Verloren

  • Dienststelle - 9:00 Uhr



    Man sah es Kevin an diesem Morgen äusserlich an, dass er schlecht und wenig geschlafen hatte. Seine Augen waren müde und steuerte, noch mit seiner leichten Sommerjacke, Richtung Kaffeemaschine bevor er das kleine Büro betrat. Ben sah von seinem Bildschirm auf und legte die Stirn in Falten, denn normalerweise war Kevin pünktlicher als er selbst. Auch Jenny bemerkte die Veränderung, allerdings anders als die beiden männlichen Beamten. Als der junge Polizist das Büro betrat und seine Partnerin erblickte, die er vor einigen Stunden in seinem Traum noch tot in der Gerichtsmedizin liegen sah und beweinte, gab er ihr nicht wie üblich zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, sondern umarmte sie heute. Jenny war davon zunächst etwas überrascht, ließ es sich aber gerne gefallen und schloß ihre Arme um den Körper des Mannes, den sie innerlich immer noch liebte. Auch das leise "Schön, dich zu sehen.", passte irgendwie gar nicht zu Kevin am frühen Morgen.
    Als sie sich voneinander lösten, lächelte Kevin. Manchmal zweifelte er nach dem Aufstehen, ob es wirklich ein Traum war, oder doch Realität... und er irgendwann Drogen genommen hatte, und wieder einen Blackout hatte. Realität und Traumwelt verschmolzen dann, bis er an einen Punkt kam, wo sich das ganze auflöste. Heute war der Punkt, dass er Jenny sah... sie war nicht tot. Eine unheimliche Erleichterung befiel ihn. Als er damals in der Dusche Drogen genommen hatte und mit der Waffe rumhantierte, kam es ihm wie ein Traum vor, bis Jenny ihn vor die Tatsache stellte, dass er nicht geträumt hatte.



    Gegen 9 Uhr, eine Stunde später, kamen Semir und Ben nach der ersten Streife zu Kevin und Jenny ins Büro. Sie berichteten, was sie bei der Sitte herausgefunden hatten... was leider nicht viel war. Der Mitarbeiter Zavel hatte ungefähr das Gleiche berichtet, wie die Chefin der Sitte. Keine Probleme, Saskia als unnahbare aber starke Persönlichkeit, die sofort Verantwortung übernahm und ihren Job sehr ernst nahm. Jenny berichtete, dass sie gestern noch Frege angerufen hatte und mit nötigem Nachdruck verlangte, dass er seine Belegschaft aufkläre, sich zu melden falls jemand der Mordkommission das nächste Foto erhalten würde. Ausserdem gab sie kurz wieder, was sie und Kevin gestern noch besprochen hatte. Die Genauigkeit des zweiten Mordes im Vergleich zum Mord an Plotz. "Aber ich glaube, man kann trotzdem von einem Täter ausgehen, das wäre schon sehr großer Zufall.", sagte sie dann abschließend. Ben strich sich mit dem Finger über die Lippen. "Vielleicht hat er an Plotz nur geübt.", sagte er und meinte es halb lustig, halb ernsthaft.
    Kevin öffnete die Excel-Tabelle, die er gestern angefertigt hatte und einige Mordfälle der Ermittler rot angestrichen, die relativ einfach nachzustellen waren. Als die vier Polizisten die Liste durchsahen und von Kevin erklären ließen, fiel Semir als erstes etwas auf.



    "Wo sind deine Fälle?", fragte er, als er bemerkte dass die Ermittler nach Alphabet sortiert waren, und zwischen O und R kein Name zu sehen war. Semirs Blick war dabei zweifelnd auf Kevin gerichtet... misstrauisch. So empfand Kevin es zumindest, obwohl es von Semir gar nicht gewollt war. "Ich hab' ja kein Foto gefunden, insofern sind meine Fälle irrelevant... noch.", war die Erklärung des schweigsamen Polizisten. Heute morgen hatte er seinen Block wieder gelöscht, nachdem einer der Fälle ihm gestern diesen Horror-Traum beschert hatte. Bei Semir und Ben zwickte es bei der Erklärung im Magen. War da wieder diese Heimlichtuerei, die er abgelegt hatte? War da wieder etwas Privates, dass er vielleicht mit Jenny besprach, aber nicht mit ihnen? Sie wussten ja mittlerweile, dass es nichts brachte, ihn jetzt zu löchern, also nickte Semir und konzentrierte sich wieder auf die Liste. Er würde Jenny später mal drauf ansprechen. Wenn Kevin sich nicht selbst öffnete, musste sie eben das Schlüsselloch sein, durch das die beiden Polizisten zumindest hindurch sehen konnten.
    Am Ende hatten sie 8 mögliche Fälle zusammengetragen, die sich aus dieser Zeit leicht nachstellen ließen. Davon waren 2 Fälle letztendlich niemals aufgeklärt worden. Jenny nahm sich die Liste der aktuellen Mordermittler vor und legte sie neben die Liste der Ermittler, die zum damaligen Zeitpunkt auf der Dienststelle waren.



    Kevin lehnte sich am Schluß etwas in seinem Stuhl zurück. "Und wenn er sich doch einen Fall aussucht, der schwieriger nachzustellen ist, als wir uns das jetzt vorstellen?", fragte er und stellte damit die komplette Ermittlung in Frage. Sie schloßen Fälle aus Gutdünken aus. "Ja, das ist eine Gefahr.", gab Semir zu, der auch schon viel Erfahrung in Mordermittlungen hatte. "Aber wir müssen es irgendwie eingrenzen. Wenn der Täter tatsächlich bestimmte Mordfälle nachstellen will, dann wird er sich solche aussuchen, die er gut nachstellen kann. Vielleicht wusste er bei Plotz einfach nur über diesen einen Fall Bescheid." Der junge Polizist nickte und schaute auf die Liste der 8 Fälle.
    "5 der Ermittler sind noch bei der Mordkommission, die werden sich melden, wenn jemand das Bild bekommt.", sagte er. Ben saß mittlerweile auf dem zweiten Bürostuhl, der sonst hinter Kevin an der Wand stand. "Zwei haben mittlerweile die Dienststelle gewechselt und einer hat gekündigt. Frederik Hollinger.", ergänzte Kevin und sah zu Semir auf. "Wobei ich nicht glaube, dass er diesen Mord nachstellen wird." "Warum nicht?", fragte Jenny und sah ihren Ex-Freund an. "Frederik hat den Fall bearbeitet, dass eine Frau einen Einbrecher überrascht hat. Als sie mit ihrer Tochter flüchten wollte, hat der Einbrecher beide brutal ermordet. Das wurde damals als Affekthandlung eingestuft. Wenn er die Ermittler der Mordkommission für etwas bestrafen will, wird er keine Unbeteiligten reinziehen." Es war eine Vermutung von Kevin, doch überprüfen mussten sie es natürlich trotzdem.



    "Ben und ich fahren zu Frederik Hollinger und norden ihn ein, falls er ein solches Foto bekommen hat. Und ihr beide ruft bitte die Dienststelle der anderen beiden Kollegen an, und erkundigt euch, beziehungsweise informiert die beiden.", sagte Semir in seiner Ermittlungsführerrolle. "Jawohl, Sir.", meinte Kevin lächelnd und brachte auch Semir zum Lachen. Vielleicht täuschten sie sich auch nur, und es war gar nichts mit seinen Fällen, worüber sie sich Sorgen machen mussten. Trotzdem würde er Jenny später kurz darauf ansprechen, auch wenn ihm diese Art und Weise des Aushorchens gar nicht behagte.
    Semir und Ben hatten gerade das Büro verlassen, als Jennys Handy sich mit einem Piepton meldete. Als sie auf das Display sah, prangte dort erneut eine unbekannte Nummer, und ihre Augen wurden größer. Die Nummer war anders als gestern, der Inhalt der Nachricht ähnlich... und konkreter: "Er hat seine Schwester umgebracht." Das Herz der jungen Ermittlerin wollte zerspringen, und Wut erfasste sie. Sie schaute kurz zu Kevin auf, dem Mann der alles dafür geben würde den Mord an seiner Schwester zu rächen... wer konnte nur so boshaft sein, so etwas zu behaupten. Gleichzeitig aber erinnerte sie sich an den eiskalten Ausdruck in Kevins Augen... als er die Waffe auf die richtete, als er Patrick erschoss. Sie schüttelte den Gedanken innerlich schnell ab. Erst wollte sie die Nachricht erneut löschen, doch dann tippte sie eine Antwort. "Lass ihn in Ruhe!" Äusserlich ließ sie sich von ihrer Wut nichts anmerken und sie tippte weiter. Nur wenige Minuten danach erneut ein Piepsen und diesmal sah auch Kevin auf. "Belästigt dich jemand? Soll ich jemanden verhauen?", fragte er grinsend und Jenny lachte auf. "Nein, brauchst du nicht." Sie nahm das Handy erneut in die Hand, und der Inhalt ließ sie kurz schwindelig werden: "Es gibt Beweise. Und du wirst die Nächste sein."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wohnung in Köln - 10:00 Uhr



    Ben war nachdenklich und still auf dem Weg in einen Vorort von Köln, wo man von Großstadt nichts sehen konnte, wo die Langsamkeit regierte und man herrlich im Rheinland die Seele baumeln lassen konnte. Bäume säumten die Landstraße und trennten den Asphalt von Wiesen, Feldern und Pferdekoppeln. Ein Traktor zog eine Staubwolke hinter sich her, als er den lockeren, trockenen Boden aufbereitete, um bald neue Einpflanzungen vorzunehmen. Er würde viel Wasser benötigen, wenn die Pflänzchen das heiße Wetter überleben sollten. Ein gelbes Ortsschild kündigte an, das Tempo zu drosseln und die ersten Häuser waren am Straßenrand zu sehen.
    "Was ist los? Seit der Besprechung bist du so still?", fragte der Fahrer seinen jungen Partner. "Ich versuche mir krampfhaft auszureden, dass Kevin uns schon wieder etwas verheimlicht.", sagte Ben in einer Mischung aus Sarkasmus und ernsthafter Befürchtung. "Wegen seiner Fälle, die er nicht in die Übersicht mitgenommen hat?" Der junge Polizist nickte und rümpfte die Nase. Auf dem Feld neben ihm sprühte ein Landwirt gerade Gülle, und mach roch die frische Landluft bis ins Auto. Der Stadtmensch Ben zog es vor, das Fenster zu schließen. "Da ist doch wieder irgendwas im Busch. Warum will er nicht, dass wir davon wissen?" Semir spitzte ein wenig die Lippen. "Vielleicht ist es etwas unangenehmes." "Ach unangenehm. Mit wem will er denn darüber reden, wenn nicht mit uns." "Ben, er redet halt nicht gern über unangenehmes. Ja, er verheimlicht uns zuviel, aber wir können ja jetzt nicht verlangen dass er mit uns über jedes seiner Probleme redet, vom drückenden Schuh bis zur verrutschten Unterhose." Ben zog eine Schnute, als Semir den Witz riss. "Vielleicht hat es aber mit dem Fall zu tun. Ich spreche nachher mal mit Jenny." Der erfahrene Beamte nickte, das hatte er selbst ja auch noch vor.



    Semir hielt den BMW an einem hübschen kleinen Haus, dessen Vorgarten wie ein Wildgarten wirkte. Verwuchert, aber einigermaßen in Ordnung gehalten, scheinbar war der Wildwuchs so gewollt. Ein stählernder Bogen, der vollgewachsen war, lud als Eingang ein. Es war ganz still im Wohngebiet, als die beiden Polizisten langsam zur Haustür gingen, doch die lockere Miene der besten Freunde verschwand sofort. Die Tür war aufgebrochen und nur angelehnt. "Schau mal.", sagte Semir, doch Ben hatte bereits gesehen, dass hier etwas nicht stimmte. Für einen Moment waren sie sich unsicher, ob sie zu den Dienstwaffen greifen sollten, sie entschieden sich zunächst dagegen und drückten langsam die Tür auf. "Hallo? Ist jemand da?", rief er in das schweigende, aufgeräumte Haus.
    Der Flur, in dem rechts nur ein niedriger Schuhschrank stand und eine Garderobe hing, mündete rechts in die Küche, in die die beiden Polizisten kurz einen Blick reinwarfen und feststellten, dass sich niemand darin aufhielt. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Semirs Bauch aus, nachdem sie heute morgen von dem Fall gelesen hatten, den Frederik Hollinger bearbeitet hatte, und von dem sie vermuteten, dass der Killer diesen Fall als Aufhänger nehmen könnte, um ihn nachzustellen. Dass ausgerechnet jetzt folgenlos und von einem beliebigen Einbrecher in das Haus des Ex-Polizisten eingebrochen wurde, wäre ein riesengroßer Zufall... und ein glücklicher.



    Doch das Bauchgefühl täuschte Semir nicht, als sie das Wohnzimmer betraten. "Oh, scheisse...", murmelte Semir, als er um das Sofa herum ging... er konnte schon vorher die Spitze der rotbraunen Blutlache auf dem Parkettboden sehen. Ben, der die Waffe kurz vorm Wohnzimmer doch gezogen hatte, steckte selbige nun wieder zurück und folgte Semir hinters Sofa, wo sie die ganze Bescherung betrachten konnten. Man hatte dem Mann die Kehle aufgeschlitzt, er lag in einer riesigen Blutlache auf der Seite, eine Hand noch krampfhaft um den Hals geklammert, als könne er noch irgendetwas verhindern. Der Ältere der beiden zog sein Handy. "Kevin, hier ist Semir. Wir sind scheinbar zu spät... informier bitte die Spurensicherung und schick mir die Tatort-Fotos aufs Handy."
    Ben atmete aus, es war ein Massaker... Blutspritzer klebten an der Couch, an der er vermutlich zusammengebrochen war und zu Boden ging. "Scheisse... was... habt ihr nur ihn gefunden?", fragte Kevin mit tonloser Stimme am Telefon. "Nur ihn... was... oh verdammt...", fuhr es aus Semir heraus, so dass Ben sofort aufsah. "In dem Fall wurde auch die Tochter der Frau getötet." Er hörte das schnelle Klicken der Tastatur, als Kevin die Akte aufrief, denn sie hatten immer noch den, von Hartmut organisierten Zugriff auf die Akten der Mordkommission. "Man hat... man hat sie im Kinderzimmer gefunden."



    Semir steckte das Handy in die Tasche ohne das Gespräch zu beenden, Jenny und Kevin saßen atemlos am Apparat, den der junge Polizist auf Freisprech gedrückt hatte. Sie hörten leise das: "Ben, lass uns oben nachschauen..." Und Semirs Stimme war nicht normal. So viel er schon gesehen und erlebt hatte... aber wenn Kinder ins Spiel kamen waren alle Polizisten mental am Limit. Egal, was sie schon mitgemacht hatten. Semir vor allem, weil er selbst zwei Töchter hatte. Und Kevin, weil er seine Schwester als Jugendliche verlor, sowie bei einem Brand in einem Haus einmal ein Kind nicht retten konnte. Er hielt sich krampfhaft an seiner Kaffeetasse fest, als er wie in einem Hörspiel, nur rauschen und leise Gesprächsfetzen mithörte. Auch Jennys Hand zitterte, als sie diese Kevin auf die Schulter legte.
    Ben wollte zuerst nicht mit nach oben, aber er sagte nichts und folgte seinem Partner die Treppe nach oben. Mehrere Türen waren im Flur zu sehen, und die beiden Polizisten schauten sich stumm an. Sie kommunizierten mit Blicken, mit Gesten. Semir deutete auf die erste Tür, Ben nickte und drückte langsam die Klinke nach unten, um hineinzusehen. Der Raum entpuppte sich als Badezimmer, und war absolut leer. Das nächste Zimmer war ein großes Schlafzimmer, ein Doppelbett... eine Seite hergerichtet, die andere unangetastet. Hollinger lebte getrennt.



    Kevin starrte auf das Telefon, als könne er es hypnotisieren. Als könne er damit irgendetwas beeinflussen. Semir und Ben gingen zur nächsten Tür, und blickten in den Raum. Es sah aus wie ein typisches Jugendzimmer, unordentlich, ein Computer war zu sehen, ein Fernseher... und ein Bett. Ein Bett, mit einer Decke, die eine Wölbung aufwies. Die beiden Männer sahen sich an. "Du gehst...", sagte Ben leise mit einem Hauch von Angst in der Stimme... Angst vor dem, was sie unter der Decke erwartete. Doch Semir griff das Handy zuerst: "Kevin... war das Mädchen, das gefunden wurde, mit einer Decke abgedeckt?" Es dauerte eine Sekunde bis die Antwort kam: "Nein... sie lag zwar im Bett, aber ohne Decke." Der Polizist nickte und ging dann langsam zum Bett... er fühlte sich beruhigt... minimal. Langsam zog er die Decke vom Bett. Es war leer und Kevin konnte das Aufatmen durchs Telefon hören.
    "Ein Zimmer bleibt noch.", konnte er die Stimme hören. Rauschen... es schien unendlich lange zu dauern, als würden die beiden Polizisten erst einmal die Adresse wechseln, bis sie im nächsten Zimmer ankamen, so erschien es Jenny und Kevin am anderen Ende der Leitung. Eine Tür knarrte... dann war Stille. Atemlose Stille. Die beiden sahen sich an. "Semir?" Keine Antwort "Semir, was ist da los?", fragte Kevin lauter und um Jennys Brust legte sich eine Klammer, die immer enger wurde bis sie die stockende Stimme von Semir hörten. "Oh Gott... oh nein..." Da wusste Kevin, dass er vor einer Stunde Unrecht hatte...

    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • Köln



    Die vier Polizisten erlebten diesen Tag, wie durch einen unsichtbaren Schleier gedämpft. Alles, was nach dem Zeitpunkt, als Ben und Semir in das zweite Kinderzimmer gegangen waren und die schreckliche Entdeckung im Bett gemacht hatte, lief in ihrem Kopf wie ein Film ab. Sie mussten funktionieren, sie MUSSTEN funktionieren. Sie waren Polizisten. Semir, der vorgegangen war, brauchte an dem jungen Mädchen keinen Puls mehr fühlen oder Rettungsmaßnahmen einleiten... sie war tot. Er verließ mit Ben, der gar nicht erst bis zum Bett gegangen war, erschüttert das Zimmer und sagte noch leise zu Kevin, der mit Jenny ebenfalls völlig atemlos am anderen Ende der Leitung lauschten, dass er die Spurensicherung veständigen sollte. Sie würden so lange im Haus bleiben, falls jemand vorbeikam, schließlich fehlte noch ein Kind.
    Als Kevin den Hörer auflegte, ließ er die Hand für einige Sekunden auf dem Hörer liegen und starrte stumm den Monitor an. "Wenn er die Ermittler der Mordkommission für etwas bestrafen will, wird er keine Unbeteiligten reinziehen." hatte er eben gesagt, als er es für unwahrscheinlich bezeichnete, dass der Mörder sich ausgerechnet diesen Fall aussuchen würde. Er hatte unrecht... der Polizist spürte die Hand seiner Kollegin auf der Schulter, er spürte das Zittern und Beben und ihm wurde bewusst, dass Jenny gerade ebenfalls Halt brauchte. Er stand auf, um sich zu seiner Ex-Freundin zu drehen und sie in den Arm zu nehmen, nach diesem schrecklichen Hörspiel am Telefon. Dann verständigte er sofort Meisner und sein Team, und warnte ihn bereits vor.



    Die beiden besten Freunde, die im Haus beide auf der Treppe saßen um auf die Kollegen zu warten, schwiegen sich an. Sie bearbeiteten nicht alzu viele Mordfälle, und es war äusserst selten, dass ein Kind beteiligt war. Autounfälle, in denen Kinder beteiligt waren, waren schon belastend genug. Aber dieser Mord erschien ihnen so sinnlos, so brutal. Die Rache hätte der Täter auch genommen, wenn es um Rache ging, in dem er den ehemaligen Polizisten tötete. Das Mädchen zu töten war nicht nötig, es diente lediglich der Vollständigkeit, um den Tatort nachzustellen. Semir blieb auch noch auf der Treppe sitzen, als Ben nicht mehr still sitzen konnte und durch das Haus tigerte, ohne etwas anzufassen, ohne nochmal in den Bereich des Toten zu laufen, bis Semir grummelte: "Setz dich doch endlich mal hin."
    Es schien ewig zu dauern, bis Meisner und sein Team in weißen Schutzanzügen anrückte. Ohne selbst nochmal nach oben zu gehen zeigte Semir dem erfahrenen Gerichtsmediziner den Weg nach oben. Meisner selbst war abgehärtet... manche sagten auch böse, abgestumpft. Aber er hatte ein Gefühl für seine Mitmenschen, und es war nicht schwer zu erraten, dass beiden Polizisten die Entdeckung dieses Tatortes sehr an die Nieren ging, und so unterließ er seine makabaren Scherze und beließ es bei einem kurzen "Ziemliche Schweinerei... ich schick euch den Bericht so schnell wie möglich." Ben ging Richtung Ausgang, er wollte raus aus diesem Haus und zwar so schnell wie möglich. "Wir müssen die Frau verständigen... die will sicher... also, die will die beiden sicher sehen." "Ich denke, heute nachmittag ist das möglich."



    Am frühen Nachmittag, als Meisners Bericht bei der Autobahnpolizei per Fax und E-Mail eintrudelte, und die vier Polizisten die Bilder, nur unter größter Anstrengung mit der alten Tatort-Akte des Mordes verglichen, waren sie erneut verblüfft ob der Ähnlichkeit. "Soll der Täter gewusst haben, dass an diesem Tag nur das Mädchen bei ihm ist?", fragte Ben, als Jenny sich vom Tisch abstieß und auf ihren Platz setzte, damit sie die Fotos der beiden toten Kinder nicht mehr ansehen musste. Der Mordfall damals war die Frau, statt dem Mann... aber natürlich musste der Polizist das Opfer sein. Das Mädchen damals war Einzelkind, Hollinger dagegen hatte noch einen älteren Sohn, der sich aber gerade bei der Mutter aufhielt. Ein Seelsorger und zwei Beamte der Autobahnpolizei fuhren zu der Frau, um sie zu informieren.
    "Schaut mal... die Lage der Leiche ist wieder komplett identisch. Die Frau und Hollinger sind beide im Schlafanzug. Beide Mädchen sind genau gleich aufgedeckt.", sagte Semir. Ein Psychologe hätte bei der Erstellung eines Täterprofils wohl seine wahre Freude. Kevin war völlig stumm im Hintergrund. Er stand hinter Semir und Ben, die am Tisch saßen und über den Bildern brüteten, hatte die Arme verschränkt und man hätte meinen können, er schaue fokussiert auf die beiden diskutierenden Beamten. Aber mit den Gedanken war er weit weg, und Jenny spürte das. Als sie dann zu viert das Büro verließen, um zu Meisner zu fahren, weil die Mutter des Mädchens ihre Tochter, als auch ihren Mann sehen wollte, fasste die junge Frau ihn kurz am nackten Unterarm. "Du hattest keine Schuld, okay? Das konnten wir nicht nicht wissen.", sagte sie mit leiser, aber eindrücklicher Stimme und suchte in seinen Augen den gleichen Ausdruck, den er hatte, als das Mädchen damals verbrannte und er sich die Schuld gab. Sie konnte ihn nicht finden... "Selbst, wenn es Hinweise gegeben hätte, wären wir nicht rechtzeitig gekommen." "Ich weiß. Es ist alles okay, ich bin nur genauso geschockt wie die anderen." Und als er Jennys mahnenden Blick spürte, wiederholte er nochmal: "Wirklich!"



    Die Fahrt in die Gerichtsmedizin verlief in beiden Autos schweigend, und sie begleiteten eine Frau, die an diesem Tag mit ihren rötlich gefärbten Haaren und einer modischen Brille sicherlich älter aussah, als sie wirklich war. Sie zitterte, wurde von einem Mann, der sich später als Lebensgefährte herausstellen sollte, und ihrem 16jährigen Sohn, der gefasst, aber recht blass war, gestützt. Meisner hatte in der Schnelle die Untersuchungen der Leichname abgeschlossen, wobei es nicht viel zu untersuchen gab. Die Abdeckung hatte er bis dicht unters Kinn gezogen und die Wunden ein wenig verbunden, damit der Anblick nicht zu schlimm war. Jenny blieb aus dem Raum, in dem beiden Körper lagen, mit Ben zusammen draussen. Sie fühlte sich nicht wohl bei der Sache, und ihr Kollege blieb deswegen auch bei ihr.
    Die Frau weinte, der Mann war ihr Halt, zumindest so lange sie vor ihrem toten Mann stand. Als sie zur Tochter wechselten, begannen auch seine Lippen zu beben, scheinbar hatte er zu der Stieftochter ein gutes Verhältnis gehabt. Semir stand stumm und ehrlich betroffen da, warf einen kurzen Blick auf Kevin, der völlig entrückt schien. Er sah auf den Jungen, der stumm eine Träne über seiner Schwester vergoß, und ihre kalte tote Hand unter der Abdeckung erfasst hatte und hielt. Plötzlich begriff der erfahrene Polizist, dass sein Partner genauso da gestanden hatte... vor seiner toten Schwester, die bestialisch ermordet wurde. "Wir lassen sie noch einen Moment allein.", sagte er schnell und musste Kevin leicht am Arm fassen, um ihm durch sanftes Drücken zu signalisieren, den Raum zu verlassen.



    Weder Frau Hollinger noch ihr Sohn sahen sich im Stande, an diesem Tag noch Fragen zu beantworten. Es war bereits späterer Nachmittag, als die vier Polizisten von den kühlen Räumen der Gerichtsmedizin wieder an die heiße Sonne gingen. Alle waren fix und fertig, Semir sah auf die Uhr. "Vielleicht ist es besser, für heute Feierabend zu machen.", sagte er nachdenklich. "Wie bitte? Der Mörder läuft noch frei herum, und du willst Feierabend machen?", fragte Ben sofort in einem aggressiven Tonfall, der Jenny aufblicken ließ. "Ben... du merkst es doch gar selbst, wir sind mit den Nerven runter. Alle Ermittler, die jetzt noch in Frage kommen, wissen Bescheid. Solange niemand von denen ein Bild bekommt, wird nichts mehr passieren." Sein Blick fiel auf Kevin, der stumm nickte. "Morgen früh gehts weiter, ok?"
    Ben beruhigte sich schnell wieder und entschuldigte sich für das Anfahren. "Komm, ich fahr dich nach Hause.", sagte Kevin zu Jenny, und beide stiegen in den Dienstwagen von Kevin ein, nachdem sie sich verabschiedet hatten. Als der junge Polizist in die Straße einbog, fiel ihm ein älterer, silberner BMW auf, dessen Nummernschild ihm bekannt vorkam. Er dachte, die Buchstabenfolge mit den Zahlen hätte er schon einmal irgendwo gesehen. Durch den Vorfall heute morgen hatte Jenny völlig vergessen, mit Semir und Ben über die ominösen Nachrichten zu sprechen. Sie wollte aber jetzt, in der Situation, nicht Kevin darauf ansprechen.



    Die junge Frau wollte eigentlich gar nicht aussteigen, nicht weg von Kevin, der starken Schulter, die er heute auch ausstrahlte, auch wenn ihn die Situation in dem Raum mit den beiden Leichen und der Erinnerung an Janine sehr mitgenommen hatte. "Das war furchtbar heute.", sagte sie leise. "Das ist so schlimm... dieses Gefühl wenn du... wenn du hörst, dass ein Mensch, den du geliebt hast, tot ist." Sie redete für einen Moment, ohne nachzudenken, und Kevin blickte zu ihr. Er konnte sich denken worauf sie anspielte. "Ja. Und es tut mir immer noch unendlich leid, dass ich dir dieses Gefühl bereitet habe." Sie waren zusammen, und dann hatte sich Kevin entschieden, Annie zu suchen um im Kolumbien zu verschollen. Jenny hatte damals von Juan nur erzählt bekommen, er wäre tot.
    Jenny seufzte, rieb sich durch die Augen und sah den Mann neben ihr an. Sie konnte die Gefühle einfach nicht einordnen. In manchen Momenten wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst, weil sie noch soviel für ihn empfand. Und manchmal hatte sie immer noch Angst vor ihm... als er über einem Zelleninsasse gebeugt war, und diesem Prügel androhte. Dieser kalte Blick in seinen Augen, wenn er zu etwas entschlossen war, ließ ihr immer wieder die Bilder aus dem Keller hochkommen. Es hielt sie davon ab, einen neuen Versuch zu starten, und Kevins "Soll ich noch kurz mit raufkommen?", empfand sie als solchen Versuch, weswegen sie ihn auch ablehnte. "Ich... ich will lieber etwas alleine sein.", sagte sie und gab dem Polizisten einen Kuss auf die Wange, bevor sie ausstieg.



    Die ganz leichten Kratzspuren an ihrer Tür bemerkte sie nicht. Die Tür war ordnungsgemäß wieder verschlossen worden, und so schöpfte sie keinerlei Verdacht, dass etwas nicht stimmen würde. Doch die beiden Angreifer, mit schwarzen Masken verhüllt, versteckten sich im ersten Zimmer neben der Haustür und schlugen zu, als Jenny gerade bis ins Wohnzimmer kam, um dort eine Pistolenmündung im Nacken zu spüren. "Keinen Mucks!", sagte eine kalte Stimme hinter ihr, woraufhin sie erstarrte. Geübt öffnete der Mann den Holster an ihrer Hüfte und zog ihre Dienstwaffe heraus, während der zweite Angreifer sich vor sie stellte. "Los, auf die Knie!", hörte sie die Stimme von hinten. Ihr Herz wollte zerspringen, ihre Stimme wollte nach Kevin schreien. Ach, hätte sie nur mit "Ja" geantwortet.
    Was wollten die beiden? Ein Überfall? Eine Vergewaltigung? In Jennys Kopf tauchten 1000te Bilder auf, schlimme Bilder von Mark Schneider, der sie vor einem Jahr vergewaltigte, von Patrick und Carsten, die sie entführten... von Kevin, der eine Waffe auf sie gerichtet hatte. "LOS!", schrie die Stimme, weil Jenny nicht reagierte und riss sie nach unten auf die Knie. Als sie hochblickte, spürte sie den kalten Lauf einer Waffe direkt an der Schläfe und die einprägsamen Worte: "Wir haben dich gewarnt..."

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    Wie sie.


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    <3

  • Köln - 17:00 Uhr



    Kevin war vielleicht 50 Meter von Jennys Wohnung entfernt, stand an einer Ampel und kramte in seinem Gedächtnis, woher er diese Autonummer kannte. Der Doppelmord, Jennys Gefühle und ihr Gesichtsausdruck, als sie gerade sagte, dass sie lieber alleine sein wolle... alles war wie weggeblasen. Der junge Polizist warf einen Blick in den Rückspiegel, und er sah das Heck des silbernen BMWs, als er plötzlich den Geistesblitz hatte. Und mit dem Geistesblitz kam Panik in ihm auf, die blanke Panik.
    Ein kurzer Blick reichte, um sich zu vergewissern, dass er niemanden gefährden würde. Dann wendete er den Dienstwagen mit quietschenden Reifen, parkte direkt hinter dem silbernen BMW und dachte für eine Sekunde nach. Sollte er Verstärkung rufen? Was ist, wenn er sich irrte? Er hatte die Hand schon am Funkgerät und entscheidete sich dagegen. Mit einer schnellen Bewegung stieg Kevin aus dem BMW und lief die wenigen Schritte bis zur Haustür des Mehrparteienhauses, aus dem gerade eine ältere Frau trat. Gehetzt lächelte der Polizist der Frau kurz zu und quetschte sich dann an ihr vorbei durch die offene Tür. Jennys Wohnung lag im ersten Stock, und ihr Ex-Freund glitt nun beinahe lautlos die Treppe hinauf. Als er an Jennys Tür stand, wurde seine Panik real. Er hörte ein leises Wimmern...



    Mit gezückter Waffe nahm der Polizist Anlauf und gab der Tür einen Kick, der sie nicht standhielt. Der Vermummte, der Jenny die Waffe an den Kopf hielt, sah sofort erschrocken auf, und reagierte geistesgegenwärtig. Er packte die junge Frau, die erschrocken aufquiekte, und schlang seinen Arm um ihren Oberkörper. Kevin konnte gerade noch sehen, wie er die Waffe durchlud, und scheinbar erst jetzt eine Kugel in die Kammer glitt. Dann hielt er ihr die Waffe an den Kopf. Gleichzeitig wollte sich der zweite Vermummte auf Kevin stürzen, denn dieser stand näher an der Tür. Sein schneller Fausthieb ging ins Leere und er bekam eine mustergültig vorgeführt, wie man mit einem Schlag auf die Handkante und einem schnellen Tritt gegen die Kniescheibe erst entwaffnet und dann zu Fall gebracht wurde. Der junge Polizist kniete sich halb auf den Verbrecher und zielte auf das zitternde Bündel Jenny, das festgehalten wurde.
    "Lass die Waffe fallen!" Die Stimme des Vermummten klang fremd und gleichzeitig seltsam vertraut. "Nur über meine Leiche.", sagte Kevin mit kalter Stimme. "Kevin...", wimmerte Jenny und er konnte ihre Panik im Gesicht sehen. Es war nicht die Angst vor dem Mann, der sie festhielt. Die junge Frau hatte schon viele gefährliche Situationen er- und überlebt. Natürlich hatte sie dabei oft Angst... aber diese Panik in ihren Augen... war etwas anderes. Und Kevin bemerkte es als er selbst auf seine Waffe blickte.



    Er zielte auf sie... und Jennys Stimme klang so ängstlich, panisch und zerbrochen, wie in Patricks Keller. Als Kevin ihr die Waffe an die Stirn hielt... als Jenny glaubte, er würde sie jetzt erschiessen, weil er sie nicht erkannte. Aus dem Blick des jungen Mannes wich die Entschlossenheit. "Leg die Knarre weg, oder ich erschiesse deine Freundin jetzt und hier!", drohte der Mann hinter der Maske, und auch seine Stimme klang nicht sicher. Die Sache lief aus dem Ruder. "Steh auf!" Kevin ließ die Waffe sinken und stand langsam von dem zweiten Vermummten auf. Dieser revanchierte sich gleich, stand auf und schlug Kevin mit seiner Waffe ins Gesicht. Der Hieb kam so plötzlich und unerwartet, dass der Polizist blutend zu Boden ging.
    "Los komm, wir müssen weg.", rief er, ebenfalls nervös, und ging an dem stöhnenden Kevin vorbei. "Du kommst mit, damit dein Freund uns nicht folgt.", sagte der Kerl, der Jenny noch umklammert hielt, zu seiner Geisel. Beim Vorbeigehen trat er Kevin in den Rücken. Dann senkte er die Waffe von Jennys Kopf weg zu ihrem Rücken, damit es auf der Straße nicht sofort wie eine Geiselnahme aussah. Ersterer Vermummte hatte den BMW bereits aufgesperrt und war auf der Fahrerseite eingestiegen. Der zweite drückte erst Jenny auf die Rücksitze und stieg dann ein, bevor er Jennys Arme und Füße mit Kabelbinder fest zusammenband.



    Kevin hatte nach dem Schlag mit der Pistole Sterne gesehen. "Fuck... Jenny...", murmelte er, vor Schmerzen stöhnend und rappelte sich langsam auf. Er spuckte ein wenig Blut aus, das ihm von der Nase in den Mund gelaufen war und klaubte die Waffe auf. Als er auf die Straße gestolpert kam, fuhr der silberne BMW gerade mit quietschenden Reifen los. Im ersten Affekt wollte Kevin die Waffe nach oben reißen und schiessen, doch er erinnerte sich gerade noch daran, dass seine Partnerin im Auto saß. Deswegen riss er lieber die Fahrertür seines Dienstwagens auf und stieg ein, um die Verfolgung aufzunehmen. Jetzt griff er auch zum Funkgerät: "Cobra 11 2 an Cobra 11 1, seid ihr irgendwo?", rief er gehetzt in den kleinen Plastikapparat, als er den Motor aufschreien ließ. "Kevin, hier ist Semir? Wir sind noch in der Stadt unterwegs, was ist los?" "Ich verfolge einen alten silbernen BMW! Sie flüchten auf der Hohenzollernstraße in Richtung Rheinbrücken! Ich brauche Verstärkung!" "Wir sind ganz in der Nähe! Was ist denn los??", rief Semir und man konnte im Hintergrund bereits die Vollbremsung hören, die Ben scheinbar vollführte um die Richtung zu wechseln. "Erklär ich euch später! Beeilt euch, verdammt!!" Der silberne BMW missachtete Vorfahrtsregeln, rote Ampeln und überholte links, wie rechts. Kevin folgte ihm, musste mehrere Zusammenstöße vermeiden. Er war sich sicher, dass die beiden Typen Jenny nichts antun würden. Torben und Sebastian waren eigentlich schon weiter gegangen, als sie eigentlich wollten. Er war sich sicher, dass sie Jenny nur Angst machen wollten, so wie ihm damals. Warum, das war Kevin allerdings unklar.



    Ben hatte das Blaulicht angeschaltet und hatte die Richtung geändert. Über Funk gab Kevin immer wieder Position und Richtung durch, wenn sie mal irgendwo abbogen, und er den BMW im Schleudergang über eine Kreuzung trieb. "Wir fahren jetzt auf die Deutzer Brücke zu!", rief Kevin ins Funkgerät und spürte, wie der Wagen vor ihm Schwierigkeiten hatte, die Spur zu halten um dann nochmal zu beschleunigen. "Wir kommen euch entgegen und schneiden ihm den Weg ab!", hörte er Semirs gehetzte Stimme.
    Bastian am Steuer sah den Mercedes mit Blaulicht auf sich zu kommen. Er lenkte nach rechts um den Wagen, den sie gerade überholten zu rammen, um Chaos zu produzieren. Das gelang ihm... jedoch anders, als er es wollte. Kevins Augen wurden vor Schreck größer, wie der BMW durch den Kontakt mit dem anderen Auto ins Schlingern geriet, während Ben den Mercedes querstellte. Bastian bekam den schweren BMW nicht mehr in den Griff, schleuderte auf einen abgeflachten Betonpoller am Brückenrand zu und hob darüber ab. Er überflog das Metallgeländer der Deutzer Brücke und Kevin sah nur noch, wie das Auto hinter dem Geländer verschwand. Als er das brutale, krachende Aufplatschen im Rhein hörte, war er schon, genauso wie Ben und Semir, aus dem Auto gesprungen und rannte an das Brückengeländer. Wie in einer Trance, die nur wenige Zehntelsekunden anhielt, sah er, wie sich die zwei dunkel gekleideten Gestalten aus dem, langsam versinkenden Auto befreit hatten und Richtung Ufer schwammen. Von Jenny war nichts zu sehen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 17:15 Uhr



    Jenny konnte sich während der Verfolgungsjagd nirgends festhalten. Sie rutschte auf der Rückbank hin und her, flog mit dem Kopf mehrmals gegen das Fenster und spürte, dass sie wohl nach dieser wilden Fahrt jede Menge blauer Flecken davontragen würde. Der Kabelbinder um ihre nackten Handgelenke schmerzte, der Typ der sie gefesselt hat war danach wieder auf den Beifahrersitz geklettert. Als die junge Frau immer wieder hin und her geschmissen wurde, fiel sie einmal halb in den Fußraum und konnte durch die Fenster nicht sehen, was passierte. Sie hörte Sirenengeheul, betete mit Furcht, dass es Kevin war, der sie verfolgte. Dann der Schrei des Fahrers... "SCHEISSE!!" Reifenquietschen, ein Krachen und auf einmal änderten sich die Verhältnisse der Schwerkraft. Wie in einer Waschmaschine drehte sich alles, sie fiel vom Sitz gegen die Scheiben und dann gegen das Dach des Autos. Jenny schloß die Augen und schrie ebenfalls.
    Der Schlag aufs Wasser ging ihr durch jeden Knochen. Beide im Vorderraum hatten sofort die Türen aufgedrückt, was das Auto sehr schnell mit Wasser voll laufen ließ. Bastian schaffte es sofort, sich ins Wasser zu ziehen, Torben folgte ihm. "Helft mir!! Bitte helft mir!!!", schrie Jenny in Panik, als ihr das Rheinwasser ins Gesicht spritzte. Sie lag wieder auf den Sitzen, als sie panisch sah, wie der Fußraum des Autos sich mit Wasser füllte. Je mehr hinein lief, desto schneller tauchte das Wasser ab, desto mehr lief hinein... ein Teufelskreis. Innerhalb von Sekunden stand ihr die Brühe durch die offenen Türen bis zum Hals... und verschloß dann ihren Mund und das Gesicht.



    Kevin hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihm schwankte. Dass die Brücke plötzlich begann zu schwingen, als er nach unten ins Wasser blickte. Wie Torben und Bastian sich aus dem Auto schälten, das mit Wasser voll lief und bereits zur Hälfte unter die Wasserfläche gesunken war. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, obwohl er nur Bruchteile von Sekunden heruntersah, bis er realisierte was gerade geschah. Semir und Ben kamen im Laufschritt zu ihm, als er gerade ansetzte um über das Geländer zu steigen. Ben packte ihn am T-Shirt und zog ihn weg vom Geländer. "Bist du bescheuert? Wir müssen runter ans Ufer! Wenn du darunterspringst wirst du sie im Wasser nicht kriegen." Der Polizist wusste nicht, dass ihre Kollegin im Wasser gerade dabei war zu ertrinken und wollte Kevin davon abhalten, unnötig den Helden zu spielen.
    Der junge Polizist allerdings griff Ben aggressiv am T-Shirt, so dass dieser davon völlig überrascht war, und stieß ihn zur Seite. "Lass mich los! Jenny ist da im Auto!!", rief er und ließ sich nicht davon abhalten, über das Geländer zu steigen. Von der Information war Ben und Semir völlig überrascht und erschrocken, so dass sie Kevin für einen Moment nur stumm zusahen, wie er mit einem Kopfsprung die neun Meter der Brücke überwand und dicht neben dem sinkenden Autowrack ins Wasser eintauchte. "Scheisse...", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur atemlos, und wurde erneut am Shirt gepackt, diesmal von Semir. "Los, wir müssen uns die Typen schnappen!" In Ben erwachte wieder das Leben, und beide rannten zurück zu ihrem Dienstwagen.



    Schon beim Sprung hatte Kevin tief Luft genommen und den Atem angehalten. Das Auto sank, und er wusste dass er es besser bereits beim ersten Mal schaffte, Jenny aus dem Wrack zu holen. Würde er einmal auftauchten müssen, um wieder Luft zu holen, könnte das Auto schon zu tief versunken sein. Ausserdem hätte er dann zweimal Luft geholt, in einer Zeit in der Jenny es nur mit einem Mal schaffen musste... sie würde es nicht schaffen. Der junge Polizist glitt durch den Sprung und seine starre Haltung wie ein Hai ins Wasser hinein und versuchte krampfhaft, im trüben Gewässer etwas zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen und sah das Auto recht klar vor sich. Durch die Seitenscheibe erblickte Kevin seine Ex-Freundin, wie sie sich in Panik wie ein Aal hin und her wand, um irgendwie zu versuchen aus dem Gefängnis zu entkommen.
    Kevin ergriff den Türgriff der hinteren Tür, doch unter Wasser war es schwierig, eine Tür gegen die Massen des Wasser zu öffnen. Auch konnte sich der Polizist nicht abstützen, um wirklich Kraft auf den Griff ausüben zu können. Es würde ihn zuviel Kraft und zuviel Zeit kosten, das bemerkte er bereits nach zwei Versuchen. Dann erst sah er, dass die vordere Tür bereits offen war, aber gerade von den Wassermassen langsam zugedrückt wurde. Bevor sie ins Schloß fiel, ergriff er sie und drückte sie mit aller Gewalt auf. Hier konnte er zwischen Tür und Auto klemmen, und dadurch Druck ausüben in dem er sich am Auto abstützte.



    Er spürte ein Lähmungsgefühl in den Armen, soviel Kraft musste er aufbringen, und dass das Auto ihn immer wieder in die Tiefe zog. Ausserdem gierten seine Lungen nach Luft. Doch das Bild seiner zuckenden Partnerin verschaffte ihm ungeahnte Kräfte. Jenny konnte nicht mehr, Luftblasen glitten aus ihrem Mund - ein untrügliches Signal, dass sie zu atmen versuchte, und begann, Wasser zu schlucken. Ihre Bewegungen wurden schwächer... würde sie zu lange ohne Sauerstoff sein, würde sie sterben. Kevin griff durch den Innenraum, und bekam einen Arm unter ihre Schulter. Er hatte Glück, dass Jenny sowohl sehr leicht, als auch sehr schlank gebaut war. So konnte er sie, zwar unter großer Anstrengung, aber ohne Probleme zwischen den Kopfstützen der Vordersitze in den Vorraum ziehen.
    Erst, als er ihren Oberkörper schon aus der Tür hatte, und sich mit den Füßen am Rahmen abstieß, stieß er auf Widerstand. Jennys Fuß hing am Lenkrad fest. Für einen Moment wollte der junge Polizist aufgeben. Sollte er doch versinken... er wollte Jennys Körper fest umarmen und aufhören, die Luft anzuhalten. Sie würde nicht allein sein... doch diese Entscheidung hatte er nicht zu treffen. Er hielt ihren Körper mit einem Arm fest umschlungen und beugte sich mit größter Kraftanstrengung wieder in das Auto hinein, um ihren Fuß vom Lenkrad zu lösen. Kurz bevor er das Gefühl hatte, seine Lungen würden explodieren, schaffte er es.



    Der Polizist wusste nicht, wie tief ihn das Auto bereits gezogen hatte. Den Blick nach oben gerichtet, konnte er schwach das Sonnenlicht sehen. Im linken Arm hielt er die schlaffe Jenny umklammert, mit dem rechten Arm und beiden Füßen vollführte er mit allerletzter Kraft Schwimmbewegungen. Es machte ihm Mut, dass das Sonnenlicht stärker wurde... er kam nach oben. Wie lange war er schon hier unten? Wie lange hielt er bereits die Luft an? Und wie lange konnte ein Mensch eigentlich die Luft anhalten, bevor er selbst ohnmächtig wurde? Jenny bewegte sich nicht in seinem Arm, das machte ihm Angst. Gefühlt schwamm er mehrere Minuten, aber das hätte er nicht geschafft. Real war er schneller und doch knapp, bevor ihn Lungenvolumen und Kraft verließ, erreichte er die Wasseroberfläche, an der er gierig Luft in seine Lungen sog.
    Sofort hielt er Jenny im Rettungsschwimmergriff, so dass sie ebenfalls mit Nase und Mund an der Oberfläche war. "Jenny?", keuchte er, doch seine Ex-Freundin gab keinen Laut von sich. Jetzt geriet Kevin in Panik. Er mobilisierte nochmal jeden Muskel im Körper, als ginge es in die letzte Runde eines schweren Boxkampfes, in dem er unglaublich viele Schläge einstecken musste, und es wahnsinnig viel Kraft kostete, auf den Beinen zu bleiben. Und Jerry sagte ihm: "Jetzt hast du 11 Runden durchgehalten... jetzt hau ihn in der 12ten halt einfach K.o." Und Kevin wollte dem Mann in der Ecke sagen, dass er nicht ganz dicht sei. Seine Arme waren wie Wackelpudding, seine Beine wie Zuckerwatte... und trotzdem schlug er ihn auf die Bretter.



    Jetzt brannte Kevin jeder Muskel, seine Lungen keuchten und rasselten... und trotzdem schaffte er es, das Rheinufer mit Jenny zu erreichen. Er spürte unter den Füßen die Steine des langsam ansteigenden Ufers, er sattelte Jenny um, aus dem Rettungsschwimmergriff in seine Arme. Er trug sie wie eine Meerjungfrau, beide triefend nass, ans Ufer, wo er sie zärtlich wie einen gefundenen Schatz ins Gras legte. Sie sah aus, als würde sie friedlich schlafen, und Kevin sah aus, als würde er versuchen sie wachzuschütteln. Doch seine panische, vom Wasser kratzige Stimme, passte nicht zu einem friedlichen Aufwecken. "Jenny! Jenny!!" Er rüttelte an ihren Schultern, wie an einer Puppe, die keinen Laut von sich gab. Und als er ihr zwei Finger an den Hals legte, spürte er auch keinen Puls.
    Er konnte seiner Schwester damals nicht helfen... er lag bewegunslos am Boden, abgestochen wie ein Stück Vieh und musste zusehen, wie Janine starb. Jetzt konnte er etwas tun. Er legte beide Hände übereinander auf ihren Brustkorb... bei der Übung zählte er immer die 5 Drücke, die man abgab, wenn man alleine war. Dann den Mund auf die Nase gepresst, und er versuchte das letzte Volumen Luft aus seinen Lungen zu pressen, mit dem Unterschied zum Wasser, dass er jedesmal wieder tief einatmen konnte. Dann wieder das Herz massiert oder zumindest erreichen, dass Jenny atmete, dass sie das Wasser aus ihren Lungen ausspuckte. Kevin stiegen vor Panik, Angst und Verzweiflung Tränen in die Augen, als er spürte, dass seine Massage schwächer wurden und er nicht mehr soviel Luft in ihren Körper drücken konnte, als bei den ersten beiden Versuche. Er durfte nicht aufgeben, sie durfte nicht sterben... doch er konnte nicht mehr. Es ging nicht mehr. "Lass mich bitte nicht alleine, Jenny...", flüsterte er kraftlos, als er bei den letzten verzweifelten Drücken auf ihren Brustkorb über ihr zusammenbrach.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 17:20 Uhr



    Ben und Semir waren, nachdem Kevin von der Brücke gesprungen war, sofort wieder in ihren Wagen zurück gerannt, um vor allem einen Rettungswagen für Jenny zu rufen. Sie hatten gesehen, welche Uferseite Torben und Bastian versuchten zu erreichen und ungünstigerweise war es jene, an der keine direkte Straße, sondern Grünflächen und ein Park vorbei führten. Ben fuhr quietschend um eine Abzweigung hinter der Brücke und bog in einen schmalen, staubigen Weg ab, der hinunter zu den Ufern führte. Staub stieg hinter dem Mercedes auf, der den Weg hinunterrumpelte, doch dann war ihnen naturgemäß der Weg mit einem Zaun, der den Park abgrenzte, versperrt, so dass der junge Polizist den Wagen rutschend zum Stoppen brachte. "Scheisse...", entfuhr es ihm, und er schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad.
    Semir stieg sofort aus und schaute prüfend Richtung Rhein. Er konnte sehen, wie die beiden triefenden Männer gerade eine kurze Leiter hochkletterten und zwischen den Bäumen verschwanden. "Da hinten!", rief er und sein Partner machte sich sofort am Zaun zu schaffen. Doch der Maschendrahtzaun gab für die Füße keine Gelegenheit, überzusteigen. Ben sprang und hakte sich mit den Fingern zwischen den Maschen ein, mobilisierte alle Kräfte und wuchtete seinen, nicht gerade leichten Körper, über den Zaun. Dass er sich dabei das Shirt an der Seite zeriss, war ihm egal. "Na los, Opa!" "Der Opa wird dir gleich...", knurrte der wesentlich ältere, aber keineswegs unsportlichere Semir und sprang ebenfalls an den Zaun. Ohne Halt an den Füßen erreichte er aber die nötige Höhe nicht, um sich herüber zu wuchten, und nach einem missglückten Versuch, ließ er wieder los.



    "Ich hol mir die Zwei!", sagte Ben hektisch und wollte schon losrennen. "Warte! Werf mir den Schlüssel!!" Bevor Ben loslief, griff er den Schlüssel des Mercedes und warf ihn Semir über den Zaun. Der hastete zurück ins Auto und parkte den Dienstwagen mit zwei geschickten Wendemanövern so dicht am Zaun, dass man die Beifahrertür nicht mehr hätte öffnen können. Ben war noch keine halbe Minute gelaufen, da war sein Partner bereits dicht hinter ihm, nachdem er über die Motorhaube aufs Dach geklettert war, und so ganz leicht über den Zaun kam.
    Sie fanden schnell die Stelle, an der die beiden Männer scheinbar den Rhein verließen. Doch im Park selbst, der sich am Rhein vorbei erstreckte, konnten sie die Flüchtenden nicht mehr sehen. Sie liefen an Bäumen und Sträuchern vorbei und kamen irgendwann dann auf die Wege, wo sie auch immer mehr Leuten begegneten, die jedoch keine zwei triefend nassen Männer sehen konnten. "Verflucht!" knurrte Semir, während sein Partner sich durchs Haar fuhr. "Die sind weg. Schöne Scheisse..." "Komm, lass uns zurück zu Kevin.", sagte Ben und beide verfielen wieder in einen leichten Laufschritt. Am Zaun musste Ben per Räuberleiter Semir über den Zaun helfen, weil das helfende Auto fehlte. Dafür würde sich der kleine Polizist noch die ein oder andere Spitze seines Partners und besten Freundes in den nächsten Tagen gefallen lassen.



    Kevin war am Ende... er konnte nicht mehr. Er hatte alles versucht, hatte alle Kräfte mobilisiert um Jenny aus dem versinkenden Fahrzeug zu ziehen, sie unter größter Anstrengung der immer schwerer werdenden Kleidung an ihrem und seinem Leib an Land gebracht und sie versucht, wieder zu beleben. Doch nach mehreren Herzmassagen und Beatmungsversuchen konnte er nicht mehr. Er hatte schon wieder versagt... schon wieder versagt einer Frau, die er liebte, zu helfen. Kevin spürte, wie ihm die Luft wegblieb, wie seine Hände, die er um Jennys T-Shirt-Kragen geklammert hielt, nachdem er die letzten Versuche der Wiederbelebung abgebrochen hatte, zitterten. Er kniete neben ihr, hatte sich über sie gebeugt und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.
    In diesem Moment hatte er Bilder in seinem Kopf. Schöne Bilder, hässliche Bilder. Ihre erste Begegnung im Büro... Jenny damals noch in Uniform. Der erste Abend bei ihr, als sie auf der Couch beim Filmeschauen neben ihm eingeschlafen war. Als Kevin sie im Krankenhaus besuchte, als er nach einem Unfall bei ihr war, und sie sich küssten. Aber auch die hässlichen Momente fuhren ihm vor Augen... als sie ihn in der Dusche fand, vollgepumpt mit Drogen und einem Gedächtnisverlust. Als er die Waffe auf sie richtete, fest im Glauben, sie sei die Mörderin seiner Schwester. "Bitte nimm sie mir nicht...", schien er leise, mit tränenerstickender Stimme zu beten.



    Ein Zucken ging durch Jennys Körper, die Drücke auf ihr Herz und ihre Lungen bewirkten, dass sich ihr Organ gegen das Wasser wehrte. "Jenny?" Hätte der junge Polizist nur einige Sekunden weitergemacht, hätte er es auf seine Rettungsmaßnahmen zurückgeführt, so kam es ihm wie ein Wunder vor. Jenny begann zu husten, riss die Augen weit auf und ihre Lunge sog gierig die klare Luft an Land in sich ein, um das Wasser, das die junge Polizistin geschluckt hatte, zu verdrängen. Dabei rollte sie sich im ersten Affekt auf die Seite, Kevin war zurückgewichen und half ihr nun, das Wasser aus zu spucken.
    Es dauerte einen Moment, bis Jenny begriff, wo sie war. Sie hatte um Hilfe geschrien, und Panik bekommen als sie sich nicht aus dem Auto befreien konnte und sie begriff, dass die beiden Männer ihr nicht helfen würden. Das Auto versank, ihr Kopf geriet unter Wasser. Ihre Luft hielt nur für 2 oder 3 Minuten... wie oft hatte sie das als Kind im Schwimmbad geübt, wie lange sie unter Wasser den Atem anhalten würde können. Doch irgendwann ging es nicht mehr. Sie musste atmen, und sie atmete. Sie wollte husten, denn es kam nur Wasser, aber sie konnte nicht. Alles was in ihre Lungen kam, war Wasser. Die Sicht um sie wurde immer trüber, das Sonnenlicht konnte sie im Auto sowieso nicht sehen. Sie würde sterben, schoß ihr durch den Kopf... sterben. Sie würde bald bei ihrem Kind sein. Das Rucken an ihrer Schulter spürte sie noch, kurz bevor sie ohnmächtig wurde.



    Dann wurde Jenny wieder wach, die Sonne scheinte ihr auf die nassen Kleider und sie schnappte gierig nach Luft. Hände ruhten auf ihrer Schulter und ihrem Rücken, als sie neben sich hustete und Wasser spuckte. Es dauerte einige Momente, bis sie sich erschöpft zu der Person umdrehte und sie anblinzelte. So hatte sie ihren Ex-Freund noch nie gesehen. Er atmete unglaublich schwer, als hätte er gerade den Kampf seines Lebens hinter sich. Seine Haare tropften, sein Gesicht war nass, seine Augen feucht und rötlich. Es sah aus, als hätte er geweint... doch es war sicher das Rheinwasser, dachte Jenny. Er hatte sie gerettet... und jetzt nahm er sie in den Arm. Die junge Frau hatte die Hände und Füße immer noch zusammengezurrt, doch sie spürte es nicht. Sie spürte nur Erleichterung, von Kevin umarmt, festgehalten und beschützt zu werden. Und diese Erleichterung äusserte sich in einem Weinkrampf, den die junge Frau ergriff als sie an die letzten Minuten dachte. Erst die Todesangst in ihrer Wohnung, als dieser maskierte Mann die Waffe auf sie richtete, dann die Todesangst im Auto, als sie die Luft nicht mehr länger anhalten konnte. Hilflos, wehrlos. "Ganz ruhig... Jenny, alles okay. Ich bin bei dir.", hörte sie die so beruhigende, wenn auch rasselnde und schwer atmende Stimme von Kevin dicht bei sich. Ein größeres Gefühl an Sicherheit in diesem Moment konnte sie sich nicht vorstellen. Und sie wusste nicht, wie klein und zerbrechlich sich der junge Polizist gerade fühlte, auch wenn er nach aussen den Fels für Jenny gab, an dem sie sich festhielt.



    Für die beiden blieb die Zeit stehen. Sie konnten beide nicht sagen, wie lange es dauerte bis Semir und Ben bei ihnen ankamen, wo der älteste der Vier erst einmal sein scharfes Taschenmesser zückte und der jungen Frau die Fesseln aufschnitt. Kaum hatte sie die Arme frei, schlangen sich diese um Kevins Körper, um noch näher bei ihm zu sein. Kevins Blick, der für Ben eine stumme Frage war, beantwortete dieser mit einem Kopfschütteln. Sie sind entwischt. Verdammt. Der Atem der beiden hatte sich vollständig beruhigt, als der Krankenwagen kam. Jenny fühlte sich zwar wackelig, schwindelig und ein wenig übel von dem ganzen Rheinwasser, aber sie verzichtete darauf, ins Krankenhaus zu fahren. Sie wollte nur nach Hause... aber nicht allein. Ben und Semir fuhren die beiden nassen Kollegen zu Kevins Wagen, der noch auf der Brücke stand, nachdem die Kollegen eingetroffen waren und alle weiteren Bergungsmaßnahmen weiter veranlassten. Ben und Semir blieben dort, während Kevin Jenny nach Hause fuhr. So wie vor etwa einer Stunde. Die junge Frau hatte sich beruhigt, ihr Weinkrampf war abgeklungen, nur hin und wieder spürte sie noch die Klammer um ihre Brust, wenn sie daran dachte, was hätte passieren können. Oder wenn sie einen Seitenblick auf den Mann neben ihr warf, der mit scheinbar unerschütterlicher stoischer Ruhe den Wagen wieder zurück zu Jennys Wohnung steuerte. Vorhin hatte sie Kevins Angebot, dass er mit nach oben kam, aus falscher Ablehnung verneint. Jetzt war sie es, die fragte: "Willst... vielleicht noch mit nach oben kommen." Nicht nur weil er sie gerettet hatte... sie wollte jetzt einfach nicht alleine sein.



    Sie hatte Decken und Handtücher auf die Couch gelegt und sich selbst in Windeseile umgezogen. Kevin gab sie zumindest einen ihrer gemütlichen Feierabendpullis, die ihr drei Nummern zu groß waren, aber nur in Boxer-Shorts wollte er sich nicht hinsetzen. Danach ließ sie sich erschöpft zu Kevin auf die Couch fallen, zog ihre Beine an den Leib und lehnte sich an seinen Körper. Sie redeten für einige Minuten nichts... Jenny genoß einfach Kevins Schutz, seine Aura. Nochmal ließ sie alles Revue passieren, was eben gerade war. "Danke... dass du mich gerettet hast.", sagte sie dann irgendwann in einem leisen, müden Ton. Die Rettung war für Kevin so selbstverständlich, dass er kurz auflachen musste. "Dafür brauchst du mir doch nicht zu danken." "Ich... ich darf gar nicht drüber nachdenken... wenn dir dabei was passiert wäre." Dabei drehte sie den Kopf zu Kevin und ihr Blick traf seinen. Und dabei sah sie ein Lächeln auf dem Gesicht des Polizisten. "Ich hab gestern Juan getroffen. Als er verwundert war, dass ich noch lebe hatte ich spaßeshalber zu ihm gesagt, dass Helden unsterblich sind." Das brachte auch Jenny zum Lächeln und sie fühlte sich ein wenig wohler. "Und? Bist du denn dann ein Held?", fragte sie, ebenfalls ein wenig neckisch. "Zumindest das Springen und Fallen von Brücken in Flüssen scheint mich nicht umzubringen." Die junge Frau seufzte in den Armen des Mannes, mit dem sie schon soviel erlebt hatte. Den sie immer noch liebte, und der sie immer noch liebte. Aber irgendetwas Unsichtbares stand noch zwischen ihnen. Vielleicht würde es irgendwann verschwinden, dachte Jenny und fragte nach zwei Stunden, ob Kevin die Nacht bei ihr verbringen würde...

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  • Jenny's Wohnung - 7:00 Uhr



    Es war eine eigenartige Situation, in der sich Kevin und Jenny in dieser Nacht befanden. Die junge Polizistin hatte ihren Kollegen darum gebeten, über Nacht zu bleiben. Sie wollte und konnte jetzt einfach nicht allein in ihrer Wohnung sein und erinnerte sich daran zurück, wie sehr Kevin ihr damals geholfen hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war und sie ebenfalls mitten in der Nacht plötzlich Angst vorm Alleinsein bekommen hatte. Sie hatte ihn angerufen, er kam und war ein Schutzschild. Und um das Gleiche bat Jenny ihn auch jetzt... ohne Hintergedanke. Und genau jener Hintergedanke war es, der Kevin innerlich erst kurz zweifeln ließ, äusserlich stimmte er sofort zu. Er würde Jenny heute kein zweites Mal mehr alleine lassen, dachte er sich.
    Sie hatten noch lange miteinander geredet, gemeinsam auf der Couch gesessen, eng aneinander gedrückt. Körperkontakt, sich Trost spendend, sich Mut zu sprechend. Diesmal brauchte diesen Trost Jenny mehr als Kevin. Sie war geschockt von dem Ereignis am späten Nachmittag, die ganze Situation, die Todesangst, die sie bekam unter Wasser und als sie wieder in eine geladene Waffe geschaut hatte. Sie erzählte Kevin, ohne ihm ein schlechtes Gewissen machen zu wollen, dass sie noch oft an das Ereignis in Patricks Keller dachte.



    Aber auch Kevin war offen zu seiner Ex-Freundin. Er erzählte, dass er rausgefunden habe, dass Timmy der dritte Mann bei dem Anschlag auf ihn gewesen war. Und dass jener Timmy längst im Gefängnis bei einem "Unfall" ums Leben gekommen sei, allerdings hatte Jerry ihm damals gesagt, dass Timmy der Verräter gewesen wäre. "Dann kannst du das Kapitel ja endlich abhaken... oder?", fragte Jenny beinahe hoffnungsvoll und strich zärtlich über Kevins Unterarm, auf dem zwei Striche eintättowiert waren. Eine der vielen körperlichen Zärtlichkeiten, die die beiden an diesem Abend und in dieser Nacht austauschten. Zärtlichkeiten, die Trost spendeten und Nähe zeigten, aber nie über ein ganz enges freundschaftliches Verhältnis hinausgingen und in gewisse Intimssphären eindrangen. Es fühlte sich seltsam an...
    "Eigentlich ja. Aber es fühlt sich nicht so an.", sagte der junge Polizist. "Es ist, als hätte ich ein fertiges Puzzle vor mir liegen... ich kann genau erkennen, was das Bild ergibt, aber ein einziges Teil fehlt noch.", versuchte er seine Gedanken zu erklären, und Jenny sah ihm dabei in die hellblauen Augen, in denen sie am liebsten versinken wollte. "Du willst noch wissen, wer der Verräter ist? Wer den Mördern den Weg verraten hat, den nur du und Jerry kanntet?" Kevin nickte. "Ich weiß, dass Timmy damals bei der Gruppe dabei stand. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich ein Detail dieser Abkürzung erwähnt hatte. Vielleicht hat der Typ mich auch angelogen, der mir die Info gegeben hat."



    Jenny ergriff Kevins Hand. "Und was, wenn du weißt, wer es war? Was wirst du tun?" Kevin wusste genau, welche Antwort Jenny befürchtete, oder was sie hören wollte. "Ihn umbringen, wie ich es mit zwei der drei Attentäter auch getan habe... oder hätte, wäre Peter Becker nicht in den Selbstmord gesprungen.", wäre wohl eben jene Antwort gewesen. "Nichts.", war die Antwort, die Kevin tatsächlich gab, und von der Jenny überrascht aufblickte. "Was soll ich tun? Ich will einfach nur wissen, wem ich besser nicht vertraut hätte." Der Blick der jungen Polizistin drückte mehr Skepsis aus, als sie eigentlich wollte. "Ich weiß was du denkst... was mit den anderen Attentätern passiert ist. Und ich weiß, wie ich gewirkt habe, wenn ich darüber gesprochen habe. Aber wenn du mich jetzt fragen würdest, ob ich die drei getötet hätte, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte bei klarem Verstand... ich könnte dir keine Antwort darauf geben.", sagte er ehrlich. Peter beging Selbstmord, Timmy hatte einen Unfall im Knast und Patrick... ja, Patrick hatte er erschossen. Allerdings dachte er da, dass er selbst Ben aufgrund Patricks Intrige umgebracht hatte, und kurz davor war, Jenny zu erschiessen. "Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass du dieses Kapitel endlich beenden könntest, Kevin.", sagte Jenny mit leiser Stimme. "Du hast mit uns drei als Kollegen die besten Voraussetzungen in deinem Job endlich Fuß zu fassen. Du hast mit Jerry bald einen echten Freund ausserhalb der Arbeit. Du hast Kalle. Was dir passiert ist, damals und in den letzten anderthalb Jahren, das wird niemals weg zu streichen sein. Aber so geht es auch mir. So geht es Semir mit der Sache im Keller der Germania. So geht es Ben mit seiner Platzangst. Wir müssen alle weitermachen... und das musst du auch." Kevin wurde von Jennys Augen fixiert, als sie ihre Worte sprach, und den jungen Polizisten fast schon anflehte, bittet, als würde sie ihm einen Antrag machen, weil sie auch seine Hand fest hielt. "Lass endlich los." Und das langsame, zeitlupenähnliche und unsichere Nicken ihres Partners war fast genauso schön, wie ein Ja vor dem Standesamt.



    Die nassen Kleider hatte Jenny abends noch in den Trockner geschmissen, so dass Kevin sie am morgen nach einer Dusche wieder anziehen konnte. Er hatte die Nacht auf Jennys Couch verbringen wollen, doch nach nur einer halben Stunde war die junge Polizistin in Decken gehüllt wieder bei ihm aufgetaucht, hatte ihn wortlos bei der Hand genommen und quasi zu ihr ins Bett gepackt. Es war quasi ein langsames Annähren, noch langsamer als bei ihrem ersten Versuch, wo es einen Zwischenfall brauchte, um sie endlich miteinander zu verbinden. Jetzt wachte Kevin über Jenny, er war ihr Schlafmittel, so dass sie sicher einschlafen konnte, wusste sie doch um seine direkte Anwesenheit. Deswegen ging es ihr am Morgen, als sie kurz gemeinsam frühstückten, so gut.
    Ein wenig kam ihre gestrige Angst wieder zurück, als sie gemeinsam die Treppen vor der Haustür heruntergingen, und Jenny Kevins Blick auf einen dunklen Kombi gerichtet sah. Seine Miene vereiste, der Kombi parkte gegenüber ihres Hauses und ein Mann mit schwarzen Haaren und Bart saß darin. Er schien direkt auf ihren Eingang zu schauen. "Warte mal kurz.", sagte der junge Polizist zu seiner Partnerin, und die beobachtete mit einem Zwicken im Bauch, wie Kevin über die Straße lief und auf den Kombi zuhielt.



    Er war noch nicht auf Höhe der Fahrertür, da fuhr die elektronische Seitenscheibe bereits herunter und verschwand in der Tür. "Guten Morgen, Herr Kommissar. Stehe ich im Halteverbot?", kam eine Frage mit leichtem südländischem Akzent aus dem Inneren des Fahrerraums. Kevin legte eine Hand auf das Dach und beugte sich herunter, um mit dem Fahrer auf Augenhöhe zu kommunizieren. "Was willst du hier, Assad?", fragte er ohne Begrüßung einen der, ihm bekannten Handlanger seines speziellen Freundes Anis, der ihm nach dem letzten Fall bereits unmittelbare Folgen angedroht hatte, weil er mehrere seiner Mitarbeiter in eine Falle gelockt hatte und Anis einen riesigen, lukrativen Drogendeal durchkreuzt hatte. "Ich? Ich stehe hier... parke, beobachte die Menschen, beobachte die Au..."
    Weiter kam er nicht. Kevin griff in den Wagen, packte ihn am Kragen seines Hemdes und zog ihn ein Stück mit dem Kopf aus dem Auto heraus. Hätte er noch eine Hand frei gehabt, hätte er noch den Schalter betätigt, um die Scheibe wieder hochfahren zu lassen. "Pass mal auf, du Aushilfsmafiosi! Sag deinem Boss, dass ihr mir keine Angst macht und dass er sich von diesem Haus fernhalten soll... ansonsten fackel ich ihm seinen Club unterm Arsch weg!", drohte er mit zischender Stimme und stieß den Mann wieder zurück ins Auto. Doch genauso unbeeindruckt war der von Kevins Ansage: "Wenn ich mich von diesem Haus fernhalten soll, solltest du dich von diesem Haus fernhalten." Dabei lächelte er, während er Kevin ansah. Der verstand, dass Anis ihn beschatten ließ... und er wohl damit alle Menschen gefährdete, mit denen er zu tun hatte. Mit Eiseskälte in seinem Blick, schien Kevin zunächst an dem Wagen vorbei zu gehen, bevor er nach einem Schritt auf Höhe des Seitenspiegels stehenblieb, um diesen mit einem gezielten Tritt vom Auto zu trennen. Nur die Kabel der Wärme- und Blinkerelektronik verhinderten, dass das ganze Teil zu Boden fiel, das Glas jedoch war zersplittert. Assad entgleisten für einen Moment die Gesichtszüge, während Kevin eine "Hörer-am-Ohr" - Geste mit seiner Hand machte. "Ich werd' mal die Streifenkollegen anrufen, das Fahrzeug ist nicht verkehrssicher.", rief er ihm zu, bevor er zu Jenny zurückkehrte.

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    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 07:30 Uhr



    Natürlich war Semir wieder der Erste von den vier Polizisten, die in zwei Büros verteilt waren. Wie immer kochte er den Kaffee bei ihnen im Büro, goss er sich die erste Tasse ein und genoß für eine halbe Stunde die Ruhe im Büro, bevor Ben kam und sich auch das Großraumbüro mit den Tagesdienstlern füllte. Es wurde gestern abend noch ein arbeitsreicher Abend, sie mussten die Bergungsarbeiten koordinieren und das Chaos auf der Deutzer Brücke beseitigen. Semir beschäftigten in der Nacht viele Gedanken. Zum einen über den Fall, zum anderen über Kevins kurzes, beinahe desinteressiertes Abwinken, als er nach den beiden Entführern fragte. "Lass uns morgen darüber reden.", sagte er und ihm schien das Kümmern um Jenny in diesem Moment weitaus wichtiger zu sein, was Semir auch nachvollziehen konnte. Trotzdem klang das nicht nach Kevin, denn der erfahrene Polizist hatte erwartet, dass sein Partner sofort Feuer und Flamme dafür war, diese Typen zu fassen. "Aber die Fahndung..." "Die laufen uns schon nicht weg." Es hörte sich für Semir so an, als wisse der schweigsame Polizist schon wieder mehr als er.
    Die anderen Gedanken, die den Deutsch-Türken heute morgen nicht mehr schlafen ließen und deshalb schon früher als sonst im Büro erscheinen ließen, drehten sich um den Fall. Und zwar hatte er das untrügliche Gefühl, dass vielleicht doch Kevins Fall ein Schlüssel oder zumindest ein großer Hinweis auf ein Motiv für die vier Morde sein konnte. Der junge Kommissar hatte zwar seine Fälle nicht in die Tabelle miteinfließen lassen, aber die Akten waren natürlich unter dem Berg derer, auf die sie von Hartmut Zugriff bekommen hatten.



    Und so fand Ben seinen Partner konzentriert klickend und lesend an seinem Monitor vor, als dieser ins Büro kam und seine leichte Sommerjacke über den Stuhl hing, nachdem er "Guten Morgen" gewünscht hatte. Es war zwar schon recht angenehm draussen, um diese Uhrzeit ohne Jacke auf dem Motorrad aber doch recht kühl. Auf seinem Platz fand der Mann mit der Wuschelfrisur eine Bäckerstüte mit einem Schokocroissant, weil Semir mit Frühstück dran war. "Aaaah, so mag der Ben das.", murmelte er und griff sofort zu. Sein Partner schien das gar nicht zu hören, jedenfalls sah er nicht vom Monitor auf.
    "Konntest du gut schlafen heute Nacht?", fragte Ben irgendwann, weil er das Gefühl hatte, dass Semir vielleicht der Mord gestern, vor allem an dem jungen Mädchen, mehr mitnahm und er deswegen so schweigsam war. Natürlich hatte es auch Ben beschäftigt, aber er spürte selbst, wie sehr er mit der Zeit abstumpfte. Todesopfer, auch Kinder, auf der Autobahn sah er ja beinahe wöchentlich. "Ging so.", war Semirs kurz angebundene Antwort, die Ben die Augenbrauen hochziehen ließ. Entweder ging es seinem Partner gerade nicht so gut, oder er musste etwas furchtbar Interessantes lesen. Also stand er auf und tigerte mit der Kaffeetasse in der Hand um den Schreibtisch und stellte sich hinter seinen besten Freund. "Bevor du fragst: Das sind Akten von Kevins Fällen, die er nicht in der Tabelle erwähnt hat."



    Ben begann mit zu lesen, kam aber nicht richtig rein, weil er den Anfang verpasst hat. "Hoffentlich nimmt er dir das nicht krumm.", murmelte er irgendwann. "Ich bitte dich. Es sind Akten auf die wir Zugriff haben. Ich muss Kevin doch jetzt nicht um Erlaubnis bitten, mir diese Akten anzusehen.", sagte der erfahrene Polizist und Ben hebte sofort beschwichtigend die Hände. "Hey hey... das sehe ich ja auch so. Du kennst aber auch, wie er bei sowas reagiert.", bei dem Satz ging Ben wieder zurück zu seinem Platz und beschloß, die Akten sich auch mal anzuschauen. Zumindest wusste er jetzt, dass sein bester Freund tatsächlich in etwas vertieft war, und nicht irgendwie schlecht drauf.
    Semirs Konzentration richtete sich wieder auf die Akten. Es war der ein Mordfall an einer Polizistin einer anderen Abteilung, die bei einem Tankstellenüberfall erschossen wurde. Er las Befragungsprotokolle, Anmerkungen, Untersuchungsberichte. Immer wieder gab es Kommentare vom Vorgesetzten Frege, die sich in Semirs Augen sehr nachteilig gegenüber seinem Partner Kevin lasen. War das nun sein subjektives Empfinden, weil er wusste welches Standing der junge Polizist damals hatte? Interessant wurde es, als er ans Ende der Akte gelang. Man hatte einen klaren Verdächtigen, doch man bekam keinen Haftbefehl aus Mangel an Beweisen. Irgendwann wanderte der Fall zu den Akten, die Ermittlungen geschlossen. Im Hirn des erfahrenen Polizisten arbeitete es, als er nochmals die Namen der Ermittler las... er merkte es sofort.



    Sein Partner auch. Ben hatte eine Begabung, Texte nur zu überfliegen und trotzdem Wichtiges sofort zu erfassen, bevor er sich mit einigen Abschnitten näher beschäftigte. "Da waren ja alle drei unserer Opfer an den Ermittlungen beteiligt.", sagte er verwundert. "Ja, das fällt mir auch gerade auf. Und Kevin als Verfahrensführer.", bestätigte Semir und blickte vom Monitor auf. "Die Fälle, die nachgestellt wurden... die waren doch auch allesamt ungelöst, oder?" Ben dachte einen Moment nach und schüttelte den Kopf. "Nein... Plotz Vergiftungsfall wurde doch gelöst." Er klickte sich durch mehrere Dokumente und sah sich verschiedene Datumsangaben an. Dann kramte der junge Polizist auf seinem Schreibtisch und sah sich das Datum auf der Rückseite des Gruppenbildes der Mordkommission an. "Der Tankstellenmord fiel genau in die Zeit des Bildes. Und die nachgestellten Fälle drum herum.", schlussfolgerte er und setzte ein weiteres Puzzleteil ein.
    Semir lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um einen Zufall handelt, dass es ausgerechnet drei von vier Ermittler dieses Falles bisher getroffen hat?" Sein Partner kratzte sich kurz an der Stirn. "Dafür musste man mal überprüfen, wie oft zumindest genau diese drei Ermittler bisher zusammen an einem Fall gearbeitet haben. Das wäre doch eine schöne Fleißarbeit." Dabei grinste er. "Vielleicht hat es da jemand nicht verkraftet, dass der Mörder nicht verurteilt wurde...", setzte er noch hinzu, als er durch die Glasscheibe sah, wie Kevin und Jenny das Großraumbüro betraten. "Zumindest müssen wir ihn jetzt auf den Fall ansprechen." Semir blickte nachdenklich drein: "Eigentlich hätte ihm das doch auffallen müssen, oder?"



    Einige Minuten später hatten auch Kevin und Jenny einen guten Morgen gewünscht. Natürlich wurde sich von Semir und Ben nach dem Wohlbefinden ihrer Kollegin erkundigt, und eigentlich hatten sie damit gerechnet, dass Jenny sich einen Tag zur Erholung frei nimmt. Doch sie wollte unbedingt bei dem Mordfall auf dem Laufenden bleiben, vor allem da Ben heute Abend in den Urlaub fliegen würde, und sie vermutlich dann direkt an Semirs Seite weiterermitteln würde. "Wir müssen nachher noch zur Chefin, wegen eurer gestrigen Schwimmstunde.", sagte Semir. "Und wegen der Fahndung." Kevin wartete einen Moment, bis Jenny das Büro verlassen hatte, um ihre Tasche ins eigene Büro zu legen. "Ich glaube, das können wir uns sparen.", sagte der Polizist mit der oft monoton klingenden Stimme. "Was soll das heißen?" "Ich weiß, wer es war. Ich habe den Wagen erkannt... es war der Gleiche, wie vor der Lagerhalle gestanden hat, in die mich Torben und Bastian damals gelockt haben. Sie wollten Jenny Angst machen, und ich habe sie dabei überrascht. Deswegen ist die Sache aus dem Ruder gelaufen." Wortlos und mit offenen Mündern starrten Ben und Semir ihren Kollegen an. "Und warum sagst du uns das heute erst? Dann hätten wir die beiden doch gestern schon festnehmen können! Das war Freiheitsberaubung, Bedrohung, vielleicht sogar versuchter Mord. Dafür gehen die in den Knast.", sagte Ben lauter und ungehaltener, als er eigentlich wollte. Aber auch Semirs Blutdruck erhöhte sich, und Kevin erschien ihm seltsam sorglos und beinahe... ja, beinahe locker.



    "Ich glaube nicht, dass die beiden abhauen. Die werden die gleiche Show abziehen, wie damals.", sagte er in ruhigem Ton, ohne auf Bens Erregung anzuspringen. "Du glaubst?" "Ich weiß, wenn es dich beruhigt." Semir betrachtete das Worte-Pingpong ein wenig besorgt. Er konnte Bens Ärger verstehen... und Kevin sollte für seine Gelassenheit eine verdammt gute Erklärung haben. "Torben und Bastian werden sich gegenseitig ein Alibi geben. Mir wird man genauso wenig glauben wie damals, vor allem nachdem die beiden vorgestern hier waren und mich provozierten und ich Bastian auf die Fresse gehauen habe. Und Jenny kannte die beiden vorher nicht, konnte sie also nicht erkennen oder identifizieren." "Du hast vorgestern was?", fragte Semir ungläubig... vermutlich war es passiert, als Jenny mit Bonrath beim TÜV war und sie selbst in der KTU. Doch Kevin ging auf die Frage nicht direkt ein. "Höchstens, wenn sie einen Fehler bei den Nummernschildern des Autos gemacht haben. Aber davon gehe ich nicht aus. Glaubt mir, ich würde den beiden auch gern an den Karren fahren. Aber das ist sinnlos." Der erfahrene Polizist, gesegnet mit einer sehr guten Menschenkenntnis, schien so etwas wie Resignation aus Kevins Stimme zu hören. Scheinbar hatte er sich damals sehr aufgerieben, um gegen die beiden nach der Scheinexekution vorzugehen, und es musste ihn sehr verletzt haben, dass ihm nur wegen seiner Vergangenheit niemand glaubte. "Es ist ja zum Glück nicht viel passiert.", setzte er noch leise hinzu. Ben packte Kevin am Arm, als dieser sich schon zu Tür drehen wollte. "Nicht viel passiert? Jenny wäre beinahe draufgegangen, hättest du sie nicht gerettet! Es waren Unbeteiligte bei der Verfolgungsjagd gefährdet! Wie willst du ihr das eigentlich erklären, hä?", giftete er und sah Kevin in die Augen, bevor er von Semir mit einem beruhigenden "Hey hey..." ein wenig zurückgehalten wurde. "Jenny ist der gleichen Meinung. Wir haben schon darüber gesprochen", war Kevins kurze wahrheitsgemäße Antwort, bevor die junge Frau ins Büro zurückkehrte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:30 Uhr



    Ben war von Semir nur schwer zu beruhigen, nachdem Kevin den Raum verlassen hatte. Ruhig sitzen war für den Mann mit der Wuschelfrisur jetzt nicht drin, er tigerte durch den Raum, wie er es immer tat wenn er aufgewühlt war. Für Kevin wäre es ein Leichtes gewesen, das aus seinem Büro zu beobachten... wenn es ihn interessiert hätte. Aber er und seine Kollegin waren nicht da, eine Verfolgungsjagd auf der Autobahn hatte sie in den Einsatz gerufen. Scheinbar eine Routinesache, denn noch forderten sie keine Verstärkung an. Semir machte sich in dieser Zeit noch Notizen aus dem besagten Fall, den Kevin betreut hatte... wovon der junge Polizist immer noch nichts wusste, dass sein älterer Partner sich die Akten genau angesehen hatte. Mit den Augen verfolgte er die Bewegungen seines besten Freundes.
    "Du machst mich nervös. Ich tacker dich gleich mit dem Hintern an den Stuhl.", sagte er irgendwann, weil er ständig zwischen Akten, Notizen und Ben wechselte. "Ich verstehs einfach nicht. Mit ein, zwei Hinweisen wäre es so leicht, diese beiden Arschlöcher hochgehen zu lassen. Die dürfen doch keine Polizeimarke mehr tragen. Was sie mit Kevin abgezogen haben, war schon hardcore... aber gestern... die hätten Jenny verrecken lassen!", polterte er so laut, dass sogar Andrea, die Wortfetzen mitbekam, den Kopf drehte und erstaunt in das Zimmer reinsah.



    "Gehts vielleicht noch ein bisschen lauter?", mahnte Semir an... schließlich wusste bisher niemand, dass die vier Polizisten wussten, wer dafür verantwortlich war. Die Chefin wusste bisher nur, was vorgefallen war und wollte auf Hinweise aus der KTU warten, die das Auto unter die Lupe nahmen. "Ich versteh auch nicht, dass du das einfach so hinnimmst.", gab Ben seinem besten Freund zur Antwort und nahm erneut den Weg vom Fenster zurück zu seinem Schreibtisch. "Ich nehme gar nichts hin. Aber ich breche jetzt auch keinen Streit vom Zaun. Im Prinzip hat Kevin auch Recht, die beiden werden sich gegenseitig ein Alibi geben. Wir müssen jetzt abwarten bis Hartmut irgendwas im Auto gefunden hat, und dann werden wir schon etwas unternehmen, ok?", wollte der erfahrene Polizist einen Mittelweg finden, zwischen Beschwichtigung und trotzdem, irgendwie Verständnis für Kevin aufzubringen.
    "Und wenn er nichts findet? Dürfen die beiden dann weiter versuchen, Leute einzuschüchtern, wie es ihnen passt?" Semir seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück, fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Seine Stimme wurde nun auch etwas lauter und resoluter, als müsse er seinen Sohn oder vorlauten Bruder jetzt zur Räson bringen... und das war ein Ton, der Ben natürlich gar nicht passte. "Ben, es ist doch gut jetzt. Was willst du denn von mir hören?" "Ich will von dir hören, dass wir uns jetzt in dein Auto setzen, dorthin fahren und die beiden Vollidioten festnehmen." "Ohne eine offizielle Aussage von Kevin und Jenny mit welcher Begründung?" "Na... dass wir sie erkannt haben... oder irgendwas."



    Semir stand kopfschüttelnd von seinem Platz auf. "Wir warten, bis Hartmut sich meldet! Wir gehen den offiziellen Weg, so lange er möglich ist. Und jetzt beruhig dich endlich! Wird Zeit, dass du heute abend in den Urlaub kommst.", sagte er deutlich, bevor er das Büro Richtung Toilette verließ. Schnaubend ließ sich der junge Polizist auf seinen Stuhl fallen und fuhr sich mit zwei Fingern übers Kinn. Wenn Kevin den beiden das durchgehen lassen wollte... er würde es nicht. Aber er wollte wissen, warum er so tatenlos blieb. Er hatte ein Trauma wegen seiner Schwester. Er flippte aus, als Jenny vergewaltigt wurde. Er befreite Annie unter Einsatz seines Lebens aus Bogota und es fiel ihm so schwer, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und jetzt hakte er das einfach so unter "Dummer-Jungen-Streich, und ist ja nichts passiert" ab? Und dass es weitaus dramatischer war, als Kevin und Jenny erzählt hatten, wusste der Polizist ja gar nicht.
    Sein Telefon klingelte. "Jäger? Morgen Hartmut... hast du was für uns?" Der Polizist lauschte der Stimme seines technisch begabten Kumpels, nickte einige Male. "Hmm... ja. Ja, das hört sich gut an.... hmm. Du Hartmut. Ich komme am besten gleich vorbei. Was? Nein, Semir hat noch Papierkram zu erledigen. Bis gleich." Dann legte er auf und dachte noch für einen Sekundenbruchteil nach, ob er Semir Bescheid sagen solle. Aber dessen Passivität und sein belehrender Ton nervte ihn, Ben dachte in diesem Moment mal wieder mit dem Bauch, statt mit dem Kopf. "Scheiss drauf...", sagte er und nahm seinen Autoschlüssel. Auf Andrea's Frage, wo er denn hinfahre, gab er nur ein kurzes "Was erledigen." zurück.




    Mordkommission - 8:30 Uhr



    Bastian schreckte bei jedem Türöffnen, bei jedem Telefonklingeln zusammen, als er bis halb neun alleine im Büro saß. Danach kam sein Partner Torben rein, der nicht ganz so blass aussah wie sein Freund. "Was ist mit dir los? Schlecht geschlafen?", fragte der und setzte sich mit einer Tasse Kaffee an seinen Platz. "Ja, schlecht geschlafen. Stell dir vor. Bei jedem Geräusch denke ich, das SEK stürmt meine Bude. Bei jedem, der hier reinkommt, denke ich dass es die Interne ist. Und bei jedem Telefonklingeln stelle ich mir vor, Frege ist dran und fragt, was wir schon wieder angestellt haben.", zischte der bärtige Schwarzhaarige mit nachdrücklichem, aber leisem Ton, während der großgewachsene Torben scheinbar weniger Skrupel an dem hatten, was sie gestern getan hatten.
    "Piss dich jetzt nicht ein. Wir machen alles so, wie besprochen." Sein Freund schüttelte den Kopf. "Wir sind zu weit gegangen. Wir hätten die Kleine einfach in der Wohnung lassen sollen, und abhauen. Das war völlig bescheuert. Sie wäre im Wasser verreckt, wir haben sie einfach im Auto gelassen." Er wischte sich eine Strähne seiner Haare aus dem Gesicht. "Pass mal auf... wir haben uns beide dazu entschieden. Ja, es ist scheisse gelaufen, aber wir müssen jetzt da durch.", herrschte Torben ihn an, so dass Bastian die Lippen aufeinander presste.



    "Hey... Bastian.", klang der Ton in Torbens Stimme einen Moment später versöhnlicher. "Wir müssen jetzt die Nerven behalten. Vergiss nicht... wir sind die Guten. Wir sorgen dafür, dass solch ein Gesindel aus dem Polizeidienst verschwindet. Wenn schon die Vorgesetzten nichts tun. Wir müssen ihn drankriegen, bevor er uns drankriegt, ok? Aber dafür müssen wir jetzt cool bleiben. Okay?" Bastian sah aus dem Fenster, seine Finger spielten nervös mit einem Stift, der auf seinem Schreibtisch lag. "Okay??", fragte sein Partner nochmal nach, so dass er Bastian schließlich doch zum Nicken brachte. "Ja, ok." Torben nickte ebenfalls zufrieden. "Wir haben beide ein Alibi. Ich hab das Auto noch gestern Abend als gestohlen gemeldet. Kevin wird man nicht glauben, und seine Freundin hat er beeinflusst um uns an den Karren zu pissen. Schließlich hat er es auf uns abgesehen, wir der Schlag beweist."
    Torbens Telefon gab Laute von sich, und der Blonde nahm den Hörer in die Hand. "Ja? Morgen, was kann ich für dich tun?" Er schien aufmerksam zu zu hören, und sein Blick wurde ernst, während er zu Bastian sah. "Meins? Ja, das hab ich gestern als gestohlen gemeldet... wurde es gefunden?", fragte er gespielt ahnungslos. Doch scheinbar schien er etwas am Apparat zu hören, was ihn erst stutzig, dann wütend, und dann neugierig machte. "Das ist ja interessant." Bastian hing ihm gegenüber an den Lippen. "Ja... ja, das können wir machen. Wann? Eine Stunde? Ja alles klar. Bis dann." Dann beendete er das Gespräch. "Wer war das?", fragte sein Partner sofort neugierig. "Einer der Autobahnbullen. Wie erwartet haben sie etwas im Auto von mir gefunden." "Ja und? Du hast doch gesagt, dass das Auto gestohlen wurde." "Klar... aber natürlich ist Kevin auch nicht blöd. Der hat seinen Kollegen davon erzählt, dass er uns natürlich erkannt hat." Bastian zog verwirrt die Augen nach oben. "Und jetzt? Was wollte der Typ?" "Sich mit uns treffen. Er hat Andeutungen gemacht, dass er Dinge gegen Kevin in der Hand hat, um ihn fertig zu machen... und er will mit uns reden. Also reden wir mit ihm... in einer Stunde."
    Bastian schüttelte den Kopf. "Das ist doch eine Falle..." "Was soll das für eine Falle sein? Der könnte mit den Hinweisen doch auch gleich mit der Kavallerie hier auflaufen, wir sind doch nicht auf der Flucht. Hör jetzt endlich mit deiner Paranoia auf...", sagte Torben und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:50 Uhr



    Semir staunte nicht schlecht, als er zurück in sein Büro kam und Bens Stuhl leer war. Die Jacke hing dort noch, doch der Autoschlüssel der normalerweise immer auf seinem Schreibtisch lag, fehlte. Der erfahrene Kommissar zog die Stirn in Falten und stand für einen Moment verwirrt in dem kleinen Büro. Dannn drehte er sich um und ging zu seiner Frau Andrea. "Sag mal... weißt du wo Ben ist?" Die Sekretärin der Chefin schaute von ihrem Monitor auf. "Der hat gesagt, er müsse noch etwas erledigen und ist vor fünf Minuten raus." Semir stützte sich mit zwei Händen auf die Tischplatte und seufzte. "Hat er gesagt, wohin?" Seine Frau schüttelte mit dem Kopf und fragte: "Wieso? Ist etwas?" "Nein, nein... alles ok.", wiegelte er mit einer kurzen Handbewegung ab und ging mit schnellen Schritten nach draussen.
    Er hätte es sich eigentlich denken können... Bens Parkplatz war leer, der Mercedes war weg. "So ein Idiot... so ein Idiot.", murmelte Semir wütend und griff sein Handy. Natürlich ging er jetzt nicht dran, er ging nie ans Telefon wenn er irgendwelche Flausen im Kopf hatte und einen Alleingang durchzog. "Wie kann man nur so stur sein, in dem Alter." führte der Polizist Selbstgespräche... und wären seine alten Partner gerade bei ihm, die mit ihm zusammen in dem Alter von Ben waren, würden sie ihn auslachen. Schließlich war er damals ähnlich.




    Autobahntankstelle - 9:20 Uhr



    Die Verfolgungsjagd, zu der Jenny und Kevin gerufen wurden, war schneller vorbei als gedacht. Nach nur wenigen Kilometer, als sie den, mit überhöhter Geschwindigkeit und vor zwei Streifenwagen flüchtenden Wagen eingeholt hatten, konnte Jenny mit erstaunlicher Fahrzeugbeherrschung und unter Unterstützung der beiden Kollegen den Flüchtenden sicher stellen. Ein junger Mann, gerade mal 21, war bei einer Polizeikontrolle nervös geworden, weil er drei Joints im Ablagefach liegen hatte. Kevin verfolgte die Verhaftung, die die uniformierten Kollegen dann vornahmen, mit Zurückhaltung. Hätte er den Jungen angehalten, hätte er sich vermutlich einen der drei Joints aushändigen lassen, um ihn heute abend zu probieren, hätte ihm geraten, die Dinger nicht offen liegen zu lassen und ihn dann weiterfahren lassen. Wäre der Joint gut gewesen, hätte er sich vielleicht noch nach seinem Dealer erkundigt. So hatten sie für eine sehr kleine Tat, sehr viele Menschen bei der Verfolgungsfahrt in Gefahr gebracht.
    Die beiden Polizisten mussten noch einige Kilometer fahren, um an einer Abfahrt drehen zu können und wieder Richtung Dienststelle fahren zu können. Dabei blinkte eine warnleuchte an Jennys BMW auf, die unmissverständlich riet, die nächste Tankstelle aufzusuchen.



    Nur wenige Kilometer später setzte die junge Polizistin den Blinker und bog an einer Tankstelle direkt an der Autobahn ab. Sie steuerte dabei ihren Dienstwagen dicht an die Zapfsäule und sah ihren Partner keck an. "Einmal Super Plus bitte, volltanken." Kevin war froh, dass sie nicht zuviel über gestern nachdachte, dass es ihr gut ging. Mittlerweile härtete Jenny ab, wenn man bedenkt was ihr in den letzten Monaten alles zugestoßen war. Sie versuchte zu verdrängen, zu vergessen... und wenn es sie mal überkam, wenn sie dringend reden wollte... dann rief sie Kevin oder Ben an. Ben in letzter Zeit weniger, weil sie Befürchtung hatte, Carina würde vielleicht eifersüchtig werden. Und weinen ließ es sich an Kevins Schulter einfach besser.
    "Wie gewünscht.", gab Kevin zur Antwort und stieg aus dem BMW, um den Zapfhahn in die, dafür vorgesehene Öffnung einzuführen. Während die beiden Zähler an der Zapfsäule unaufhaltsam um die Wette liefen, lehnte sich der junge Polizist mit dem Po ans Auto. Er hatte Bens Erregung von eben noch im Kopf, und er konnte sie absolut nachvollziehen. Natürlich war es ein Unding, nichts gegen Torben und Bastian zu unternehmen... aber er wollte sich und vor allem Jenny die Schmach ersparen. Die Schmach, wenn einem niemand etwas glaubt, wenn sich mehrere Leute zusammen tun, um einen Einzelnen als Lügner darzustellen, so wie es Saskia und die beiden Typen damals taten. Nein... das musste man anders regeln.



    Sein Handy riss ihn aus seinen Gedanken. "Ja?", meldete er sich, das Warnschild "Handys verboten" an den Zapfsäulen genüßlich ignorierend. "Hier ist Kalle. Du hast Post bekommen?" Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, steckte Kevin den Zapfhahn zurück an die Säule und zog die Augenbrauen nach oben. "Na und? Bekomme ich öfters. Du hast mich noch nie angerufen, wenn ich Post bekomme." Er nahm das Handy wieder normal in die Hand und begab sich auf den Weg Richtung Tankstellengebäude. "Naja... normalerweise kriegst du auch keine Bilder geschickt. Und da habe ich mir gedacht, ich rufe dich mal an. Ich kann es auch sein lassen.", polterte Kalle in ihrer gewohnt rauen Art, unter der Kevin aufgewachsen war.
    Doch als sie das Wort "Bild" wählte, blieb Kevin wie angewurzelt stehen. "Bild? Welches Bild?" Er stand gerade zwischen den beiden Zapfsäulen der ersten Reihe, musste noch über eine Fahrspur, bevor er das Gebäude erreichte. "Ein Gruppenbild. Du und einige andere... scheint schon älter zu sein, du siehst noch jünger aus. Drei von denen sind durchgestrichen, mit rotem Filzstift. Du bist umkreist." Kevin spürte, wie sein Herz schneller schlug. "Ich hab mir gleich gedacht, dass da was nicht stimmt? Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"



    Mit dem Handy am Ohr, ernstem Blick, sah Kevin sich um. Irgendwo ein verdächtiges Auto? Irgendwo eine Person, die sich im Verborgenen hielt? "Da steht ausserdem noch etwas von "Finale"... keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Kevin?" Wenn man den jungen Polizisten von aussen mustern würde, könnte man meinen, er hätte vergessen was er als nächstes tun wolle. Doch Kevin holte gerade die Vergangenheit ein... alle drei Morde, so akkurat wie es ging, nachgestellt. Alles alte Fälle... und es waren tatsächlich nur die vier Ermittler seines Falles. Er konnte niemand Verdächtigen sehen. "Kevin? Kevin, bist du noch dran?", hörte er Kalles Stimme ganz weit weg. "Ja, bin ich. Dannke für die Info, ich komme das Bild gleich abholen."
    Ohne Verabschiedung legte er auf. Obwohl er niemanden sehen konnte... er traute ihm nicht. Er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Es war zu gefährlich. Kevin drehte auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten zurück zu Jennys BMW. "Was hast du? Hast du schon bezahlt?", fragte sie verwirrt, während ihr junger Partner mit schnellen Fingern über sein Handy strich. "Kevin, was ist los?", fragte Jenny erneut, als keine Antwort kam. Kevin hatte die Nummer der Tankstelle gefunden und wählte: "Hey... schau mal aus dem Fenster zu dem grauen BMW." Er konnte erkennen, dass der Kassenwart neugierig aus dem Fenster sah. "Ich leg dir jetzt nen 100er unter den Wassereimer." Dabei hielt er einen grünen Hunderter, gut sichtbar, nach oben. "Rest ist Trinkgeld." "Was soll der Mist. Komm rein und bezahl, wie jeder andere auch.", war die ungehaltene Antwort. "Ich bin von der Polizei, und wir haben es eilig. Komm das Geld holen, oder warte, bis es jemand anders holt." Dann legte er auf und deutete Jenny an, los zu fahren. "Erst, wenn du mir sagst, was du hier gerade spielst.", sagte die junge Frau nun kratzbürstiger und ihr Partner nickte. "Unterwegs... ich sags dir unterwegs."

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Rastplatz - 9:30 Uhr



    Pünktlich wie eine Schweizer Uhr rollte der Mercedes-Benz, ganz in Schwarz, zum vereinbarten Treffpunkt auf den Autobahnrastplatz. Bereits von weitem konnten Torben und Bastian den grauen Markenkollegen parken sehen, den jungen Polizisten mit der längeren Wuschelmähne direkt daneben. Bastian, der scheinbar nervöser war als Torben selbst, atmete tief durch. Er vermutete immer noch eine Falle hinter der ganzen Sache, und war entsprechend auf der Hut. Trotzdem konnten sie es jetzt und hier auf keinerlei Konfrontation ankommen lassen... immerhin war Ben ein Kollege. Ja, Ben sahen sie im Gegensatz zu Kevin als einen Polizeikollegen an. Eigentlich müsste er auf ihrer Seite stehen. Torben parkte den Wagen direkt neben dem des Autobahnpolizisten und beide stiegen aus.
    Ben hätte vermutlich einen Handschlag oder sonstigen Gruß vermieden, aber Torben hielt ihm die Hand hin. So schlug er ein... nach aussen wollte der Polizist erst einmal Sympathie zeigen, weshalb sich auf seinem Gesicht auch nicht die Wut auf die beiden Typen spiegelte, sondern ein freundliches Lächeln. "Was verschafft uns die Ehre dieses Treffens?", fragte Bastian und Ben blickte den bärtigen Mann an, der seine Hände verkrampft tief in die Jeanstasche gesteckt hatte. Seine Nervösität konnte er quasi spüren... kein Wunder, nach der Nummer, die sie gestern abend gedreht hatten.



    Ben blinzelte in die warme Sonne, die diesen Morgen schon unglaublich erwärmte. Sicher würde es in den Schulen der Umgebung heute hitzefrei geben. "Ihr wart nicht besonders gründlich gestern.", sagte er beinahe kryptisch und beobachtete die Reaktionen. Während Bastian sofort zu Boden sah, hielt Torben kalt den Augenkontakt. "Wenn ihr so eine Nummer abzieht, solltet ihr alle persönlichen Gegenstände aus eurem Auto nehmen." Torbens Mundwinkel zuckten. Bluffte der Typ? Wie sicher war er sich, dass er die beiden hierher bestellte... oder hatte Kevin seine Hände im Spiel? "Was habt ihr denn gefunden?" Ben zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche, das er sich bei Hartmut ausdrucken hat lassen. "Es ist zwar ziemlich verschwommen durch das Wasser... aber mit der modernen Technik der KTU..." er vollendete den Satz mit einem Schulterzucken.
    Auf dem Papier hatte Hartmut es geschafft, eine, auf Hartpappe gedruckte, personalisierte Eintrittskarte wieder halbwegs lesbar zu machen. Darauf stand Bastians voller Name. Selbst unter seinem Bart konnte man erkennen, wie er sich auf die Lippen biss. "Der Typ von der KTU schuldet mir etwas. Er würde es also verschwinden lassen, und ausser Kevins Aussage würde euch nichts belasten. Und ich denke mal, einem Polizisten mit seiner Vorgeschichte wird man nicht viel glauben... oder?" Torben nickte. "Da hast du verdammt Recht... so war es auch geplant." Es war so etwas wie ein Geständnis, und Ben lächelte.



    "Also mal abgesehen davon, dass ich nicht damit einverstanden bin, dass ihr meine Kollegin fast absaufen habt lassen...", sagte er und konnte seinem Drang, sich ein wenig zu bewegen beim Reden, nicht widerstehen. "... bin ich bereit euch, gegen eine entsprechende Gegenleistung, zu helfen." Dabei sah er Bastian und Torben abwechselnd an. "Gegenleistung?", wiederholte Torben misstrauisch und hob die Augenbrauen. "Erst mal will ich von euch wissen... warum das Ganze? Was habt ihr gegen den Typen?" "Der Typ gehört nicht zur Polizei!", kam es von Bastian wie aus der Pistole geschossen und Ben sah den Mann mit Bart verwundert an. War dieser doch bisher sehr still und zurückhaltend, während sein blonder Partner sofort per Handschlag auf Ben zu kam, so preschte er mit dieser Aussage jetzt hervor. "Als Polizist sollte man gewisse Werte einhalten. Nichts davon hält Kevin ein. Ich weiß nicht, ob du seine Vergangenheit kennst, aber eigentlich ist das, was er bei euch schon gedreht hat, auch genug." Ben zuckte, gespielt unwissend, mit den Schultern. "Was ist denn seine Vergangenheit?" Die beiden Mordermittler sahen sich an. Sie kauften Ben die Show tatsächlich ab, denn der junge Polizist war überzeugend. Schließlich war Kevin ein Typ, unnahbar und verschlossen. Sie rechneten nicht damit, dass er sich je jemandem geöffnet hatte und so glaubten sie Ben seine Unwissenheit.



    "Wir haben uns damals, als er bei uns war, über ihn erkundigt. Er soll von der Straße kommen.", begann Torben mit ernster Stimme. "Das muss ja erst mal nichts heißen.", warf Ben sofort ein, und spürte, dass er ablehnend gegenüber den beiden wurde... was er erstmal nicht wollte, denn er brauchte Informationen. "Bandenkriminalität, Drogen, Körperverletzung... die ganze Palette. Wir haben seinen Namen in mehreren Akten des Staatsschutzes gefunden. Und wir fragen uns bis heute, wie so jemand Polizist werden konnte.", zählte der Blonde auf. Scheinbar wusste er sogar noch ein bisschen weniger als Ben... nämlich dass Kevin zu der Zeit bei der Mordkommission sogar noch hochgradig drogenabhängig war. "Er stand sogar selbst im Verdacht, seine Schwester im Rausch umgebracht zu haben. Dafür gab es Hinweise." Und Bastian setzte hinzu: "Ich würde ihm das auch zutrauen." Bens Augen verengten sich für einen Moment, und er brachte alle Beherrschung auf, jetzt nicht seinem Herzen den Vortritt zu lassen. "Was für Hinweise?", fragte er interessiert. "Laut den Akten war das Messer, das seine Schwester tötete, ein anderes als das, mit dem man ihn niederstach. Es ist also möglich, dass er seine Schwester zuerst getötet hat und danach von jemandem erwischt wurde, der ihn dann niedergestochen hat... wer auch immer das war. Jedenfalls wurde nie ein Mörder gefasst.", erklärte Torben. "Wart ihr mit dem Fall damals betraut?" Beide schüttelten den Kopf, damals waren sie noch nicht bei der Mordkommission, hatten den Polizeidienst erst angetreten. "Aber wir haben uns die damaligen Akten angesehen."



    Bens Herz schlug in seiner Brust und er nickte. "Das ist harter Tobak.", sagte er mit anerkennendem Unterton. "Und wir sind uns sicher, dass er immer noch mit Kriminellen zusammenarbeitet." Wieder hob Ben die Augenbrauen. "Und wie kommt ihr darauf? Was meint ihr mit "zusammenarbeitet"." "Dass er Informationen weitergibt. In den letzten Jahren sind mehr Drogenrazzien gefloppt als jemals zuvor... wenn du verstehst.", sagte Torben und Bastian ergänzte: "Wir haben immer mal das ein oder andere Gespräch mitbekommen, als er noch bei uns war." Ben schluckte... denn er wusste, dass das stimmte. Kevin hatte es damals selbst zugegeben. "Und natürlich der Tankstellenüberfall, den er damals als Verfahrensführer betreut hat." Jetzt stellten sich bei dem jungen Polizisten alle Gehörgänge auf Empfang... denn genau das war der Fall, den er heute morgen mit Semir noch durchgelesen hatte. "Tankstellenüberfall?" "Eine Kollegin der Finanzermittler geriet zufällig in einen Tankstellenüberfall und wurde erschossen. Der Täter wurde nie gefasst und wir sind uns sicher, dass Kevin seine Hände mit im Spiel hatte. Es wurden Fehler bei den Ermittlungen begangen, die mehr als auffällig waren." Der junge Polizist schluckte und sah zwischen den beiden Männern hin und her. "Ich sehe, er hat nicht viel über sich erzählt... wundert mich aber auch nicht.", merkte Bastian an, der jetzt lange das Wort Torben überlassen hatte. "Sind das jetzt alles Vermutungen von euch, oder habt ihr auch Beweise?", fragte Ben dann, als Torben scheinbar mit seinen Erzählungen fertig war. "Wenn wir Beweise hätten, müssten wir nicht unseren Job riskieren... dann wäre Kevin längst aus dem Polizeidienst entfernt worden."



    "Moment mal...", sagte Ben und reckte den Zeigefinger in die Luft, wie ein Lehrer. "Ihr riskiert euren Job, um Kevin aus dem Polizeidienst zu bekommen, weil er in euren Augen kein Polizist ist?" Torben nickte langsam. "Wir wollen ihm damit klarmachen, dass er nicht erwünscht ist. Er soll irgendwas machen, was zu ihm passt... früher oder später wird er sowieso hinter Gitter landen. Und so, wie du dich eben am Telefon angehört hast, denkst du genauso." "Deswegen auch damals, die Scheinexekution?" Torben und Bastian schauten überrascht... Ben hatte sich verraten. Wäre Kevin gegenüber den beiden Kollegen so verschlossen, wie sie es eben noch vermuteten, hätte er davon nie erzählt. "Er hat davon erzählt?", fragte Torben und sein Blick wurde misstrauisch, während sein Partner instinktiv einen Schritt zurückging.
    Ben nickte nur, ohne auf die Frage zu antworten, und drehte sich in Richtung seines Autos. "Hey, moment. Was ist mit dem Beweisstück? Wir haben dir deine Fragen beantwortet.", sagte Torben und wollte Ben, im ersten Affekt, am Ärmel festhalten... doch den Griff schüttelte der flinke Polizist schnell ab. "Ihr seid echt dümmer, als ihr ausseht...", sagte der Polizist beim Einsteigen und warf Torben den zerknüllten Zettel durch das offene Fenster vor die Füße. "Es gibt kein Beweisstück. Ich habe die Karte gefälscht und wollte von euch Flachzangen einfach nur wissen, was euch antreibt, meinen Partner zu quälen. Und seid euch gewiss: Das nächste Mal krieg ich euch am Arsch." Mit dieser Drohung startete Ben den Motor seines Dienstwagens, und fuhr vom Rastplatz.



    Torben und Bastian blieben für einen Moment in den Auspuffgasen stehen. "Scheisse... scheisse!!", fand Bastian als Erstes die Sprache wieder. "Jetzt beruhig dich doch mal, verdammt." "Mann... ich weiß nicht, ob ich nicht doch diese Karte im Auto hatte. Wie kommt der darauf?" "Vielleicht haben sie die Karte gefunden, konnten aber nichts mehr darauf erkennen, und der Typ hat einfach geblufft. Mann, wenn die einen Beweis hätten, hätte der Typ uns doch gleich verhaften lassen. Und was bringt es ihm, wenn er jetzt weiß, was wir von Kevin wollen? Gar nichts bringt es ihm." Er packte seinen Freund am Ärmel. "Wir müssen jetzt einfach ruhig bleiben... und ein wenig Gras über die Sache wachsen lassen. Auch wenn Ben einiges über Kevin bereits wusste... die Sache mit dem Tankstellenüberfall wusste er nicht, das habe ich gemerkt." Er sah dem Mercedes für einen Moment hinterher. "Vielleicht erledigt sich die Sache für uns jetzt."
    Ben hatte sich die Finger ins Lenkrad verkrampft. Er wollte nicht glauben, was die beiden ihm gerade erzählt hatten. Aber verdammt: Warum hatte Kevin ihnen nicht von dem Fall erzählt. Er hätte doch selbst drauf kommen müssen, nachdem Plotz und Saskia zwei der vier Beamten, die an dem Fall beteiligt waren, getötet wurden. Man hätte vielleicht das dritte Opfer vermeiden können... vor allem das Kind! Wenn er nur geredet hätte! "Du verdammter Idiot! Du verdammter Idiot!", rief er für sich selbst gegen die Frontscheibe seines Wagens und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. Und ihm brannte die Frage auf der Zunge, welche Gründe es wirklich waren, dass der Mörder der Polizistin nie gefasst wurde...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 9:30 Uhr



    "Ich will jetzt sofort wissen, was los ist." Jennys Stimme klang hektisch, sie klang beinahe schon ein wenig vorwurfsvoll. Kevin sah auf dem Beifahrersitz in den Rückspiegel, doch er konnte nicht feststellen, ob ihnen ein Auto von der Tankstelle folgte. Natürlich nicht... schließlich wollte der Killer an der Stelle zu schlagen, wo auch der Mord in dem Fall selbst passiert ist. Zumindest ansatzweise. Also brachte es erstmal nichts, Kevin zu folgen... voll war das Auto ja jetzt. "Kevin, du machst mir Angst. Was ist los? Warum wolltest du nicht in das Tankstellengebäude, und mit wem hast du telefoniert?" Der junge Polizist warf seiner Kollegin und Ex-Freundin einen kurzen Blick zu, nachdem er wieder normal durch die Frontscheibe geradeaus blickte. Die Striche der Fahrbahnmarkierung flogen links am Auto vorbei und für einen Moment beobachtete er sie, um Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu ordnen.
    "Ich... Kalle hat mich angerufen. Sie hat im Briefkasten das Gruppenfoto gefunden." Ihn traf Jennys geschockter Blick und sie schien das Lenkrad noch fester zu umklammern als vorher. "Was? Das heißt... jetzt bist du in der Schusslinie?" Gleichzeitig war sie aber auch erstaunt. Warum nahm ihn das, zumindest scheinbar in diesem Augenblick an der Tankstelle so sehr mit, dass er schnellstmöglich wieder im Auto und auf der Autobahn verschwand? Heute morgen, als er merkte dass er von Anis Leuten observiert wurde, blieb er doch völlig cool und gelassen. Und ungefährlicher als dieser Killer war der tunesische Unterweltboss sicher nicht.



    Kevin wog den Kopf hin und her. "Zumindest scheine ich der letzte zu sein. Auf dem Foto steht "Finale"." Jenny starrte auf die Fahrbahn und für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr würde schwindelig werden. "Was... weißt du was das bedeutet?" Der junge Polizist hatte das rechte Knie angewinkelt, den Ellbogen darauf gestützt und fuhr sich mit gleicher Hand kurz übers Gesicht. "Kevin?", drängte die junge Frau neben ihm auf eine Antwort. Ein untrügliches Gefühl, vielleicht war es weibliche Intuition ließ sie vermuten, dass er gerade eine Antwort im Kopf strickte, die nichts, oder nicht viel mit der Wahrheit zu tun hatte. Oder malte sie sich das gerade aus, weil er in den letzten Wochen so offen und ehrlich zu ihr war? Wollte sie nicht wahr haben, dass er sich geändert hatte?
    "Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hat es doch mit dem Fall zu tun, den ich damals nicht auflösen konnte. Daran waren als Ermittlungshelfer Plotz, Saskia und Frederik Hollinger beteiligt... und ich als Verfahrensführer." Die Geschichte hörte Jenny gerade das erste Mal. Sie erinnerte sich daran, als er bei der Besprechung sagte dass er seine Fälle aus der Tabelle gelöscht hatte, weil sie ja irrelevant waren. Er hätte kein Foto erhalten... noch. So war sein Wortlaut. Sie hatte es genau im Ohr und wollte ihn später darauf ansprechen. Doch dann kam die Sache mit dem Leichenfund von Frederik und dessen Kind... und alles geriet in den Hintergrund.



    "Hast du das geahnt? Als du den Fall aus der Tabelle gelöscht hast?", fragte sie ohne Umschweife. "Nein! Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich doch selbst sofort auf Frederik gekommen.", sagte er sofort und merkte einen Stich im Magen. Doch er verdrängte ihn mit rationalem Denken. Als er seinen Fall am morgen betrachtet hatte, und alte Erinnerungen aufkamen, war Frederik laut Meisner bereits tot. Sie hätten ihn und sein Kind nicht retten können. "Vorher waren doch nur Saskia und Plotz betroffen. Die beiden haben unzählige Fälle gemeinsam bearbeitet, da deutete doch noch gar nichts auf ein Muster hin.", rechtfertigte er sich, nachdem er sich von Jenny ein wenig bedrängt fühlte... ungewollt von Jennys Seite aus. Doch sie war aufgeregt, die Sache gestern, die Angst und jetzt war wieder Kevin im Fadenkreuz. Es schien, als kämen die beiden niemals zur Ruhe.
    Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen und sich wieder auf die Straße zu konzentrieren. "Und wieso bist du jetzt plötzlich so nervös geworden? Dass Anis dich scheinbar beschatten lässt, bringt dich ja auch nicht aus der Ruhe.", fragte sie dann nach einigen Momenten der Stille wieder. "Die Morde passierten bisher alle an Orten, wie alte Fälle der Ermittler. Und mein Fall handelte von einem Tankstellenüberfall, bei dem eine Frau erschossen wurde.", sagte er ohne Umschweife und sah Jenny wieder kurz von der Seite an. Er sah ihren Blick... Misstrauen, Skepsis... als würde sie es ahnen. Als würde sie es wissen.



    Jenny biss sich auf die Lippe, als das Schweigen wieder einkehrte. Sie war sich sicher, dass er etwas verheimlichte. Sie wusste nur nicht was. "Warum habt ihr den Fall damals nicht gelöst?" Der junge Polizist biss die Zähne aufeinander. Verdammt, er wollte nicht darüber sprechen. Über diesen Fall, den er versuchte in seinem Unterbewusstsein zu unterdrücken. Abzuhaken. Nicht mehr dran zu denken, was ihm der Ehemann der Frau an den Kopf warf, als er ihm sagen musste, dass der Fall zu den Akten gelegt werde, nachdem sich alle Spuren im Sand verliefen. Dass es für jeden Verdächtigen entlastende Indizien und Beweise gab. Dass es bei keinem der Verdächtigen für eine Strafbefehl, für eine Anklage gereicht hatte. "Wie kann das sein? Es gibt doch Hinweise, Indizien. Es gibt doch sogar ein Phantombild." hatte er mit fassungsloser Stimme gesagt. "Was sind sie nur für ein Polizist??", hatte er geschrien, bevor er Kevin niederschlug, bevor Plotz eingreifen konnte.
    "Kevin??" Es war, als schreckte er aus einer Trance hoch. War er eingeschlafen? "Warum gibst du mir keine Antwort?", fragte Jenny und ihre Stimme wurde immer gereizter, je näher sie sich der Dienststelle näherten. Kevin schüttelte zaghaft den Kopf. "Ich weiß nicht mehr genau. Es gab wenig Hinweise, wir hatten ein oder zwei Verdächtige, auch mit Phantombild. Aber wir haben ihn nicht gefunden. Der Mörder war wie vom Erdboden verschluckt, und die einzigen Verdächtigen hatten klare Beweise dafür, dass sie es nicht waren. Alibis, kein Motiv, es wurde kein Geld und kein Fluchtauto gefunden." Seine Rechtfertigung hörte sich plausibel an, und doch kam der jungen Frau ihr Ex-Freund plötzlich zerbrechlich vor.



    Die Strecke zog sich wie Kaugummi, bis Jenny endlich die Abfahrt zur Dienststelle nahm. Sie spürte ein Übelkeitsgefühl und es hatte nichts mit dem geschluckten Rheinwasser von gestern zu tun. Sie hasste dieses Gefühl, das sie eigentlich gar nicht mehr haben wollte. Er war wie ein Fremder. Er war nicht ehrlich... sie konnte es spüren, fühlen... weil er nämlich gestern und vorgestern ehrlich zu ihr war. Und da hatte es sich anders angefühlt. Er wirkte vertraut, wie ein offenes Buch und Jenny konnte jede Faser der Empfindung bei Kevin spüren. Jetzt war er verschlossen. Er musste sich jeden Satz aus der Nase ziehen lassen. Er dachte vor jeder Antwort nach. Fast wollte sie behaupten, dass das schlechte Gewissen aus ihm spreche. Jemand, der Kevin nicht so gut kannte wie Jenny, wären all diese Dinge niemals aufgefallen, denn nach aussen wirkte er, wie immer, stoisch ruhig. Nur, dass er vor den Antworten nachdachte.
    Die junge Polizistin beobachtete ihn für einen Moment, als er ausstieg und in seinem karierten Hemd mit den abgetrennten Ärmel zum Eingang ging. Wie der warme Wind kurz Besitz über seine abstehenden Haare ergriff. Plötzlich war ihr Kevin wieder fremd. Ganz anders als gestern. Sie konnten den Gedanken nicht verhindern. Plötzlich war er wieder wie der Mann, vor dem sie nach Hamburg geflohen war.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Gefängnis - 10:00 Uhr



    Er hat endlich was gefunden - das waren die Gedanken, die Jerry durch den Kopf gingen, als er von einer Wache gerade aus seiner Zelle gerufen wurde. Es sei Besuch für ihn da. Das Lächeln blieb dem Ex-Punk im Halse stecken, als er den Besucherraum betrat und an dem freien Tisch, auf den der Wärter zeigte, ein ihm ... leider ... bekanntes Gesicht saß. Es lächelte überheblich, zupfte sich einmal kurz am Bart und schien, symbolisch, die Arme auszubreiten. "Jerry... lange nicht gesehen." Dessen Miene vereiste. "Ich opfere meine wertvolle, vermutlich letzte Besuchszeit, mit dir?", fragte er ohne Begrüßung und drehte sich zum Wärter um. "Bring mich wieder zurück." "An deiner Stelle würde ich mich kurz mit mir unterhalten. Dauert auch nicht lange."
    Jerry verabscheute Anis. Er hatte den Jungen schon gekannt, kurz bevor er wegen der Drogendealerei in den Knast gegangen war, als er sich von der Straßengang skrupellos nach oben gearbeitet hatte. Immer wieder hatte es auch Knatsch zwischen Jerrys Punks und der Gang von Anis gegeben, bis hin zu hässlichen Schlägereien. Nein, er hatte dem Typ nichts zu sagen, vor allem weil er aus Knastgeschichten auch ziemlich gut über Anis jetzige Geschäfte informiert war. Trotzdem ließ er sich dem Mann gegenüber nieder und wollte wissen, was er ihm so wichtiges zu sagen hatte, weshalb er den Weg ins Gefängnis auf sich nahm.



    "Ich habe gehört, du steigst demnächst ausserhalb dieser vier Wände ins Geschäft ein? Eigener Laden, Boxschule und so weiter?", begann Anis, als würden sie Smalltalk unter Freunden führen. "Alter, das find ich echt gut. Können sich meine Jungs ein bisschen bei dir fit halten." Jerry hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, als würde ihn das Geschwätz des Tunesiers gar nicht interessieren. "Woher du auch immer weißt, in welches Geschäft ich einsteigen will...", begann er mit gleichgültig klingender Stimme, bevor er von Anis unterbrochen wurde: "Ich muss im Immobiliengeschäft immer auf dem Laufenden sein." "... werden sich deine Jungs ganz sicher nicht bei mir fit halten. Ich bilde nämlich keine Schläger und Schutzgeldeintreiber aus, sondern Boxer. Jugendliche... und keine Knalltüten." "Das wäre aber sehr schade. Sonderpreise von dir, und es gäbe Sonderpreise von mir."
    War der Tunesier wirklich so naiv, dachte Jerry. Wollte er gerade ihm drohen? Der schlagkräftige Ex-Punk war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er würde sich garantiert nicht von diesem dahergelaufenen Tunesier einschüchtern lassen. Er hatte immer noch Freunde da draussen... und Kevin. "Glaubst du wirklich... allen Ernstes... du könntest bei mir Schutzgeld erpressen?", fragte er rhetorisch und lachte herzhaft auf. "Das ist gut... das ist echt gut." Anis verzog keine Miene und wartete, bis Jerry fertig gelacht hatte. Es war fast schon diebische Vorfreude, gleich das Gesicht des Ex-Punks zu sehen.



    "Schutzgeld ist so ein böses Wort, Alter. Ich würde es eher... Schweigegeld nennen." Jerrys Mundwinkel zogen sich für einen Moment zusammen, seine hohe Stirn legte sich in Falten. Dagegen wurde Anis Grinsen breiter, überlegen... fast schon teuflisch. "Oder willst du etwa, dass ich deinem besten Freund die Wahrheit sage?" Die Miene des Gefängnisinsassen versteinerte. Es war noch kein Eingeständnis, schließlich konnte Anis bluffen... aber Jerry wusste, dass der Gangsterboss niemand war, der bluffte... warum sollte er? "Weißt du Jerry... ich habe viele Kontakte. Mir wird wirklich viel erzählt, denn ich habe überzeugende Argumente dass sich gewisse Leute an gewisse Dinge erinnern. Leute, die dich kennen. Leute, die wissen dass du in Wirklichkeit kein so leuchtendes Vorbild für deine Jungs warst."
    Das Herz von Jerry pochte fest gegen den Brustkorb. "Mal im Ernst... hin und wieder in den Puff gehen ist ja ok. Aber dann noch zocken, alles was du auf deinen paar Raubzügen und deiner Dealerei damals eingenommen hast. Sich bei Peter Becker Geld leihen." Gespielt mitleidig schüttelte Anis den Kopf. "Das ist enttäuschend, Jerry. Sehr enttäuschend." "Wer hat dir das erzählt?", fragte Jerry mit verstockter Stimme, in der nichts mehr von seiner Lockerheit, seiner Schlagfertigkeit und seiner Überlegenheit hatte.



    "Weggefährten von dir. Leute, die jetzt auch Geschäfte haben und ganz gesprächig werden, wenn man ihnen ein Jahr Schutz umsonst anbietet." Der Ex-Punk wollte seinem Gegenüber das Grinsen aus dem Gesicht prügeln. Ja, genau das wollte er. "Also machen wir es kurz, Jerry. Du zahlst, falls du deine Schule eröffnest, den normalen Satz. Oder... du weißt ja." Anis' Gegenüber schüttelte den Kopf. "Kevin würde dir niemals glauben." Wieder grinste der Tunesier. "Kevin weiß bereits, dass Timmy der dritte bei dem Überfall war. Und da er sich sicher darüber sein hübsches Köpfchen zerbricht, wer denn nur der Verräter war, wird er auch irgendwann draufkommen, dass du der einzige bei dem Gespräch warst, der seine Abkürzung gekannt hat." Anis hatte sich die Informationen bei Harry, dem Besitzer des "Matrix" geholt, nachdem dieser von Kevin besucht wurde. Als er davon hörte, dass Kevin für sich und Jerry eine Sportlocation suche, witterte er ein Geschäft... und einen gelungenen moralischen Schlag gegen den jungen Polizisten, der immer noch auf seiner Abschussliste stand.
    Jerry litt Höllenqualen. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er hatte dieses Kapitel, dieses dunkle Geheimnis, weit in seinem Innersten weggesperrt. Ganz selten, in seelischen Tiefphasen während seines Knastaufenthaltes, trat es hervor und er erinnerte sich daran. Er hatte Schulden... die Spielsucht hatte ihn in seiner Hand. Unbemerkt seiner Freunde, und tatsächlich war es Peter Becker, der ihm kurz nach dem fatalen Boxkampf seines Bruders gegen Kevin, Geld geliehen. Becker, getrieben von seiner Rache gegen Kevin, beobachtete den Jungen auf seinem 18. Geburtstag mit seiner Schwester. Er hörte danach von Timmy, dass Kevin den Geburtstag bald verlassen würde, um seine Schwester nach Hause zu bringen, durch eine Abkürzung. Und diese Info, wo genau diese Abkürzung war, tauschte er gegen die offenen Schulden von Jerry ein.



    Jerry, damals zwar angetrunken aber eigentlich im Vollbesitz seiner Kräfte, bereute es bereits wenige Minuten später. "Jetzt mach dir nicht in die Hose. Wir wollen dem Kleinen nur etwas Angst einjagen.", sagte der schwarzhaarige Becker und lachte mit Timmy zusammen auf. Und Jerry lachte ebenfalls... er wusste, was Kevin mittlerweile konnte. Und die beiden Großkotze würde er auch mit 2 Promille noch an die Wand klatschen, da war er sich sicher. Auf seine Schwester konnte der junge Punk aufpassen, wenn es darauf ankam. Als er zwei Tage später hörte, was passiert war, lag er tagelang alleine in der Lagerhalle und wollte mit niemandem reden. Zweimal war er kurz davor, sich mit Drogen und Alkohol das Leben zu nehmen. Die Schuld erdrückte ihn, doch ausgerechnet der Alkohol und die Drogen, die ihn eigentlich erlösen sollten, ließen ihn die Schuld verdrängen... vergessen. Jetzt kam alles wieder hoch... und die Worte von Anis waren Treffer wie Fausthiebe. "Du hast fürs Zocken deinen Freund verraten. Und den Tod seiner Schwester zu verantworten. Wenn ich an Kevins Stelle wäre..." Und dabei zog Anis einmal geräuschvoll Luft durch die Nase, bevor er weitersprach: "Ich würde dich umbringen. Und ich bin mir sicher, dass Kevin ähnlich denkt." Dessen war Jerry sich auch sicher.



    Was solle er tun? Anis drohen? Ausrasten? Kevin alles beichten? Es würde nichts ändern. Er verdrängte diese Schuld nun über 10 Jahre, er war sich sicher, sie entweder irgendwann zu vergessen oder sie schweigend mit ins Grab zu nehmen. Kevin durfte es nicht erfahren... nicht, weil er Angst vor seinem ehemaligen Schützling hatte... er hatte Angst UM seinen Schützling, denn er wusste, wie schwer es für ihn war, Vertrauen aufzubauen, und wie oft es schon gebrochen wurde. Und zu Jerry hatte Kevin, abgesehen von Jenny, Semir und Ben, das größte Vertrauen.
    Anis war aufgestanden und ging langsam um den halben Tisch zu Anis, wobei er leise in Richtung dessen Ohr sprach. "Also wenn du mich fragst, gehst du auf mein Angebot ein. Oder noch besser... du verkriechst dich, wenn du hier rauskommst, wieder in irgendeinem kleinen dreckigen Rattenloch." Der breite Ex-Punk sah Anis nur einmal kurz aus dem Augenwinkel an, als er sagte: "An was für ein dreckiges Rattenloch hast du denn gedacht? Das deiner Schwester?" Dann sah er Anis an, und er wusste wie sehr dieser Satz im Nervenzentrum des stolzen Tunesiers einschlug. Die beiden Männer blickten sich an, Anis begann langsam zu grinsen, bevor er Jerrys Hinterkopf packte und den Gefängnisinsassen wuchtig mit dem Gesicht gegen die Tischplatte schlug.



    Der einzige Wärter im Raum sah natürlich gerade in die andere Richtung, und wurde durch den plötzlichen Krach auf den Tisch der beiden aufmerksam. Gerade sah er, wie Jerry, der als Ex-Boxer natürlich einiges einstecken konnte, aufstand, kurz mit dem Arm ausholte und eine gezielte rechte Gerade, ohne Boxhandschuh, in Anis' Gesicht platzierte, so dass der Tunesier bildschön über den benachbarten Besuchertisch segelte. Zwei weitere Wärter, die durch das Fenster der Eingangstür die Lage mitbekamen, stürmten sofort hinein und griffen den vermeintlichen Aggressator Jerry sofort um ihn, im Polizeigriff, an die Wand zu drücken. "Das wird dich wohl ein paar Tage extra kosten, Jerry.", schnaufte einer der Wärter, während der Dritte im Bunde zu Anis eilte, und ihm auf die Beine half. Trotz blutiger Nase grinste der Tunesier in Jerrys Richtung: "War schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Jerry..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 10:00 Uhr



    Es würde hektisch werden... irgendwie hatte Semir das im Blut. Er hatte zweimal versucht, seinen besten Freund anzurufen, doch vergeblich wartete er auf die Stimme seines Partners. Gerade wollte er Hartmut kontaktieren, um die GPS-Position von Bens Dienstwagen ausfindig zu machen, denn so langsam machte sich der erfahrene Polizist doch einige Sorgen, da kam der Mercedes seines Partners mit ordentlichem Schwung auf den Parkplatz bezahlen. "Na warte, du bekommst was zu hören.", dachte sich Semir noch, als Ben mit schnellen Schritten und einem dünnen Ordner unterm Arm ins Büro gesteppt kam. "Sag mal... färbt das schon von Kevin ab, mit deinen Alleingängen?", war die nicht unbedingt freundliche Begrüßung, während Ben sich auf seinen Stuhl fallen ließ. "Also wenn ich Alleingänge von jemandem gelernt habe, dann...", und zur Vollendigung des Satzes zeigte der Mann mit der Wuschelfrisur auf seinen kleinen Partner.
    Gut, da musste Semir einlenken. Im Prinzip regte sich jeder über die jeweiligen Alleingänge des Anderen auf, obwohl man eigentlich nicht besser war. Ähnlich verhielt es sich nach Verletzungen. "Was war los? Wo warst du?", fragte Semir und hatte keinen Zweifel daran, dass Ben spätestens jetzt damit rausrücken würde, was Phase war. Gerade, als er zu Reden ansetzen wollte, hörten sie das Geräusch zweier Autotüren neben dem Fenster, als Jenny und Kevin ausstiegen und erst der junge Polizist und mit etwas Abstand dessen Ex-Freundin zum Eingang gingen. "Gleich... für alle.", brach Ben seine Erklärung ab, bevor er begonnen hatte. "Lass uns erst alle zusammen über das reden, was du heute morgen rausgefunden hast."



    Es sah für Aussenstehende völlig normal aus, wie Kevin und Jenny in das Großraumbüro kamen und ihr eigenes Büro ansteuerten. Doch für Jenny, die mit etwas Abstand hinter Kevin her ging, schien es so, als seien sie keine Partner in diesem Moment, sondern Flüchtiger und Verfolgerin. Sie beobachtete ihn, seine Miene, seine Körperhaltung. Es war irgendwas, seine Angespanntheit, seine Mimik... Nuancen die man bei dem Polizisten nur erkennen konnte, wenn man ihn in- und auswendig kannte. Jenny erkannte dies, und trotzdem kam ihr Kevin in diesem Moment wieder unglaublich fremd vor.
    Semir hatte seine Akte geschnappt und erreichte Kevins Büro, bevor dieser sich auf seinen Stuhl niedergelassen hatte. Ben war ihm gefolgt, und sein Bauchzwicken verstärkte sich. Sein Blick fiel auf seinen jungen Partner, die Blicke kreuzten sich... und beide bildeten sich ein, dass etwas nicht stimmte. Kevin empfand Bens Blick als misstrauisch, skeptisch... und der wiederrum hatte das Gefühl, dass sein Freund bereits ahnte, dass es gleich unangenehm werden würde. Jenny und Semir, als stille und sehr empfindsame Beobachter hatten beide das untrügerliche Gefühl, dass die Stimmung zum Schneiden war. Vor allem die junge Frau, mit jeder Pore auf Empfangsmodus, bemerkte diese Atmosphäre. Und sie fühlte sich elend, noch bevor der erfahrenste Polizist im Raum sagte, warum sie sich trafen.



    "Also, kümmern wir uns zur Abwechslung mal wieder um den Fall.", begann er und klappte die Akte auf, die Kevins Fall enthielt. Und auch sein Blick, den er jetzt auf Kevin richtete, empfand dieser als misstrauisch. Drehte er jetzt vollkommen durch? War er wieder an dem Punkt, dass er das Gefühl hatte, das jeder gegen ihn war? Dass ihm jeder misstraute? Oder war es tatsächlich so. "Ich hab mir doch mal deinen Fall angesehen, Kevin. Mir ist dabei aufgefallen, dass von den 4 Ermittlern, die an dem Fall beteiligt waren, drei unserer Opfer sind." Wieder prüfte er Kevins Reaktion darauf, dass sich Semir die Akte durchgelesen hatte. Seine Reaktion war... keine Reaktion. Aus seinen eisblauen Augen blickte er seinen älteren Kollegen an, der Mund bildete keine Stimmung ab. "Ist dir das nicht aufgefallen?", setzte Semir dann noch hinterher.
    "Gestern hatte ich diese Ahnung kurz, als ihr Frederik gefunden hattet. Vorher hatte ich an den Fall nicht mehr gedacht.", sagte er kurz angebunden. "Das soll kein Vorwurf gewesen sein, ok?", stellte Semir sofort klar, der wusste wie schnell Kevin Schuldgefühle bekam, wenn Fehler passierten. Schließlich kam gestern ein junges Mädchen ums Leben, was theoretisch hätte verhindert werden können. "Schon klar.", gab Kevin zur Antwort und seine Stimme klang vollkommen unironisch. "Saskia und Plotz haben sehr oft zusammengearbeitet. Das hätte vor Frederiks Mord auf ein Dutzend Fälle gepasst." Semir nickte, das hatte er in der Zeit, als er alleine war, überprüft... seine Fleißarbeit. "Aber in der Dreier-Konstellation war das der einzige Fall." Wieder ein Nicken von Kevin. "Und ich habe heute das letzte Bild bekommen.", sagte er und Jenny atmete unauffällig auf. Zumindest verheimlichte er das nicht. "Ja, dann passt das ja."



    Ben und Jenny waren die ganze Zeit still... doch jetzt ergriff der Polizist, der an die Glaswand gelehnt im Raum stand, das Wort. "Warum habt ihr damals den Tankstellenmörder eigentlich nicht gefasst?" Seine Stimme klang forscher, als sie eigentlich geplant war. Aber er war aufgewühlter, als er wollte. Er wollte diesen beiden Mistkerlen nichts glauben... und doch schlich sich in seinen Kopf ein kleines Tierchen namens "Misstrauen" und Kevins Geständnis über verkaufte Informationen war omnipräsent in seinem Kopf. Sein Blick auf den jungen Kollegen wollte ihn durchdringen, und auch Jenny war hellwach... würde er jetzt mehr erzählen als im Auto?
    Kevin räusperte sich kurz, wieder diese Denkpause, merkte die junge Frau. "Der Täter hat damals keine Spuren hinterlassen. Er war maskiert, die Kugel konnte keiner bekannten Waffe zugeordnet werden und es gab einfach zu wenig Hinweise. Ein paar Zeugenaussagen, ein Phantombild... es reichte alles nicht um eine stichfeste Anklage zu erheben." Ben schluckte, innerlich biss er sich auf die Zunge. Bei einem Verhör wäre er sich sicher, dass sein Gegenüber log... doch Kevin war einfach undurchdringlich. Warum konnte er jetzt nicht einfach denken: "Okay, gut... die beiden haben gelogen, mein Partner sagt die Wahrheit." Warum wehrte sich sein Innerstes so dagegen. "Die Ermittlungen liefen ganz normal?" "Was meinst du mit... ganz normal?" "Na, normal halt. Keine... Vorkommnisse. Bekannte von dir, die in die Verdächtigenliste gerieten?" Kevins Blick wurde schmal, Jenny sah zu Ben und auch Semirs Gesichtsausdruck drückte Verwunderung für diese Frage aus. "Was soll das?", fragte Kevin dann, denn jetzt war er sich sicher, dass er sich das Misstrauen nicht einbildete oder einredete.



    Was brachte es, drum herum zu reden... Kevin würde nichts zugeben, und er würde nicht konkreter werden, um den Verdacht zu entlasten. "Das will ich dir sagen. Es gibt Leute, um genau zu sagen, zwei Polizisten die behaupten, du wärest nicht unbeteiligt daran, dass der Mörder damals nicht gefasst wurde." Für einen Moment war es totenstill in dem kleinen Büro, selbst alle Telefone im Großraumbüro und das Gemurmel schien aufzuhören... was natürlich nicht so war, denn draussen bekam niemand von diesem Satz etwas mit. Ben und Kevin sahen sich an, Kevin immer noch ausdruckslos aber mit festem Blick, Ben mit seinem "Sagen sie endlich die Wahrheit" - Verhörblick. Und er hatte vor Kevins Reaktion Angst... aber es musste sein. "Und du glaubst das?", war nur dessen Frage, ohne die Tonlage in der Stimme zu ändern. Aber Jenny, die tief in Kevins Seele hineinsehen konnte, spürte bereits wie sich die inneren Mauern hochzogen. Ben hatte das falsch angegangen, dachte sie... war aber unfähig in das Gespräch einzugreifen, weil Kevin im Auto ebenfalls so merkwürdig war. Und natürlich hatte sie, genau wie Semir, auch noch sein Geständnis im Kopf, dass er für Drogen Informationen über Razzien verkaufte. Und damals versprach, er hätte niemals einen Menschen gefährdet. "Wer soll das erzählt haben?", fragte Semir und Ben brach den Augenkontakt für einen kurzen Moment zu Kevin ab. "Torben und Bastian." Jetzt musste Kevin kurz auflachen, es war ein sarkastisches, ironisches Lachen, gefolgt von einem Kopfschütteln. "Ben, ist das dein Ernst? Ausgerechnet die beiden?", sagte Semir verständnislos. "Es ist doch klar, dass die beiden Kevin schaden wollen."



    "Du hast dich mit den beiden getroffen, ohne etwas zu sagen?", fragte nun Kevin, und er schaffte es, seine aufkommende Wut aus seiner Stimme heraus zu halten. "Darum geht es jetzt nicht. Ich habe auch nicht gesagt, dass ich den beiden glaube, deswegen habe ich dich ja auch gefragt, warum die Ermittlungen damals gescheitert sind.", sagte Ben und nahm den Blickkontakt zu dem sitzenden Kevin wieder auf. "Und es ist ungewöhnlich, dass jemand, der so professionell vor geht, dass er nicht geschnappt wird wie dieser Täter, eine kleine, wenig lohnende Provinztankstelle überfällt und im Affekt eine Kundin erschiesst... oder?" Kevin fühlte sich in die Ecke gedrängt, er biss sich auf die Zähne und sein Blick wurde kalt. Und jener Blick fiel jetzt auch Semir auf... sie kannten Kevin jetzt einfach schon zu lange. Und sie merkten sofort, wenn er begann, sich zu öffnen und die Wahrheit zu erzählen, wie damals mit seinem Geständnis. Und zu merkten, wenn er sich verschloß, er innerlich die Mauern hochfuhr und sich in sein Schneckenhaus zurück zog... genau das tat er jetzt. Und sowohl Semir als auch Jenny merkten... selbst wenn sie Bastian und Torben nicht glauben würden... Kevin sagte nicht die Wahrheit. "Was willst du denn von mir hören?", fragte der junge Polizist etwas lauter, und Ben antwortete: "Die Wahrheit!" "Die habe ich dir gesagt." Es war der Punkt, an dem Jenny die Atmosphäre endgültig unerträglich fand. Am liebsten wäre sie rausgerannt, denn sie spürte gerade, dass Kevin ihr gegenüber ebenfalls verschlossen war... etwas, dass er vor einigen Wochen, vor einigen Tagen noch bestritt. Sie hatte das Gefühl, heute nacht mit einem völlig anderen Mann eingeschlafen zu sein.



    "Kevin, wir wissen, was Torben und Bastian getan haben...", sagte Semir vorsichtig und versuchte, dass was Ben gerade an Bauchgefühl zu viel hatte, mit Kopfgefühl auszugleichen. "Wir wissen aber auch noch, was du uns erzählt hast. Versetz' dich mal in unsere Lage. Die Begründung "Die Ermittlungen waren schwer" ist ein bisschen dünn bei einem solchen Fall. Sag uns doch einfach, was genau nicht geklappt hat, warum die Ermittlungen nicht erfolgreich waren.", versuchte er Kevin zu unterstützen, und nun spürte Semir den kalten Blick seines Kollegens. "Ja... ihr wisst noch, was ich euch erzählt habe.", wiederholte er ironisch. "Dann wisst ihr auch bestimmt noch, dass ich gesagt habe, dass dabei nie jemand zu Schaden gekommen ist. Wann genau hört ihr mit diesem Generalverdacht denn auf?" Die Frage schmerzte allen dreien in diesem Raum. Aber wie sollten sie das ablegen? "Bei all den Dingen, die vorgefallen sind... wir, wir vertrauen dir ja. Aber...", sagte Semir erneut vorsichtig, doch mit diesem Herantasten konnte Kevin noch weniger anfangen. Ben war zumindest offen. "Nein, das tut ihr nicht. Und fordert gleichzeitig von mir Vertrauen ein. Aber kommen zwei dahergelaufene Vollidioten und erzählen dir..." dabei zeigte er auf Ben "...irgendeine Scheisse über mich, dann ist Kevin wieder der Kriminelle in Uniform." Seine Stimme war jetzt lauter, ungehaltener, und seine ruhige Fassade fiel der Arroganz zum Opfer. Und selbst Jennys leise Stimme neben ihm konnte ihn nicht zurück auf eine vernünftige Bahn bringen. "Ich... ich hatte eben im Auto auch das Gefühl, dass du mir nicht die Wahrheit sagst."



    Kevin fühlte sich umzingelt. Er blickte auf Jenny, und die junge Frau traute sich fast nicht, ihn anzusehen. Sie hatte Angst vor Kevins kaltem, gefühllosen Blick. Sie sah auf... und sie dachte, sie säße im Keller, gefesselt an einen Stuhl und ihr Freund richtete eine Waffe auf sie. Diese fremden Augen, dieses skrupellose. Kevin nickte nur... er wollte Jenny nicht mit Worten verletzen und er kämpfte mit sich. Sie waren im Unrecht... und doch im Recht. Sie misstrauten ihm völlig zu Recht, aber die Vorwürfe von Torben und Bastian waren falsch. Nacheinander sah er alle drei Polizisten an. "Ihr seid nicht anders, als alle anderen. Statt mir zu vertrauen fordert ihr mein Vertrauen an euch ein." Er griff Semirs Akte und warf sie dem, kurz verdutzten Polizisten zu. "Da steht alles über den Fall drin. Ich kann euch dazu nicht mehr sagen."
    Es hatte keinen Sinn... Kevin hatte seine inneren Mauern hochgefahren und seine kleine Welt abgeschottet, wie er es früher immer tat. Semir und Ben sahen sich hilflos an, und Ben wollte am liebsten gegen den Mülleimer treten. Aus Wut über Kevin, über Torben und Bastian und über sich selbst. Er hatte sich wieder von seinen Bauchgefühlen leiten lassen, statt erst in Ruhe mit Semir darüber zu reden. Den gleichen Gedanken hatte Semir, der Kevin ansah. In diesem Moment fühlte er, dass etwas zwischen ihnen brach. Er war mittlerweile überzeugt, dass der junge Polizist log. "Komm... lass uns unsere Arbeit machen. Kevin ist an dem Fall eh nicht mehr beteiligt. Jetzt erst recht nicht mehr, denn mit dem Bild ist er jetzt selbst betroffen.", sagte er zu Ben und drehte sich Richtung Tür. "Nur eins noch, Kevin...", sagte er bevor er den Raum verließ. "Damit wir uns richtig verstehen. Wenn wir rausbekommen, dass das, was Torben und Bastian gesagt haben, doch stimmt... dann warst du die längste Zeit bei uns gewesen." Es klang ähnlich kalt und herzlos, wie der junge Polizist vor wenigen Sekunden gesagt hatte, dass sie nicht anders, als die anderen sind. Es war, als hätten sie ihr Vertrauensverhältnis, ihre Freundschaft wieder um Wochen und Monate nach hinten gedreht. Ben warf Kevin noch den Beweis aus Bastians Auto auf den Tisch... er war natürlich nicht gefälscht, bei den beiden Mordermittlern hatte er geblufft. "Hier... mach damit was du willst.", war die kurze Ansage des Polizisten, bevor er mit Semir den Raum verließ. Beide hatten in diesem Moment Mitleid mit Jenny, die stumm und mit traurigem Blick auf ihrem Platz sitzen blieb....

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienstelle - 10:30 Uhr



    Ben war kaum zu beruhigen, als er mit Semir zurück in ihr eigenes Büro gingen. Das konnte der Deutschtürke seinem besten Freund ansehen. Er setzte sich nicht hin, sondern lief ziellos durch den kompletten Büroraum, stützte sich an die Fensterbank, sah aus dem Fenster raus, ging zum Tisch und zum Schrank hin und her. Dabei murmelte er immer wieder: "Ich versteh das nicht... ich versteh das nicht." Semir selbst hatte sich hingesetzt und verfolgte die Wege seines Partners mit bitterer Miene. "Ja, ich versteh es auch nicht. Einerseits Kevins Verhalten, andererseits dein Verhalten." Ben blieb überrascht stehen. "Mein Verhalten?" "Ja. Du weißt doch genau, wie er reagiert. Mittlerweile müsstest du es wissen. Drängst du ihn so in die Enge, setzt du ihm die Pistole auf die Brust, wird er immer so reagieren."
    Der junge Polizist stemmte die Hände in die Hüfte. "Also bin ich jetzt daran schuld?" Ein Seufzen kam über Semirs Lippen. "Das habe ich nicht gesagt. Aber als er uns von seiner Mordkommissions-Vergangenheit erzählt hat, oder davon was er mit Anis zu tun hatte, sind wir das anders angegangen. Das hättest du wissen können. Nichtsdestotrotz ist sein Verhalten mal wieder... naja." Er strich sich mit dem Finger über seinen Bart am Kinn. "Irgendwas muss damals vorgefallen sein. Ich glaube den beiden Idioten kein Stück, dass Kevin etwas mit dem Mord zu tun hat, oder dass er den Mörder wissentlich laufen gelassen hat. Aber irgendwas muss ja sein..."



    Ben sah für einen Moment wieder aus dem Glasfenster und konnte durch das Großraumbüro seinen jungen Partner kurz beobachten. "Oder er reagiert so, weil wir ihm wirklich nicht genug vertrauen.", murmelte er leise. "Er ist aber wirklich selbst daran schuld. Ich meine, bei allem was ihm widerfahren ist...", sagte Semir, der immer ein großes Verständnis für Kevin hatte und der sich sehr gefreut hatte, dass sich der junge Mann endlich mehr öffnete zuletzt, auch auf seine väterlichen Worte hin. "...er ist irgendwie in der... ja, in der Bringschuld. Er kann nicht erwarten, weil er uns jetzt zweimal reinen Wein eingeschenkt hat... auf Nachdruck durch Jenny... dass wir ihm sofort blind vertrauen. Vertrauen muss man aufbauen... Stück für Stück." Ben glaubte den Worten seines Partners und nickte langsam. Wie so oft in zwischenmenschlichen Fragen.
    "Vielleicht können wir uns jetzt wieder um den Fall kümmern. Kevin will sicher irgendwann wieder gefahrlos tanken gehen.", merkte er dann an und wedelte mit den Akten. Ben versuchte in Gedanken den Fall Kevin erstmal hinten anzustellen... vielleicht ließe es sich ja nach seinem Urlaub klären. "Dann los... ein paar Stunden hab ich ja noch.", sagte er seufzend mit einem Blick auf die Uhr. "Also, wenn wir davon ausgehen, dass dieser Fall eine Art... Auslöser für die Morde ist, dann ist es vielleicht ein, zugegebenermaßen ziemlich kreativer Rachezug.", meinte Semir, während sein Partner sich langsam wieder zu seinem Platz begab und sich dort niederließ.



    "Jemand, der ziemlich sauer sein dürfte, dass man den Mörder der Frau nicht gefasst hat.", schlussfolgerte er dabei selbst. "Richtig. Mann, Bruder, Schwester, Freundin, Freund... was auch immer." Semir erhob sich und steckte den Kopf durch die halbgeöffnete Tür, um seine Frau zu bitten alle möglichen Informationen über das damalige Mordopfer herauszufinden. Dabei erblickte er Hotte und winkte ihm kurz zu. "Herzberger! Wie gehts dir?", rief er und der dicke Polizist nickte mit einem, etwas gequälten Lächeln im blassen Gesicht zurück, als er gerade durch die Tür reinkam. "Es geht aufwärts. Ich gebe nur gerade meinen Krankenschein ab." Damit gab Semir sich zufrieden, und er wünschte noch eine gute Besserung, bevor er wieder in seinem Büro verschwand.
    Hotte dagegen steuerte zielgerichtet auf den Schreibtisch seines Partners zu. "Dieter... können wir mal kurz... zusammen in die Teeküche?" Dieter Bonrath, der langjährige Kollege von Hotte, sah etwas überrascht auf. Hottes Stimme klang nicht gut... und wirklich fit sah sein bester Freund auch nicht aus. Dass er ihn für ein Gespräch in die Küche bat, war auch völlig untypisch. "Ja klar.", sagte er aber sofort und folgte Herzberger bis zur Teeküche. In Zivil hatte der bärtige Polizist, wie immer, eine Batschkapp auf dem Kopf.



    Sie setzten sich an den kleinen Tisch, und der baumlange Mann bemerkte, wie sein Freund um Worte rang. "Hotte, was ist los? Fällst du noch länger aus, oder...?" "Dieter... was ich dir jetzt sage, bleibt bitte unter uns.", begann Hotte mit leiser Stimme, und sein Freund merkte, wie dessen Hände zitterten. "Natürlich." In Dieter bildete sich ein komisches, beklemmendes Gefühl und er merkte, dass die Situation ernst war. Er hatte noch die Aussagen von Hotte im Kopf... dass er soviel vergessen würde. Dass er Angst vor einer schweren Krankheit hatte. "Also... ich... ich hab dir ja erzählt, dass ich in letzter Zeit ein wenig vergesslich wirke. Und... dass mir hin und wieder schwindelig ist und ich Kopfschmerzen habe." Sein langer Freund nickte und hörte aufmerksam zu. "Ich... ich habe mich deswegen jetzt untersuchen lassen. Also, eigentlich schon vor einer Woche und jetzt... jetzt das Ergebnis bekommen."
    Bonrath atmete ganz flach, und er sah seinen Freund an, den es scheinbar Überwindung kostete, mit dem Ergebnis herauszurücken. War es wirklich eine beginnende Demenz? Konnte man sowas zweifelsfrei feststellen? Dieter war einen Moment nicht sicher, weil er ihn die traurige Atmossphäre so einholte. Und als Hotte endlich antwortete, fühlte es sich an wie ein Schlag in den Magen. "Ich... ich habe einen... einen Hirntumor.", sagte der dicke Polizist und bekam feuchte Augen.



    Als er vor zweieinhalb Stunden die Nachricht im Beisein seiner Frau bekam, fing sie sofort an zu weinen. Hotte, als Polizist immer Herr der Lage, tröstete sie und schien sich von dieser Nachricht nicht umhauen zu lassen. Jetzt aber fühlte er sich als der Schwache und zeigte die Emotion, die er vor seiner Frau zurückhielt, um sie zu stützen, statt einzubrechen. "Oh Gott... Hotte... ich...", stammelte Bonrath völlig geschockt. Es war nur ein Wort... keine Aussicht, keine Heilungschance, keine Therapie... es war erstmal nur ein Wort. Hirntumor. Ein Wort, das erschlägt und das Bonrath scheinbar den Stuhl wegzog.
    "Der Arzt meinte, dass... dass man das operieren kann. Dass die Chance besteht, dass das auch gut ausgehen kann.", versuchte er sofort einen Hoffnungsschimmer zu setzen. "Und wie hoch ist diese Chance?" Hotte presste die Lippen zusammen, die man unter seinem Bart meist nicht sah. "Schwer zu sagen... fifty-fifty... von schwerbehindert bis völlig gesund... weißt ja, dass sich Ärzte dabei nicht festlegen." Dabei lachte er schon wieder ein wenig, wobei ihm eine Träne aus dem Auge rann. "Ich will es niemandem sagen, dass sich hier irgendjemand Sorgen macht. Zumindest noch nicht. Aber du solltest es wissen." "Aber Hotte... wenn du... also, wenn da irgendwas passiert. Du kannst die anderen nicht im Unklaren lassen.", mahnte Bonrath an. "Sag es wenigstens Semir und Ben... oder... ich weiß nicht." Die beiden besten Freunde sahen sich an, sie waren seit über 20 Jahren Partner. "Mensch Hotte... du schaffst das. Egal wie gering die Chance ist... glaub mir.", sagte der lange Polizist und drückte fest die Hand seines besten Freundes...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Vor der Dienststelle - 12:00 Uhr



    Sie redeten kein Wort miteinander und Kevin hatte das Gefühl, das die Temperatur im gemeinsamen Büro nach dem 8-Augen-Gespräch um einige Grad gesunken war. Und er spürte Jennys Zorn, ihre Enttäuschung. Als wäre der junge Polizist für sie ein offenes Buch und sie konnte sofort lesen, dass er nicht die Wahrheit sagte. Und vor allem, dass er sie anlog, als sie eben zusammen im Auto über die Autobahn fuhren, und sie mehrmals nachfragte. Er hatte das gebrochen, was er ihr vor einigen Wochen noch geschworen hatte. "Ich werde dir immer die Wahrheit" sagen, hatte er gesagt. Kevin blickte auf den Computerbildschirm und es schien, als würde er aufmerksam etwas lesen. Dabei starrte er nur die Desktop-Oberfläche seines Betriebssystems an und sah nur kurz auf, als Semir Bescheid sagte, dass sie eine mutmaßliche Zeugin besuchen würden.
    Immer wieder blickte der junge Polizist über den Rand seines Monitors, auf die braunhaarige Frau, die ihm gegenüber saß. Die er geliebt hatte, die er vielleichtt immer noch liebte. Aber es kam ihm wie eine Erkenntnis, dass diese Beziehung nicht zu retten war. Eigentlich war sie schon nach den Erlebnissen in Hamburg nicht mehr zu retten, doch erst jetzt wurde es ihm klar. Er könnte das Versprechen nicht aufrecht erhalten. Es würde, egal was er tat, immer wieder vorkommen, dass er über etwas nicht die Wahrheit sagte. Es würde immer wieder vorkommen, dass er es für besser hielt, zu schweigen. Es war einfach zuviel in seinem Leben passiert und am liebsten würde Kevin so manche Dinge einfach löschen, um sie niemals mehr erzählen zu müssen.



    Wortlos stand er von seinem Drehstuhl auf und ging mit seinem Handy in der Hand und einer Kippe hinterm Ohr nach draussen auf den Parkplatz. Die Sonne brannte auf den Asphalt, die Luft flimmerte und es war kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Heute mittag würden die Freibäder der Stadt sicherlich wieder hoffnungslos überfüllt sein und jeder im Berufsverkehr war froh für seine Klimaanlage. Kevin schien die Sonne auf der Haut gar nicht zu bemerken, als er sich an die Blumenkübel lehnte und mit dem Handy die Nummer der JVA wählte. Der Beamte am Telefon sagte ihm zu, dass der Häftling, den er verlangte, sofort aus der Zelle ans Telefon geholt wurde.
    10 Minuten später klingelte Kevins Handy. "Hey Jerry." "Kevin... was gibts?" Für einen Moment betrachtete der junge Polizist die Autos in der Ferne, wie sie über die Autobahn an der Dienststelle vorbeizogen. "Ich... ich glaube mit dem Laden in Köln, das wird nichts. Also, da findet sich nichts passendes." Jerry umklammerte den Hörer fester. Hatte Anis nicht gesagt, Kevin sei an einem Laden dran. "Was ist mit dem, von dem du mir die Unterlagen gezeigt hast." Ein paar Schritte wanderte Kevin vor den Blumenkübeln hin und her. "Ich glaube, der ist zu teuer. Die Lage auch nicht besonders." Kevins Ton gefiel Jerry gar nicht. Ein untrügliches Drücken machte sich im Magen breit, gerade nach der Sache heute vormittag im Besucherraum. "Hmm... naja. Wir werden schon was finden. Ich... also ich werd wohl auch morgen noch nicht rauskommen." "Wieso nicht?" "Ach... ich hatte hier ne kleine Auseinandersetzung. Nichts wichtiges. Kann halt sein, das sich der Auszug etwas verzögert.", wiegelte der Knacki schnell ab.



    Kevin betrachtete seinen Dienstwagen auf dem Parkplatz, während er zu Jerry sprach. "Vielleicht sollten wir nicht in Köln bleiben mit dem Laden." Ein kurzes Schweigen war die Antwort. "Naja, Düsseldorf ist ja nicht so weit weg. Willst du pendeln?" Der Polizist biss sich kurz auf die Lippen. "Ich meinte eigentlich... ganz weg von hier. Keine Ahnung, vielleicht Norddeutschland... oder ganz aus Deutschland raus." Er zuckte mit den Schultern, was Jerry natürlich nicht sehen konnte. "Vielleicht nach England oder so." "Kevin? Was ist los? Was willst du in England oder in Norddeutschland. Was ist mit deinem Job?" Er konnte das Seufzen seines damaligen Schützlings durchs Telefon hören. "Das bringt alles nichts." "Bist du völlig bescheuert? Was soll nichts bringen?", fuhr Jerry ihn an. "Es bringt einfach nichts. Es funktioniert nicht. Ich hab es wirklich versucht, über was wir damals geredet haben... Vertrauen und so. Aber es funktioniert nicht. Es wird immer wieder etwas vorkommen, was ich verschweige. Weil ich einfach nicht alles aus meinem Leben erzählen kann. Oder erzählen will.", brach es aus Kevin heraus und Jerry konnte sich den jungen Beamten bildhaft und lebhaft vorstellen gerade. "Die anderen können nichts dafür. Ich kann verstehen, warum sie so reagieren. Aber es funktioniert nicht. Sie haben mich nicht verdient. Vor allem Jenny hat das nicht verdient. Ich will ihr nicht weh tun, aber ich tue es, wenn ich hier weitermache." "Und du glaubst, du tust ihr nicht weh, wenn du alle Zelte hier abbrichst?", fragte Jerry und für einen Moment drehte Kevin sich um, um durch die Fensterscheibe direkt zu Jenny zu blicken. "Dann tut es wenigstens nur einmal weh..."



    Für einen Moment herrschte wieder Stille in der Leitung zwischen den beiden Männern. Jerry spürte, dass es Kevin ernst war... und eigentlich konnte ihm selbst nichts besseres passieren. Unbekannt verzogen und Anis könnte sich auf den Kopf stellen, mit seiner Drohung. Doch der alte Ex-Punk wusste auch um Kevins Verhältnis zu seinem Job. Würde er dieses Loch mit dem Box-Training füllen können? Würde das finanziel überhaupt hinkommen? "Pass auf... ich hab ja jetzt hier noch ein paar Tage. Schlaf da nochmal drüber, ok? Überleg dir das gut. Und wenn ich rauskomme, und du bist dir immer noch sicher, dass du das so machen willst... dann machen wir es. Ich vertrau dir, dass du die richtige Entscheidung für dich triffst.", sagte er und die Worte "Ich vertrau dir" fühlten sich gut in Kevins Gehörgang an.
    Jerry stand an einer Art Telefonzelle in einem Raum, der leer war, bis auf einen Wärter, der ihn beobachtete. Er litt innerliche Höllenqualen, einerseits gerade Kevins einzige Stütze zu sein, und gleichzeitig ein Geheimnis mit sich herumzutragen, was Kevin vermutlich psychisch umbringen würde. "Jerry... ich bin froh, dich zu haben.", hörte er durch den Hörer, nahm ihn vom Ohr und hielt sich für einen Moment die Hand mit dem Hörer an den Mund. Dabei schloß er die Augen und ihm kamen die Tränen, bevor er den Hörer wieder ans Ohr hielt. "Schon gut, mein Junge. Wir sehen uns." Dann musste er auflegen... er hatte Angst, ein Geständnis würde aus ihm herausbrechen.



    Dass Kevin von Jenny mehrmals durch die Glasscheibe angesehen wurde, wie er mit seinem schlanken Körper und dem ärmellosen karierten Hemd draussen in der Sonne stand, und aussah wie ein, wenn auch etwas gezüchtigter Punk, der eher als Krawallmacher von der Polizei festgenommen wurde, statt selbst Polizist zu sein, bemerkte dieser gar nicht. Zuerst sah sie ihn mehr sehnsuchtsvoll als wirklich noch wütend an... zu sehr und zu tief saßen die Gefühle für den jungen Ex-Punk. Doch als sie eine anonyme E-Mail auf ihr Handy geschickt bekam, die nur eine Sprachnachricht enthielt und sie diese abhörte, blickte sie in einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid zu ihm. Sie hörte zwei Stimmen, und sie konnte beide sofort identifizieren. Es klang, als hatte jemand ein Gespräch mit dem Handy in der Tasche aufgezeichnet. Und sie hörte Sätze wie: "Oder willst du etwa, dass ich deinem besten Freund die Wahrheit sage?" - "Wer hat dir das erzählt?" - "Kevin würde dir niemals glauben." und "Du hast fürs Zocken deinen Freund verraten. Und den Tod seiner Schwester zu verantworten. Wenn ich an Kevins Stelle wäre..." sie musste aufhören. Das konnte nicht wahr sein, in Jennys Kopf drehte sich alles. Ihr Zorn war sofort verflogen und richtete sich eher gegen den besten Freund ihres Ex-Freundes. Sie hatte Mitleid mit ihm, scheinbar war er selbst noch völlig ahnungslos. Und sie hatte es jetzt in der Hand, ihm die Wahrheit zu erzählen.



    Sie sah die Datei an, als würde sie ihr Antwort geben. Sollte sie es ihm sagen? Ihm, gerade wenn es mal zu Problemen zwischen ihm und den drei Polizisten auf der Dienststelle kam, den einzigen Halt zu nehmen, den er hatte? Sie wusste, wie unglaublich wichtig Jerry für Kevin war. Hier brauchte er sich nicht zu verstellen, er brauchte seine damalige Einstellung nicht zu verleugnen, nicht beschönigen. Jerry wusste, wieviel Scheisse Kevin in seinem Leben angestellt hatte. Würde es Kevin helfen, die Wahrheit zu erfahren? Oder war das Loch, die Enttäuschung, wieder von jemandem hintergangen worden zu sein, größer als die Sucht nach Gewissheit, wer denn nun der Verräter war? In ihrem Kopf drehte sich alles... sollte sie ihren Ex-Freund schützen, vor einem weiteren tiefen Fall schützen? Oder ihm die Wahrheit sagen und damit einen wichtigen Freund nehmen... ihr wurde schwindelig, und Jenny musste sich am Tisch festhalten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - gleiche Zeit



    Semir hatte von Andrea, kurz bevor sie aufbrachen, noch Informationen erhalten. "Also, die Frau heisst Monika Keller, war zuletzt in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Über den Fall selbst wisst ihr ja schon Bescheid. Sie hat sowohl eine Schwester, als auch einen Bruder, der Bruder allerdings lebt in Australien. Die Schwester in Köln, ich hab dir die Adresse aufs Handy geschickt.", sagte sie in kurzen und routinierten Worten was sie über die zentrale Datenbank auf die Schnelle zusammengetragen hatte. "Wie siehts mit einem Ehemann aus? Der würde doch in erster Linie in Frage kommen, sich für einen unaufgeklärten Mord zu rächen.", vermutete Semir und stellte sich für einen kurzen Moment vor, wie er in so einer Situation reagieren würde. Rational bestimmt nicht, auch wenn er es besser wissen müsste.
    "Den gab es. Der hat sich nur drei Wochen nach dem Mord das Leben genommen.", sagte Andrea ohne auf den Monitor zu schauen, stattdessen sah sie Semir lächelnd an. Lächelnd, weil sie vorausgesehen hatte, dass ihr Mann diese Frage stellen würde. "Auspuffgase." Der Polizist verzog kurz das Gesicht. "Unschön.", sagte er nur, aber zumindest würde ein Verdächtiger schon mal rausfallen. "Dann schauen wir uns die Schwester mal an.", setzte er noch hinzu, bevor er mit seinem Partner die Dienststelle verließ.



    Auf dem Weg in einen kleinen Vorort von Köln sprachen sie wenig miteinander. Ben lag die Sache mit Kevin natürlich im Magen, seine Vorfreude auf den ersten gemeinsamen Urlaub mit Carina war wie weggeblasen. Er hatte Angst, hier etwas zu verpassen, hatte Angst, es würde etwas passieren. Als er sich das letzte Mal im Streit von Kevin getrennt hatte, als dieser nach Bogota aufbrach, hörten sie Tage später davon, dass er zu Tode gekommen sei. Vor allem Semir hatte es damals belastet, keine Chance mehr zur Aussprache gehabt zu haben. Genau das ging Ben jetzt durch den Kopf, wenn er heute abend in den Flieger in die USA steigen würde.
    Semir dagegen dachte mehr darüber nach, was bei diesem Fall denn passiert sei... was war so schlimm für Kevin, dass er es unbedingt verheimlichen wollte. Der erfahrene Kommissar war empathisch und hatte die Fähigkeit, sich besonders in andere Menschen hinein versetzen zu können, doch bei Kevin war das schwierig. "Vielleicht...", sagte er irgendwann in leisem Ton zu Ben. "...lügt er gar nicht. Vielleicht verheimlicht er gar nichts und es war wirklich so, wie er sagt. Ein stinknormaler Mordfall, der einfach nicht gelöst wurde." Er klang schwankend, man merkte dass sich der zweifache Familienvater keinesfalls sicher war, und bevor Ben etwas dazu antworten konnte, ruderte er fast schon wieder zurück. "Ach, ich weiß es nicht. Warum macht er es uns so schwer..." Sein bester Freund blieb die Antwort schulterzuckend schuldig.



    Sie hielten vor einem hübschen Einfamilienhaus im Neubaugebiet, mit Vorgarten, Gartenhäuschen und heile Welt. Die Hitze stand, als sie aus dem BMW ausstiegen, zur Tür gingen und klingelten. Nur wenige Sekundenbruchteile später wurde die Tür von einem kleinen Mädchen geöffnet, das die beiden Polizisten mit zwei blonden Zöpfen und einem langen "Halloooooo?" begrüßte. Sie war vielleicht 5 oder 6 und stand mit einem Fuß auf den anderen, während sie die beiden Männer mit großen runden Augen betrachtete. "Na Hallo. Ist deine Mama zu Hause?", fragte Semir lächelnd und sofort sauste das Mädchen wie ein Derwisch zurück ins Haus. "Mama, da sind zwei Männer!", rief sie dabei laut. Aus der Küche kam, mit einem kurzen Schwall Rauch, eine jungaussehnde Frau, die die gleichen blonden Zöpfe hatte, wie ihre Tochter. Sie sah aber nicht unbedingt völlig unbekümmert aus, als sie die beiden fremden Männer betrachtete.
    "Ja bitte?" "Frau Petersen? Gerkhan, Kripo Autobahn, das ist mein Kollege Jäger. Haben sie vielleicht kurz Zeit?", fragte er höflich, beide zeigten ihre Ausweise und die kurz aufkommende, natürliche Nervosität der Frau legte sich ein wenig. Polizei war zuerst einmal vertrauenserweckend... doch dann sofort die Frage: Was wollte die Kripo von ihr? "Ja bitte... kommen sie doch rein.", sagte sie und ließ den beiden Männern den Vortritt. "Wenn sie gerade in die Küche kommen wollen, ich bin gerade beim Kochen." Ben folgte ihr und bekam beim Geruch von Essen sofort Hunger.



    "Kripo Autobahn... ist etwas mit meinem Mann? Er ist auf Geschäftsreise...", fragte sie unsicher, und die Nervosität kam zurück. "Nein, nein... wir sind wegen ihrer Schwester hier." Jetzt schaute die Frau überrascht. "Meine Schwester ist schon seit über 2 Jahren tot." "Das wissen wir, Frau Petersen. Wir ermitteln zur Zeit in einem Mordfall, der eventuell einen Zusammenhang zum Mord an ihrer Schwester hat." Die Stimme der jungen Mutter klang jetzt für einen Moment hoffnungsvoll. "Das heißt, sie suchen wieder nach ihrem Mörder?" Semir blickte kurz zu Ben, der das Wort für die unangenehme Antwort übernahm: "Nein... nicht direkt. Es geht um drei Morde an Polizisten und einen Mord an einem Kind, die an dem Fall ihrer Schwester beteiligt waren. Und da der Fall nicht aufgeklärt wurde, könnte das Motiv der Morde Rache sein." Silke Petersen sah etwas gedankenverloren auf den Kochtopf.
    "Das heisst... sie wollen jetzt von mir wissen, ob ich ein Alibi habe?", fragte sie beinahe resignierend, als wäre sie durch diese Frage irgendwie gekränkt. Ben biss sich auf die Lippen, so eine Situation war immer unangenehm. Auf den ersten Blick würde er der Frau so etwas nicht zutrauen, schon gar nicht wegen den Lebensumständen. Haus, scheinbar glückliche Ehe wenn er das Bild an der Pinnwand neben ihm richtig deutete, eine hübsche kleine Tochter. Würde man so etwas riskieren? "Ja, das müssen wir leider fragen.", bestätigte Semir.



    Er nannte die Zeitpunkte der Morde, und hoffte innerlich, dass Silke jeweils ein gutes und stichfestes Alibi hatte. Der Mord an Erwin Plotz war unmöglich einzuschränken auf eine bestimmte Uhrzeit. Saskia und Frederik wurden nachts getötet. Für die Nacht, in der Frederik umgebracht wurde konnte Silke Petersen nur angeben, dass sie geschlafen hatte. Dummerweise allein, da ihr Mann auf Geschäftsreise in München war. "Aber in der Nacht des zweiten Mordes war ich mit Lisa im Krankenhaus, weil sie schlimme Bauchschmerzen hatte. Ich hatte Angst, es könnte etwas mit ihrem Blinddarm sein. Das können sie doch sicher überprüfen, oder?" Semir notierte sich ihre Aussage und nickte eifrig. "Ja, das wird kein Problem sein.", sagte er beinahe erleichtert. Ihm kamen sowieso Zweifel, auf welchem Wege Frau Petersen Kenntnis von den Morden hatte, um sie nachzustellen. Und wie sie Plotz die Tabletten unterjubeln konnte.
    "Was ist mit ihrem Bruder?", fragte Ben vorsichtig, doch er brauchte keine Angst haben, dass sie unwirsch reagierte. Silke zeigte, dass sie Verständnis hatte und die beiden Polizisten nur ihre Arbeit tat. "Wir haben ein sehr enges Verhältnis und telefonieren jeden zweiten Tag. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er mir gesagt hätte, wenn er solche Gedanken hätte. Und dass ich sie ihm ausgeredet hätte. Wir waren damals sehr wütend... aber sowas macht Monika nicht mehr lebendig." "Wer würde ihnen noch einfallen? Freunde, Bekannte... irgendwas?" Die junge Frau überlegte und rührte wieder im Kochtopf. "Ich wüsste niemand, dem ich so etwas zutrauen würde. Vor allem das Kind... das ist ja schrecklich." Semir ließ der Frau eine Karte da, damit sie sich melden könnte, wenn ihr noch etwas einfiel. Dann verabschiedeten sie sich. Bevor sie das Haus verließen, hielt die junge Frau sie kurz zurück. "Hoffentlich finden sie den Mörder. Die Angehörigen sollten nicht das durchmachen, was wir damals durch gemacht haben, als der Fall eingestellt wurde..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 14:00 Uhr



    Semir parkte den BMW direkt auf den Dienstparkplatz, nachdem er die Schranke mit seinem Transponder passiert hatte. Sein Partner Ben sah aus dem Fenster am Gebäude hoch, an dessen Fenstern sich die Sonne spiegelte. "Hoffentlich ist das Dezernat für Wirtschaftskriminalität nicht noch höher als die Mordkommission.", meinte er grummelig, wenn er an die vielen Treppenstufen dachte. Sein Schnitzel aus der Mittagspause lag ihm gerade quasi quer im Magen. "Was ist eigentlich mit deiner Konfrontationstherapie hinsichtlich deiner Platzangst? Wäre doch ein super Tag, damit anzufangen.", neckte ihn Semir beim Aussteigen. Doch sein bester Freund winkte nur ab. "Damit ich kurz vorm Urlaub noch abstürze? Lass mal.", meinte er schmallippig und die beiden Polizisten betraten das klimatisierte Gebäude.
    Es schien Bens Glückstag. Das Dezernat für Wirtschaftskriminalität war tatsächlich im Erdgeschoss und beide Männer wiesen sich im Geschäftszimmer der Dienststelle aus. "Wir würden gerne den Dezernatsleiter sprechen.", meldete Semir den Grund des Erscheinens an und merkte, dass er bei Ermittlungen noch nie so oft Befragungen auf fremden Dienststellen angestellt hatte, nachdem sie wegen Saskias Tod bereits bei der Sitte waren, wegen Plotz' Tod bei der Mordkommission. Der Kollege aus dem Geschäftszimmer führte die beiden auf einen Gang und wies auf eine halboffene Tür.



    Ben klopfte und sofort antwortete eine dunkle Stimme: "Herein." Der Leiter der Dienststelle, Hans Trochowski, war eine großgewachsene Erscheinung, mit faltigem Gesicht, grauen Haaren und etwas verkniffenen Augen. Auf seinem Schreibtisch war mehr Durcheinander als bei Ben zu seinen schlimmsten Zeiten und er reichte beiden Autobahnpolizisten die Hand, ohne aufzustehen. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?", fragte er und die Stimme im Hals kratzte. Ein Hinweis darauf war ein Päkchen filterlose Zigaretten auf seinem Schreibtisch. Semir schilderte sein Anliegen, dass sie beide in einem Mordfall ermittelten, der im direkten Zusammenhang zum Mord an Monika Keller stehen könnte. "Wir müssten wissen, mit wem sie besonders eng zusammengearbeitet hat, und idealerweise diese Person auch sprechen. Und wenn sie noch ein paar Infos über Frau Keller haben, die uns weiterhelfen."
    Semir wurde vom Enthusiasmus des Mannes beinahe erschlagen. Seine Antwort war ein kurzer Schulterzucken, zum Glück nur auf den zweiten Teil der Frage. "Tja... Infos. Hmm.", murmelte er und sah über seinen Schreibtisch, als suche er den Steckbrief von Monika Keller. Der erfahrene Beamte vermutete gleich, dass er es hier mit der Art Chef zu tun hatte, der die Arbeit verteilte und sonst mit seinen Mitarbeitern nichts anzufangen wusste. "Reden sie mal mit Jens Hühne. Dritte Tür auf der anderen Seite des Flurs, der hat mit ihr zuletzte zusammengearbeitet."



    Ben blickte, als sie aus dem Büro traten, auf die Uhr. Sie würden die Befragung noch durchführen, dann würde Semir ihn nach Hause fahren, Carina aufsammeln und gemeinsam zum Flughafen fahren. Gegen 17:00 Uhr ging sein Flieger Richtung USA. Er spürte die Vorfreude, auch wenn da immer noch die dunklen Wolken waren. Zweimal hatte er zu Semir schon gesagt, ob er nicht alles noch verschieben sollte... immerhin sei, bis auf den Flug, nichts fest gebucht und das verlorene Geld würde ihm nichts ausmachen. "Nichts da!!", hatte Semir gesagt. Jenny würde ihn unterstützen, die Chefin hat den Urlaub abgezeichnet und solange sich Kevin von Tankstellen fernhielt, drohte ihm auch zumindest scheinbar keine Gefahr. Ben hatte dann immer genickt... es war sein erster richtiger Urlaub seit drei Jahren und Carina freute sich so sehr.
    Jens stand auf dem Flur vor seiner offenen Tür und drückte an seinem Smartphone herum, die beiden Polizisten konnten ihn schon sehen, als sie aus dem Büro von Trochowski herauskamen. "Tag, Gerkhan Kripo Autobahn. Sind sie Herr Hühne?" Der Mann, der in Jackett, Hemd und Schlips vor ihnen stand, aber vielleicht nur wenige Jahre älter war als Ben, sah vom Smartphone auf, nickte und schüttelte die Hände von Semir und Ben. Er stand vor seinem Raum, weil die Putzfrau gerade dabei war, im Büro den Boden zu wischen. "Ja... was gibts?" Die Haare hatte er mit Gel streng nach hinten gezwungen.



    "Sie haben mit Monika Keller zusammengearbeitet, ist das richtig?" Jens schaute zwischen den beiden Männern hin und her. "Ja, für ungefähr anderthalb Jahre." "Wissen sie über ihren Fall Bescheid?" Ein kurzes Runzeln an der Stirn, wieder ein unsicherer Blick. "Ja, was man so mitbekommen hat. Sie wurde erschossen, und der Fall wurde von der Mordkommission nach erfolglosen Ermittlungen irgendwann geschlossen." Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sie unterhielten sich auf dem Flur, was sicher etwas unbequemer war, als irgendwo gemütlich zu sitzen. Der nasse Putzlumpen der Putzfrau klatschte in einem ruhigen Moment auf den Boden. Semir erklärte den Mordfall, in dem sie ermittelten und wie er mit Frau Keller zusammenhing. "Wie war denn ihr Verhältniss zu Frau Keller?", fragte Ben und ihm fiel die etwas ablehnende Haltung des Mannes auf, durch das Verschränken der Arme vor der Brust.
    "Ganz gut, denke ich. Also... wir haben jetzt nicht irgendwie etwas unternommen oder so. Aber wir sind gut miteinander ausgekommen." Ben blickte kurz auf Semir, um dessen Reaktion zu beobachten, und er täuschte sich nicht. In den brauen Augen seines Partners lag Misstrauen, die Antworten kamen zu zögerlich und in der Stimmlage doch sicher. Und der Mann hielt nie lange Blickkontakt mit einem der beiden Polizisten, sondern sah immer wieder zwischen ihnen hin und her, hin und wieder schaute er auch nach hinten ins Büro um zu sehen, wie weit die Putzfrau war.



    "Gab es kein Interesse von ihnen, noch besser miteinander auszukommen? Noch enger zusammen zu arbeiten?", fragte Ben mit einem eindeutigen Unterton. "Wie... wie meinen sie das?" "Na, was wir auf den Bildern der Personalakte gesehen haben, war Frau Keller ja eine sehr hübsche Frau. Dann noch etwas jünger als sie..." Semir musste innerlich ob Bens Frechheit beinahe grinsen. "Nein... nein, daran hatte ich kein Interesse." Seine Antwort war keinesfalls überzeugend. "Wir gehen von einem Racheakt an den vier Mordopfern aus... ein Racheakt, der auf eine sehr hohe Detailverliebtheit bezüglich der Mordfälle, die die Ermittler bearbeitet hatten, basiert. Haben sie vielleicht einen Verdacht? Vermutlich handelt es sich um eine Person, die Frau Keller sehr nahegestanden hatte, und die nicht einverstanden war, dass die Ermittlungen gescheitert sind."
    Jens' Stimme wurde hektischer. "Ich weiß nicht. Wie gesagt, wir haben nur zusammengearbeitet, aber weniger über Privates gesprochen." Semir presste die Lippen aufeinander. "Gibt es noch persönliche Gegenstände hier von Frau Keller?" Ein Kopfschütteln war die Antwort. "Das Ganze ist zwei Jahre her. Ihr Mann hat direkt, ein paar Tage nach dem Mord, alle Gegenstände abgeholt." Die beiden Polizisten merkten, dass sie hier nicht viel rausbekommen würden. "Falls ihnen noch was einfällt...", merkte Semir an, und es klang wie eine Drohung. Dabei legte er ihm eine Karte auf den feucht gewischten Schreibtisch, wo auch seine Handynummer draufstand, die im Polizei-Intranet nicht zu finden war. Die weiteren Befragungen einiger Mitarbeiter verliefen genauso enttäuschend, so dass die beiden Polizisten das Gebäude missmutig verließen...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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  • Dienststelle - 14:30 Uhr



    Kevin hatte die Eintrittskarte, nachdem er und Jenny von der Streife zurückgekommen waren, mittlerweile das vierte Mal durchgelesen. Kein Zweifel... die Eintrittskarte war auf Bastians Name ausgestellt, die sie in dem Wagen gefunden hatten. Der Name war noch gerade so erkennbar, Hartmut hatte mit einem Analyseprogramm dann ganze Arbeit geleistet. Er schaffte es, aufgelöste Tinte, die nur noch in Bruchstücken am Papier haftete, zu rekonstruieren. Ein Verfahren, dass die Polizei NRW sehr viel Geld gekostet, aber auch schon viele Verbrecher überführt hat. In dem Kopf des jungen Polizisten arbeitete es fieberhaft, denn dieses Beweismittel würde zumindest reichen, die beiden Typen vor zu laden und zu verhören. Was hielt ihn nur davon ab?
    Er wusste was er war... Torben und Bastian wussten, was bei dem Mordfall damals passiert war. Sie kannten die Wahrheit und Kevin befürchtete, dass diese Wahrheit ans Licht kam. Dass seine Schla.mperei, seine Unkonzentriertheit, vernebelt durch ständigen Drogenkonsum zu haarsträubenden Ermittlungsfehlern führte, die er daraufhin vertuschte. Das Ergebnis war, dass man dem Mörder nie auf die Schliche kam, dass er einem Mann sagen musste, dass man den Mörder seiner Frau nicht finden konnte und das Verfahren somit irgendwann zu den Akten wandern und eingestellt würde. Und niemand wusste besser, wie sich dieses Gefühl anfühlte, als Kevin selbst. Niemand hatte die Reaktion des Mannes, ihres Bruders, als er Kevin danach im Affekt niederschlug, besser verstehen können. Dass sich der Mann des Opfers während den Ermittlungen das Leben genommen hatte, machte die Sache nicht einfacher.



    Jenny hatte keinen Ton mit Kevin während der Streife gesprochen. Sie war traurig über das Verhalten des jungen Mannes, traurig darüber dass ihre weibliche Intuition sie nicht getäuscht hatte. Von Anfang an, nachdem sie vorher im Wagen nach dem Fall gefragt hatte, hatte sie das Gefühl dass er nicht ehrlich war, weil er vollkommen anders reagierte als in den Wochen zuvor. Ausserdem lag ihr die Sache von gestern ebenfalls im Magen und sie war nicht überzeugt davon, dass es richtig war die beiden Typen nicht doch in die Mangel zu nehmen. Kevin hatte ihr glaubhaft versichert, dass es nichts bringen würde, man würde die beiden beschuldigen eine Kampagne gegen zwei verdiente Ermittler zu fahren, mit Kevin als Zugpferd der bereits Probleme mit ihnen hatte und bei der Polizei einen ganz schlechten Ruf hatte.
    Doch jetzt reifte der Verdacht in Jenny, dass ihr Partner Angst hatte, dass die beiden Männer mehr erzählen könnten, als er selbst. Sie wollte Kevin nicht in die Pfanne hauen, und ihr wäre es 1000mal lieber gewesen, er hätte einfach von sich aus erzählt. Doch als sie später im Büro nochmals zaghaft fragte, ob er nicht doch etwas erzählen wollte, blockte er sie mit einem "Ich hab alles erzählt." ab. Sie fühlte sich hilflos und ihre Hilflosigkeit schlug in Wut um.



    Jenny konnte wütend werden. Sie konnte rumschreien und auch mal mit jemandem verbal kämpfen, doch meistens war sie um Harmonie bedacht. Anders als Annie in der Beziehung mit Kevin. Klar, die beiden waren damals jünger, Kevin noch um einiges impulsiver und weniger introvertiert, aber zwischen den beiden hatte es weitaus schlimmer geknallt als jemals zwischen den beiden jungen Polizisten. Doch jetzt wurde es auch Jenny zu bunt. Ihre Stimme blieb ruhig, wurde aber bestimmt. "Gut. Dann will ich wenigstens gegen die beiden Typen von gestern was unternehmen." Kevin sah, nachdem sie sich wieder angeschwiegen hatten, vom Monitor auf. Als hätte sie Gedanken lesen können, oder beobachtet, dass er die Beweise von Hartmut ständig in der Hand hatte, über den Tisch schob, sie über den Tisch drehte.
    Der junge Polizist seufzte kurz. "Ich hab dir doch gesagt, dass das nichts bringt. Und dass ich dir den Vorwurf, dass du versuchst Kollegen anzuschwärzen, ersparen will." "Das ist mir egal. Ich will es wenigstens versuchen. Ich weiß, dass ich gestern noch anders reagiert habe, aber ich hab mir die Sache überlegt." Gestern war sie geschockt und unglaublich froh, in Kevins Armen Schutz gefunden zu haben. Und sie glaubte ihm, was er sagte. Die Situation im Auto vor ein paar Stunden hatte alles geändert. Es war shizophren.



    Der Polizist sah seine Partnerin aus seinen blauen Augen an und in diesem Moment wirkten sie kühl. Was wollte Jenny mit ihrem Sinneswandel bezwecken? "Na schön, wie du willst.", sagte er, schließlich war es Jennys Entscheidung. Sie war im Auto, sie wäre beinahe umgekommen. Es war üblich bei internen Ermittlungen entweder sofort die Interne auch einzuschalten, oder aber den direkten Weg über den Dienststellenleiter zu gehen... man konnte dann Dinge klären, ohne den ganz großen Apparat in Bewegung zu setzen. Er wählte also Claus Freges Nummer und wartete das Freizeichen ab. Nach einigen Sekunden meldete sich die wohlbekannte Stimme seines früheren Vorgesetzten. "Claus, hier ist Kevin Peters.", meldete sich der junge Polizist, und konnte das Verdrehen der Augen beinahe hören.
    "Kevin, mein Junge.", sagte Claus fürsorglich und doch in einer Tonlage, die keinen Hehl aus seiner Abneigung machte. "Was kann ich für dich tun." "Es gab gestern in Köln eine versuchte Entführung, die in einer Verfolgungsjagd mündete, die wiederum in einem schweren Unfall und unterlassener Hilfe mündete. Im Fluchtfahrzeug haben wir Hinweise gefunden, die auf einen deiner Ermittler hinweisen. Laut Augenzeugenberichten war ein zweiter Mann zugegen der von der vagen Beschreibung her auf dessen Partner schließen lässt." Es blieb für einen Moment still in der Leitung, bevor Claus fragte: "Und um wen soll es sich handeln?" "Um Torben und Bastian."



    Die Reaktion war ein kurzes Auflachen von Claus. "Bitte Kevin, was soll das? Ich weiß, dass ihr damals gewisse Reibereien miteinander hattet, aber lass doch die Vergangenheit endlich ruhen. Wir sind doch alle erwachsen." Jenny konnte beobachten, wie der Ausdruck in Kevins Augen nun wirklich kalt wurde, und sie schauderte etwas. "Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Entweder schickst du die beiden zum Verhör, oder ich leite alle Hinweise, die wir bisher gesammelt haben, direkt an die Interne. Wir können es aber auch hier im kleinen Kreis aufklären." "Da wird es nicht viel aufzuklären geben. Um wann genau geht es?", fragte Claus. "Das werde ich mit den beiden hier besprechen." "Ich kann dir schon mal sagen, dass wir gestern eine Hausdurchsuchung hatten, die sich hingezogen hat. Dazu gibts auch entsprechende Protokolle." "Dann kann er die ja mitbringen. 16:00 Uhr ist Termin."
    Jenny war schon ein wenig beeindruckt. Sie hatte das bisher nie wirklich wahrgenommen, aber in Kevins Stimme lag eine gewisse Authorität und Durchsetzung. Er ließ quasi keine Widerworte zu und für einen Moment erwischte sie sich bei dem Gedanken, wie es wohl sei, wenn er vor einem, seinem Kind stand und ihm eine Standpauke hielt. Nein... nicht seinem Kind. Ihrem Kind. Sie wurde ein wenig traurig.
    Claus schien einzulenken und versprach, die beiden heute noch vorbei zu schicken. Und während Kevin auflegte wusste er, dass dieser Tag noch unangenehm werden könnte...

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  • Flughafen - 15:00 Uhr



    Ben schien der einzige Mensch zu sein, den man zum Urlaub zwingen musste. Bereits auf der Fahrt zu seiner Wohnung ging er Semir fast auf die Nerven. "Bist du wirklich sicher, dass wir die Sache nicht verschieben sollen. Wir sind ja ganz nah dran, so lange dauert das nicht mehr." Semir hatte, symbolisch an einer Ampel, den Kopf auf das Lenkrad gelegt und seinem besten Freund scherzhaft mit der Faust gedroht. "Urlaub oder Krankenschein, entscheide dich jetzt." Natürlich hatte Ben ein schlechtes Gewissen, Semir und die Dienststelle während eines laufenden Verfahrens allein zu lassen. Auch noch in einem Verfahrenn, in dem einer der ihrigen eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Aber wenn es danach ginge würde er wohl nie wieder in Urlaub fahren.
    Als er dann die strahlenden Augen seiner Freundin Carina sah, als diese das Haus verließ um Semir zur Begrüßung zu umarmen und beobachtete, wie die beiden Männer die Rucksäcke in den BMW luden, gab er seinen Widerstand auf. Sie freute sich so sehr auf den Urlaub, sie konnte ja in den letzten Jahren nie mal weg wegen ihrer demenzkranken Mutter. Und sie würde wohl in Zukunft noch so manch abgesagten oder verschobenen Urlaub hinnehmen müssen, wenn sie mit Ben auf Dauer zusammenblieb.



    "Ben, es ist doch "nur" ein normaler Mordfall. Wir wissen, was der Mörder vor hat und wir wissen, wie Kevin sich schützen kann, indem er einfach nicht mehr in die Nähe einer Tankstelle geht. Was jetzt noch kommt, ist langwierige Polizeiarbeit, wir müssen das Umfeld durchleuchten, ein paar Handys abhören und so weiter. Wir schaffen das." hämmerte der erfahrene Polizist seinem Partner nochmal die Worte in den Kopf, als sie am Eingang des Kölner Flughafens standen und die Rucksäckee auf einen der Kofferträger luden. Ben nickte und gab seinen Widerstand endgültig auf. Er wollte sich jetzt auch auf den Urlaub freuen und umarmte Semir. "Pass auf dich und die anderen auf." "Na klar. Guck, dass ihr nicht vom Motorrad fällt.", lachte er. Auch Carina umarmte er zum Abschied, dann betrat das junge Paar den Flughafen.
    Sie hatten noch zwei Stunden Zeit bis zum Abflug und wollten das Gröbste, nämlich das Gepäck, schon mal los werden. Also stellten sie sich in die Schlange des Gepäckschalters an und beobachteten das Treiben um sie herum. Familien, junge Pärchen, alte Rentnerehepaare die jetzt im Sommer in Länder flogen, wo es kaum heißer war als hier. Und alle hatten ein Lachen im Gesicht, ausser mancher Anzugträger mit Aktenkoffer, der sicherlich nicht in Urlaub, sondern zum Arbeiten flog.



    Eine junge Dame am Schalter nahm die Koffer auf, die bei den beiden aus zwei dick gepackten Rucksäcken bestanden. Schließlich wurde es ein Roadtrip mit dem Motorrad, Koffer waren da nicht möglich. Sie hatten sich Unterkünfte ausgesucht, wo sie ihre Kleidung waschen konnten. Danach durchschritten die beiden die Check-in-Schalter, wo sie kurz abgetastet wurden. Ben sah auf die Uhr und seufzte. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann war es Warterei. Anderthalb Stunden hatten sie noch Zeit. Hand in Hand spazierte das junge Paar durch einige Boutiquen, die Alkohol und Parfüm zu Wucherpreisen anboten, sie setzten sich in eine Cafeteria und aßen ein Stück Kuchen während sie durch eine große Glasfront beobachten konnten, wie Flugzeuge starteten und landeten.
    Carina erzählte, dass sie früher zweimal mit ihren Eltern auf Mallorca geflogen war, und einmal nach Portugal. Ganz neu war ihr die Fliegerei nicht. Wie immer überkam sie ein Anflug von Traurigkeit, wenn sie von früher sprach. Sie hatte vor kurzem ihren Bruder und ihre Mutter verloren, in diesem Zuge aber den wichtigsten Menschen ihres jetzigen, neuen Lebens kennengelernt: Ben. Während den Ermittlungen zu dem Tod ihres Bruder lernten die beiden sich kennen und lieben. Der junge Polizist, der einige gescheiterte Beziehungen hinter sich hatte, fühlte eine Vertrautheit zu der blonden Frau, die er vorher nie gespürt hatte.



    Mitten im Gespräch klingelte Bens Handy, und Carina bekam ein ungutes Gefühl. Sollte noch etwas passiert sein... würde Ben zurückbeordert werden? Der Name "Kevin" blinkte auf dem Bildschirm, und Ben hob ab: "Ja?" "Hey, hier ist Kevin. Wartet ihr noch?" Kevins Stimme klang ruhig, neutral, ohne Gefühlsregung... eigentlich so wie immer. Er und Ben hatten nicht mehr miteinander geredet, seit der ihm den Beweis von Hartmut auf den Tisch geknallt hatte. "Ja, wir haben noch über eine Stunde Zeit, bevor es losgeht.", sagte Ben mit einem Blick auf die Uhr, die 15:50 anzeigte.
    "Also... weißt du, ich hab mich erinnert als ich nach Kolumbien geflogen bin.", begann Kevin langsam und es war ungewohnt für ihn, dass er hin und wieder nach Worten suchen musste. Dass er Kolumbien erwähnte, verwirrte seinen Partner kurz. "Ich glaube... ich hoffe zwar nicht dass irgendetwas die nächsten Wochen passiert, aber sowas wie damals... im Streit lange Zeit auseinander zu gehen... das sollte mir nie wieder passieren." Carina sah, wie Bens Augen sich kurz auf sie richteten und er langsam nickte. Diesen Gedanken hatte er heute gar nicht gehabt... er wäre nach Amerika geflogen, und das letzte Wort mit Kevin hatte er im Streit gewechselt. Vermutlich war es ihm so unbewusst, weil er in Urlaub flog, und nicht auf eine gefährliche Befreiungsmission. "Deswegen rufe ich an. Ich wünsche dir nen schönen Urlaub."



    Ben hätte Kevin, wenn er da gewesen wäre, jetzt am liebsten umarmt. Er fand es toll, dass der junge Polizist daran gedacht hatte, und anrief... auch wenn er sich nicht für sein Verhalten entschuldigte, wofür es aus Kevins Sicht vielleicht auch gar keinen Grund gab. "Das find ich echt toll von dir. Ich hatte daran jetzt im Eifer nicht gedacht.", gab Ben zu. Und um die Sache zwischen ihnen noch weiter abzuflauen, räusperte sich Kevin kurz und sagte: "Wir haben Torben und Bastian vorgeladen. Die beiden kommen gleich. Wir wollen zumindest versuchen, ihnen die Sache nachzuweisen." Man konnte in seiner Stimme hören, dass er in die Sache wenig Hoffnung lag, aber immerhin. "Ich drücke euch die Daumen.", ließ Ben ausrichten.
    Die Stimmung zwischen ihnen war immer noch sonderbar, aber beide würden nach diesem Telefongespräch eine Erleichterung spüren. "Ben... du musst mir eins glauben. Was Torben und Bastian erzählt haben, ist nicht wahr. Ich habe den damaligen Killer nicht gedeckt oder absichtlich laufen lassen. Das schwöre ich dir. Vielleicht... vielleicht kann ich dir und Semir irgendwann erzählen, was wirklich vorgefallen ist, aber das kann ich heute noch nicht." Ben hatte soviel Menschenkenntnis, und vor allem kannte er den undurchsichtigen Polizisten gut genug, um zu merken, dass er die Wahrheit sagte. Im Gegensatz zu heute vormittag. Es war etwas in diesem Fall vorgefallen... das war ihm und Semir die ganze Zeit klar. Aber jetzt, in diesem Moment, gab Ben sich damit zufrieden. "Pass auf dich auf, Kevin. Wir sehen uns in drei Wochen."

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