Albaners bis in den letzten Winkel auf den Kopf gestellt. Nirgends war ein Hinweis zu entdecken gewesen, ob Rashid eine weitere Wohnung, eine Halle oder irgendeine andere Räumlichkeit angemietet hatte, die als Versteck bzw. Gefängnis für Ben herhalten konnten. Jenny hatte beschlossen den Abend und die Nacht gemeinsam mit Hartmut in der KTU zu verbringen und wollte dort nochmals alle beschlagnahmten Unterlagen sichten. Vielleicht verbarg sich in der Ansammlung von losen Blättern eine Stromrechnung oder ein Mietvertrag … irgendetwas.
    Der Kommissar hatte alles, was er in den Polizeicomputern zu Rashid Stojkovicz gefunden hatte, gelesen und war zu einer Schlussfolgerung gekommen. Wenn der Albaner sich an Ben hatte rächen wollen, warum ausgerechnet jetzt? Warum nicht schon sieben Jahre vorher? Was war der Auslöser gewesen? Die tödliche Erkrankung seines Vaters, den er bis zu seinem Verschwinden zweimal im Monat im Gefängnis besucht hatte? Laut den Beschreibungen seiner Person hätte Rashid Ben eine Bombe unter dessen Auto gelegt. Aber der Kerl war bestimmt nicht der Typ, der sich solch einen perfiden Racheplan ausdachte.


    Semir betrachtete die Pinnwand mit den vielen Kärtchen. Gedanklich ging er alle möglichen Konstellationen durch. Zum anderen war da noch der todkranke Boris Stojkovicz, der vor knapp drei Monaten vorzeitig aus der Haft entlassen worden war. Susanne hatte dem Türken die komplette Ermittlungsakte des LKAs in diesem Fall besorgt. Ohne Bens damaligen wagemutigen Undercover Einsatz wäre der alte Mann niemals zur Strecke gebracht worden. Der Mafia Boss hatte seinem Freund im Gerichtssaal bei der Urteilsverkündung VENDETTA geschworen. Er könnte dieser JEMAND sein, der Ben systematisch fertig machen wollte. Falsch! Fertig gemacht hatte! War sein jüngster Sohn einfach sein Handlanger, sein verlängerter Arm, in diesem perfiden Spiel um Rache gewesen? Welche Rolle spielte Zladan Stojkovicz, der Bruder des Alten, der vorgegeben hatte, seine Hände in Unschuld zu waschen?


    Sollten der Kotzbrocken von Oberstaatsanwalt und Frau Krüger richtig liegen und alles war ein Racheakt der Familie Stojkovicz gewesen. Die Profiler des LKAs würden dem alten Mafia Boss jederzeit einen derartigen Rachefeldzug zutrauen. Semir beschloss als erstes morgen früh den Alten im Hospiz aufzusuchen und zu befragen. Diesmal würde ihn diese Schreckschraube von Krankenschwester nicht mehr abwimmeln können.


    Semirs Blick wanderte weiter über der Tafel und blieb an dem Kärtchen „Gabriela Kilic“ haften. Sein Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich weiter. Wie passte sie ins Bild? Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass diese Frau da mitmischte! Doch wo, wo war eine Verbindung zwischen den beiden Familien? Außer dass beide Verurteilten durch den gleichen Rechtsanwalt vertreten worden sind. Vom Balkan stammten? Zufall? Semir schüttelte seinen Kopf. In diesem Fall glaubte er an keine Zufälle mehr.


    Doch wie? Wie sollte diese Frau das organisiert haben? Sie war doch in den letzten Monaten im Frauengefängnis in einer Einzelzelle untergebracht gewesen, da konnte man nicht einfach mal telefonieren, rein- und rausspazieren, wie man eben mal Lust dazu hatte. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war ihr Anwalt gewesen. Er richtete sich auf und durchwühlte den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch und suchte die Unterlagen über die Flucht von Gabriela Kilic. Die Protokolle der Zeugenbefragungen … die Termine bei dem Physiotherapeuten und auf einmal waren ihm die Zusammenhänge klar. Er las und las, verglich die Daten, recherchierte im Internet, machte sich Notizen für Susanne und die weiteren Ermittlungsansätze. Es war schon weit nach Mitternacht. Die Buchstaben fingen an, vor seinen Augen zu verschwimmen. Die Müdigkeit ließ sich selbst vom stärksten Kaffee nicht mehr vertreiben.

    Völlig erschöpft ließ er sich auf einem der Feldbetten im Bereitschaftsdienstraum nieder. Unruhig wälzte er sich hin und her. Semir fand einfach keinen Schlaf. Der Anblick von Bens Freund Memphis ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Welche menschliche Bestie mochte diesen Mann gefoltert haben? Kaltes Grauen packte ihn bei der Vorstellung, was man Ben alles antun könnte, wenn er in die Hände dieses grauhaarigen Sadisten gefallen war.


    Oh verdammt Ben, halte durch mein Freund, sendete er innerlich die Botschaft an seinen Partner aus. Halte durch! Halte einfach nur durch und gib nicht auf! Ich werde dich finden! Versprochen!

  • Die Bewohner der riesigen Villa hatten gemeinsam auf der Terrasse gefrühstückt. Elena, die kleine Russin, beeilte sich den Tisch abzuräumen, vorher hatte sie Gabriela nochmals Kaffee nachgeschenkt. War die Kroatin anfangs noch über die Anwesenheit der jungen Frau verärgert gewesen, so hatte sie sich im Laufe der letzten Tage, als große Hilfe auch für sie erwiesen. Sie schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln, bevor diese mit einem voll beladenen Tablett in Richtung Küche verschwand.


    Laut Wetterbericht sollte es heute wieder ein schwül-warmer Hochsommertag mit tropischer Hitze werden. Im Laufe der kommenden Nacht sollten dann Gewitter endlich die lang ersehnte Abkühlung bringen. Doch das interessierte Gabriela nicht wirklich. Ihre Gedanken drehten sich nur um ein Thema: Ihre Rache. Heute Morgen sollte der Mord an Julia Jäger stattfinden und mitten in dem Chaos der polizeilichen Ermittlungen sollte anschließend die Freundin oder sollte sie besser sagen ehemalige Freundin von Ben Jäger, Anna Becker, aus dem Leben scheiden. Ihr Mundwinkel verzog sich voller Vorfreude zu einem zynischen Lächeln.


    Rashid war von ihr während des Frühstücks beauftragt worden, nochmals die komplette Elektronik zu überprüfen, damit bei der Übertragung aus dem Krankenhaus auch wirklich nichts schief gehen konnte. Der Albaner war für den Auftrag dankbar gewesen. Remzi hatte ihn während des Frühstücks mit seinen spöttischen Bemerkungen und Sticheleien an dem Rande der Weißglut getrieben. In ihrer letzten körperlichen Auseinandersetzung war der Albaner dem Serben hoffnungslos unterlegen gewesen und hatte die Prügel seines Lebens bezogen. Er hatte den Bärenkräften des Söldners nichts entgegenzusetzen gehabt. Rashid haderte mit seinem Schicksal. Wenn sein Vater nicht auf diesen idiotischen Handel mit der Kroatin eingegangen wäre. In Gedanken malte er sich aus, was er alles mit der geklonten Sim-Karte von Ben Jäger hätte anstellen können. Es wäre sein persönlicher Rachefeldzug geworden. Er hätte den dunkelhaarigen Polizisten als Verräter dastehen lassen können, ihn fertig gemacht. Als Krönung hätte er die Elektronik vom Dienstwagen des Autobahnpolizisten ebenso manipuliert, wie die von Julia Jäger. Sein kleiner „Virus“ hätte mittels Funkempfänger die Lenkung des silbernen Mercedes auf Befehl ebenfalls lahmgelegt. Kein normal Sterblicher hätte einen Mordverdacht gehegt. Es hätte wie ein Unfall auf Grund menschlichen Versagens oder Selbstmord ausgesehen.

    Nichts war so eingetroffen, wie es sein Vater ihm prophezeit hatte. NICHTS! Zu allem Überfluss stand er seit gestern auf der Fahndungsliste der Polizei als mutmaßlicher Entführer von Ben Jäger. Ironisch lachte er bei dem Gedanken auf. Für ihn bedeutete es, er war seit gestern in dieser Villa gefangen. Gabriela hatte ihm strikt untersagt seinen Vater zu besuchen und auch sonst das Grundstück zu verlassen. Zu groß war ihre Angst, dass man ihn verhaften würde und die Polizei dadurch ihr Versteck entdecken würde. Rashid hatte einen Entschluss gefasst. Er wollte mit Elena fliehen. Sascha, die ehemalige rechte Hand seines Vaters, hatte ihm gestern Abend versprochen, ihm bei einer Flucht aus der Villa zu helfen. Anschließend wollte der junge Albaner sich mit seiner Geliebten ins Ausland absetzen. Sascha hauste mit drei weiteren Gefolgsleuten seines Vaters in der Chauffeurs-Wohnung über der Garage.


    Als Rashid an der untersten Treppenstufe im Kellergeschoß angelangt war, hörte er das leise Stöhnen des Gefolterten. Die Tür zum früheren Partyraum war nur angelehnt. Ihm graute vor dem Anblick des Polizisten. Der Albaner vermied es, den Gequälten anzuschauen, als er den Raum betrat. Er stakste schnurstracks in die Ecke des Zimmers, wo er seinen Laptop und die Elektronik aufgebaut hatte. Aus dieser Entfernung belauerte er Ben Jäger, der mit geschlossenen Augen leise vor sich hin ächzte und stöhnte. Es war ihm unbegreiflich, wie ein Mensch über Tage solche Misshandlungen ertragen konnte und trotzdem noch am Leben war. Ihm war klar, er selbst hätte keine Stunde solche Folterungen über sich ergehen lassen können, ohne zusammenzubrechen.


    Und trotzdem murmelte er voller Hass vor sich hin, „Du A.rsch, bist daran schuld, dass ich hier festsitze!“ Mit seiner rechten Hand griff er nach hinten an den Hosenbund und zog die kleinkalibrige Waffe heraus, die er von Sascha bekommen hatte. Sein Hemd hing lose über der Hose und hatte die Schusswaffe perfekt verdeckt. Nachdenklich wanderte sein Blick von der Pistole zum verhassten Polizisten. Ein Schuss! Ein einziger Schuss und die Vendetta wäre erfolgreich durchgeführt! Die Familienehre wäre wiederhergestellt. Doch da war diese abgrundtiefe Angst vor Gabriela, die ihm im Nacken saß und seinen Zeigefinger am Abzugshahn lähmte. Seine Hand fing an zu zittern. Er atmete tief durch, steckte die Waffe zurück an ihren Platz im Verborgenen und fischte stattdessen ein Handy aus der Hosentasche. Die Telefonnummer des Hospizes war eingespeichert. Die Frau am Empfang stellte ihn direkt zur Krankenschwester Jutta durch. Die Begrüßung fiel kurz aus.


    „Tut mir leid, Herr Stojkovicz. Ihr Vater ist vergangene Nacht verstorben, ohne dass er das Bewusstsein nochmals erlangt hatte.“

    Rashid merkte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken rann. Sein Herzschlag beschleunigte sich, hämmerte wie wild und sein Innerstes verwandelte sich in einen Eisklumpen. Seine Rechte, in der er das Handy hielt, fing an zu zittern.

    „Herr Stojkovicz, sind Sie noch dran? Wollen Sie ihren Vater nochmals sehen, bevor der Bestatter ihn abholt?“

    „Nein! … Nein! …Ist Dr. Hinrichsen informiert?“

    „Ja! Ich habe alles veranlasst, so wie es ihr Vater verfügt hat!“

    „Gut! Vernichten Sie bitte alle Unterlagen, Handynummern, Telefonnummern! Sofort! Und wenn die Polizei bei Ihnen auftaucht und nachfragt, sie wissen nicht, wie man mich erreichen kann!"
    Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch. Der Schock saß tief, obwohl die Todesnachricht zu erwarten gewesen war. Er schlich mit schweren Schritten zum Polizisten hin. Dessen Ausdünstungen quälten seine Magennerven.
    „Du bist schuld Ben Jäger! ….“


    Der Rest seiner Worte blieb dem Albaner förmlich in der Kehle stecken. Der Gefolterte hatte sich ein bisschen bewegt. Die Stofffetzen auf seiner linken Schulter verschoben sich und gaben den Blick auf Peitschenstriemen frei. Die Haut um die Verletzungen herum waren angeschwollen und dunkelrot verfärbt. Ungläubig starrte Rashid auf die Wunden. Es war keine optische Täuschung. Darin bewegten sich etwas. Er fing an zu würgen. Saurer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. In letzter Sekunde gelang es ihm seine Hand auf seine Lippen zu pressen. Wie von Furien gejagt, stürmte er aus dem Partyraum.

  • Remzi war Rashid einige Zeit später in den Keller gefolgt, um vor allen Dingen nach dem gefangenen Polizisten zu schauen. Auf der Kellertreppe kam ihm der Albaner auf dem Weg ins Erdgeschoss entgegen gestürmt. Der Schwarzhaarige war kreidebleich gewesen, hatte seine Hand vor dem Mund gehalten und kämpfte darum, dass sein Frühstück sich nicht auf der Kellertreppe verteilte. Der grauhaarige Söldner lachte lauthals gehässig auf und rief den jungen Mann „Weichei!“ hinterher.


    Auf der Terrasse nippte Gabriela an ihrem Kaffee und erwartete ungeduldig die Rückkehr ihrer Handlanger. In Gedanken ging sie noch einmal jedes Detail ihres perfiden Racheplanes durch. Ein triumphierendes Grinsen überzog ihre Gesichtszüge. Zu gerne hätte sie Julia Jäger selbst die Klinge eines Kampfmessers in den Bauch gerammt. Doch Remzi hatte sie davon überzeugt, dass es für Gabriela zu gefährlich werden würde. Zu leicht konnte sie erkannt werden, denn wie sie aus ihren polizeilichen Quellen wusste, lief die Fahndung nach ihr auf Hochtouren. Doch ihr blieb ja noch die Freundin von Ben Jäger. Vor den Augen des Autobahnpolizisten wollte sie Anna Becker die Kehle durchtrennen. Die junge Frau sollte genau so sterben, wie ihr Bruder. Gabriela konnte förmlich spüren, wie es vor Erregung in ihren Fingern kribbelte.


    „Hast du einen Augenblick?“, riss sie die tiefe Stimme von Remzi aus ihren Gedankengängen, als er zu ihr auf die Terrasse getreten war. Er ließ sich in einem der gemütlichen Rattan-Sessel nieder. Gleichzeitig ertönte aus der Gästetoilette des Erdgeschosses das würgende Geräusch, wenn sich jemand die Seele aus dem Leib kotzt. Fragend blickte Gabriele ihren Handlanger an. Die Antwort des Söldners klang ein wenig abfällig.


    „Jüngelchen hat den Anblick des Bullen nicht vertragen. Der Bulle hat sich vollgekotzt und vollgepisst. Der Gestank ist ihm scheinbar etwas auf den Magen geschlagen. …Dieser junge Albaner ist und bleibt ein Weichei, der nur Weiber flach legen kann… Ich sag doch schon die ganze Zeit, wenn es hart auf hart kommt, kannst du den in der Pfeife rauchen!“

    „Was ist mit Jäger?“, unterbrach ihn die Kroatin und runzelte die Stirn. „Er soll wach sein! Alles mitbekommen!“

    Remzi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Um deinen Lieblingsbullen mach dir mal keine Sorge meine Liebe, der ist nachher schon fit, wenn die Show beginnt. Dafür sorge ich höchstpersönlich!“ Ein selbstzufriedenes Grinsen huschte über das Gesicht des Serben. „Viel wichtiger ist es, dass Jüngelchen dafür sorgt, dass die Technik funktioniert.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Um 11.00 h treffe ich mich mit dem Mittelsmann am Krankenhaus. Er hat für Michael einen Originalausweis der Uni-Klinik und die Kleidung eines Krankenpflegers organisiert. Sascha und seine beiden Männer begleiten mich ebenfalls. Wir haben einen genauen Gebäudeplan und werden Jägers Freundin vor den Personalumkleideräumen abfangen. Wie du siehst, es ist alles perfekt vorbereitet! Nichts wird schief gehen! … Versprochen!“


    Zufrieden nickte Gabriela. Bis auf den in ihren Augen verkorksten Anschlag auf die Staatsanwältin Schrankmann, die schwer bewacht in einer Spezialklinik um ihr Leben kämpfte und dem unerwarteten Familienurlaub des Türken, hatte ihre tödliche Vergeltung unerbittlich ihre Opfer erreicht.


    Rashid trat kreidebleich hinzu. Remzi konnte es einfach nicht lassen und ärgerte den jungen Mann aufs Neue. „Na Weichei! Geht es wieder oder soll ich Elena rufen, damit sie dir hilft und ein bisschen Händchen hält? Dein Vater hätte dich mal nicht so verhätscheln sollen.“ meinte der Söldner abfällig und grinste ihn dabei verächtlich an. Um seinen nächsten Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, griff er sich mit einer eindeutigen Geste in den Schritt. „Vielleicht sollte ich mal deinem Liebchen zeigen, was ein richtiger Mann so drauf hat!“ Schallend lachte er auf.

    „Lass es gut sein Remzi!“, wies ihn die Kroatin zu Recht. Missmutig brummte der Grauhaarige vor sich hin und erhob sich aus seinem Stuhl, um sich für die Fahrt zum Krankenhaus umzuziehen. Dort konnte er ja schwerlich in Springerstiefel und Kampfhose auftauchen. Vorher musste er mit Camil noch mal runter in den Keller und sich um den jungen Polizisten kümmern.

    Rashid stand vor Gabriela und kam sich vor wie ein dummer Schuljunge. Ihre gefühlskalten grauen Augen musterten ihn durchdringend. Er rang mit sich, sollte er der Kroatin mitteilen, dass sein Vater verstorben war. Nein, beschloss er für sich. Noch mehr Demütigungen würde er am heutigen Tag nicht ertragen. Nicht nur Remzi sondern auch Gabriela hatte ihn in den letzten Tagen mehrfach zu verstehen gegeben, wo er in der Hierarchie stand. Ganz weit unten.

    „Und alles fertig vorbereitet?“, erkundigte Gabriela sich. Sie hielt ihr Morgenzigarillo in der linken Hand und blies den Rauch in kleinen Kringeln auf den jungen Mann zu. Mit der rechten Hand quetschte sie einen kleinen Gymnastikball zusammen. Der Blick von Rashid wanderte zu ihrem vernarbten Oberarm und blieb daran haften. Sie trug heute Morgen ein ärmelfreies Top. Keine Jacke oder ein Bolero kaschierten die Reste des zerfetzten Oberarmmuskels und der Narben.

    „Glotz nicht so blöde!“ blaffte sie ihn an, „zieh dir ein paar saubere Klamotten an und beweg deinen A.rsch in den Keller!“

    Sein entsetzter Blick hatte ihr weibliches Selbstwertgefühl verletzt, ihr offenbart, wie abstoßend diese grässliche Narbe auf Männer wirkte. Dies schürte einmal mehr ihre Feindseligkeit gegen den Verursacher dieser Verletzung.

  • Die tagelangen Folterungen hatten Ben Jäger schwer gezeichnet.

    „Hey, Bulle aufwachen! Genug gepennt“ Jemand schlug ihn mit der flachen Hand auf die Wange und holte Ben zurück in die grausame Wirklichkeit. „The Show must go on!“ Langsam drangen die Worte in das schmerzumnebelte Gehirn von dem jungen Polizisten durch. Schlagartig wurde ihm bewusst, wer ihn da weckte. Es war so weit. Die schlimmsten Stunden seines Lebens standen ihm bevor und er war hilflos seinen Peinigern ausgeliefert. Er konnte die Lawine, die Gabriela in Gang gesetzt hatte, nicht mehr aufhalten.


    „Na los Freundchen, mach die Augen freiwillig auf, sonst helfe ich ein bisschen nach!“


    Bevor Ben antworten oder reagieren konnte, ergoss sich ein Schwall Wasser über seinen Oberkörper.


    „Boah, der Kerl stinkt schlimmer, als ein Rudel Wildschweine!“, kommentierte Camil seine Aktion, „der verträgt dringend eine weitere Ladung Wasser!“

    „Doch nicht hier, du A.rsch! Oder hast du Lust die Sauerei wieder weg zu putzen! Warte bis wir ihn später zurück in seine Hundehütte schaffen, da können wir ihn vorher mit dem Schlauch abspritzen!“, wies der Ältere den Jüngeren zu Recht. In Richtung Ben meinte er „Freundchen! Letzte Warnung! Entweder du machst die Augen auf oder ich helfe nach!“


    Wie durch Watte waren die Worte der Söldner zu Ben durchgedrungen. Als er nicht gleich reagierte, trat ihn einer der beiden gegen das Gesäß. Der brennende Schmerz zeigte Ben, dass noch Leben in ihm war. Der nächste Stiefeltritt wurde heftiger. Ja genau! Tretet mich, bringt mich gleich um, dann habe ich es hinter mir, dachte sich Ben. So als schien sein Widersacher seine Gedanken zu erahnen, stoppte dieser die Misshandlungen. Remzi kannte Gabrielas Wunsch nur zu genau, der Polizist sollte dem kommenden Spektakel in möglichst wachen Zustand beiwohnen. Deshalb schüttete er den nächsten Eimer kaltes Wasser über Bens Oberkörper.


    „Regt den Kreislauf an! Beweg dich, sonst wende ich andere Methoden an!“, brummte die Bassstimme.


    Tatsächlich gelang es Ben, seinen Kopf anzuheben und seine Augen aufzuschlagen. Verschwommen sah er die Umrisse der beiden Söldner vor sich. Mit einem Messer durchtrennte Remzi die Fesselungen von Armen und Beinen. Wie ein nasser Sack fielen seine Arme runter auf seine Beine. Ohne Fixierung seiner Hände nach oben sackte Bens Oberkörper in sich zusammen. Durch die enge Verschnürung hatte er jegliches Gefühl in seinen Armen und Beinen verloren. Langsam setzte die Blutzirkulation ein. Es kribbelte und brannte in seinen Extremitäten. Es war, als würde eine ganze Armee kleiner roter Waldameisen darüber herfallen und ihn beißen. Ben stöhnte leise vor sich hin.


    „Los steh auf! Meinetwegen krabble oder krieche, nur beweg dich endlich!“, befahl ihm der grauhaarige Söldner barsch und trat ihn wieder mit der Stiefelspitze in die Seite. Ben entfuhr ein schmerzhafter Aufschrei. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte sich nicht bewegen. Seine Glieder waren steif, fühlten sich wie gelähmt an.

    „Komm hör auf Remzi! Der kann nicht mehr! Ich weiß zwar nicht, was du gestern Nachmittag mit dem noch veranstaltet hast, aber schau dir den Kerl mal richtig an. Der ist fertig!“, ermahnte der Schnauzbärtige seinen Kumpel. Camil umfasste Bens Handgelenke und forderte seinen Freund auf „Nimm seine Beine! Wir schleifen ihn rüber zum Seil und hängen ihn dran auf!“


    „Oh Fuck!“, danach folgte noch eine wüste Ansammlung von Flüchen in seiner serbischen Muttersprache. Remzi hatte Bens rechtes Hosenbein angefasst, das von Urin durchfeuchtet war. „Boah, kein Wunder, dass der Kerl so widerlich stinkt! Dafür hätte er eine extra Abreibung nach der Sondervorstellung heute verdient!“


    „Ach halt, die Klappe! Wer wollte denn unbedingt, dass der Bulle die Nacht heute hier verbringen muss! War doch völlig klar, dass der sich voll pissen würde! Was wolltest du damit erreichen? …. Du wolltest ihn demütigen! Schau ihn dir an! … Ziel erreicht! … Wenn einer wütend sein sollte, dann ich! Schließlich darf ich die Sauerei wegputzen, wenn du nachher wegfährst oder willst du das Jüngelchen machen lassen. Der kotzt dir dabei gleich komplette Bude voll!“


    Es folgt eine Flut von derben Schimpfwörtern der Söldner, mit denen sie sich gegenseitig beschimpften.

    Ben kam sich vor wie in einer Parallelwelt. Er lauschte der Unterhaltung der beiden Männer und nahm sie doch nicht wahr. Seine Schmerzen ließen ihn in eine Schattenwelt abdriften. Nur vage bekam er mit, wie man seine Handgelenke fixierte und ihn in die Höhe zog. Wieder tätschelte der Grauhaarige ihm auf die Wange und wartete bis er die Augenlider hob.
    „Na wer sagt es denn! Hallo wach! … Mach dich bereit, Bulle. Gleich ist Showtime!“


    Der Söldner verließ den Raum. Einige Zeit später folgte ihm sein Kumpel. Vorher hatte der Schnauzbärtige das Fenster und die Terrassentür verschlossen und die Verunreinigungen auf dem Boden beseitigt. Angewidert hatte er beim Verlassen des Raumes den Polizisten angespuckt.


    Diese Beleidigung spielte für Ben keine Rolle mehr, denn in ihm existierte nur noch Angst und Verzweiflung, ein unbeschreibliches Grauen, vor dem, was sich in den nächsten Stunden vor seinen Augen abspielen würde.

  • Als Gabriela den ehemaligen Partyraum betreten hatte, schlug ihr ein beißender Geruch nach Erbrochenen, Schweiß, Blut und Urin entgegen. Sie hatte es vorgezogen, ihren vernarbten Arm wieder durch einen Bolero zu verdecken. Angewidert verzog sie das Gesicht und widerstand der Versuchung, sich ihr parfümiertes Halstuch vor die Nase zu halten. Die beiden Söldner hatten den Gefangenen wieder an den Seilen in der Mitte des Raumes sprichwörtlich aufgehängt. Sie ging einige Meter, bis sie Ben Jäger gegenüberstand. Eingehend musterte die Kroatin ihr Opfer, dessen Körper mit Wunden übersät war. Auch ihr entging nicht, dass sich einige davon entzündet hatten. Der Stofffetzen, der einmal die Bezeichnung T-Shirt getragen hatte und die Jeanshose waren mit getrocknetem Blut durchtränkt und von den Ausscheidungen verdreckt.

    Zu ihrem Leidwesen musste Gabriela sich eingestehen, dass Remzi bei seiner Beschreibung wahrhaftig nicht übertrieben hatte und sich Ben Jäger in einem erbärmlichen körperlichen Zustand befand. Die Spezialbehandlung des Grauhaarigen am gestrigen Nachmittag und Abend schienen dem Polizisten den Rest gegeben zu haben. Mit ihrem Todfeind ging es langsam aber sicher zu Ende. Völlig apathisch starrte er vor sich hin. Der Blick seiner Augen war leer.
    Kein trotziges Grinsen im Gesicht, kein frecher Spruch auf den Lippen, keine Spur von aufkommendem Widerstand.

    Sie hatte den verhassten Mann endlich an den gewissen Punkt. Heute würde sie ihn endgültig zerbrechen.

    Mit einer unverhohlenen Freude begrüßte Gabriela ihren Gefangenen. „Hallöchen, wie geht es denn meinem Lieblingsbullen heute Morgen? … Gut geschlafen, vergangene Nacht?“ Ihre Stimme troff vor Spott. „Und bereit, für das große Spektakel?“ Sie schob sich langsam näher in Bens Blickfeld, auch wenn seine Ausdünstungen ihre Schleimhäute reizten. Sie hob ihre Linke und schnippte mit den Fingern. Als Rashid darauf nicht reagierte, drehte sie sich um und blaffte ihn ungeduldig an: „Wie lange brauchst du denn noch?“ Ihr Blick richtete sich angespannt auf den Albaner, als der Bildschirm schwarz blieb.

    Rashid verfiel in Hektik, während er auf der Tastatur seines Laptops rumhämmerte und alles für die Übertragung des Livestreams vorbereitete.

    „Es dauert ein paar Minuten bis sich ein stabiles Bild im Livestream aufbaut. Ich hatte dir doch bereits mehrfach erklärt, wie es funktioniert. Der Livestream überträgt die Daten zeitlich versetzt!“, versuchte der Schwarzhaarige sich zu rechtfertigen. Erleichterung machte sich in ihm breit, als der Bildschirm anfing zu flackern.

    „Ich darf dir ankündigen Jägerlein …“, Gabriela legte bewusst eine lange künstlerische Pause ein, „dass du in wenigen Minuten als Ehrengast dem Ableben deiner Schwester Julia beiwohnen darfst!“

    Dieser Satz ließ den geschundenen Körper des Gefolterten einen wahren Schub an Adrenalin ausschütten. Ben schaffte es seinen Kopf anzuheben. Voller Verzweiflung zerrte er an den Fesseln. Seine verschorften Wunden an den Handgelenken brachen wieder auf und das austretende Blut rann an seinen Armen hinunter und tränkte die Stofffetzen seines zerrissenen Shirts. All die Schmerzen, die seinen Körper durchfluteten, spürte er nicht, sie waren in den Hintergrund gedrängt worden, von der Morddrohung seiner Schwester gegenüber. Der Monitor des Laptops lieferte prompt ein klares Bild vom Livestream. Der mutmaßliche Mörder schritt die Krankenhausflure zielstrebig entlang in Richtung der Privatstation. Er trug eine Brille, in der eine Kamera eingebaut war, die mit Funksignalen alles was vor dem Attentäter geschah, auf den Bildschirm in Bens Folterkammer übertrug. Gleichzeitig speicherte der Albaner die Daten auf seiner Festplatte ab.

    Die Angst um das Leben seiner Schwester stand Ben ins Gesicht geschrieben. Gabriela, die mittlerweile seitlich versetzt von ihm stand, um so einen guten Blick auf Ben zu haben und zum anderen genau die Vorgänge auf dem Bildschirm beobachten zu können, weidete sich förmlich an der Angst und Verzweiflung des jungen Polizisten. „Hat es dir die Sprache verschlagen Jägerlein? So kenne ich dich überhaupt nicht!“

    Das blanke Entsetzen hatte sich in Ben ausgebreitet, als er den Krankenhausflur der Uniklinik zur Privatstation auf dem Bildschirm wiedererkannte. „Neiiiiin … Neiiiiin …!“ schrie er „Du verdammtes hinterhältiges Aas …. Lass Julia aus dem Spiel, sie hat dir doch nichts getan! Hör auf! … Lass meine Schwester in Frieden! … Du hast doch mich! Reicht Dir das nicht?“

    „Warum regst du dich überhaupt auf Jägerlein? … Ist doch noch gar nichts passiert! … Das Beste kommt doch erst!“

    „Du Furie, bist doch die Ausgeburt der Hölle! … Warum hat Semir dich nicht gleich über den Haufen geschossen!“ Ben beschimpfte sie, versuchte sie zu provozieren, was die Kroatin mit einem höhnischen Lachen beantwortete.

    Die Kilic konzentrierte sich ausschließlich auf Ben, wollte jede Millisekunde seiner Qualen miterleben, wenn seine Schwester ermordet wurde … Gabrielas Körper wurde förmlich überflutet von einem Schwall Glückshormone, genüsslich stöhnte sie auf und sog an ihrer Zigarillo.

    Der Polizist starrte wie gebannt in Richtung des Bildschirms und verfolgte den Weg des mutmaßlichen Mörders weiter. Er schien irgendetwas vor sich herzuschieben. Niemand hielt ihn auf. Keine Schwester, kein Krankenpfleger. Eine Schwester auf dem Gang grüßte ihn sogar, als würde sie den Attentäter kennen. Bens Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen, als der Kerl die Zimmertür zu Julias Krankenzimmer aufstieß und wieder verschloss.

    Tatsächlich im Krankenbett saß seine Schwester Julia. Das Kopfteil war aufgerichtet. Um ihren Kopf trug sie einen Verband. Mit einem verträumten Lächeln blickte sie auf etwas, was sich rechts neben dem Bett befand. Sie nahm den Krankenpfleger erst einmal gar nicht war, bis er sie ansprach. Sie schüttelte energisch den Kopf. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegelte sich plötzlich Todesangst wieder. Ihr Mund schien etwas zu schreien, als in der Hand des Attentäters ein Messer auftauchte.

    Die Kälte in Bens Magen breitete sich über seinen Körper aus, ließ ihn in eine Art Schockstarre fallen. Sein Verstand weigerte sich eisern, das Szenario zu akzeptieren, dass sich vor ihm abspielte. Sein Herzschlag raste wie wild und ein letzter, verzweifelter Entsetzensschrei entfuhr seiner Kehle „Juliiiiiaaaaaa!“, bevor er auf seinen Lippen erstarb.

  • Uni-Klinik Köln … einige Zeit vorher….


    Julia Jäger saß völlig verzweifelt in ihrem Bett und haderte mit ihrem Schicksal. Sie hatte den schrecklichen Autounfall ohne gesundheitliche Spätfolgen überstanden. Ein paar in allen Farben schillernde Hämatome und der Verband um ihren Kopf waren die äußerlichen Anzeichen. Der plastische Chirurg hatte mit der Behandlung ihrer großflächigen Platzwunde an der linken Schläfe begonnen und ihr versichert, es würden so gut wie keine sichtbaren Narben zurückbleiben. Ihre Erinnerungen waren fast vollständig wieder zurückgekehrt. Nur an die Stunden vor dem Autounfall und den Unfall selbst konnte sie sich überhaupt nicht mehr entsinnen.


    Eigentlich sollten dies die glücklichsten Stunden ihres Lebens sein. Vor einigen Stunden hatte sie einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, der in seinem Babybettchen selig vor sich hinschlummerte. Das Baby hatte es ein wenig eilig gehabt und war gut zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen. Julia schloss ihre Augen und ließ das letzte Gespräch, das sie vor einer Stunde mit ihrem Mann Peter geführt hatte, nochmals Revue passieren.


    In den vergangenen Tagen, seit sie von der Intensivstation auf die Privatstation verlegt worden war, hatte sie nur Besuch von ihrem Mann oder ihrem Vater erhalten. Ohne dass Konrad Jäger etwas davon ahnte, hatte Peter Kreuzer das Pflegepersonal darüber hinaus angewiesen, keinen Besuch von Anna Becker oder einem Mitarbeiter der PAST zu seiner Frau durchzulassen. Auf Anraten der Ärzte sollte in den vergangenen Tagen jegliche Aufregung von Julia ferngehalten werden. Dies bedeutete auch, kein Telefon am Bett, kein Handy. Niemand durfte ihr etwas vom Verschwinden ihres Bruders Ben erzählen. Peter Kreuzer-Jäger war das nur Recht. Passte die Anweisung doch in seinen perfekten Plan die Geschwister zu entzweien.


    Als ihr Mann in den frühen Morgenstunden im Begriff war zu gehen, forderte Julia ihn auf, ihr sein Handy zu geben. Wie jede stolze Mutter, wollte Julia jeden ihrer Verwandten und Bekannten über das freudige Ereignis informieren.


    „Warum brauchst du mein Handy, Schatz? Ich habe deinen Vater bereits über die Geburt seines ersten Enkels informiert. Er wird im Laufe des Nachmittags kommen!“

    „Und was ist mit Ben? Er soll schließlich Patenonkel werden. Ich will ihm gleich ein Foto schicken! Na komm, rück schon raus!“, forderte sie ihn mit einem glücklichen Lächeln auf.

    „Niemals!“, fuhr er sie in einem barschen Tonfall an, „Solange ich etwas zu sagen habe, wird dein Bruder nicht der Patenonkel unseres Kindes!“


    Als Peter erkannte, wie erschrocken Julia in ihrem Bett zusammengefahren war, stimmte ihn das milder. Seine Stimme wurde sanfter. „Schatz, bitte! Ich habe es dir die ganze Zeit über nicht sagen können. Die Ärzte hatten es verboten!“ Er umfasste ihre Hände und streichelte zärtlich über den Handrücken und hauchte ihr einen Kuss darauf. „Ich wollte dir die Aufregung ersparen. Dein Bruder ist schuld an deinem schrecklichen Autounfall. Stell dir vor, du hättest unser Kind verlieren können … sterben können!“

    Überrascht zog Julia ihre Augenbrauen nach oben. „Aber Peter, wie kommst du nur darauf? Der Streifenbeamte, der mich zum Unfallhergang befragt hat, hat doch eindeutig gesagt, ich hätte das Lenkrad verrissen.“ Sie schüttelte leicht den Kopf und murmelte „Gib es schon zu, ihr zwei habt wieder gestritten oder? … Niemals würde Ben mich oder das Baby in Gefahr bringen.“ Sie beugte sich zu ihm ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Stell dich nicht so an. Gib mir dein Handy und lass mich selbst mit Ben telefonieren. Und keine Angst, die Wogen glätten sich auch wieder. Wir sind doch eine Familie!“

    Wütend fuhr Peter von seinem Stuhl hoch und blaffte seine Frau an. „Vergiss es! Weder dein Bruder noch diese Anna werden hier reinkommen.“

    „Sag mal, spinnst du jetzt komplett? Was ist nur in dich gefahren?“ Julia richtete sich endgültig im Bett auf und atmete hektisch. „Ich bin ein erwachsener Mensch, schon vergessen? … Seit wann kannst du mir vorschreiben, wer mich besuchen darf und wer nicht? Ist das der Grund, warum die Beiden die letzten Tage nicht hier waren?“ Für einige Atemzüge herrschte Schweigen im Raum. „Außerdem! … Ben ist mein Bruder und nicht irgendwer!“


    Peter hüllte sich weiter in Schweigen und starrte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand an. In seinem Kopf ratterten die Gedanken wie wild durcheinander. Er hatte seine eigenen Zukunftspläne, in denen Anna oder auch Ben nur stören würden. Der Unfall mit all seinen Begleitumständen hatte perfekt in seine Absichten gepasst.


    „Du schuldest mir eine Antwort, Peter! Ich deute dein Schweigen als Zustimmung.“ Fassungslos starrte Julia ihren Mann an. Sie konnte förmlich spüren, wie sich ein Abgrund zwischen ihnen auftat. „Peter, wir sind vor ein paar Stunden Eltern geworden. Wir sollten die glücklichsten Menschen der Welt sein. Unser Sohn ist gesund. Ich verstehe dich nicht! Erkläre es mir, bitte!“ Flehentlich streckte sie ihm ihre Hände entgegen.


    Peters Gesicht glich einem Pokerface. „Tut mir leid Julia! Zwischen deinem Bruder und mir wird es keine Freundschaft mehr geben. Was geschehen ist, ist geschehen und lässt sich auch nicht mehr rückgängig machen. Mein Bruder Josef würde gerne Patenonkel von Finn werden. Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen und es mit ihm fest ausgemacht.“

    „Du hast was gemacht?“ Sie setzte ihre Füße auf den Boden und schob sich aus dem Bett. Mit wackeligen Beinen tapste sie auf ihren Mann zu. „Ohne mit mir zu reden! ICH bin deine Frau und kein kleines Kind, das man bevormunden kann. Ich habe ein Recht darauf, mitzubestimmen, wer Patenonkel unseres Sohnes wird!“
    Julia merkte, wie ihr schwindlig wurde. Die Aufregung tat ihr und ihrem Kreislauf überhaupt nicht gut. Ihrem Mann war dies nicht entgangen. Vorsichtig führte er seine Frau zurück zum Krankenbett.
    „Siehst Du, Aufregung schadet dir, mein Liebe!“ Er setzte ein falsches Lächeln auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich weiß, was das Beste für dich ist! Leg dich hin und ruhe dich aus. Ich kümmere mich um alles!“


    Mit diesen Worten verschwand er. Die Tür ließ er angelehnt, da die Ärzte für die Visite davor standen. Julia schossen die Tränen in die Augen, als sie seine letzten Worte auf dem Krankenhausflur hörte, die er an einen der Ärzte richtete.
    „Kann es sein Herr Dr. Weber, dass die natürliche Geburt mit ihren Anstrengungen nach dem Unfall für meine Frau zu viel gewesen war? Sie redet so wirres Zeug. Ich mache mir wirklich ernsthaft Sorgen um sie. … Ich will mich ja nicht in ihre Kompetenzen einmischen, aber vielleicht sollte meine Frau in den kommenden Tagen noch keinen Besuch empfangen!“

  • Julia hatte während der Visite Basti unter dem Personal entdeckt und darauf bestanden, dass er ihre Pflegekraft für den Vormittag sein sollte. Um die junge Mutter nicht weiter aufzuregen, stimmte der Stationsarzt etwas widerwillig zu. Als Sebastian bei ihr den Blutdruck messen wollte, packte ihn die junge Mutter am Arm. Sie fragte ihn, wann er das letzte Mal etwas von ihrem Bruder gehört hatte und bat ihn, Ben über die Geburt des kleinen Finns zu benachrichtigen. Als der Krankenpfleger auf ihre Fragen hin ausweichend antwortete, Ausflüchte suchte, platzte der jungen Mutter der Kragen.


    „Hör auf, Sebastian! … Hör einfach auf, mir so einen Müll zu erzählen. Ihr lügt mich alle an! Alle! … Mein Vater …Du! Vor allem mein Mann … vor allem Peter … einfach alle! Glaubt ihr denn ich bin doof oder ich hätte von der Kopfverletzung einen Dachschaden zurückbehalten!“ stellte sie wütend fest und klopfte mit ihrer Faust mehrmals auf die Bettdecke, das Basti unwillkürlich zusammenzuckte. „Nichts und niemand könnte meinen Bruder davon abhalten, mich im Krankenhaus zu besuchen. Für wie bescheuert haltet ihr mich denn? Mach mir nichts vor, irgendetwas ist passiert!“

    Der junge Krankenpfleger konnte nicht verhindern, dass er vor Ratlosigkeit leicht errötete und Julia interpretierte die Zeichen richtig.
    „Dachte ich mir es doch. Sag nichts mehr, sondern gib mir dein Handy! Wenn nicht, marschiere ich hier raus und telefoniere unten am Empfang in der öffentlichen Telefonzelle!“ Sie richtete sich auf und schob ihre Füße aus dem Bett. Fordernd streckte sie ihm ihre Rechte hin. „Wage es nicht mich aufzuhalten! … Ich zeige euch alle wegen Freiheitsberaubung an. … Alle! … Das Argument, absolute Bettruhe wegen des Babys zählt nicht mehr!“

    Sebastian gab nach. So gut kannte er Julia, dass die, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte, es tatsächlich fertig bringen würde, sich aus dem Zimmer zu schleichen und am Münztelefon zu telefonieren. Da glich sie Ben, wenn der sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn auch nichts und niemand aufhalten. Er überreichte ihr sein privates Handy. Auf ihren Wunsch hin verließ der Blonde das Zimmer und blieb gleich einem Wachhund vor der Tür stehen. Bei seinem Glück würde der Drachen in Menschenform namens Oberschwester Ursula auftauchen und er hätte eine Menge Ärger am Hals, wenn die Stationsschwester Julia mit seinem Handy in der Hand erwischen würde.


    Zuerst probierte Julia ihren Bruder auf seinem Diensthandy und hinterher auf seinem privaten Handy zu erreichen. Beide Male kam die elektronische Ansage, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Daraufhin wählte sie die Telefonnummer seiner Dienststelle. Anstelle der vertrauten Stimme ihres Bruders meldete sich Semir am anderen Ende der Leitung.


    „Semir, wo ist BEN?“, fragte sie mit einem sehr bestimmenden Unterton.


    Statt einer Antwort herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Julias Magen fühlte sich an, als würde er sich zu einem Klumpen zusammenkrampfen. Ihre furchtbare Ahnung schien sich zu bestätigen. Sie dachte an ihren Vater, der sich die letzten Tage so merkwürdig verhalten hatte.


    „Ist ihm was passiert? … Semir? So sag doch was! … Liegt er im Krankenhaus … oder noch schlimmer?“, die letzten Worte flüsterte sie ins Telefon. „Was … ist … mit … Ben?“

    Semir seufzte auf und nuschelte zurück „Kann ich dich besuchen kommen Julia? … Nicht am Telefon! … Das ist eine lange Geschichte oder lässt mich das Krankenhauspersonal, wie die letzten Male nicht durch!“ Mit tränenerstickter Stimme antwortete Bens Schwester „Ich sorge dafür, dass du zu mir durchgelassen wirst! … Versprochen!“


    Als sie das Gespräch beendet hatte, rang sie darum, ihre Fassung wieder zu gewinnen. Ihr wurde bewusst, dass man sie in den vergangenen Tagen wie in einem Glashaus gefangen gehalten hatte. So verständlich die Sorge ihres Mannes und ihres Vaters um ihre Gesundheit und die des Ungeborenen gewesen war, sie konnte vor allem das Verhalten von Peter überhaupt nicht verstehen und weiter tolerieren. Die Zeit der Bevormundung war vorbei. Kurz entschlossen wählte sie die Handy Nummer vom Chefarzt Dr. Peter Kraus und schüttete ihm ihr Herz aus. Der Freund ihres Vaters versprach ihr, sich um alles Weitere zu kümmern.


    Eine knappe Stunde später eilte Semir die Krankenhausflure entlang und überlegte fieberhaft, wie er Julia das Verschwinden ihres Bruders beibringen sollte. Auf der Privatstation angelangt, wurde er entgegen seiner Erwartungen diesmal vom Pflegepersonal nicht aufgehalten. Zaghaft klopfte er an der Zimmertür und hörte von drinnen ein leises Herein. Ihm war etwas mulmig zu Mute und er setzte sein bestes „Semir“ Grinsen auf.


    „Semir! … Endlich!“ rief Julia freudig auf, die in ihrem Bett saß und mit Hilfe einer Hebamme ihr Baby gestillt hatte. Die Frau, deren dunklen Haare von silbernen Fäden durchzogen waren, versprühte einen mütterlichen Charme. „Lassen Sie den kleinen Mann mal schön aufstoßen, bevor sie ihn zurück in sein Bettchen legen. Ansonsten lass ich sie mit ihrem Besuch alleine. Melden Sie sich Frau Jäger, wenn sie Hilfe brauchen!“, sprach es und verschwand in Richtung der Tür. Dem Türken war es fast schon peinlich gewesen, in diese sehr private Situation reinzuplatzen.

    „Ich kann auch noch mal später kommen! … Sorry, ich wusste doch nicht dass du ..!“, meinte er etwas verlegen.

    Ein Lächeln huschte über Julias Gesicht. „Das ist doch nichts, was du nicht von Andrea kennst oder?“ Sie bedeckte ihre entblößte Brust ein wenig. „Außerdem ist der kleine Mann gerade mit Trinken fertig geworden! Sieht er nicht wunderschön aus?“ fragte die stolze Mama und strahlte über das gesamte Gesicht. „Er soll Finn heißen!“


    Semir nickte und lächelte total verzaubert. Er konnte sich dem Charme des Neugeborenen nicht entziehen, welches mit seinen kleinen Pausbäckchen zufrieden an der Schulter seiner Mutter schlief. Der schwarze Flaum auf seinem Kopf stand nach allen Richtungen ab.

    „Ja … wirklich süß. Erinnert mich so an die Geburt von Aida und Lilly. Peter ist bestimmt stolz auf euch beide!“
    Er zog sich einen Stuhl heran, um sich neben das Bett zu setzen.

    Ihr schelmisches Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und ihre Augen funkelten zornig.

    „Oh ja! Peter ist wirklich stolz auf seinen Sohn. Er war während der Geburt dabei.“
    Der Tonfall in ihrer Stimme und ihre Mimik passten so gar nicht zu Semirs Vorstellung von einer jungen glücklichen Familie. Auch ohne Worte ahnte der Türke, dass es zwischen den Eheleuten Streit gegeben hatte. Lieber nicht nachfragen, dachte er sich, in diese Nesseln wollte er sich nicht setzen und wechselte das Thema.
    „Aber deswegen bin ich ja nicht da. Es geht um Ben!“

  • Julia nickte zustimmend. Vorsichtig, so als wäre das Neugeborene zerbrechlich, legte die junge Mutter das Baby in das kleine Bettchen, das neben ihrem Krankenhausbett stand. Sorgfältig deckte sie es zu und warf dem kleinen Jungen noch einen verträumten Blick zu. Als sich Julia wieder Semir zu wandte, wurde ihr Gesichtsausdruck schlagartig ernst. Tiefe Sorgenfalten standen auf ihrer Stirn.


    „Semir! ... Wo ist Ben? … Was ist mit ihm? … Warum kommt er mich nicht besuchen? … Seit wann lässt sich mein Bruder von einem Verbot durch meinen Mann abschrecken! … Bitte! … Sag wenigstens du mir die Wahrheit!“

    Der Türke blickte Julia direkt ins Gesicht. Nervös knetete er abwechselnd seine Finger durch.

    „Ich weiß es nicht Julia!" Er zuckte ratlos mit den Schultern. "…. Niemand weiß, wo Ben ist! … Er ist seit fast zehn Tagen spurlos verschwunden!“, gab er zurück. „Anna und er hatten miteinander gestritten und seit jenem Abend, hat keiner mehr etwas von ihm gesehen oder gehört!“

    Die Farbe wich aus Julias Gesicht und ihre Augen wurden riesig groß vor Erstaunen.

    „Gestritten? … Die Beiden? … Aber warum?“

    „Man hat Ben auf richtig heimtückische Art und Weise reingelegt.“


    So schonend wie möglich, brachte er Julia die Ereignisse seit ihrem Autounfall bei. Dabei versuchte der Türke ihren angeschlagenen Gesundheitszustand zu berücksichtigen. Sichtlich blass geworden, saß Julia mit geschlossenen Augen in ihrem Krankenbett. Mit ihrer Hand tastete sie nach den kleinen Fingern ihres Babys. Als sie diese wieder öffnete, sah Semir, wie diese feucht schimmerten.

    „Welches Schwein hat Ben das angetan?“, wisperte sie und biss sich auf die Lippen, um ein Aufschluchzen zu unterdrücken. Die Fassungslosigkeit wich nicht aus ihrem Gesicht. Semir fühlte sich in diesem Augenblick überfordert. Was sollte er Bens Schwester nur antworten? Die Wahrheit? Seinen Verdacht? Die Aufregung würde der jungen Mutter schaden, bei der mittlerweile lautlos Tränen flossen. Er erhob sich von seinem Stuhl und nahm die junge Frau tröstend in den Arm. Ihre Tränen benetzten seine Haut.

    „Hey Julia, alles wird wieder gut! Glaube mir! Ich werde Ben finden!“ Dabei griff er an Julias Kinn und blinzelte ihr aufmunternd zu. „Wie sagt Ben immer so schön, Papa Semir rettet mir den A.rsch! Das werde ich auch diesmal tun! Versprochen!“
    Auf dem Nachttisch standen Kleenex-Tücher. Er zog einige aus der Packung und reichte sie an die junge Frau weiter. Julia schluchzte noch ein bisschen und bemühte sich zu lächeln.


    „Julia, auf der Suche nach Ben bin ich auf jeden noch so kleinen Hinweis angewiesen. An was kannst du dich denn noch erinnern, was vor deinem Autounfall geschehen ist? An irgendetwas?“


    „Tut mir leid Semir! Das ist alles wie ausgelöscht in meinem Kopf. Und je mehr ich mich bemühe, mich an etwas zu erinnern, desto weniger kommt dabei heraus! Außer Kopfschmerzen. Der Arzt hat mir geraten, mit dem Grübeln aufzuhören. Das sei eine Schutzfunktion des Körpers!“

    Semir berichtete Julia von der angeblichen SMS und dem merkwürdigen Anruf, den sie von Ben erhalten hatte.

    „Kannst du dich daran erinnern?“, bohrte er nochmals nach.

    Etwas irritiert blickte Julia den Türken an. „Ich weiß es nicht Semir! Ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, ob Ben mich angerufen hatte. Peter hatte felsenfest behauptet, es sei Ben gewesen. Auf dem Display wäre seine private Handy Nummer als letzter Anruf angezeigt worden!“

    Semir nickte wissend.


    „Kannst du mich für ein paar Minuten alleine lassen Semir, ich muss nachdenken! Aber geh nicht weg! Bitte! Komm wieder zurück!“, murmelte Julia.

    „Das trifft sich gut, ich müsste mal zur Toilette!“


    Semir erhob sich von seinem Stuhl und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Krankenhausflur steuerte er die nächste Besuchertoilette an. Nach dem Toilettengang schaufelte sich der Türke einige Hände voll kalten Wassers ins Gesicht. Das Gespräch mit Julia hatte ihn innerlich völlig aufgewühlt. Krampfhaft hielt er sich mit seinen Händen an den Rändern des Waschbeckens fest und betrachtete sein Spiegelbild.


    „Ein schöner Polizist bist du! … Du hast keinen blassen Schimmer … keine Spur, wohin dein bester Freund verschwunden ist!“


    Erneut drehte er den Kaltwasserhahn auf und beobachtete, wie das Wasser über seine Finger ins Waschbecken plätscherte. Die Zeit auf der Suche nach Ben verrann ergebnislos. Mit jeder weiteren Stunde sank die Hoffnung, ihn gesund und wohlbehalten wiederzufinden. Unwillig schüttelte er den Kopf. Nein, er würde nicht aufgeben, nicht er, nicht Semir Gerkan.

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