Ein schreckliches Erbe

  • Nachdem Ben ihr nicht zu Willen war, hatte Maria katzengleich für einen Moment den Raum verlassen. Sie war in ihr „Behandlungszimmer“ gegangen, wo der Untersuchungsstuhl einladend auf seinen nächsten Gast wartete. Dieser Ben Jäger war zu wenig kooperativ und wenn sie seinen Samen in sich trug, würde sie ihn langsam und genüsslich entsorgen und sich dann um das nächste Opfer kümmern. Als ewige Erinnerung würden seine beiden, dank ihrer Hilfe jetzt wunderbar verschiedenfarbigen Augen sie begleiten und zwei der bereit stehenden Gläser mit Formalin beziehen. Dann konnte sie ihrem Kind einmal die Augen seines Vaters zeigen, denn es würde ja sowieso nach ihrem Tod die Sammlung erben und die Familientradition fort führen. Ohne zu zögern trat Maria an den Schrank, nahm eine Kassette mit altertümlichen chirurgischen Instrumenten heraus und huschte zurück zu Ben.


    Der lag angespannt da, sein Atem ging stoßweise und er versuchte verzweifelt einen Ausweg zu finden. Er würde in seinem Zustand niemals ein Kind zeugen können, ganz abgesehen davon, dass die Verrückte sich auch nicht reproduzieren sollte. Wenn das aber nicht funktionierte, würde er das büßen und er würde die nächste Stunde vermutlich nicht überleben, wie er die Frau einschätzte. Noch einmal zerrte er verzweifelt und mit letzter Kraft an seinen Fesseln, aber die hielten ihn unbarmherzig auf dem Bett fest.

    Als Maria das Zimmer wieder betrat und die Kassette auf dem kleinen Tisch abstellte, entwich ein entsetzter Laut seinen Lippen. Oh Gott-darin waren Instrumente, die ihm die letzten beiden Tage schon sehr weh getan hatten. „Nein bitte nicht!“, flüsterte er, aber ein dämonischer Ausdruck huschte über Maria´s Gesicht. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich deinen Samen kriege, du hattest es in der Hand, das für uns beide angenehm zu gestalten!“, gurrte sie voller Vorfreude, während sie langsam die Kassette öffnete. Suchend glitt ihr Blick über den Inhalt und blieb dann an einer alten Rekordspritze aus Glas und Metall in ihren Einzelteilen hängen. Langsam und konzentriert, denn sie war darin ja auch nicht geübt, setzte sie Teil um Teil zusammen und als Letztes steckte sie die dickste Nadel, die in der Kassette lag, auf. Mit dem Finger fuhr sie über die Spitze. „Hmm-ein bisschen stumpf, aber das macht nichts, du sollst ja schließlich auch etwas davon haben!“, lachte sie irr und beugte sich nun über Ben´s Körpermitte, woraufhin ein schrecklicher Schrei durch das alte Gemäuer hallte. „Halt die Klappe-ich kann mich nicht konzentrieren!“, fuhr sie ihn dann an, als er laut und verzweifelt weiter vor Schmerzen schrie und als er nicht aufhörte, stopfte sie ihm kurzerhand den Schal als Knebel in den Mund und verzurrte ihn an seinem Hinterkopf, damit er ihn nicht ausspucken konnte. Als sie nun weiter machte, betet Ben darum, endlich ohnmächtig werden zu dürfen, aber diese Gnade war ihm nicht beschieden. So gurgelte er verzweifelt vor sich hin und Hartmut, der das Ganze voller Entsetzen und Mitleid am Bildschirm verfolgte, hoffte nur, dass Semir und der Rest der Truppe jetzt schnell waren, sonst wäre es um seinen Freund geschehen.


    Semir und Jenny eilten mit gezogener Waffe aufs Grundstück. Kurz orientierten sie sich. „Sollen wir nicht auf Verstärkung warten?“, flüsterte Jenny, aber der kleine Türke schüttelte den Kopf. „Ich habe es im Gefühl-Ben ist hier ganz nah-und er hat nicht mehr viel Zeit!“, gab er zurück und spähte nun vorsichtig in einen Raum, der wohl die Küche war. Eine zierliche blonde Frau stand mit dem Rücken zu ihnen, soweit man das durch die Vorhänge erkennen konnte und war wohl mit Kochen beschäftigt. Was ging hier vor und warum konnte man seelenruhig das Mittagessen vorbereiten, während hier ganz in der Nähe ein Mensch gefoltert wurde? Semir hatte sich wieder geduckt, damit die Frau ihn nicht bemerkte und war weiter zum nächsten Fenster geschlichen. Das war anscheinend ein bescheidenes Schlafzimmer, aber es war leer, wie auch der Raum daneben.

    Semir umrundete nun, gefolgt von Jenny, die aufmerksam die Umgebung sicherte, das Gebäude und man sah eine kleine Terrasse mit Rheinblick, auf der allerdings keine Gartenmöbel standen-dahinter lag wohl das Wohnzimmer. Man konnte gedämpft Geräusche aus dem Fernseher hören und als Semir seitlich zu dem Fenster schlich, das wohl ebenfalls zum Wohnraum gehörte, konnte er einen riesigen Mann entdecken, der mit der Zunge zwischen den Lippen gebannt die Fernbedienung einer Spielekonsole bearbeitete, man sah aber schon auf den ersten Blick, dass er wohl geistig behindert war. Kurz kontrollierten sie noch das letzte Fenster, das winzig war und in das Badezimmer führte, aber im Parterre war keine weitere Person zu finden. Nachdem das Haus kein Obergeschoß hatte, war anzunehmen, dass sich Ben und Maria im Keller aufhielten.


    „Jenny-traust du dir zu, die Frau zu überwältigen? Dann schlagen wir zeitgleich zu-du gehst durch das Küchenfenster und nimmst die Blonde fest und ich knöpfe mir den Spieler vor. Wenn wir die beiden festgesetzt haben, machen wir uns auf die Suche nach Ben-ich gehe davon aus, dass der im Keller fest gehalten wird“, erläuterte Semir seinen Schlachtplan und Jenny nickte. Sie verglichen die Uhren, machten die genaue Zeit aus und exakt eine Minute später schlugen zeitgleich Jenny das Küchenfenster und Semir die Terrassentüre ein und waren auch schon im Haus, bevor die Bewohner reagieren konnten.

  • Bevor Zofia auch nur reagieren konnte, hatte Jenni zunächst mit dem Handgriff der Waffe die Scheibe eingeschlagen, an den Fenstergriff gefasst und kaum war das Fenster geöffnet, hatte sie sich schon flink wie eine Katze hinein geschwungen. Sie war ja heute in Uniform unterwegs, da sie mit Dieter auf Streife gefahren war. Zofia hob sofort erschrocken die Hände und stammelte: „Gott sei Dank Polizei-ich werde hier gefangen gehalten, aber sie müssen mein Kind retten!“ Jenni fesselte trotzdem die Frau mit ihren Handschellen und machte sie kurzerhand an einem Heizungsrohr fest-sie würde sich nicht reinlegen lassen und bis sie die Sache geklärt hatten, wäre die zierliche Blonde erst mal ausgeschaltet.

    Jetzt allerdings musste sie erst einmal Semir zu Hilfe eilen, denn der hatte, wenn man den Geräuschen aus dem Wohnzimmer Glauben schenken durfte, nicht so leichtes Spiel wie sie. Man hörte Glas splittern, Gegenstände umfallen und am Bedrohlichsten klang ein tiefes Knurren, wie von einem tollwütigen Hund.
    Als Jenni vorsichtig die Tür öffnete, fühlte sie sich in eine Wrestlingarena versetzt. Semir hatte den Koloss, der mindestens zwei Meter groß war und sicher über hundert Kilo wog, wohl angesprungen und der drehte sich mit ihrem Kollegen auf den Schultern nun knurrend im Kreis. Einige Möbelstücke lagen zerschmettert herum, darunter auch ein kaputter Couchtisch aus Glas und Semir´s Waffe lag am Boden am anderen Ende des Zimmers. Sie hatten sowieso ausgemacht, nur im äußersten Notfall zu schießen, denn wenn man davon ausging, dass Maria Gregor sich wohl mit Ben in den Kellerräumen aufhielt, würde ein Schuss dort zu hören sein und wäre eindeutig, andere Geräusche hingegen konnte man dem Konsolenspiel zuordnen, das der debile Mann ziemlich laut gestellt hatte. Und keiner wusste, wie die Verrückte reagieren würde, wenn sie sich gestört fühlte.


    So allerdings war der Plan nicht gewesen.
    Semir versuchte den Mann zu würgen, um ihn an zu halten aber der drehte sich nur schneller und schneller und sein Gesicht war zu einer teuflischen Fratze verzerrt. Anscheinend hatten weder er noch Semir ihr Kommen bemerkt, was aber kein Wunder war-es musste sich für Semir wie eine unfreiwillige Karussellfahrt anfühlen und dem Riesen war vermutlich so langsam auch schwindlig. Jenni überlegte kurz was sie tun könne, aber da fiel ihr Blick auch schon auf den Besen mit stabilem Holzstiel, der in dem kleinen Flur an die Wand gelehnt stand, anscheinend hatte die Blonde vorher gekehrt. Schnell nahm sie den Besen an sich und während der Koloss sich wie ein Kreisel drehte, kroch Jenni, das Sofa und den Sessel als Deckung benutzend, näher und steckte dann plötzlich den Besenstiel zwischen die Beine des riesigen Mannes. Es hatte den Effekt, als wenn man eine Luftpumpe bei voller Fahrt in die Fahrradspeichen steckte-der Mann heulte auf, es zog ihm die Füße weg und während Semir einen gekonnten Abflug machte und in die Ecke, direkt neben seine Waffe knallte, schlug der Koloss der Länge nach hin und wusste erst einmal nicht, wo oben und unten war.


    Jenni war nun sofort über ihm und versuchte seinen Arm in den Polizeigriff zu bekommen und auf den Rücken zu biegen, aber das war völlig utopisch und schon knurrte der Mann wieder wie ein tollwütiger Hund und versuchte nun Jenni ihre Waffe, die sie im Holster verstaut hatte, zu entreißen. Er hatte fast übermenschliche Kräfte und sie hing an ihm, wie ein Kind und kam sich auch so hilflos vor. Beinahe hatte er es schon geschafft an die Waffe zu kommen und so viel war klar-er würde keine Gnade kennen, sondern sie alle beide erschießen, wie er es in seinen Ballerspielen tagtäglich machte. Und danach würde ihm deshalb auch nicht viel passieren, denn er war so stark geistig behindert, dass er auf jeden Fall schuldunfähig war. Aber was wäre dann mit Ben?
    Jenni verfluchte sich inzwischen-sie hätte dem Koloss ins Bein schießen sollen, anstatt ihn nur zu Fall zu bringen, aber gerade als sie die Waffe aus dem Holster gleiten fühlte, ertönte plötzlich ein heftiger Schlag und der Mann, der sie eben noch wie ein Schraubstock fest gehalten hatte, erschlaffte.


    Semir, der immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen war und auch aus ein paar Schnittwunden vom zerborstenen Couchtisch blutete, hatte sich hoch gerappelt und den stabilen Schürhaken, der neben dem offenen Kamin am anderen Ende des Zimmers gelegen war, ergriffen. Er hatte alle Kraft in den Schlag gelegt und tatsächlich gingen dem Koloss sofort die Lichter aus. Jenni nahm erschrocken ihre Waffe wieder an sich und half dann ihrem Kollegen, dem bewusstlosen Mann die Arme auf den Rücken zu drehen und sie mit Semir´s Handschellen zu fesseln. Semir zog noch die Kordel aus den altmodischen bodenlangen Vorhängen und band zusätzlich die Beine des Mannes zusammen und befestigte die Kordel an den Handschellen. Eine Stoffserviette, die auf dem gedeckten Tisch lag, diente als Knebel und erst als Semir nun zufrieden sein Werk begutachtete, konnte Jenni aufatmen.
    „Geht’s dir gut?“, fragte sie flüsternd, denn Semir sah ein wenig blutverschmiert zum Fürchten aus. „Nen echten Türken bringt so eine kleine Karussellfahrt nicht aus dem Gleichgewicht, ich gehe gerne auf den Rummel!“, scherzte er, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Nein mir gehts gut-nur ein paar kleine Kratzer und Prellungen von meinem unfreiwilligen Abflug-was ist mit der Frau?“, fragte er im Gegenzug. „Die behauptet, sie würde hier gefangen gehalten und hat auch ein Kind erwähnt-meinst du das ist der kleine Blondschopf, auf den Dieter gerade aufpasst, die sieht ihr verdammt ähnlich?“, vermutete Jenni und Semir nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Das wäre gut möglich und würde auch die Zusammenhänge erklären. Wir fragen sie einfach mal-und vielleicht kann sie uns helfen, Ben zu befreien, denn zumindest ist sie hier ortskundig“, hoffte Semir und erhob sich auch schon, um-immer noch ein wenig schwankend- in die Küche zu gehen.

  • Sarah hatte auf den Kalender gesehen. Für heute stand ein Impftermin mit Lucky und ein Besuch beim Frauenarzt auf dem Programm. Sie hatten den Tierarzt mitten in Köln behalten, der Lucky von Anfang an betreut hatte und auch sie hatte denselben Gynäkologen, seit sie aus dem Hannover Raum hierher gezogen war. Eine Weile überlegte sie, die beiden Termine ab zu sagen, aber erstens würde das Ben nicht helfen und zweitens neigte sich ihre Pillenpackung dem Ende zu. Vielleicht war es auch ganz gut, sich abzulenken und so packte sie nach Rücksprache mit Hildegard, die den Termin ebenfalls schon lange im Kalender notiert hatte, die Kinder, die beiden Lämmchen und Lucky ein und fuhr nach Köln. Dort gab sie Tim und Mia-Sophie bei ihrer vertrauten Kinderfrau ab, erklärte noch kurz vor Ort, wie viel Trockenmilch man für die Lämmchen anrühren musste und machte sich dann mit dem grauen Riesenhund auf den Weg zum Tierarzt. Tim hatte Hildegard genau erklärt, wie man den Lämmchen die Flasche gab und nur das hatte ihn davon abhalten können, mit zum Tierarzt zu kommen. Er fand es dort nämlich schrecklich aufregend und der Veterinär hatte auch schon einmal mit einem feinen Lächeln bemerkt, dass der kleine Junge wohl unbedingt auch einmal Tierarzt werden solle. „Das ist noch Zukunftsmusik, er ist ja noch nicht mal in der Schule!“, hatte Sarah dann erklärt und der ältere Mann hatte Tim dann zu gezwinkert und gesagt: „Mein Berufswunsch stand auch schon fest, als ich in deinem Alter war!“ So hatte sich Lucky seine Spritze abgeholt, war zuvor noch durchgecheckt worden, was er mit stoischer Gelassenheit und leichtem Wedeln über sich ergehen ließ und hatte anschließend sein Leckerchen kassiert.

    Nun war Sarah auf dem Rückweg zu Hildegard, denn der Frauenarzttermin war erst in drei Stunden und sie hatten ausgemacht, zusammen zu essen, auch wenn Sarah seit Ben´s Verschwinden eigentlich überhaupt keinen Appetit hatte. Ihr Weg führte in der Nähe des alten Hafens vorbei und weil sie rechtzeitig bemerkte, dass es ein Stück weiter vorne einen Auffahrunfall gegeben hatte und der Verkehr sich bereits zu stauen begann, bog sie spontan ab-diese Straße müsste eigentlich auch in ihre Richtung führen und vielleicht konnte sie so dem Stau entgehen. Sie irrte ein wenig durch die Gassen und plötzlich stand Semir´s Wagen am Straßenrand. Sie trat auf die Bremse und hielt an. Es durchzuckte sie eine Eingebung-Semir würde nichts anderes tun, als Ben zu suchen und plötzlich hatte sie das ganz starke Gefühl, dass ihr Mann hier irgendwo in der Nähe war. Zögernd stieg sie aus und ließ auch Lucky aus dem Hundekäfig im Kofferraum. Plötzlich fuhren zwei Streifenwagen vor, allerdings kannte sie deren Besatzungen nicht und beobachtete nur gebannt, wie die aus den Fahrzeugen sprangen und zu einem kleinen Haus direkt am Rheinufer liefen. Sie zückte ihr Handy und wählte Semir´s Nummer, allerdings hob niemand ab.


    Jenni und Semir waren inzwischen wieder in die kleine Küche zurück gegangen. Ängstlich hatte die blonde Frau sie gemustert. Semir sprach sie nun an: „Wie heißen sie und wo sind mein Kollege und Frau Gregor?“, fragte er scharf und Zofia erwiderte mit Tränen in den Augen. „Wenn ihr Kollege Ben ist, dann ist er mit dem Monster im Keller und dem Tode näher als dem Leben-bitte machen sie mich los, ich zeige ihnen alles, aber Maria, der Teufel in Menschengestalt hat meine Tochter entführt und hält sie als Faustpfand gefangen-nur darum habe ich noch nicht die Polizei verständigt-ich habe Angst um sie!“, schluchzte sie auf Deutsch, aber man konnte hören, dass das nicht ihre Muttersprache war. „Ist ihre Tochter etwa fünf Jahre alt und so blond wie sie?“, fragte nun Jenni und Zofia nickte mit Tränen in den Augen. „Ich habe ein Foto von ihr hier bei mir!“, sagte sie aufgeregt und nachdem Jenni die Handschellen gelöst hatte, öffnete Zofia das Medaillon, das sie um den Hals trug. „Das hier ist Eva!“, flüsterte sie und jetzt konnte Semir die besorgte Mutter beruhigen. „Ihre Tochter ist in Sicherheit. Einer unserer Kollegen ist im Haus von Frau Gregor und passt dort auf sie auf, sie war unversehrt, als wir sie vor 20 Minuten verlassen haben. Wenn sie uns jetzt helfen, können sie sie in Kürze wieder in die Arme schließen!“, stellte er in Aussicht und nun flossen Tränen des Glücks aus den Augen der jungen Polin.


    „Was ist mit ihm?“, fragte sie mit einer Kopfbewegung Richtung Wohnzimmer. „Er ist gefesselt und macht gerade noch ein kleines Schläfchen!“, teilte ihr Semir mit und jetzt atmete Zofia auf und setzte sich Richtung Kellertür in Bewegung. „Der junge Mann wird im Keller in einer Art Krankenzimmer gefangen gehalten. Man geht hier die Treppe hinunter und unten ist eine Tür, die vermutlich abgeschlossen ist-die Teufelin wollte nicht gestört werden!“, sagte sie und kaum hatte sie das gesagt, war Semir schon die Treppe hinunter geeilt und hatte das Schloss gemustert, sowie ein Babyphon, das achtlos auf dem Boden davor lag. „Kein Problem!“ flüsterte er und kramte in seiner Tasche nach einem Dietrich, den er immer bei sich trug. Er huschte die wenigen Stufen wieder nach oben, allerdings hatte er nun das dringende Gefühl dass es furchtbar eilig war. „Wie ist die Raumaufteilung unten?“, wollte er nun wissen. „Die erste Türe rechts ist das Krankenzimmer, darin sind auch Dusche und Toilette. Der nächste Raum rechts ist das-ich weiß nicht, wie ich es benennen soll-ich sage dazu das Zimmer des Schreckens. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein gefliester Raum mit einem Dampfstrahler und die vierte Tür führt nochmals nach unten, direkt zum Rhein. Ich war dort erst einmal-dort steht ein Tank, in dem Maria ihre Opfer entsorgt“, erklärte Zofia mit bedrückter Stimme. Semir überlegte einen kurzen Augenblick, ob er auf die Verstärkung, die jeden Moment eintreffen müsste, warten sollte, aber dann überkam ihn ein dermaßen starkes Gefühl, dass es jetzt um jede Sekunde ging, dass er zu Zofia sagte: „Sie machen bitte die Haustüre auf und führen die Kollegen herein!“ und dann winkte er Jenni, ihm die Treppe hinab zu folgen. Wenn Zofia ihnen ein Lügenmärchen erzählt hatte, hätte sie freilich jetzt alle Zeit der Welt zu flüchten, aber dieses Risiko mussten sie eingehen.


    Unten angelangt, stieß er erst mit seinem Dietrich den Schlüssel, der im Schloss steckte, hinaus und hielt dann die Luft an, als der klirrend zu Boden fiel. Blitzschnell öffnete er dann das einfache Schloss-seine Vergangenheit als jugendlicher Autoknacker in Köln-Kalk war ihm schon mehr als einmal zu Gute gekommen. Die gut isolierte Tür schwang auf und sie standen in dem beschriebenen Flur. Waren Ben und Maria wohl im Krankenzimmer, oder dem Zimmer des Schreckens, dessen Bezeichnung alleine Semir schon Schauer über den Rücken jagte? Die Überlegungen wurden abgekürzt, als aus dem ersten Raum, dessen Türe ebenfalls verschlossen war, ein gurgelnder Laut des Entsetzens und unendlichen Schmerzes drang. Nun gab es für Semir kein Halten mehr und mit gezückter Waffe trat er die Türe auf. Jenni blieb hinter ihm in Deckung, aber bei dem Anblick, der sich ihnen beiden bot, konnte sie nur entsetzt aufschreien.

  • Maria hockte nackt über Ben, der-ebenfalls nackt- gefesselt und geknebelt mit gespreizten, ausgestreckten Beinen- in einem originalen Krankenhausbett lag. Blut hatte auf Höhe der Bettmitte die Matratze durchtränkt und tropfte auf den Boden, was ein unheimliches Geräusch machte. Der unbekleidete Körper der Frau war genauso Blut besudelt, wie der ihres Freundes und am meisten erschauerte Jenni, als sie ihnen beiden nun den Kopf zu wandte, denn aus dem Mundwinkel lief ein Blutfaden-und das war sicher nicht ihr Blut! Jenni wollte gar nicht so genau hinsehen, denn vor lauter Blut konnte man gar nicht genau erkennen, ob zwischen Ben´s Beinen überhaupt noch alles vorhanden war-allerdings lag nirgendwo ein abgeschnittenes Körperteil herum, nur eine altertümliche Spritze aus Metall mit einem blutig gefüllten Glaskolben. Aber was sie am meisten erschreckte, war die teuflische Fratze, der der Irrsinn aus den Augen sprach.

    Nun erkannte Jenni erst, was Maria gerade im Begriff war zu tun! Sie hob ein altertümliches Instrument, das aussah, wie ein großer schmaler Schaber und senkte es in Richtung Ben´s Augenhöhle. Mit der anderen Hand hatte sie brutal in das strähnige und verschwitzte Haar ihres Freundes gegriffen und fixierte so seinen Kopf. Ben´s Auge, das sich voller Panik geschlossen hatte, war außen herum knallrot und auch blau, aber wie es aussah, hatte die Frau das Instrument bisher noch nicht zum Einsatz gebracht. Allerdings beugte sie sich nun so geschickt über ihren Kollegen, dass es unmöglich war, sie mit einer Kugel außer Gefecht zu setzen, ohne Ben zu gefährden. Während Jenni immer noch mit gezogener Waffe, aber irgendwie ohne Plan, was sie tun sollten, da stand, hatte Semir blitzschnell seine Waffe weg gesteckt und die wenigen Meter, die ihn von Ben und seiner Quälerin trennten, überwunden und mit eisenhartem Griff ihren Arm gepackt.


    Nun begann ein Ringkampf der besonderen Art, denn die Frau war ebenfalls kräftig und durchtrainiert und außerdem war sie vom Wahnsinn beflügelt. Semir musste alle Kraft aufwenden, um die Hand, die sich unbarmherzig auf seinen Freund hernieder senkte, auf zu halten. Ben stöhnte derweil zum Gotterbarmen unter seinem Knebel, er musste wahnsinnige Schmerzen haben und bisher hatte er noch gar nicht erfasst, dass seine Rettung bereits begonnen hatte und Semir so nahe war. Das Letzte, was er gesehen hatte, war die Hand, die ihm mit einem schrecklichen Instrument näher kam, um sein Auge aus zu stechen. Er hatte die Gläser im Medizinschrank im Nebenzimmer gesehen und machte sich keine Illusionen, was ihm bevor stand. Zudem war ihm neben der schrecklichen Schmerzen in seiner Körpermitte noch übel und er wusste, wenn er den Brechreiz nicht unterdrücken konnte, würde er unter dem Knebel ersticken. Welche Todesursache nun die gnädigere war, wollte er gar nicht abwägen-von diesem Teufel zu Tode gefoltert zu werden, oder seinen Mageninhalt ein zu atmen-beides schrecklich und er wollte doch nicht sterben.

    Irgendwie wurde es nun auf ihm noch schwerer und die Übelkeit nahm überhand. Außerdem wartete er voller Panik auf den fürchterlichen Schmerz, wenn sein Auge entfernt würde. Warum konnte die Frau ihn nicht wenigstens gnädigerweise vorher töten und erst dann ausweiden-aber nein, diese Sadistin hatte jede Minute, die sie mit ihm verbracht und ihn gefoltert hatte, aus vollen Zügen genossen. In Erwartung des fürchterlichen Schmerzes, der den zwischen seinen Beinen noch übertreffen würde, dachte er an seinen besten Freund, der es diesmal nicht geschafft hatte, ihn rechtzeitig zu retten. Da rief auf einmal ein sehr bekannte Frauenstimme: „Semir pass auf!“, und als er es jetzt erstaunt fertig brachte, seine Augen einen kleinen Spalt auf zu machen, bemerkte er plötzlich, dass der kleine Türke ihm verdammt nahe war und soeben in einem verbissenen Ringkampf versuchte, der Irren ihre lange und spitze Waffe zu entwinden. Deren Griff in seinen Haaren lockerte sich und als nun die Spitze des Instruments trotz Semir´s Bemühungen unbarmherzig darnieder sauste und er einen verzweifelten Schrei ausstieß, schaffte der junge Polizist es, in letzter Sekunde den Kopf zur Seite zu drehen, so dass das scharfe Metallteil zwar an seiner Wange entlang schrammte, aber sein Auge unverletzt blieb. Nun war Jenni ebenfalls aus ihrer Starre erwacht und gemeinsam mit Semir gelang es ihr, die Verrückte von ihm herunter zu zerren und auf dem Boden zu fixieren.


    Sie wehrte sich zwar und schlug und biss um sich wie ein tollwütiger Hund, aber jetzt trat Semir auf ihren Arm, der immer noch den scharfen Schaber hielt und mit einem Schmerzenslaut ließ Maria Gregor die Waffe fallen. Jenni hatte ihre Handschellen vorher ja wieder an sich genommen und jetzt fesselten Semir und sie gemeinsam der Tobenden die Hände auf den Rücken und zerrten sie zur Seite, wo Jenni sie mit der Waffe in Anschlag und drohendem Blick in Schach hielt.


    Semir hatte sich, sobald die Verrückte überwältigt war, sofort seinem Freund zu gewandt. So schnell er konnte, zerrte er den Knebel aus dem Mund seines Partners, denn der hatte soeben panisch zu würgen begonnen und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, dessen Ersticken zu verhindern. Erneut erbrach Ben sich aufs Kopfkissen, es kam zwar nur blutiger Schleim, aber der hätte ausgereicht, um seine Atemwege zu blockieren. „Es tut mir leid, was für eine Sauerei!“, flüsterte Ben, bevor er die Augen erschöpft wieder schloss und danach am ganzen Körper zu zittern begann. Semir blickte voller Mitleid auf seinen besten Freund und noch bevor die angeforderte Verstärkung in Form mehrerer uniformierter Kollegen mit der Waffe im Anschlag und sich gegenseitig Deckung gebend, den Kellerraum betrat, wohin ihnen Zofia den Weg gewiesen hatte, hatte er schon die achtlos auf den Boden geworfene Zudecke aufgehoben und ihn zugedeckt. Erstens um ihn zu wärmen und zweitens, um ihn vor den Blicken der Kollegen, auch Jenni´s zu schützen.

  • Semir trat ganz nah zu Ben, der immer noch zitterte und sichtlich am Ende war und sah sich suchend nach einem Magneten um, der die Fesseln lösen konnte „Wo bleibt der Notarzt?“, fragte er aufgeregt die Uniformierten, die sich kurz umgeschaut hatten und zwar das Blut erblickten, aber auch, dass ihr entführter Kollege am Leben war. „Der ist schon unterwegs und müsste in Kürze eintreffen, wir holen ihn sofort herein, sobald er da ist!“, beeilte sich eine junge Kollegin eifrig zu erklären und damit gab sich Semir für den Moment zufrieden.


    In diesem Augenblick trat Zofia ein, die aus den Gesprächen entnommen hatte, dass ihre Herrin keine Gefahr mehr für irgend jemanden darstellte und die Treppe herunter gelaufen war. „Teufelin-mögest du in der Hölle schmoren!“, sagte sie zu Maria und sah die Frau mit einem Hass in den Augen an, dass Jenni schon befürchtete, sie müsse jetzt gleich eingreifen. Dann aber wandte sich Zofia ab, holte einen kleinen Magneten von einem versteckten Haken an der Wand und löste damit Ben´s Hand- und Fußfesseln, ohne dabei seine Intimsphäre zu verletzen. „Es tut mir leid!“, sagte sie dann mit Tränen in den Augen zu ihm, der aber zu fertig war, darauf irgendetwas zu erwidern. Sie holte noch schnell ein frisches Handtuch aus dem Bad und bedeckte damit das besudelte Kopfkissen.
    Der junge Polizist fühlte Semir`s tröstende Hand auf der seinen, der ihm gut zuredete: „Der Arzt ist gleich bei dir und versorgt dich, halt nur noch ein wenig durch!“, gab er ihm zu verstehen, denn so viel hatte er vorhin bei einem Blick auf Ben´s Unterleib erkannt-er konnte da leider gar nichts machen, hier waren Fachleute gefragt.


    Maria hatte inzwischen begonnen, wüste Beschimpfungen und Drohungen aus zu stoßen, dass ihr Anwalt sie wegen unwürdiger Behandlung sofort frei bekommen würde und anderes. Ben´s Augen füllten sich mit Tränen, als er die Stimme seiner Peinigerin noch immer nur wenige Meter von sich entfernt hörte. Semir hatte sofort erfasst, wie belastend das für den jungen Polizisten war. „Sorgt dafür, dass sie sich anziehen kann und schafft sie hier weg-wir haben genügend Beweise für ihre Taten, das ist nicht das Problem-sie soll in einer Zelle darauf warten, bis wir Zeit haben, sie zu verhören!“, befahl er und so kam es, dass Maria´s Handschellen gelöst wurden und sie unter den Augen der beiden Polizistinnen ihr elegantes Kostüm anziehen und in ihre teuren Pumps schlüpfen durfte. Sogar das blutige Gesicht und die Hände ließ man sie mit einem feuchten Handtuch reinigen. Dann eskortierten sie die Polizisten die Treppe hinauf und aus dem Haus in Richtung der geparkten Polizeifahrzeuge.


    Maria hatte jetzt jede Gegenwehr eingestellt, den Kopf gesenkt und sogar artig gefragt, wo ihr Bruder sei. „Wenn das der riesige Mann dort im Wohnzimmer ist, macht er gerade noch ein kleines Schläfchen, wird nachher vom Arzt untersucht und wenn er haftfähig ist, ebenfalls zum Verhör gebracht“, erhielt sie zur Antwort.
    „Bitte-er kann sich nicht selber versorgen und ist für das, was er tut nicht verantwortlich, er ist seit seiner Geburt geistig behindert“,, erklärte sie vernünftig und und weil sie so kooperativ wirkte, ließ die Aufmerksamkeit ihrer vier Bewacher für einen Augenblick nach und jetzt rächte es sich, dass man Maria zuvor nicht genau abgetastet, oder ihre Kleidung durchsucht hatte. In der Kostümtasche hatte sich nämlich eine Nagelfeile befunden, die sie jetzt ohne zu zögern dem einen Polizisten, der sie locker am Oberarm festhielt, ins Auge rammte, woraufhin der aufheulte, sie los ließ und voller Schmerz seine beiden Hände vors Gesicht hielt. Sie waren bereits kurz vor den an der Ecke geparktem Streifenwagen angekommen, ein Martinshorn kam näher und näher und Maria nutzte den Überraschungseffekt und verschwand um die nächste Ecke, bevor die Bewacher einen Schuss abgeben konnten. Sofort setzten sich die drei Unverletzten in Bewegung, aber Maria war verschwunden.


    Sarah hatte ungeduldig auf ihr Handy geblickt. Verdammt warum meldete sich Semir nicht? Aber außer einem unbestimmten Gefühl hatte sie ja keinerlei Beweise, dass der Polizeieinsatz hier irgendwas mit Ben´s Entführung zu tun hatte. Lucky blickte wedelnd zu ihr auf und sie erwägte einen Augenblick lang, einfach ihren Weg fort zu setzen. Semir hätte sie sicherlich verständigt, wenn es in Bezug auf Ben irgendwelche Neuigkeiten gab und er musste vermutlich seine ganz normale Routinearbeit machen. Vielleicht hatte er einen Verkehrssünder ermittelt, der jemanden verletzt und danach Fahrerflucht begangen hatte. Jetzt hatte der sich der Verhaftung widersetzt und Semir hatte Verstärkung angefordert. So sah zumindest laut Ben´s Erzählungen so mancher Routinearbeitstag bei der Kripo Autobahn aus. Wenig später hörte man aus der Ferne ein weiteres Martinshorn und dann öffnete sich auch schon die Haustür und eine gepflegte, teuer angezogene Frau wurde von den Polizisten hinaus begleitet. Sie hatte nicht einmal Handschellen an, unterhielt sich anscheinend freundlich mit den Beamten und obwohl Lucky, der wie fast immer unangeleint neben ihr war, auf einmal stocksteif stehen blieb, die Haare sträubte und die Nase in den Wind steckte, hatte Sarah im Moment keinerlei ungutes Gefühl, bis die Frau sich plötzlich mit einer blitzschnellen Bewegung zu ihrem Bewacher hin drehte, dem etwas ins Auge rammte und in der allgemeinen Verwirrung sofort die Flucht ergriff.
    Bevor Sarah, die doch mindestens 100 Meter von der Menschengruppe entfernt war, noch: „Lucky-hier!“, rufen konnte, hörte zum ersten Mal, seitdem sie ihn hatten, der graue Deerhound nicht auf sie, sondern raste mit eleganten Bewegungen, die die Geschwindigkeit nicht erahnen ließen hinter der Frau her. Deerhounds wurden extra für die Hetzjagd auf Hirsche in Schottland gezüchtet, gehörten eigentlich zu den Windhunden und hatten ein total nobles Wesen. Allerdings war ihre Beschleunigung phänomenal und während Sarah entsetzt nach ihrem Hund rief und sich in Richtung des verletzten Polizisten in Bewegung setzte, bog gleichzeitig ein Rettungswagen um die Ecke und Lucky war verschwunden.

  • Maria kicherte irre auf. Sie würde es auch diesmal schaffen zu entkommen. Schon lange hatte sie für alle Fälle an einem geheimen Ort Geld und einen gefälschten Pass deponiert. So leid es ihr auch um ihren debilen Bruder tat-irgendwann war die Zeit gekommen, nur an sich zu denken. Einen Augenblick spielte sie sogar mit dem Gedanken, nochmals ins Haus zurück zu kehren und sich den Inhalt der Spritze zu holen, sie hatte es nicht gerne, wenn ihre Pläne durchkreuzt wurden, aber es würde sich ein neuer Mann finden, der ihren Vorstellungen entsprach und ehrlich gesagt hatte sie ein wenig Angst vor dem kleinen Polizisten.

    Sie hatte den großen Vorteil, dass sie sich hier auskannte, wie in ihrer Westentasche, denn sie hatte die verlassenen Gebäude rund herum bereits alle durchstreift, wusst um die Kohlenkeller mit den maroden Klappen darauf und viele andere Verstecke und in genau so einem hockte sie nun, verhielt sich ruhig und wartete, bis die aufgeregten Rufe der Polizisten, die sie verfolgten, verebbten. Die dachten sicher, sie sei weiter gelaufen und sie würde ihnen jetzt ein Schnippchen schlagen, zurück gehen und notfalls in den Rhein springen, der zwar noch kalt war, aber einen hervorragenden Fluchtweg bot.

    Sie war kaum aus ihrem Versteck geschlüpft und wollte sich auf den Weg machen, da stand plötzlich ein riesiger zotteliger grauer Hund vor ihr, hatte die Zähne gefletscht und ein furchterregendes Grollen drang aus seiner Kehle. Einen Augenblick war Maria wie erstarrt, sie mochte nämlich keine Hunde, aber dann fuhr blitzschnell ihre Hand mit der blutigen Nagelfeile vor, um den Köter zu töten, oder wenigstens zu verletzen und in die Flucht zu schlagen. Allerdings hatte sie nicht mit den Instinkten und Reaktionen eines Tieres gerechnet, das ganz tief im Inneren immer noch ein Raubtier war, das durchaus töten konnte, wenn es fürs Überleben des Rudels notwendig war. Und eines bemerkte Lucky sofort-diese Frau war dieselbe, deren Geruch er wahr genommen hatte, als er Ben gesucht hatte und jetzt roch die nach dem Blut seines Herrchens. Ganz tief in seinem Inneren wusste er auch, dass diese Frau abgrundtief böse war und deshalb schloss sich jetzt ein riesiger schmaler Kiefer, der dennoch die Beisskraft einer halben Tonne aufbrachte, um den Unterarm der Frau, die ihn angriff und zermalmte beide Unterarmknochen. Maria schrie auf, ließ die Nagelfeile fallen und während Lucky grollend einfach den Arm der Frau nicht mehr los ließ, kehrten die Polizisten, die den Schrei gehört hatten, zurück und im selben Moment bog auch schon Sarah atemlos um die Ecke.
    Ihr war ganz schlecht-Lucky hatte zugebissen, oh mein Gott, aber andererseits war das auch die Frau, die den Polizisten so schwer am Auge verletzt hatte, um den sich jetzt gerade der Notarzt kümmerte.


    Einer der Polizisten richtete jetzt die Waffe auf Lucky, denn auch wenn der Hund ihnen geholfen hatte die Frau wieder fest zu nehmen, er war kein Polizeihund, sondern vermutlich einfach eine grundlos aggressive Töle, die man besser gleich erledigte, bevor sie noch einen weiteren Menschen angriff. Sarah überlegte nicht lang, sondern brüllte nur laut und verzweifelt: „Nein!“, und warf sich dann vor Lucky, ihren und Ben´s geliebten Hund. In diesem Augenblick ertönte ein Schuss und die Chefin, die gerade atemlos mit mehreren Beamten um die Ecke bog, konnte nur noch entsetzt aufschreien.


    Der Notarzt hatte sich zuerst den Polizisten angesehen, der immer noch vor Schmerzen wimmerte und krampfhaft die Hände vor die Augen presste. Sarah war erst zu ihm geeilt, aber als der RTW näher gekommen war und sie ihn versorgt wusste, war sie ihrem Hund nach gelaufen. Ganz in der Nähe gab nun eine Frau einen Schmerzenslaut von sich und wies ihr den Weg. Während der Sanitäter bei der Leitstelle ein weiteres Fahrzeug anforderte, kam auch schon Jenni aus dem Keller, um nach zu schauen, wo der Arzt für Ben blieb. Der verletzte Streifenbeamte bekam eine Infusion und ein starkes Schmerzmittel und wurde in den RTW gesetzt. Gerade wollte der Notarzt Jenni in den Keller folgen, da ertönte auf einmal ein Schuss, ein Hund jaulte zum Gotterbarmen, eine Frau schrie auf und dann rannte auch schon eine junge Polizeibeamtin näher. „Schnell-wir brauchen einen Arzt-es geht um Leben und Tod!“, rief sie und nun kam Bewegung in die Gruppe der Helfer.


    Semir hatte tröstend Ben´s Hand ergriffen und sprach ihm beruhigend zu, denn er sah, dass sein Freund völlig am Ende war. Obwohl er sich glühend heiß anfühlte, zitterte er wie Espenlaub und die Blutlache unter dem Bett sprach ihre eigene Sprache. „Jenni schau doch mal nach wo der Notarzt bleibt, vielleicht finden die nicht her!“, bat er und die junge Polizistin nickte und machte sich auf den Weg. Zofia wartete oben zwar schon, um die Helfer zu führen, aber das wusste Semir ja nicht. So saß er mit seinem schwer verletzten und traumatisierten Freund im Keller und bekam überhaupt nicht mit, was für ein Drama sich derweil nur wenig entfernt im alten Hafen abspielte.

  • Als Sarah sich auf Lucky zubewegte, schien die Welt sich auf einmal langsamer zu drehen. Sie dachte nicht rational nach, dass vor ihnen in den Augen des Polizisten nur ein Hund war, der soeben eine Frau heftig gebissen hatte, sondern das hier war Lucky-ein vollwertiges Familienmitglied, das Ben bereits einmal das Leben gerettet hatte, als der von zwei aggressiven Schäferhunden fast zerfleischt worden wäre. Der Deerhound aus dem Versuchslabor hatte das damals beinahe selber mit dem Leben bezahlt, aber er war bereit gewesen für Ben zu sterben und hatte deswegen eine Lebensstellung bei ihnen erhalten. Normalerweise war Lucky das friedliebendste Tier unter der Sonne, das fürsorglich auf die Kinder achtete, seit drei Jahren vor Ben´s Bett schlief und ihnen normalerweise auch ohne Leine folgte wie ein Schatten.

    Diese Frau hatte vorhin einen Polizisten heimtückisch schwer verletzt und irgendeinen weiteren Grund hatte Lucky mit Sicherheit, warum er die Frau am Arm gepackt hatte. All das konnte allerdings der Polizist mit der Waffe nicht wissen und Zeit zum Erklären blieb nicht. Sie wollte sich eigentlich nur vor ihren Hund werfen und dann die Zusammenhänge erklären, da schlug plötzlich etwas mit so einer Wucht gegen ihren Oberkörper, dass es sie von den Beinen holte und sie schon am Boden lag, bevor der Schmerz sie überflutete. Eine Stimme, die ihr ziemlich bekannt vorkam, schrie auf und plötzlich waren da viele Menschen um sie herum, die sich über sie beugten. Sie hörte Lucky aufjaulen und dann leckte ihr auch schon eine große feuchte Zunge übers Gesicht-etwas was sie sonst hasste wie die Pest, aber in diesem Moment mit Erleichterung registrierte-anscheinend war ihr Hund wenigstens unverletzt! Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Lucky´s Opfer gepackt und beiseite gezogen wurde, wobei Maria die blutige Nagelfeile aus der Hand fiel und dann beugte sich auch schon die Chefin über sie, die gleichzeitig den ihr wohl bekannten Hund am Halsband gefasst hatte und sie ansprach: „Sarah-halten sie durch, gleich kommt Hilfe, ich kümmere mich um sie und Lucky!“, und dann verlor Sarah das Bewusstsein.


    Die Verstärkung aus der PASt, die mit der Chefin gemeinsam angekommen war, entwaffnete ihren Kollegen, der jetzt fassungslos da stand und immer wieder stammelte: „Das wollte ich nicht!“, während zwei weitere Beamte Maria abführten. Die hielt sich zwar auch mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm, aber jetzt würde man sie nicht mehr aus den Augen lassen, bevor sich die Gefängnistore hinter ihr geschlossen hatten. „Bringt sie zum Polizeifahrzeug-ein Arzt kann sich ihre Verletzung noch ansehen, bevor wir sie mitnehmen, aber passt bloß auf, dass sie nicht noch jemand verletzt!“, warnte die Chefin.

    In diesem Augenblick kamen auch schon der von der jungen Polizistin alarmierte Notarzt und ein Sanitäter, gefolgt von Jenni, um die Ecke gerannt und kümmerten sich um Sarah, die immer noch ohne Bewusstsein war und in einer kleinen Blutlache lag. „So wie es aussieht ist das ein Schultersteckschuss, der eine Arterie verletzt hat-sie ist sicher nur vom Schmerz und Schock ohnmächtig!“, befand der Notarzt nach einer oberflächlichen Untersuchung, hörte kurz auf die Lunge und während der Sanitäter den Monitor anschloss, den Blutdruck maß und dann eine Infusion vorbereitete, legte der Notarzt schon zuerst routiniert am unverletzten Arm einen Zugang, spritzte ein Schmerzmittel und presste dann zur Blutstillung einen Packen steriler Kompressen fest auf Sarah´s Schulter, die inzwischen wieder zu sich kam.


    Lucky saß neben Kim Krüger auf dem Boden und winselte leise-er wusste nicht, was mit Frauchen los war, aber die Chefin kannte er und hielt sich deshalb an die. Der andere Sanitäter hatte inzwischen Verstärkung angefordert und als Jenni jetzt näher kam und entsetzt das Schauspiel betrachtete, kehrte Sarah gerade wieder in die Realität zurück. „Ben lebt, braucht aber ebenfalls dringend medizinische Versorgung! Er ist dort vorne im Keller und Semir ist bei ihm!“, hörte Sarah als Erstes, als sie wieder bei sich war, das Gespräch zwischen Jenni und der Chefin und jetzt liefen ihr plötzlich die Tränen der Erleichterung übers Gesicht. Ben lebte und war in Sicherheit!
    „Gehen sie sofort zu meinem Mann-ich komme hier schon zurecht!“, forderte sie den Notarzt auf und wollte sich aufrichten. „Immer langsam junge Frau-sie bleiben jetzt mal ganz ruhig liegen, sonst blutet das wieder stärker-in Kürze werden ein weiterer Arzt und mehrere Rettungswagen eintreffen!“, versuchte der Mediziner sie zu überzeugen, aber Sarah, die inzwischen realisiert hatte, was geschehen war, schüttelte eigensinnig den Kopf. „Mir gehts wieder gut, die Kompressen kann jemand anders festhalten, ich bin vom Fach und kann die Situation einschätzen-schauen sie jetzt sofort nach meinem Mann, sonst mache ich das selber!“, befahl sie und schulterzuckend übergab nun der Arzt tatsächlich den Kompressenstapel an den Sanitäter, der so fest drückte, dass Sarah trotz Schmerzmittel leise aufstöhnte, aber immerhin stand die Blutung. „Gut-es ist vertretbar, sie in der Obhut meines Assistenten zu lassen!“, beschied ihr der Notarzt, der sich nun aufrichtete, die blutigen Handschuhe achtlos auf den Boden warf und mit dem Notfallkoffer eilig Jenni folgte, die ihm den Weg wies.


    Semir sah ungeduldig zur Tür. Wo blieb denn der verdammte Notarzt? Es war schon eine ganze Weile her, dass man aus der Ferne ein Martinshorn gehört hatte. Allerdings hatte er auch gemeint, einen entfernten Schuss zu hören, aber da konnte er sich getäuscht haben-die Geräusche drangen nur schwach und undeutlich über die Treppe und die offen stehenden Türen in den gut isolierten Keller. Voller Sorge musterte er das eingefallene und schweißüberströmte Gesicht seines Freundes, der die Augen geschlossen hatte und sich an seiner Hand festklammerte. Was musste der für Schmerzen haben! Von der Verletzung an der Wange floss ebenfalls ein kleines Blutrinnsal auf das Handtuch und Ben hatte, nachdem er von Zofia losgemacht worden war, unbewusst die Beine angezogen, um die Schmerzen ein wenig zu lindern. Nicht um alles in der Welt würde Semir seinen Partner jetzt alleine lassen, aber am liebsten würde er die Treppe hinauf stürmen und den Arzt hinter sich her zu seinem Freund zerren-verdammt noch mal, was trieben die da oben?

  • Jenny beeilte sich und auch der Notarzt legte jetzt einen Zahn zu, denn ein unbestimmtes Gefühl, dass es eilig war, befiel ihn. Er hatte zwar keine Ahnung was hier überhaupt vorging, aber als die Polizei einen Notarztwagen an die angegebene Adresse angefordert hatte, waren sie eben los gefahren, ohne die Anzahl der Verletzten oder andere Details zu wissen, wie das sonst meistens der Fall war. Sie waren auch schon oft nur aus Sicherheitsgründen bei einem Einsatz parat gestanden und später heim gefahren, ohne auch nur einen Finger krumm gemacht zu haben. An diesem Einsatzort allerdings hatte er nun schon die ersten zwei Verletzten versorgt und die Frau, die von dem Hund gepackt worden war, müsste man sich auch dringend ansehen, nur gut, dass die Verstärkung in Kürze kommen würde. Allerdings imponierte ihm die junge Frau, die ihn soeben geradezu gezwungen hatte nach dem nächsten Patienten zu sehen, der wohl ihr Ehemann war. Sie war selber schwer verletzt, man wusste bei solchen Schussverletzungen nie, was da in der Tiefe kaputt war, aber aktuell hatte die Blutung gestanden und er konnte es verantworten, sie von seinen fähigen Sanitätern versorgen zu lassen.


    Was ihn jetzt wohl erwartete? Aber da begann auch schon die hübsche junge Polizistin, die ihm den Weg wies, zu erklären. „Im Keller liegt unser Kollege Ben Jäger, der vor vier Tagen von der Frau entführt wurde, die vorher vom Hund gestellt worden ist. Sie hat ihn schrecklich gequält und er hat unter anderem schwere Unterleibsverletzungen. Ich werde deshalb nicht mit rein gehen, ich glaube hier sollten Männer unter sich sein!“, teilte sie ihm mit und inzwischen waren sie auch schon im Haus angekommen.

    Aus dem Wohnzimmer erklang gerade ein wütendes Stöhnen und Jenni ging-nachdem sie den Arzt zur Treppe geführt hatte, nun mit gezückter Waffe zu Elias, richtete die auf ihn und sagte mit drohender Stimme: „Eine falsche Bewegung und du wirst es spüren!“, woraufhin sich der Mann ruhig verhielt. Bei seinen Ballerspielen am PC wurden die Spielfiguren auch abgeknallt. Nur bei der echten Waffe seiner Schwester passierte nichts, wenn man den Abzug durchzog. Sie hatte ihm erklärt, dass sie dafür keine Munition habe, dabei hätte es ihm sicher Spaß gemacht, da auf Dinge, Tiere und Personen zu schießen, aber das wollte sie nicht und er hatte sich widerstrebend gefügt. Diese junge Polizistin sah allerdings so aus, als wäre ihre Waffe durchaus geladen und sie würde auch Ernst machen und deshalb brummte Elias, dessen Schädel immer noch ein wenig schmerzte, vor sich hin und wartete darauf, dass seine Schwester kam, um ihn zu befreien. Sie hatte sich immer um ihn gekümmert, seitdem er denken konnte und würde das auch diesmal tun. Er konnte sich noch gut erinnern, wie ihr Opa ihr das eingeschärft hatte, als sie noch ganz kleine Kinder waren, bevor er bei einem Badeunfall ertrunken war und ihre Mutter hatte das auch wieder und wieder gesagt. Er wusste, dass er immer schon anders war wie andere Jungs, er war auch nie zur Schule gegangen, sondern zuhause unterrichtet worden, soweit es möglich war, aber er war glücklich so wie es war und wenn seine Schwester etwas von ihm verlangte, führte er es ohne zu zögern aus, denn er bekam immer eine Belohnung, wenn er sich wohl verhielt.


    Zofia war zu Jenni getreten und hatte mitleidlos den debilen Mann am Boden betrachtet. „Bitte-sagen sie mir, wo meine Tochter ist-ich muss sofort zu ihr!“, bat sie flehend und nach kurzer Überlegung zückte Jenni ihr Funkgerät und fragte nach, ob es möglich wäre die kleine Eva zu ihrer Mutter zu bringen. Dieter hatte inzwischen begonnen mit der Kleinen zu spielen und im Haus waren einige Kollegen eingetroffen, die die Bewachung der älteren Frau übernehmen konnten. „Komm Eva-ich bringe dich zu deiner Mama!“, sagte Bonrath, als ihm die Zusammenhänge aufgegangen waren und die Kleine steckte vertrauensvoll ihre Hand in die des großen Mannes. „Da ist mein Kindersitz!“, wies sie mit dem Finger zur Garage und tatsächlich-wenig später war eine ordnungsgemäß angeschnallte Eva im Polizeifahrzeug unterwegs und auch Hartmut ließ zwar die Überwachungsvideos weiter mitlaufen und kopierte auch automatisch zu Beweiszwecken die Daten auf eine Festplatte, aber als er gesehen hatte, dass der Notarzt sich jetzt um Ben kümmerte, wandte er den Blick höflich ab und machte sich selber auf den Weg zum alten Hafen-dort gäbe es sicher ebenfalls Arbeit für ihn.


    Der erfahrene Notarzt betrat den Kellerraum und Semir überfiel sofort ein Gefühl der Erleichterung. Endlich war medizinische Hilfe da und Ben würde bald keine Schmerzen mehr haben. „Guten Tag, ich bin Dr. Möller“, stellte sich der Doktor vor und sein Blick erfasste mehrere Informationen auf einmal. Erstens das Krankenhausbett mit den Fixierungsgurten, die Blutlache darunter, herumliegende altertümliche medizinische Instrumente und inmitten des ganzen Chaos ein gut aussehender, aber schrecklich mitgenommener Patient, der von einem weiteren Mann, der ihm der Körpersprache nach anscheinend sehr vertraut war, begleitet wurde. Nach den Worten der Polizistin hatte er ja schon den Hauch einer Vorstellung davon gehabt, was ihn erwartete, aber als er sich jetzt frische Einmalhandschuhe über zog und den Patienten freundlich fragte, ob er ihn untersuchen dürfe, überkam ihn wenig später das pure Grauen. Zu was für Grausamkeiten waren Menschen nur fähig? Nach dem, was er hier zu sehen bekam, wünschte er sich fast, der große graue Hund hätte vorhin noch ein wenig fester zu gepackt!

  • Der Notarzt tastete Ben erst von oben bis unten ab, runzelte die Stirn, als er die blauen und empfindliche Rippenpartie betrachtete, maß seinen Blutdruck, der stark erniedrigt war, leuchtete ihm in die Augen und fragte dann: „Darf ich die Decke wegnehmen?“ Ben hatte jetzt die Augen geschlossen, sein Atem ging stoßweise und er hielt sich wie ein Ertrinkender an Semir´s Hand fest. Er nickte fast unmerklich, denn bei aller Angst war ihm klar, dass er jetzt medizinische Hilfe brauchte. Gott sei Dank war der Notarzt ein Mann, sonst wäre Ben auf und davon gegangen.

    Den erfahrenen Mediziner, der schon viel gesehen hatte, überfiel das nackte Grauen, als er Ben´s Genitalien ansah. Diese Frau hatte gewütet wie ein Berserker und ihn schwerst verletzt. Es war zwar keine arterielle Blutung, es spritzte nicht, aber dennoch stand die Blutung nicht, sondern der venöse Strom floss in stetigem Rinnsal, bildete teilweise Koagel und der Rest tropfte auf den Boden. Dem Arzt war klar-er musste die Blutung stillen, aber zuvor brauchte sein Patient ein starkes Schmerzmittel, sonst würde er das nicht aushalten. Alleine die vorsichtige Berührung hatte ihm schon ein schmerzerfülltes Stöhnen entlockt. Allerdings war der Kreislauf so schwach, dass er mit der Dosierung sehr vorsichtig sein musste. Lieber wäre es ihm gewesen, er hätte einen Monitor gehabt, um seinen Patienten besser überwachen zu können und auch mindestens einen seiner fähigen Mitarbeiter, der ihm assistierte, aber so musste er sich auf seine fünf Sinne und seine Erfahrung verlassen. Der Monitor hing bei der jungen Frau und die beiden Mitarbeiter versorgten die Patienten draußen. Solange der zweite RTW nicht eintraf, war er auf sich alleine gestellt.


    Er zog die- nun schon wieder blutigen Handschuhe, obwohl er noch gar nicht viel gemacht hatte- aus, holte zunächst aus seinem Koffer einen Stauschlauch und einen Zugang und zog ein Medikament auf. Dann steckte er rasch eine Infusion zusammen-die letzte im Koffer, um den nicht so schwer werden zu lassen, hatte man den Inhalt eher knapp gehalten. Suchend sah er sich um, aber da war keine Möglichkeit die Infusion auf zu hängen-er würde den Kollegen seines Patienten bitten müssen, die zu halten. Der letzte Stapel steriler Kompressen, ein grünes Steriltuch, Handschuhe und zwei eingeschweißte kleine Gefäßklemmen vervollständigten die Vorbereitungen.


    „Herr Jäger-ich lege ihnen jetzt erst einmal einen Zugang und gebe ihnen etwas gegen die Schmerzen!“, kündigte er an und bemühte sich, einen vertrauenerweckenden Ton anzuschlagen. Ben nickte unmerklich und zuckte kein bisschen, als der Notarzt-nun wieder mit Einmalhandschuhen-eine Vene an seinem Unterarm punktierte, die Infusion anschloss und das Ganze verklebte. Das starke Opiat floss wenig später durch seine Adern und linderte den Schmerz, allerdings war das natürlich keine Narkose und der Arzt betrachtete sorgenvoll die wächserne Blässe seines Patienten. Hoffentlich traf bald die Verstärkung ein und man konnte ihn in die Klinik bringen, hier würden die Urologen ganze Arbeit leisten müssen. Er konnte jetzt nur versuchen die Blutung zum Stehen zu bringen und während Semir mit einer Hand die Infusion hoch hielt, wechselte der Arzt erneut die Handschuhe, diesmal schlüpfte er in die sterilen und wenig später gellten Ben´s Schreie durch den Kellerraum und ließen Jenni oben im Wohnzimmer erschauern.


    Es dauerte nun Gott sei Dank nicht mehr lange und zwei Mitarbeiter des Rettungsdienstes enterten mit voller Ausrüstung das Haus und bekamen von Zofia den Weg gewiesen. Wenig später betrat die Chefin, die Lucky am Halsband fest hielt, ebenfalls das Gebäude und stieß zu Jenni. Zwei weitere Beamte übernahmen die Bewachung des Kolosses und gerade als Jenni der Chefin zu berichten begann und man hörte, wie eine Trage die Treppe herauf befördert wurde, schlüpfte Lucky plötzlich mit einer eleganten und oft geübten Bewegung aus dem Halsband, war Sekunden später laut winselnd neben der Trage auf der Ben lag und zeigte mit seiner ganzen Körpersprache gleichzeitig Glück und Besorgnis. „Verdammt noch mal-was sucht der Köter hier-kann den mal jemand weg tun!“, schrie der eine Sanitäter erbost, aber dann konnte er nichts mehr sagen, denn Semir rief: „Lasst ihn-das ist sein Hund!“, und Ben, der verwundert die Augen öffnete, sah direkt in die braunen Augen seines Riesenhundes, die ihn klug und freundlich anblickten. „Lucky-es ist schon gut, wir helfen deinem Herrchen nur!“, sagte Semir, der die Trage mit die Treppe herauf befördert hatte und streichelte den grauen Deerhound, während die Chefin mit erstauntem Gesichtsausdruck das leere Halsband in ihrer Hand betrachtete.
    „So eng können sie das gar nicht schnallen, dass Lucky der Entfesslungskünstler da nicht raus kommt, wenn er will!“, erklärte Semir und legte seinem Hundefreund das Halsband dann wieder an. Ben, der zwar durch das Opiat etwas gedämpft war, aber dennoch seinen Verstand noch beieinander hatte, fragte nun leise: „Wo ist Sarah?“, aber er bekam momentan von niemandem Antwort.

  • Auch Semir beschäftigte die dringende Frage nach Sarah und er warf der Chefin einen fragenden Blick zu. Die allerdings sah plötzlich verzweifelt drein und schüttelte unmerklich den Kopf. Nun war Semir klar, dass da etwas passiert sein musste und jetzt vibrierte plötzlich auch das Handy in seiner Tasche, als die Nachrichten, die im Keller nicht durch gekommen waren, eintrafen. Allerdings wurde Ben nun unruhig und versuchte sich auf zu richten und so eilte Semir, nachdem er der Chefin Lucky wieder übergeben hatte, an die Seite seines Freundes zurück, drückte ihn sanft auf die Trage und half diese die paar Stufen aus dem Haus zu tragen und in den RTW zu schieben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie gerade ein Sanitätsfahrzeug mit Blaulicht abfuhr und ein weiteres anrollte.

    Semir stieg nun allerdings ohne zu zögern zu seinem Freund und der Notarzt nickte ihm freundlich zu. „Sehr gut-ich denke es hilft ihm ungemein, wenn sie bei ihm bleiben!“, sagte er und wenig später setzte sich der Wagen in Bewegung. „Semir-wie kommt Lucky hierher und warum sagt mir niemand wo Sarah ist!“, fragte nun Ben mit banger Stimme und jetzt war der kleine Türke froh, dass er nichts wusste, so musste er seinen Freund auch nicht anlügen. Der Notarzt, der ja durchaus hätte Auskunft geben können, schwieg ebenfalls im Moment, er wusste nicht, wie sein Patient die Nachricht aufnehmen würde, dass seine Frau angeschossen worden war. Allerdings lebte sie und er wartete jetzt erst einmal ab, ob es dem kleinen Mann gelingen würde, seinen Freund zu beruhigen.
    „Ben-ich weiß nicht, wie Lucky hierher kommt, aber vielleicht hat die Chefin ihn geholt, um deine Fährte auf zu nehmen!“, vermutete er und fürs Erste glaubte Ben ihm die Notlüge und schloss die Augen, während der Wagen um ein paar Ecken rumpelte, bevor er Fahrt aufnahm und sich mit Blaulicht und Martinshorn der Uniklinik näherte. „Ich muss so dringend aufs Klo!“, verkündete Ben nun mit gepresster Stimme und ballte die Hände zu Fäusten. Jede Erschütterung machte ihm das mehr und mehr bewusst und er meinte platzen zu müssen. „Herr Jäger, wir legen gleich in der Klinik eine Blasendrainage über den Bauch, halten sie noch einen kurzen Moment durch“, informierte Dr. Möller seinen Patienten und beobachtete den Monitor. Ben´s Herz schlug immer noch viel zu schnell und der Blutdruck war ziemlich niedrig. Er brauchte sicherlich Volumen, aber er konnte es nicht verantworten, die Infusion noch schneller auf zu drehen, sonst riskierte er eine Blasenruptur, aber der Weg zur Klinik war ja nicht weit und wenig später bog der RTW in die Anfahrt zur Notaufnahme ein.


    Semir hatte indessen seine Nachrichten auf dem Handy gecheckt und es war ihm klar, dass Sarah etwas passiert sein musste. Sie hatte versucht, ihn telefonisch mit Rückrufbitte zu erreichen, während er bei Ben im Keller gewesen war. Er hatte keine Ahnung wo sie sein konnte, nur eines war sicher-wenn sie unverletzt wäre, hätte sie nichts und niemand davon abhalten können, an die Seite ihres Mannes zu eilen.


    Bevor Sarah abtransportiert worden war, hatte sie der Chefin noch ihren Autoschlüssel gegeben, der in der Jackentasche gewesen war. „Bringen sie Lucky, im Hundekäfig hinten im Wagen gesichert, bitte zu Hildegard unserer Kinderfrau, da sind auch Tim und Mia-Sophie“, bat sie und gab die Adresse durch. „Dort wird er bleiben, aber sonst kann ich nicht garantieren, dass er nicht abhaut. Sagen sie ihr, ich melde mich, sobald es möglich ist und es ist nicht so schlimm!“, flüsterte sie, aber die Blässe um ihre Nase und der Schmerz in ihren Augen sprach eine andere Sprache. Lucky, der mit hängenden Ohren und leichtem Winseln sein Frauchen betrachtet hatte, beobachtete, wie sie vom anderen Notarzt, der zuvor noch kurz Maria begutachtet hatte, übernommen und vorsichtig auf eine Trage gelegt wurde. „Lucky-sei brav und geh mit Frau Krüger mit, es ist alles gut!“, befahl Sarah, bevor sich die Türen des RTW hinter ihr schlossen und jetzt strebte Frau Krüger erst noch ins Haus, um dort zu sehen, wie es Ben ging und ob die Lage in Griff war. Nach ihren Informationen war der Einsatz erfolgreich verlaufen, aber sie würde sich erst einmal mit eigenen Augen davon überzeugen, bevor sie den Hund weg brachte.


    Als Sarah, Ben und der verletzte Polizist in drei Rettungswagen abtransportiert worden waren, Maria unter strenger Bewachung mit dem Streifenwagen in ein Gefängniskrankenhaus gebracht worden war und der Koloss, auf den der Notarzt einen kurzen Blick geworfen und ihn für haftfähig erklärt hatte, gefesselt abgeführt worden war, bog endlich ein Polizeiporsche um die Ecke.
    Zofia, die angespannt in die Ferne geblickt hatte, konnte erst durch die getönten Scheiben nichts erkennen, aber dann stieg ein sehr großer blonder Polizist aus, umrundete das Fahrzeug und öffnete die hintere Tür. Dort hatte sich ein kleines blondes Mädchen inzwischen abgeschnallt und als Bonrath sie nun aus dem Fond hob, schossen Zofia die Freudentränen in die Augen. „Eva!“, rief sie und rannte mit ausgestreckten Armen auf die Kleine zu, die nun laut „Mama!“, rief-ein Wort, das in beiden Sprachen, Deutsch und Polnisch- gleich war. Eva schmiss sich in die Arme ihrer Mutter, die vor Glück und Erleichterung zu schluchzen begonnen hatte und ihr Kind an sich zog. Sie würde die Kleine nie mehr los lassen-na zumindest in den nächsten Minuten nicht.

  • Sarah war inzwischen in der Klinik angekommen. Man schnitt ihre Kleidung auf, fertigte eine Röntgenaufnahme der Schulter an, legte einen Druckverband an, fragte sie, wann sie das letzte Mal gegessen habe, was aber schon eine ganze Weile her war und so wurde sie für die baldige Operation und die Narkose aufgeklärt. Sie kannte einige Mitarbeiter aus der Notaufnahme noch und bat: „Bitte findet heraus, ob mein Mann auch hierher eingeliefert wird und ermöglicht mir vorher, ihn zu sehen“, und die Kollegen bestätigten die Voranmeldung. Sarah rief auch noch Hildegard an, die aus allen Wolken fiel und versicherte, sich natürlich um die Kinder und Lucky zu kümmern, wenn er zu ihr gebracht wurde.

    Da kam auch schon Sarah´s Kollegin zur Tür herein. „Dein Mann wird gerade her gefahren-ich bringe deine Liege jetzt kurz auf den Flur, damit ihr euch sehen könnt, aber dann geht es ab in die Operationsabteilung für dich und Ben muss erst mal untersucht werden-der Urologe steht schon bereit!“, verkündete sie und Sarah, die ja keine Ahnung hatte, was ihrem Mann fehlte und wie schwer er verletzt war, überfiel eine dumpfe Vorahnung. Oh je-das Fachgebiet ließ auf nichts Gutes schließen und da wurde auch schon ein bis zum Hals zu gedeckter, leichenblasser Ben um die Ecke geschoben und Semir lief nebenher und hielt seine Hand.
    „Schatz-wie geht es dir?“, rief Sarah und der dunkelhaarige Polizist öffnete beim Klang ihrer Stimme die Augen. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete ihn, aber als er dann Sarah ebenfalls auf einer Trage liegen sah, mit einem Verband um die Schulter, der sich bereits wieder rot färbte, erschrak er bis ins Mark. „Sarah-was ist mit dir?“, rief er, aber dann wurde ihr kurzes Zusammentreffen unterbrochen. „Frau Jäger-sie sind in den OP abgerufen und ihr Mann muss jetzt dringend versorgt werden!“, erklärte ein resoluter Pfleger vom Fahrdienst und schon war Sarah auf dem Weg zur Operationsabteilung und ließ einen verzweifelten Ben zurück.


    Man schob seine Trage in den Schockraum, wo ein Team, bestehend aus einem Notfallmediziner, dem angeforderten Urologen und einer Anästhesistin bereit stand, dazu natürlich noch das Pflegepersonal. „Bitte-sagen sie mir-was ist mit meiner Frau-was ist passiert-ist sie schwer verletzt und warum muss sie operiert werden?“, fragte Ben wieder und wieder, aber momentan gab ihm niemand Antwort, sondern er wurde auf die Behandlungsliege der Klinik umgebettet, was ihn aufstöhnen ließ, wobei man im Augenblick seine Intimsphäre noch wahrte und eine Decke über ihn breitete. „Würden sie bitte rausgehen?“, forderte man Semir auf, aber jetzt schüttelte Ben erst vehement den Kopf. „Er soll dableiben-oder nein, doch nicht-Semir finde heraus, was mit Sarah los ist und wo meine Kinder sind!“, schickte er seinen besten Freund davon, obwohl er ihn doch so dringend an seiner Seite gebraucht hätte. Aber die Sorge um seine Familie hatte ihn gepackt und auch wenn ihn die ganze Situation völlig überforderte und er körperlich und nervlich am Ende war-er musste wissen was geschehen war, zuvor würde er keine Ruhe finden.


    Semir´s Blicke wanderte zwischen dem Dunkelhaarigen und der Schiebetür hin und her. Er war innerlich unschlüssig, was er tun sollte, aber als Ben ihn nun beinahe anschrie: „Jetzt geh schon!“, und er die Not und die Sorge in seiner Stimme wahr nahm, wandte er sich doch um, verließ den Raum und lief in die Richtung, in der Sarah´s Liege verschwunden war. Klar konnte er nicht in den OP, aber so gut kannte er sich im Uniklinikum inzwischen aus, dass er eine Treppe neben den Aufzügen nahm und tatsächlich noch vor der Operationsabteilung auf Sarah und den Pfleger traf. „Sarah-Ben schickt mich, er macht sich Sorgen um dich und will wissen, was mit dir geschehen ist. Außerdem hat er sich nach den Kindern erkundigt und nach Lucky-kannst du mir kurz erklären, was eigentlich passiert ist und warum du operiert werden musst, damit ich zu ihm zurück gehen und ihn beruhigen kann!“, erklärte er aufgeregt und ein wenig außer Atem, denn er war die Treppe nach oben gerast, so schnell er konnte. Sarah hob die gesunde Hand. „Bitte warten sie einen Moment, das muss jetzt sein!“, bat sie ihren Kollegen und erzählte Semir in kurzen Sätzen was geschehen war.

    „Ich bin zufällig an deinem geparkten Wagen im alten Hafen vorbei gekommen und hatte schon so eine Ahnung, dass deine Anwesenheit etwas mit Ben zu tun haben könnte. Als du auf meinen Anruf nicht reagiert hast, wurde kurz darauf eine Frau abgeführt, die geflüchtet ist und zuvor einen Polizisten schwer verletzt hat. Lucky hat sich nicht zurück halten lassen, sondern ist ihr nach und hat sie gestellt. Ich bin ihm auch nach gerannt, wie drei deiner Kollegen ebenfalls und da wollte doch tatsächlich einer davon Lucky erschießen. Ich habe mich vor ihn geworfen, um ihn daran zu hindern und wurde an der Schulter getroffen. Die Kugel steckt noch drin, es hat ziemlich geblutet und jetzt wird die Kugel raus geholt und die Schulter repariert. Die Kinder sind bei Hildegard, die schon Bescheid weiß und sie weiter hütet und mit Frau Krüger habe ich ausgemacht, dass sie Lucky in unserem Wagen auch dorthin bringt. Ben muss sich also keine Sorgen machen-seine Familie ist versorgt und jetzt erzähl-wie schwer ist Ben verletzt und was fehlt ihm?“, wollte sie wissen, aber nun unterbrach der Pfleger ungeduldig das Gespräch. „Frau Jäger-es tut mir leid, aber das OP-Personal kann nicht ewig auf sie warten. Sie müssen sich jetzt um sich selber kümmern und ihr Mann wird in der Notaufnahme gut versorgt!“, warf er energisch ein und drückte auf den Türöffner zur Operationsabteilung. „Semir-pass auf Ben auf!“, rief Sarah und dann schloss sich die Schiebetüre hinter ihr, so dass Semir nur noch: „Alles Gute für dich-und das ist doch selbstverständlich!“ erwidern konnte. Dann wandte er sich um und ging die Treppe wieder hinunter, um zu seinem Freund zu eilen.


    In der Notaufnahme allerdings verstellte ihm ein breitschultriger Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes den Weg, als er den Behandlungsflur betreten wollte. „Hier werden Patienten untersucht und Besucher haben keinen Zutritt!“, schnauzte er ihn an und Semir konnte währenddessen Ben in dem Behandlungsraum nicht weit entfernt aufstöhnen hören. „Hören sie-mein Kollege Herr Jäger wünscht meine Anwesenheit und ich war da schon drin-fragen sie bitte nach!“, versuchte Semir zu verhandeln, aber während nun ein Schluchzen seines Freundes aus dem Zimmer drang, baute sich der zwei Kopf größere Mann drohend vor ihm auf. „Das Leben ist kein Ponyhof und während der Behandlung ist Besuchern der Aufenthalt nicht gestattet-wo kämen wir denn da hin!“, beharrte er und Semir seufzte auf. Jetzt würde er Plan B umsetzen und bevor der Security auch nur reagieren konnte, hatte der kleine Türke auf der einen Seite angetäuscht, sich dann geduckt und war einfach an dem Mann vorbei geschlüpft, der sich nun wutentbrannt zu ihm umdrehte, während Semir schon fast das Untersuchungszimmer erreicht hatte.

  • Semir meinte plötzlich von einem Dampfhammer getroffen worden zu sein, denn dass der Security so flink und schnell sein würde, hatte er nicht erwartet. Bevor er sich versah, hatte der ihn in den Schwitzkasten genommen und gebrummt: „So haben wir nicht gewettet, Freundchen!“ Bei Semir machten sich die Prellungen bemerkbar, die er bei der unfreiwilligen Karussellfahrt mit dem Koloss erhalten hatte und so schaffte er es nicht, sich zu wehren, oder aus der Umklammerung zu schlüpfen.
    In diesem Augenblick sah der Security auch die Waffe, die der kleine Türke am Gürtel trug und zog sein Funkgerät hervor. „Ich brauche Verstärkung in der Notaufnahme und verständigt sofort die Polizei-hier versucht sich ein bewaffneter Mann Zutritt zu den Behandlungsräumen zu verschaffen-Alarmstufe Rot!“, rief er in das Walkie-Talkie und Semir versuchte nun mit gepresster Stimme zu erklären: „Verdammt nochmal-ich bin Polizist-der Dienstausweis befindet sich in meiner Gesäßtasche!“, aber im Moment ließ der schwarz gekleidete Mann, der die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen hatte, ihn nicht los, er würde warten, bis ein Kollege eintraf. Außerdem waren Semir´s Worte sehr schwer verständlich, in der unbequemen Position, in der er sich gerade befand.


    Ben´s Stöhnen drang durch die Tür und Semir wollte nichts lieber als an die Seite seines Freundes eilen, aber er konnte zappeln so viel er wollte, sein Kopf wurde gnadenlos fest gehalten und nun schlossen sich auch noch Handschellen um seine Handgelenke. Endlich kam ein weiterer schwarz gekleideter Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, anscheinend der Vorgesetzte des Mannes, der ihn fixierte, angesichts der Waffe den Gummiknüppel in Bereitschaft und fragte: „Was ist hier los? Die Polizei ist bereits verständigt!“ und jetzt endlich lockerte der riesige Mann den Griff um Semir´s Hals so, dass der wieder Luft bekam und sich nochmals erklären konnte, die Worte vorhin waren in dem Handgemenge völlig unter gegangen. „Bitte fassen sie in meine rechte Gesäßtasche, da befindet sich mein Dienstausweis. Ich bin Polizist und möchte nur zu meinem Kollegen dort drinnen im Behandlungsraum, der wünscht das“, und der zweite Security holte nun tatsächlich vorsichtig Semir´s Ausweis hervor. Er studierte ihn eingehend und im selben Augenblick stürmten zwei uniformierte Polizisten, die Waffe im Anschlag, die gerade ganz in der Nähe Streife gefahren waren und den Notruf erhalten hatten, ebenfalls hinzu. Gott sei Dank kannte der eine der beiden Semir vom Sehen und wenig später wurden die Handschellen aufgeschlossen und der kleine Türke rieb sich noch ein wenig den Hals. „Ist jetzt alles klar und ich kann endlich zu meinem Freund?“, fragte er angepisst und nun machte der Security den Weg frei, nicht ohne sich zuvor beim Pflegepersonal vergewissert zu haben, dass das auch wirklich in Ordnung ging. So eilte Semir nun an die Seite des dunkelhaarigen Polizisten, der gerade eine Blasendrainage durch die Bauchdecke bekam und die ganze Zeit schon angespannt auf die Rückkehr seines besten Freundes wartete.


    Als Semir den Raum verlassen hatte, hatte der Notarzt seine Übergabe an die Krankenhausmediziner erledigt, man hatte Ben umgelagert, die Geräteüberwachung ausgetauscht und nun begonnen-wie vorhin schon der Notarzt- ihn von Kopf bis Fuß zu untersuchen. Nur den Intimbereich ließ man zunächst noch aus und redete ihm die ganze Zeit auch beruhigend zu, denn die Voranmeldung hatte durchaus die Schlagworte. „Sexueller Missbrauch“, beinhaltet. Der Notarzt hatte bei der Übergabe im Zimmer nur: „Multiple blutende Genitalverletzungen“, erwähnt, dann aber im Hinausgehen den Urologen aufgefordert mit ihm zu kommen. Draußen schloss er erst gründlich die Schiebetür, um dann dem Facharzt die vorgefundenen Folterwerkzeuge zu beschreiben, damit der eine ungefähre Vorstellung davon bekam, was ihn erwartete. „Unser Patient hat sich mehrere Tage in der Gewalt einer völlig skrupellosen Sadistin befunden, die heute bei ihrer Verhaftung noch einem Polizisten mit einer Nagelfeile fast das Auge ausgestochen hat. Die alten medizinischen Instrumente, die dort rumlagen, darunter auch mehrere starre Metallkatheter, waren alle verschmutzt und ich kann mir vorstellen, dass Herr Jäger die Hölle auf Erden hinter sich hat. Nehmt bitte Rücksicht darauf!“, bat er und der Urologe nickte mitleidig. Leider war so etwas für ihn an der Tagesordnung, denn sexuelle Gewalt auch gegenüber Männern kam häufiger vor, als man sich vorstellen konnte, nur wurde das selten thematisiert. „Wenn wir uns um seinen Körper gekümmert haben, werden wir die Krankenhauspsychologin auf ihn ansetzen, ich hoffe, wir kriegen das hin!“, versprach er und nachdem Dr. Möller und sein Team sich nun endgültig verabschiedet hatten, kehrte er in den Schockraum zurück, wo inzwischen Ben´s Bauchraum mit dem Ultraschallgerät untersucht wurde.


    „Die Blase ist zum Bersten gefüllt und die Nierenkelche sind bereits aufgestaut, ansonsten kann ich keine inneren Verletzungen entdecken!“, vermeldete der untersuchende Notaufnahmearzt und der Urologe warf ebenfalls einen prüfenden Blick auf das graue Gewaber auf den Bildschirm, während Ben jammerte: „Bitte-ich muss so dringend pinkeln, ich halte das nicht mehr aus!“ Man sah zwar die blauen Flecke überall, die Schramme an der Wange hatte man schon rasch mit einigen Strips versorgt und verpflastert, man hatte auch Blut abgenommen, aber das Hauptproblem schien wirklich im Fachbereich des Urologen zu liegen.


    „Herr Jäger-ich möchte mir jetzt ihre Genitalverletzungen ansehen, um abzuwägen, wie ich ihnen am besten helfen kann. Hier drinnen ist lauter medizinisches Fachpersonal, das solche Anblicke gewöhnt ist, sie müssen sich also nichts dabei denken, ich kann ihnen aber trotzdem anbieten, alle raus zu schicken, wenn ihnen das sehr unangenehm ist!“, fragte nun der Urologe freundlich und ruhig, aber zu seiner Überraschung antwortete Ben mit bebender Stimme: „Es ist mir völlig egal wer mich da unten anschaut-nur bitte nehmen sie schnell das Wasser weg-ich platze“, heulte er beinahe und nun löste der Urologe mit behandschuhten Händen rasch und geschickt den Verband zwischen den Beinen des Polizisten, sah aber auf den ersten Blick, dass das Legen eines Katheters, genauso wie spontanes Wasser lassen, im Augenblick unmöglich war und deckte fürs Erste nur erneut ein steriles Tuch über Ben´s Scham. „Schwester-bereiten sie bitte ein Pufi-Set vor, Herr Jäger-sie bekommen jetzt unter örtlicher Betäubung ein kleines Schläuchlein durch die Bauchdecke gelegt, das eine Urinableitung garantiert!“, kündigte er an und horchte dann mit gerunzelter Stirn, was sich da vor dem Behandlungsraum abspielte, von wo man Geräusche eines Kampfes und laute zornige Rufe vernehmen konnte. Nur gut, dass sie hier einen Sicherheitsdienst hatten!


    Der Mediziner legte nun Haube und Mundschutz an, begann seine Hände mehrfach chirurgisch zu desinfizieren und die Schwester bereitete das sterile Basisset, das Harnableitungsset, einen großen sterilen Beutel mit Stundenurimeter und die Lokalanästhesie vor, und rasierte dann den Unterbauch, während Ben angespannt auf dem Rücken lag, die Augen in seiner Not zusammen gekniffen und die Hände zu Fäusten geballt hatte.

  • Nachdem endlich alles geklärt war, huschte Semir an die Seite seines Freundes und griff nach dessen Hand. Die Assistenzärztin der Anästhesie hatte nochmals den Blutdruck nach gemessen, aber der war 120/80, nur der Puls war schneller als gewöhnlich. Ben war völlig verkrampft und Semir konnte das gut verstehen. Wer hatte noch nicht einmal dringend zur Toilette gemusst, ohne dass es eine Möglichkeit dazu gab. Da konnte die Zeit im Stau oder anderswo lang werden. Und wie viel schlimmer erging es Ben, der auf normalem Wege gerade überhaupt kein Wasser lassen konnte, wie der Notarzt im Keller schon angemerkt hatte.


    Im Augenblick war auch unwichtig, was mit Sarah und den Kindern war, das konnte man später besprechen-jetzt musste seinem Freund geholfen werden und da strich der Urologe auch schon den Unterbauch bis zum Nabel mit kalter, farbiger Desinfektionslösung ab und deckte dann ein gefenstertes Steriltuch darüber. Auf der halben Strecke zwischen Nabel und Schambein spritzte er dann eine örtliche Betäubung, die Ben kaum wahrnahm, denn durch die massiv überdehnte Blase waren andere Schmerzen im Vordergrund. Kurz wartete der Mediziner, nahm dann den scharfen, spitzen Einmaltrokar mit Sollbruchstelle in die Hand, setzte ihn auf der Haut an und stieß ihn mit einer raschen Bewegung in Ben´s Unterbauch. Der schrie auf, aber nicht, weil der Stich weh getan hätte, sondern weil sich der Druck in seinem Bauch ins Unendliche zu verstärken schien. Nun schob allerdings der Arzt das dünne Schläuchlein innerhalb der mörderischen Nadel ein Stück vor, zog dann den Trokar vor die Bauchwand und brach ihn an der Sollbruchstelle in der Mitte längs auseinander. Zuvor hatte er schon den ebenfalls sterilen Harnableitungsbeutel angeschlossen und nach dem Öffnen der Schiebeklemme, begann trüber, eitriger Urin nur so in den Beutel zu sprudeln. Das anwesende Fachpersonal sah sich an. „Gut-wo das Fieber herkommt ist nun wohl klar!“, sagte der Notfallmediziner und während der Urologe mit einem Stich das Schläuchlein an der Bauchwand fest nähte, damit es nicht heraus rutschen konnte, lockerte sich langsam Ben´s Verkrampfung.


    Der Urologe wischte mit einem Steriltupfer noch das Blut ab, hieß die Schwester einen sterilen Verband aufkleben und schloss dann nach einem Blick auf die Graduierung des Beutels die Schiebeklemme wieder. „Wir lassen erst einmal nur eineinhalb Liter ab, damit die Blase sich nicht plötzlich komplett zusammenziehen kann. Das war eh verdammt knapp an der Blasenruptur vorbei und diese infizierte Brühe im Bauchraum zu haben, hätte höchste Lebensgefahr bedeutet. Wenn die Blase, die ja auch ein Hohlmuskel ist, sich langsam an die veränderte Situation gewöhnen kann, verringert sich die Gefahr von Blutungen. Allerdings können natürlich durchaus Krämpfe auftreten!“, erklärte er und kaum hatte er das gesagt, da bäumte sich Ben auch schon auf und Semir hatte alle Mühe ihn zu beruhigen, während die Anästhesistin eilig ein Medikament aufzog.


    „Sie bekommen von mir etwas gegen die Krämpfe!“, beruhigte sie ihn und injizierte ihm dann die Ampulle langsam in den Zugang. Plötzlich schlug der Monitor Alarm und Ben wurde auf einmal leichenblass und sein Herz, das eh schon schnell geschlagen hatte, jagte mit einer Frequenz um die 200 Schläge pro Minute vor sich hin. „Verdammt, was hat er- eine allergische Reaktion?“, rief der Urologe und die junge Ärztin sah eine Sekunde fassungslos auf den jungen Polizisten, der gerade die Augen verdrehte und löste dann die Blutdruckmessung nochmals aus, aber der Druck war momentan nicht messbar. Dann allerdings begannen oft geübte Notfallabläufe und während der Notaufnahmearzt die Behandlungsliege kopftief stellte, drehte die angehende Narkoseärztin die Infusion voll auf und bat die Schwester hoch dosiertes Cortison auf zu ziehen. Man schob Semir zur Seite, insufflierte Ben Sauerstoff über eine Maske und behandelte so erst einmal symptomatisch den Kreislaukollaps. „Ich glaube nicht, dass es ein allergischer Schock ist, es schwillt nichts an und da wäre Cortison eher kontraindiziert. Meine Theorie ist, dass er hypovoläm ist und der Blutdruck nur durch die volle Blase und die Aufregung im normalen Bereich war. Jetzt hat die Anspannung nach gelassen und das Buscopan hat nicht nur die Blase entkrampft, sondern im ganzen Körper die Gefäße weit gestellt, so dass das wenige Blutvolumen in der Peripherie versackt ist. Geben wir ihm eine halbe Ampulle Akrinor und schauen, was dann passiert!“, ordnete der Notfallmediziner an und die Schwester legte die inzwischen aufgelöste und aufgezogene Prednisolonampulle zur Seite, bereitete statt dessen in Windeseile das Notfallmedikament vor und siehe da-kaum hatte Ben das bekommen, begannen seine Augenlider wieder zu flattern und der Blutdruck war zwar niedrig, aber wieder messbar. Er sah panisch um sich und seine Hand griff suchend ins Leere und sofort eilte Semir wieder an die Seite seines Freundes-keine zehn Pferde hätten ihn jetzt davon abhalten können!

  • Kaum war Ben wieder so halbwegs bei sich, wisperte er. „Was ist mit Sarah und den Kindern?“, aber nun strich ihm Semir eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. „Ich erkläre dir das nachher in Ruhe, jetzt lass dich erst einmal behandeln-nur so viel, es ist nicht so mega schlimm, Sarah konnte schon wieder alles organisieren, damit der Laden läuft, während sie operiert wird und deine Kinder und Lucky werden von Hildegard versorgt-also ist alles beim Alten!“, erklärte er und über Ben´s verhärmtes Gesicht zog ein kleines Lächeln, ja das war seine Sarah-alles im Griff! Trotzdem war er zittrig und fühlte sich unendlich schwach. Die Theorie des Notaufnahmearztes hatte sich bestätigt und während das Notfallmedikament wirkte, legte man ihm zwei weitere großlumige Zugänge in beide Arme, was ihn allerdings schon kurz auf jammern ließ. Die Infusionen tropften zügig in ihn, nach einer Weile öffnete man die Klemme der Blasendrainage wieder und ein weiterer Liter Urin lief in den Beutel.


    Nun besah sich der Urologe erneut gründlich Ben´s Unterleib mit den noch liegenden Klemmchen. Wenn er auch nur ansatzweise hin fasste, schrie sein Patient gequält auf, auch eine Ultraschalluntersuchung war schlichtweg unmöglich. Nachdem der Blutdruck sich nach der vielen Flüssigkeit so langsam stabilisiert hatte, wandte sich der Urologe an die Anästhesistin. „Ich muss die Genitalverletzung gründlich versorgen, die Blutungen stillen und mir auch die Harnröhre von innen anschauen. So erlauben das die Schmerzen nicht-was würden sie zur Analgesie vorschlagen?“, fragte er seine Kollegin, während Ben angstvoll von einem zum anderen blickte. Seine Fähigkeit noch weitere Schmerzen aus zu halten war voll, er wollte in ein Bett und seine Ruhe haben und gleichzeitig sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass das noch nicht ging-auch er hatte nach unten geschaut und zwischen seinen Beinen sah es gar nicht gut aus-die Teufelin hatte ihn schrecklich zugerichtet. Auch war ihm immer noch ziemlich übel und er musste immer wieder würgen. Bei aller Angst und Scham waren ihm die Ärzte und Schwestern, vor allem der verständnisvolle Urologe, sympathisch, sie waren korrekt und freundlich und er verstand, dass es für ihn noch nicht ausgestanden war.


    „Es gibt aktuell zwei Möglichkeiten-entweder eine Vollnarkose, was mir aber ein wenig Bauchschmerzen bereitet wegen der Übelkeit-wir müssten dann eine Ileuseinleitung machen und es besteht akute Aspirationsgefahr. Oder die andere elegantere Lösung wäre eine Spinale, da wäre die Schmerzfreiheit garantiert, die anderen Risiken aber minimiert“, erklärte die Ärztin und auf Ben´s und Semir´s fragenden Blick erläuterte sie. „Herr Jäger-ich könnte ihnen in den Rückenmarkskanal ein Betäubungsmittel injizieren, das ihren Unterkörper vom Nabel abwärts völlig unempfindlich macht. Man setzt diese Art der Betäubung auch oft in der Geburtshilfe bei Kaiserschnitten etc. ein. Sie werden nichts spüren, allerdings bei vollem Bewusstsein miterleben, wie sie operiert werden, letztendlich müssen sie entscheiden, aber ich würde ihnen zu dieser Art der Analgesie raten!“, erläuterte sie und nach kurzer Überlegung nickte Ben. „Dann machen sie das-ich möchte jetzt nur, dass es schnell vorbei ist. Allerdings habe ich eine Bedingung-ich will, dass mein Freund bei mir bleiben kann!“, forderte er und der Urologe sagte verständnisvoll. „Wenn er verspricht nicht um zu fallen, habe ich nichts dagegen-sie Frau Kollegin?“, fragte er nach, aber die schüttelte den Kopf. „Für uns ist das ja eine gewohnte Situation-die Papas wollen bei den geplanten Kaiserschnitten ja auch dabei sein“, erläuterte sie und so war Ben wenig später unterwegs in die urologische Endoskopie. „Semir, ich habe trotzdem Angst!“, wisperte er, aber sein Freund strich ihm beruhigend über die Stirn. „Das wird schon und ich lasse dich nicht alleine“, bestärkte er den jungen Polizisten und der ließ nun einfach zu, dass ihm geholfen wurde, auch wenn er sich viel lieber in irgendeinem Mauseloch verkrochen hätte.


    Die Chefin hatte inzwischen Lucky mit zum Wagen der Jägers genommen. Brav sprang er in seinen großen Hundekäfig im Heck und wenig später gab ihn Frau Krüger bei Hildegard ab. Die Kinder hatten inzwischen zu Mittag gegessen und machten gerade beide einen Mittagsschlaf. „Sarah hat mich schon aus der Klinik angerufen, ich weiß Bescheid!“, erklärte die gepflegte Mittsechzigerin. „Komm Lucky-dein Freund Frederik erwartet dich schon!“, lockte sie ihn freundlich und übernahm die Leine und die Autoschlüssel. Frau Krüger bedankte sich-ansonsten hätte sie den Hund bei einem Hundeführer der Polizei abgegeben- und stieg dann in das Polizeifahrzeug, das ihr aus genau diesem Grund nachgefahren war.


    Als sie zurück am Tatort war, hatte die Spurensicherung, allen voran Hartmut, inzwischen ihre Arbeit aufgenommen. „Chefin-sie sollen bitte gleich einmal in den Keller kommen-wir haben etwas Schreckliches entdeckt!“, vermeldete einer der Polizisten, die sich gerade das Erdgeschoss vornahmen. Mit leichtem Grausen, was sie wohl erwartete, betrat Frau Krüger den Kellerraum, zu dem man ihr den Weg wies. In der Mitte des Raumes befand sich ein Untersuchungsstuhl und die Chefin konnte sich wohl vorstellen, zu welchen Zwecken er gedient hatte, immerhin hatte man sie über die Art der Verletzungen des entführten Polizisten informiert.

    Die Türen eines altmodischen Medizinschranks standen weit offen und als die dunkelhaarige Frau den Inhalt erblickte, den sich Hartmut gerade vornahm, musste sie tief durchatmen. „Oh mein Gott-wie schrecklich ist das denn!“, entfuhr es ihr, als sie die vielen Augen in ihren Gläsern entdeckte. Hartmut drehte sich zu ihr um. „Die ersten beiden ganz vorne sind relativ frisch und die Daten darauf besagen, wer die Opfer waren-einer davon unser Toter aus dem Rhein, aber die Aufschriften der anderen zeigen, dass sie alle aus der Zeit des dritten Reichs stammen-und ein weiteres Glas mit Formalin darin ist bereit-ich denke, da hätte Ben´s Auge darin aufbewahrt werden sollen, zumindest steht das heutige Datum drauf!“, informierte er sie und jetzt musste die Chefin sich abwenden und tief durchatmen, vermutlich waren sie gerade noch zur rechten Zeit gekommen. „Nachdem Maria Gregor in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch nicht geboren war, kann man nur eines behaupten-das hier ist ein schreckliches Erbe-in jeder Beziehung!“, bemerkte Hartmut und die Chefin konnte nur stumm nicken.

  • Als sich die Schiebetür zur urologischen Endoskopieabteilung öffnete, schloss Ben die Augen. Es war schon eine ganze Weile her, dass er hier gewesen war und er hatte versucht, die Erinnerung daran zu verdrängen, aber das hier war kein Ort an dem man sich als Patient gerne aufhielt. Von der Narkoseärztin informiert stand schon eine Anästhesieschwester bereit und richtete alles für die Spinalanästhesie her. Im Vorraum des Behandlungsraums, der wie im OP Einleitung genannt wurde, stand ein Instrumententischchen bereit und eine helle Lampe spendete klares Licht. Ben hatte noch kurz seine Unterschrift geleistet, dass er mit der Art der Betäubung einverstanden war, aber ehrlich gesagt hatte er gar nicht so genau zugehört, als man ihn dafür und danach auch für den Eingriff aufgeklärt hatte. Er wollte das nicht so detailliert wissen, er verstand lediglich, dass es notwendig war und er keine Alternativen hatte.


    „Probieren wir mal ihn auf zu setzen!“, ordnete die Anästhesistin an, die Haube und Mundschutz angezogen hatte und ihre Hände gleich chirurgisch desinfizieren würde. Vorsichtig auf die Überwachungskabel, den Pufi und die Infusionen achtend, dreht man Ben an die Kante der Liege, aber sofort verdrehte er die Augen und war kurz vorm Kollabieren, sobald seine Beine nach unten hingen. „Schnell zurück-sein Kreislauf packt das nicht, ich steche ihn im Liegen!“, befahl die Ärztin und für einen Moment kippte man den jungen Polizisten kopftief, damit sein Gehirn wieder genügend mit Blut versorgt wurde. Ben´s Augen flatterten und man gab ihm Sauerstoff und redete ihm gut zu, bis er wieder eine halbwegs normale Gesichtsfarbe hatte. Semir hatte seinen Freund besorgt betrachtet und seine Hand gehalten und jetzt bekam er sogar eine Aufgabe zugewiesen. „Herr Gerkhan-ich würde sie bitten, sich nun hierher zu stellen!“, bat die Narkoseärztin und die Schwester und sie drehten Ben gemeinsam auf die Seite, so dass sein Gesicht zu Semir wies. „Herr Jäger, sie versuchen sich jetzt bitte ganz rund zu machen und sie Herr Gerkhan nehmen ihn bitte mit einer Hand in den Kniekehlen und mit der anderen drücken sie seinen Kopf leicht nach vorne, damit die Wirbelkörper besser auseinander gehen!“, befahl die Ärztin und tastete nun schon in Ben´s Lumbalregion nach der korrekten Einstichstelle. „Sie müssen keine Angst vor einer Rückenmarksverletzung haben, da wo ich gleich eingehe, sind nur noch ein paar Nervenfasern, die sogenannte Cauda Equina!“, erläuterte die Ärztin und Ben hätte nun beinahe laut aufgelacht. Das Hobby seiner Frau verfolgte ihn bis in den OP, denn wenn er sich an seinen Lateinunterricht erinnerte, der Jahrhunderte zurück zu liegen schien, bedeuteten diese zwei Worte auf Deutsch Pferdeschwanz.


    Nachdem die Ärztin mit einem speziellen, nicht wasserlöslichen Filzstift, mit einem Punkt die Einstichstelle markiert hatte, desinfizierte sie ihre Hände am Desinfektionsmittelspender, zog einen sterilen Kittel und Handschuhe an, strich danach den unteren Rücken ihres Patienten ab und deckte ihn mit einem gefensterten Steriltuch zu. „Jetzt piekt es!“, warnte sie ihn vor und ging dann mit einer sehr langen und dünnen Spinalkanüle ein. Ben ächzte leise auf-angenehm war etwas anderes, aber wenig später tropfte Liquor aus der Nadel, zum Zeichen, dass die Ärztin die Nadel richtig platziert hatte. Nun injizierte sie langsam das Betäubungsmittel in den Rückenmarkskanal und zog dann die Nadel heraus. Ein kleines Pflaster wurde auf die Einstichstelle geklebt und jetzt lagerte man den Patienten mit leicht erhöhtem Oberkörper auf den Rücken. Die Blutdruckmanschette pumpte sich alle zwei Minuten auf und die Infusionen tropften weiterhin zügig, denn manchmal kam es nach einer Spinalen zum Blutdruckabfall, aber alles blieb stabil.


    Ben hatte die Augen geschlossen. Wie sehr wünschte er sich jetzt in ein anderes Universum, um dem, was folgen würde, zu entgehen, aber es half ja nichts. Er war froh aus dieser Hölle in Maria´s Keller befreit worden zu sein, er wollte nicht sterben, sondern wieder ein halbwegs normales Leben führen und der Weg dorthin führte über diesen Eingriff. Er lauschte in sich hinein, so langsam nahm er seine Füße nicht mehr wahr. Man hatte auf die Uhr gesehen und nach ein paar Minuten kniff man ihn in beide Oberschenkel, ohne dass er es spürte, dann testete man auf Höhe des Beckenkamms und auch da war alles taub, so fühlte sich ein Querschnittgelähmter und Ben erinnerte sich voller Entsetzen an die schrecklichen Tage, als ihn vor einiger Zeit dieses Schicksal ereilt hatte. Es war alles wieder gut geworden, er war mehrfach operiert worden und hatte durch viel Sport seine alte Konstitution wieder erlangt.


    In der Zwischenzeit war im Endoskopieraum alles vorbereitet worden und man schob Ben´s Liege hinein. Der freundliche Urologe und eine Schwester standen bereit, aber als Ben nun den Behandlungsstuhl erblickte, brannten bei ihm, ohne dass er es kontrollieren konnte, alle Sicherungen durch. „Nein-nein bitte nicht-ich will nach Hause, ich kann nicht mehr!“, heulte er und wollte sich aufrichten und einfach gehen. „Halt-sie können nicht aufstehen, bleiben sie doch liegen!“,versuchte die Anästhesistin ihn mit sanfter Gewalt hinunter zu drücken und wenn Semir, der einen kurzen Moment zurück geblieben war, weil sie nicht alle gleichzeitig durch die Tür gepasst hatten, jetzt nicht hinzu gesprungen wäre und seinen Freund fest gehalten hätte, wäre er vermutlich auf den Boden geknallt und hätte sich die Zugänge und die Blasendrainage heraus gerissen. Ben wehrte sich zunächst und kniff die Augen zu, aber als Semir ihn mehrmals ruhig und bestimmt ansprach, dabei seine beiden Hände fest hielt und mit unendlicher Liebe und Ruhe in der Stimme sagte. „Ben-mach die Augen auf und sieh mich an!“, öffneten sich die Augenlider unter denen ein Tränenstrom hervor kam und unendlich verwundert sah der Dunkelhaarige sich um: „Ben-du bist nicht mehr im Keller, sondern im Krankenhaus und wirst jetzt ärztlich behandelt“, erklärte Semir, der intuitiv erfasst hatte, was in Ben´s Kopf abgelaufen war. Er musste mit so einem Stuhl, wie er auch im Keller des Schreckens gestanden hatte, schreckliche Dinge in Verbindung bringen. Semir fragte sich zwar, wie die Teufelin es geschafft hatte, ihn dort ruhig zu halten, aber das würde man später klären. „Ich bin da und bleibe ganz nahe bei dir. Niemand wird dir etwas Böses antun, sondern jeder will dir nur helfen. Wir bringen diesen Eingriff jetzt gemeinsam hinter uns und dann darfst du dich ausruhen-ich verspreche es dir!“, sagte er nun eindringlich und nach einer Weile entspannte sich Ben ein wenig und der Tränenfluss versiegte. Nun durften die helfenden Hände des Urologen und der Schwestern ihn vorsichtig hinüber heben und lagern. Ben sah die ganze Zeit nur unverwandt seinen Freund an und der Urologe dankte Gott, dass sie sich entschieden hatten, den kleinen Türken mit zu nehmen.

  • Man machte Ben´s Beine mit Klett auf den Beinstützen fest und lagerte einen Infusionsarm auf ein gepolstertes Bänkchen. Dann schraubte man einen sogenannten Narkosebügel auf Höhe der Brust des Patienten an den Behandlungsstuhl und hängte ein grünes Tuch darüber, um ihm den Blick nach unten zu verwehren. Er konnte nun zwar die Geräusche hören, aber ansonsten waren in seinem Blickfeld nur Semir, die Anästhesistin und die Narkoseschwester, die hier zugleich Springertätigkeiten machte. Man legte ihm eine Sauerstoffbrille um, denn die Sättigung war nicht besonders berauschend und das war nochmals ein Grund, warum die Spinalanästhesie besser für ihn war, denn beim Abhören der Brust hatte die Ärztin Anzeichen einer Bronchitis fest gestellt. Das Fieber war ebenfalls sicher noch hoch, wie Semir konstatierte, der die trockene und heiße Hand seines Freundes festhielt.


    Ben lag angespannt da, alles war ihm furchtbar peinlich und unangenehm, aber die Anwesenheit seines besten Freundes machte dennoch den Eingriff irgendwie für ihn erträglich. Das Klappern der metallischen Instrumente, das Schlürfen des Saugers und die knappen Kommandos des operierenden Urologen, der immer wieder spezielle Nahtmaterialien und Drainagen forderte, waren die einzigen Geräusche. Wie sehr hätte er sich jetzt laute Musik gewünscht, um sich abzulenken, aber das war eben gerade nicht möglich. Als der Operateur nach einer Weile neben ihn trat, erschrak Ben fast ein wenig, der hatte nämlich so eine komische Brille mit dicken Gläsern auf und sah damit ziemlich merkwürdig aus. Auch der OP-Mantel und die Handschuhe waren blutig-sein Blut. Allerdings bat der Arzt da auch schon die Schwester, ihm die Lupenbrille abzunehmen-er selber wollte sich nämlich nicht unsteril machen.


    „Herr Jäger-ich habe die Verletzungen am Hoden versorgt. Es waren zwar viele Blutungen zu stillen und die Tunica Albuginea, also die Hodenkapsel war auch verletzt, aber ich konnte alles nähen und hoffe, ihre Zeugungsfähigkeit erhalten zu haben. Jetzt werde ich mittels einer Blasenspiegelung noch die Harnröhre inspizieren und dann haben sie es hoffentlich geschafft und dürfen in ihr Bett!“, sagt er mit großer Freundlichkeit in der Stimme und Ben nickte ergeben-was sollte er auch anderes tun.
    Als die Schwester alles vorbereitet hatte, trat der Operateur wieder zwischen seine Beine und nun wurde das Deckenlicht gelöscht. Ben musste die Augen schließen, ihm war sowieso schon schlecht, aber als nun die Bilder seiner schwer verletzten Harnröhre von innen am Videobildschirm zu sehen waren, war das doch zu viel. Semir allerdings blickte gebannt auf den Bildschirm und lauschte den Erklärungen des Urologen, bis auf einmal Ben heftig zu würgen begann und die Anästhesistin hinzu sprang und seinen Kopf zur Seite drehte. Sie drängte Semir regelrecht weg und der erstarrte, als nun ein dunkelroter Blutschwall aus dem Mund seines Freundes kam.


    Sarah erwachte erst im Aufwachraum aus der Narkose. Im ersten Moment wusste sie nicht, was geschehen war und wo sie sich befand. Dann allerdings fiel ihr wieder alles ein und sie blickte sich suchend um. Ihre Kollegin war gerade mit einem anderen Patienten beschäftigt und so tastete sie mit der gesunden Hand ihre dick verbundene Schulter ab. Sie fühlte einen Drainageschlauch heraus ragen und den Arm hatte man ihr mit einem sogenannten Gilchristverband vor dem Bauch ruhig gestellt-auf der Seite würde sie wohl nun längere Zeit nicht liegen können. Die Schmerzen waren unangenehm, aber erträglich, sie konnte die Finger bewegen und nach einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass inzwischen eineinhalb Stunden vergangen waren.
    Jetzt musste sie sofort wissen, wie es Ben ging. Als sich die ältere Kollegin, die sie vom Sehen her kannte, nun zu ihr wandte, leckte sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Kannst du bitte heraus finden, wie es meinem Mann geht?“, fragte sie krächzend und die schüttelte lächelnd den Kopf. „Erst mal geht’s jetzt um dich, Sarah-hast du Schmerzen und wie fühlst du dich?“, fragte sie, aber die junge Frau fiel ihr ungeduldig ins Wort. „Ich bin okay, aber ich muss unbedingt wissen, was mit Ben ist-kannst du bitte in der Notaufnahme anrufen?“, flehte sie und nach kurzem Nachdenken griff die Schwester aufseufzend nach dem Telefon. Ihre Patientin würde sowieso nicht eher Ruhe geben, bis sie die Informationen hatte, die sie haben wollte, am besten sie fügte sich sofort und wenn alles in Ordnung war, konnte sich Sarah auf ihre eigene Genesung konzentrieren.

  • Nach einer kurzen Schrecksekunde kam Bewegung in die Anästhesieschwester. Sie griff nach einer Schale, warf ein Tuch über die Bescherung und löste die Blutdruckmessung aus, um den Kreislauf zu beurteilen. Gott sei Dank hatte Ben nicht aspiriert und nachdem der Magen jetzt leer war, war auch die Übelkeit besser, allerdings fühlte er sich schwach und zittrig, der metallische-saure Geschmack im Mund war widerlich und er war völlig durcheinander. Hilfesuchend tastete er nach Semir und als der das bemerkte, griff er aus der Entfernung nach der Hand seines Freundes, die er kurz hatte los lassen müssen, damit die Narkoseärztin ran konnte.

    Der Urologe hatte einen Blick über das grüne Tuch geworfen. Mit einer Hand hielt er das flexible Cystoskop fest, mit dem er gerade Ben´s Harnröhre beurteilte und sagte trocken: „Ich denke, da können die Kollegen in der Gastroenterologie gleich weiter machen, ich bin hier in Kürze fertig!“ bemerkte er und ließ sich nun von der Endoskopieschwester einen ziemlich dicken Silikonkatheter anreichen. Die Infusion wurde nochmals schneller gestellt und weil der Blutdruck trotz der Blutung noch nicht kritisch erniedrigt war, griff die Ärztin nun zu ihrem Telefon. Im Speicher war die Nummer des diensthabenden internistischen Oberarztes hinterlegt und die wählte sie nun: „Ich habe hier in der Uro-Endo einen Patienten aufliegen, der gerade im Schwall Blut erbrochen hat. Wir haben einen Hb-Wert, der etwa eine Stunde alt sein dürfte, da war es noch nicht kritisch, aktuell ist der Kreislauf mit Volumen auch noch halbwegs stabil. Wir haben sowieso schon Kreuzblut abgenommen und vier Konserven einkreuzen lassen, die dürften bald fertig sein“, informierte sie ihn kurz und der versprach, sofort eine notfallmäßige Magenspiegelung vorzubereiten. „Sobald ihr drüben fertig seid, bringt ihn rüber!“, bat er und ließ sich noch die Personendaten durchgeben.

    Die Ärztin nahm noch Blut ab, wozu Semir Ben´s Hand nochmals kurz loslassen musste und fast gingen die Worte des Urologen, der zügig weiter gearbeitet hatte, in der ganzen Hektik unter, aber der kleine Türke hörte sie doch. „Die Harnröhre ist zwar an einigen Stellen eingerissen und die Schleimhaut durch den Gebrauch von scharfen Gegenständen, ich denke diesen Metallkathetern, die der Notarzt erwähnt hat, verletzt, aber die starken Blutungen daraus haben bereits aufgehört. Ich werde sie jetzt, solange das Gebiet noch schmerzfrei ist, mit einem dicken Silikonkatheter, der für etwa drei bis vier Wochen liegen bleiben muss, schienen und der Druck aufs Gewebe sorgt dann auch dafür, dass die Blutungen in der Urethra komplett zum Stehen kommen. Normalerweise verheilen die Defekte von alleine und ich hoffe, dass auch keine Engstellen entstehen. Wenn das allerdings so wäre, könnte man die später behandeln, das ist jetzt nicht vordergründig wichtig. Die Blasenschleimhaut ist schwer entzündet, da ist eine sofortige Antibiotikatherapie angesagt, den Keimnachweis können wir in diesem Fall nicht abwarten-wir besprechen die Wahl des geeigneten Medikaments gleich noch interdisziplinär.
    Von meiner Seite aus ist die Akutbehandlung damit beendet und der Gastroenterologe soll sich nach dem Stillen der gastrointestinalen Blutung bitte auch noch den Schließmuskel ansehen-das ist nicht mehr mein Fachbereich“, wandte er sich an die Anästhesistin, die nickte. Sie würde den Patienten begleiten und jederzeit eine Notfallbehandlung einleiten, wenn es notwendig würde.

    Eine Hilfskraft war schnell auf die Intensiv gesprungen, hatte auf dem Weg dorthin das eine Blutröhrchen ins Labor gegeben und am Blutgasgerät eine Schnellbestimmung der wichtigsten Werte, vor allem des Hb-Werts veranlasst. Noch bevor man Ben, aus dessen Unterkörper nun noch ein dicker Katheter mit Ablaufbeutel daran ragte, den er aber durch die sitzende Betäubung noch nicht wahr nahm, umgelagert hatte, wurde der Wert schon telefonisch durch gegeben. „7,9 g/dl ist der Hb“, gab die Endoskopieschwester die das Gespräch angenommen hatte, weiter und die Narkoseärztin bedankte sich.


    Ben war immer noch zittrig und hatte Angst, dennoch waren um ihn herum alle ruhig. Jeder Handgriff saß und obwohl die Blutdruckmanschette sich minütlich aufpumpte und alle Beteiligten durchaus einen akut gefährdeten Patienten vor sich sahen, nahm die Anästhesieschwester sich noch die Zeit, ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht abzuwaschen, das durch das Blut, das er erbrochen hatte, völlig verschmiert gewesen war. Nebenbei sprach sie freundlich mit ihm und konnte ihn dadurch auch ein wenig ablenken. Alle außer seinem Kollegen trugen Handschuhe und Einmalschürzen und als der Patient auf der Liege lag, man ihn zugedeckt und den Transportmonitor wieder angeschlossen hatte, setzte sich der Tross, bestehend aus Ben, Semir, der Narkoseärztin und der Anästhesieschwester, die unauffällig einen Notfallrucksack geschultert hatte, in Bewegung. Die Gastroenterologie war nicht weit entfernt und wenig später öffnete sich die nächste grüne Schiebetür.

    Zunächst wollte die dort zuständige Endoskopieschwester Semir nicht mit hinein lassen, aber Ben klammerte sich einfach an dessen Hand fest und beharrte darauf, dass er mitkam und so durfte der kleine Türke, der sorgenvoll das blasse und schweißbedeckte Gesicht seines Freundes musterte, mit in den nächsten Behandlungsraum. Man sparte sich die Zeit zum Umlagern, sondern drehte Ben nur auf die Seite, schob eine Einmalunterlage unter seinen Kopf und verdunkelte den Raum. Ein weiterer Arzt, der über seiner Eingriffskleidung eine bodenlange Plastikschürze trug, trat zu Ben, stellte sich vor und erklärte kurz den Ablauf der Untersuchung.
    Während man alles vorbereitet hatte, hatte er sich am PC schon über seinen neuen Patienten informiert. Auf eine Unterschrift konnte man verzichten, das hier war eine lebensrettende Notfallbehandlung, aber er wollte doch gerne eine Vertrauensbasis zu dem jungen Mann aufbauen. Noch bevor man mit der Spiegelung beginnen konnte, ächzte der nochmals: „Mir ist so schlecht, ich muss brechen!“ und schon kam wieder ein Schwall Blut aus seinem Mund, diesmal hatte man aber eine Schale vorgehalten. Semir hatte man regelrecht zur Seite gescheucht, aber er durfte hinter dem Rücken seines Freundes stehen und ihn tröstend berühren, während der Internist nun das Endoskop zur Hand nahm.
    Er hatte zuvor den Blick der Narkoseärztin gesucht und mit den Lippen stumm: „Sedierung?“, geformt, aber die schüttelte den Kopf. Der schwache Kreislauf und das ständige Erbrechen machten es unmöglich, Ben ein Beruhigungsmittel zu geben. „Sonst muss ich ihn gleich schutzintubieren, aber das möchte ich gerne vermeiden!“, sagte die Ärztin und der Gastroenterologe nickte. Es war nicht ungewöhnlich, dass man Magenspiegelungen ohne Sedierung vornahm, meistens geschah das dann aber auf Wunsch des Patienten, der danach wieder Auto fahren, oder einfach seine Befunde selber auf dem Videobildschirm sehen wollte. Ben hingegen würde nichts lieber tun als schlafen, aber das war ihm nicht vergönnt und so versuchte er seine Panik zu unterdrücken und sich ganz auf die warmen Berührungen seines Freundes zu konzentrieren, als man ihn auch schon aufforderte den Mund zu öffnen.


    Sarah´s Kollegin hatte zunächst in der Notaufnahme angerufen und war von dort an die Uro-Endo verwiesen worden. Nach dem sie dort die Kollegen kontaktiert und erfahren hatte, dass der gesuchte Patient aktuell zur Stillung einer oberen gastrointestinalen Blutung in der Inneren Abteilung war, überlegte sie kurz, ob sie Sarah das mitteilen könnte, ohne dass die durchdrehte. Sie hatte aber nicht mit ihrer Kollegin gerechnet, die sie während des Telefonats ständig beobachtet hatte, obwohl sie ihr den Rücken zuwandte. „Nun sag schon was los ist-ich sehe doch, dass du keine guten Neuigkeiten hast!“, forderte die sie angespannt auf und nun streckte die Schwester im Aufwachraum die Waffen. Sie würde damit raus rücken, was sie erfahren hatte, ansonsten würde Sarah sowieso keine Ruhe geben. Als sie ihr Wissen weiter gegeben hatte, legte sich Sarah blass zurück und musste kurz aufstöhnen, weil ihre Schulter gerade mega weh tat. „So-ich geb dir jetzt ein Schmerzmittel und dann rufe ich in der Gastro an, wie es deinem Mann geht, aber du ruhst dich jetzt aus, du kannst sowieso nichts machen!“, ordnete sie dann mit strenger Stimme an und wählte die Höchstdosis des angeordneten Opiats, so dass Sarah sofort die Augen zu fielen, nachdem sie es in den Zugang gespritzt hatte. „Krankenschwestern als Patienten-der Alptraum!“, murmelte sie dann, aber das hörte Sarah schon nicht mehr.

  • „Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt, aber ich habe in den letzten Tagen mehrere Schläge in die Magengegend abgekriegt“, flüsterte Ben noch leise und voller Mitleid sagte nun der Internist. „Wir haben das anhand ihrer Verletzungen und Hämatome schon gesehen, Herr Jäger, aber das führt normalerweise nicht zu Blutungen ins Mageninnere, darum schauen wir jetzt da auch rein. Sie machen es sich selber und auch mir leichter, wenn sie einfach versuchen den Schlauch zu schlucken!“, erklärte der Untersucher. Er hatte bewusst darauf verzichtet bei einem wachen Patienten den Mundsperrer einzusetzen, das kam in seinen Augen immer einer Vergewaltigung nahe und Gewalt war dem jungen Mann in letzter Zeit schon genug angetan worden, wie er aus dem Kurzbefund der Notaufnahme im PC entnommen hatte. Außerdem war das Hemd verrutscht und die massiven blauen Flecke, die Ben´s Oberkörper überzogen, waren jetzt sichtbar geworden.

    Ben nickte leicht und konzentrierte sich dann darauf, unter Würgen den Schlauch zu schlucken. Man hatte ihm zuvor mit einem Sprühstoß ein widerlich schmeckendes Medikament in den Mund gegeben. „Das ist ein Lokalanästhetikum, damit der Rachen unempfindlich wird“, hatte der Arzt dabei erklärt. Unempfindlich-das klang gut, aber leider war der Fremdkörper, der jetzt durch seine entzündete Kehle immer weiter rutschte und ihm die Tränen in die Augen trieb, zu groß, als dass man sich da so einfach dran gewöhnen konnte. Ben brach der Schweiß aus, Tränen sammelten sich in seinen Augen und auch aus der Nase lief durch den Reiz Sekret. Die Endoskopieschwester wischte mit einem Tuch die Flüssigkeiten weg und Semir verstärkte unmerklich den Druck seiner Berührung, um ihm Solidarität zu signalisieren.


    Als die Blutdruckmanschette aufpumpte, war der Druck durch die Aufregung erstaunlich gut, allerdings jagte die Herzfrequenz mit 130 Schlägen pro Minute vor sich hin. Auch hier hing wieder für alle gut sichtbar der Videobildschirm an der Decke und man konnte erst Ben´s Mundhöhle, den geröteten Gaumen mit dem Zäpfchen daran und dann die Speiseröhre, die sich beim Schluckakt rhythmisch zusammen zog, betrachten. Ben wollte von dem Ganzen nichts sehen, er kniff die Augen zusammen, aber da drang die Stimme der Endoskopieschwester in sein Bewusstsein. „Machen sie die Augen auf und atmen sie ruhig in den Bauch, wenn sie anspannen, wird es nur unangenehmer!“, sagte sie und voller Mühe öffnete Ben die Augen wieder, fixierte die Schürze des Internisten, der direkt vor ihm stand und da war das Instrument auch schon in seinem Magen angelangt.


    Der Untersucher konnte zuerst gar nichts sehen, denn das Organ war schon wieder mit Blut gefüllt, aber als er nun den Sauger betätigte, der am Endoskop angeschlossen war und dann die Endoskopieschwester bat, mit Ringerlösung durch den Arbeitsgang zu spülen, konnte man bald die knallrot verfärbt Magenwand erkennen. „Oh, wir haben es hier auf jeden Fall schon mal mit einer floriden Gastritis zu tun!“, erklärte der Internist und schob das Instrument weiter vorwärts. Routiniert betrachtete er mit System nach und nach alle Teile des Magens. Schon wieder konnte man frisches, hellrotes Blut sehen und dann lag ein riesiges Magengeschwür vor ihnen, aus dem in stetigem Strom Blut lief. „Und hier ist der Übeltäter-was für ein Monstrum!“, kommentierte der Gastroenterologe, was man auf dem Bildschirm sehen konnte. Semir kannte sich ja nicht aus, aber das konnte sogar er als Laie erkennen, dass die zerklüftete rote Schleimhaut, die geschwürig verändert war, nicht in Ordnung war. Ziemlich im Zentrum lief Blut kontinuierlich heraus. „Wir versuchen zu clippen!“, gab der Untersucher Anweisungen, gab die Art des Clips vor und die Helferin öffnete auch schon die erste Einmalverpackung.

    „Sie müssen jetzt ganz ruhig liegen bleiben, Herr Jäger, sie haben ein großes Geschwür im Magen, das ein Blutgefäß angefressen hat, was zum Bluterbrechen geführt hat. Ich versuche jetzt die Blutung zu stillen, das kann auch ein wenig weh tun, aber wenn wir Glück haben, kommen sie um eine Operation herum!“ erklärte der Internist und nachdem er das Gebiet nochmals frei gespült und abgesaugt hatte, bat er die Helferin den Clip an seinem langen Seilzug durch den Arbeitsgang des Endoskops zu schieben. Er positionierte geschickt das Instrument und jetzt war die Endoskopieschwester gefragt, die auf Kommando die Klammer von außen schloss, was Ben ein Stöhnen entlockte. Es tat ganz schön weh in seinem Bauch und langsam fing auch sein Unterleib zu schmerzen an und er begann seine Beine wahr zu nehmen. „Nochmal!“, forderte der Internist seine Assistentin auf und die zog den nun leeren Seilzug heraus, führte den nächsten ein und wieder wurde dieselbe Prozedur durchgeführt. Semir spürte, wie Ben alle Muskeln anspannte, aber dennoch ruhig liegen blieb. Auch der Internist hatte das wahrgenommen und bei aller Konzentration auf die Arbeit, die seine ganze Geschicklichkeit und Erfahrung forderte, nahm er sich doch die Zeit seinen Patienten zu loben. „Sie machen das sehr gut, Herr Jäger, ich hoffe, dass wir bald fertig sind!“, ermunterte er ihn und nachdem der dritte Clip saß, war die Blutung zum Erliegen gekommen.

    Sehr vorsichtig inspizierte der Internist nun den Zwölffingerdarm und auch da fand sich ein kleines Geschwür, das aber nur ganz leicht sickerte. „Wir unterspritzen das mit Adrenalin und streuen Fibrinpulver darauf!“, erging die Anweisung und mit angehaltenem Atem verfolgte Semir dann, wie eine Nadel, die wieder durch den Arbeitsgang eingeführt wurde, sich in die Schleimhaut bohrte, wenig später dieses Pulver noch platziert wurde und dann war der Eingriff beendet.
    Ben musste erneut würgen, als das Instrument äußerst vorsichtig aus ihm gezogen wurde und der Internist blickte nun die Anästhesistin an. „Ich hätte Herrn Jäger gerne auf der Intensivstation überwacht-das hier ist eine heikle Sache und wenn einer der Clips sich löst, kann es erneut stark zu bluten beginnen!“, erklärte er und die Anästhesistin nickte. „Das war sowieso unser Plan-unser gemeinsamer Patient ist viel zu instabil für Normalstation!“, informierte sie ihren Kollegen und während jetzt die Ärzte von Ben weg traten und den weiteren Therapieplan besprachen, drehten Semir und die begleitende Anästhesieschwester ihn zurück auf den Rücken und stellten das Kopfteil der Liege ein wenig höher. Man wischte seinen Mund mit einem feuchten Tuch ab, deckte ihn wieder zu, obwohl er inzwischen am ganzen Körper schweißgebadet war und die Pflegekraft testete, wie weit die Betäubung der Spinalen schon abgeflaut war. „Mir tut alles weh und ich kann nicht mehr!“, flüsterte der Patient erschöpft und voller Mitleid blickte der türkische Polizist auf seinen Freund.


    „Sie kommen jetzt gleich in ein bequemes Bett auf der Intensivstation und bekommen dann auch etwas gegen die Schmerzen!“, beruhigte ihn die Narkoseärztin, die das inzwischen telefonisch angemeldet hatte. „Herr Jäger-sie waren sehr tapfer-ich wünsche ihnen alles Gute, morgen sehen wir uns wieder zur Kontroll-ÖGD!“, verabschiedete sich der Internist, aber Ben nahm das Gott sei Dank gar nicht so richtig wahr, fertig wie er war. Nur Semir hatte verstanden, dass wohl dieselbe Tortur am nächsten Tag nochmals auf seinen Freund wartete. Der allerdings war jetzt einfach am Ende seiner Kräfte, schloss die Augen und als die Liege sich nun Richtung Intensivstation in Bewegung setzte, war ihm schwindlig und nur der tröstende Händedruck seines Freundes befand sich im Zentrum seines Bewusstseins, alles andere war zu viel.

  • Hartmut hatte indessen die Inspektion des Horrorhauses fort geführt. Fotos wurden gemacht und das Team der Spurensicherung stellte überall Markierungen auf, vermaß Abstände und katalogisierte die Fundstücke, die danach sorgsam eingepackt wurden.

    Eva hatte währenddessen ihrer Mutter, sprudelnd wie ein Wasserfall, in ihrer Muttersprache erzählt, was ihr in den Sinn kam. Natürlich war das Alles nicht chronologisch und als Zofia vorsichtig das Shirt anhob und den Oberkörper ihrer Tochter betrachtete, konnte man fast verheilte Striemen von den Schlägen sehen. Eine entsetzliche Wut auf Maria durchfuhr die junge Frau, aber gleichzeitig auch eine große Dankbarkeit, dass sie ihre Tochter lebend zurück hatte. Auch schien sie wenigstens sexuell nicht belästigt worden zu sein, etwas, was sich Zofia in vielen schlaflosen Nächten voller Angst ausgemalt hatte und wie das kleine blonde Mädchen berichtete, hatte sich eine ältere Frau die ganze Zeit rührend um sie gekümmert, auf sie aufgepasst und ihr auch Zuwendung zukommen lassen, die Kleine war nicht schutzlos Maria und ihrem debilen Bruder ausgeliefert gewesen.

    Jenni und Bonrath hatten die Wiedervereinigung der kleinen Familie gerührt betrachtet und Jenni hatte von der Chefin den Auftrag bekommen, im Frauenhaus anzurufen, ob dort ein Platz für die beiden frei wäre, was positiv beschieden wurde. Freilich hätte man auch eine Schutzwohnung der Polizei zur Verfügung stellen können, aber im Frauenhaus standen Spielsachen für Eva bereit, Psychologinnen kümmerten sich um die Seelen der Frauen und Kinder, denen durchweg Gewalt, physisch wie psychisch angetan worden war-das war sicher ein besserer Platz.


    Bevor man die beiden allerdings dorthin brachte, kam die Chefin auf Zofia zu. Freilich hätte die viel früher die Polizei verständigen können, aber wie das in deren Heimatland abgelaufen wäre, konnte hier niemand beurteilen. Kein Vertrauen in die Polizei, wenn es im Gegenzug um das Leben des geliebten Kindes ging, war mehr als nachvollziehbar und vermutlich würde sie sogar bei einer Anklage einen milden Richter finden, allerdings schätzte Frau Krüger, dass es dazu nicht kommen würde, wenn die junge Frau jetzt kooperierte. Sie benötigte allerdings von ihr Informationen und eine Aussage und weil Dieter Bonrath so etwas wie eine Vertrauensperson für das Kind war, wurden er und Jenni abgestellt, die kleine Eva zu beschäftigen, während deren Mutter von Kim Krüger bei einem Gang durch das Haus des Schreckens intensiv befragt wurde. Zofia erzählte auch freiweg alles, was sich die letzten Monate zugetragen hatte und führte die Chefin und Hartmut, der sich ihnen angeschlossen hatte, auch zu dem Säuretank im Keller, der einen Auslauf zum Rhein hatte.
    Als sie schilderte, wie sie gezwungen worden war, bei der Entsorgung des Toten zu helfen, brach sie in Tränen aus. Danach hatte sie versucht, keine emotionale Bindung zu den Opfern mehr auf zu bauen, um selber nicht zu zerbrechen-sie musste doch für ihre Tochter da sein und Maria hatte sie da sehr professionell manipuliert. Die hatte eine Freude daran, Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu quälen und es war fast ein Wunder, dass Zofia nicht durchgedreht hatte. Sie war allerdings nie direkt Zeugin bei den Folterungen gewesen, sondern hatte nur danach immer die bemitleidenswerten Opfer versorgt.


    „Wir bringen sie jetzt mit ihrer Tochter ins Frauenhaus. Sie können ja Kleidung für sich zusammen packen-Kinderkleidung gibt es dort in ausreichender Menge in allen Größen. Man wird sich dort um sie kümmern, aber wir werden in den nächsten Tagen noch eine Aussage von ihnen brauchen und werden sie dazu ins Revier abholen. Halten sie sich also bitte zur Verfügung. Eine Rückkehr in ihre Heimat ist momentan nicht möglich und ich werde ein gutes Wort bei der Staatsanwaltschaft für sie einlegen, wenn sie kooperieren. Ansonsten müssen sie mit einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung rechnen. Wenn sie beizeiten die Polizei verständigt hätten, würden vielleicht zwei Menschen noch leben und unser Kollege läge jetzt nicht schwer verletzt im Krankenhaus!“, drohte ihr Frau Krüger ein wenig und Zofia nickte eingeschüchtert. Sie würde ab sofort alles tun, was die Behörden von ihr verlangten, wenn sie nur nie mehr wieder von ihrer Tochter getrennt würde.
    Während die Kollegen der Spurensicherung nun die medizinischen Präparate und Instrumente verluden und sich dann mit Atemschutz und säurefester Kleidung den Tank im Keller vornahmen, um eventuell noch DNA-Spuren zu finden, die eine Identifizierung des dritten Opfers erlaubten, wurden Zofia und Eva von Jenni und Dieter ins Frauenhaus gebracht, wo eine Sozialpädagogin sie freundlich in Empfang nahm. Eva´s Augen leuchteten, als sie den kleinen Garten entdeckte, in dem viele Spielgeräte und vor allem tobende andere Kinder waren. Endlich durfte sie wieder Kind sein und wenig später saß sie glücklich auf der Schaukel und hatte sich sofort mit einem kleinen Mädchen in ihrem Alter angefreundet.


    Ben war inzwischen auf die Intensivstation gebracht worden, auf der Sarah immer noch als Aushilfe gelegentlich arbeitete. „Hallo Ben!“, sagte ein Kollege seiner Frau freundlich und übernahm seine pflegerische Betreuung. Die Anästhesistin machte an den diensthabenden Stationsarzt Übergabe und Ben wurde währenddessen von vielen helfenden Händen mit dem Rollbrett in ein bequemes Bett befördert. Obwohl alle vorsichtig waren, stöhnte er laut bei jeder Berührung, er hatte überall Schmerzen und seine Werte am Monitor, den man ebenfalls umbaute, waren alles andere als zufriedenstellend. Der Blutdruck war wieder niedrig, die Herzfrequenz schnell, er hatte Fieber und war von kaltem Schweiß bedeckt. Der erfahrene Intensivmediziner untersuchte Ben grob durch-klärte dann ab, ob schon ein Augenarztkonsil gelaufen war, was der Urologe und der Internist für Anordnungen gemacht hatten und studierte die erhaltenen Medikamente und Infusionen, die alle auf einem Überwachungsblatt dokumentiert waren. Er fragte, ob man schon eine Antibiotikakonferenz einberufen hatte, verabschiedete die begleitende Anästhesistin und die Pflegekraft, die jetzt Feierabend hatten und sagte dann zu seinem Patienten: „Herr Jäger, so gerne ich sie jetzt in Ruhe lassen würde, aber wir brauchen noch einen zentralen Venenzugang und einen arteriellen Zugang im Unterarm, damit wir sie ordentlich überwachen und behandeln können. Ich denke, sie kennen das, sie sind ja nicht das erste Mal bei uns, aber ich verspreche ihnen-sie bekommen jetzt gleich etwas gegen die Schmerzen und sobald wir die Eingriffe erledigt haben, dürfen sie sich ausruhen!“ und bevor Ben sich versah, wurde schon der Eingriffswagen zur Tür herein gefahren.

  • Ben war völlig überfordert, sein Kopf brummte, sein Unterleib schmerzte, ihm war schwindlig und immer noch ein bisschen übel, aber mit Semir´s Hilfe, der ihm die ganze Zeit die Hand hielt, ihn tröstete und ablenkte, brachte er irgendwie das Legen der Arterie hinter sich, obwohl es alles andere als angenehm war, als der Arzt mit spitzen Nadeln in seinem Unterarm herum bohrte. Man hatte ihm wegen des schwachen Kreislaufs ein wenig Ketamin gegeben, was zwar an und für sich ein hervorragendes Schmerzmittel war, aber die Dosis wurde sehr knapp gehalten und so konnte von Schmerzfreiheit keine Rede sein.


    Noch schlimmer wurde es, als er am Hals den zentralen Venenkatheter erhielt. Die Lokalanästhesie wirkte irgendwie überhaupt nicht und obwohl man inzwischen mit Noradrenalin aus dem Perfusor eingestiegen war, gestaltete sich die Punktion des großen Halsgefäßes zu einer einzigen Tortur, weil wegen dem Volumenmangel die Venen sofort kollabierten, wenn man sie versuchte anzustechen. Beide Seiten wurden nacheinander abgestrichen, abgedeckt und punktiert, aber der Erfolg ließ zu wünschen übrig. Ben hatte inzwischen laut zu stöhnen begonnen, auch wenn ihm der Arzt und der Pfleger gut zu redeten. Man hatte das Bett extrem kopftief gestellt, er hatte das Gefühl, in Kürze raus zu rutschen und auf den Boden zu donnern, auch wenn das Personal vermutlich schon wusste, wie weit es das Bett kippen konnte. Immer wieder stach der Arzt dann an seinem Schlüsselbein ein, der Pfleger zog noch dazu an seinem Arm und endlich gelang es dem Doktor unter Ultraschallkontrolle die Vena subclavia zu erwischen und den dreilumigen Venenkatheter hinein zu schieben. Man stellte das Bett wieder gerade, nähte das Schläuchlein fest und verband es und als noch eine Röntgenaufnahme zur Kontrolle geschossen worden war und die korrekte Lage fest stand, befeuerte man die drei Schenkel des ZVK mit Flüssigkeit.


    In beiden Katheterbeuteln, die man inzwischen geleert hatte, waren nur einige spärliche trübe Tropfen Urin nach gelaufen. „Bitte spülen sie für alle Fälle die Blase über den Pufi an, nicht dass ein Blutkoagel den Abfluss verhindert. Wenn das kein Ergebnis bringt, fahren wir erst mal mit Volumen nach, der akute Blutverlust kann den Nieren schon zusetzen, dazu noch der Infekt-ich werde mich derweil mit der Antibiotikakonferenz in Verbindung setzen, damit wir wissen, ob und mit was wir einsteigen sollen“, ordnete der Stationsarzt an und der Pfleger nickte und holte einige Utensilien.


    Misstrauisch beäugte Ben sein Tun-da würde ihm schon wieder jemand weh tun-er wusste es und es war auch nicht angenehm, als kalte Ringerlösung durch das Schläuchlein in seiner Bauchwand unter Druck in die Blase gespritzt wurde, die sich wieder mit Krämpfen wehrte. Allerdings lief die Spüllösung sofort über das Monstrum von Katheter ab, aber Ben stöhnte auf und zog die Beine, die ihm inzwischen wieder gehorchten an den Bauch.
    „Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen!“, klagte Ben und der junge Pfleger, der Andy hieß und auch in einer Band spielte, wie sich der junge Polizist erinnern konnte, redete ihm beruhigend zu. „Ich wasche dich nur noch kurz ab-du klebst ja geradezu vor Schweiß, erneuere die Unterlage und dann lasse ich dich in Ruhe-versprochen!“, sagte er und ließ den Worten Taten folgen.
    Semir half seinen Freund vorsichtig um zu drehen und hielt ihn fest, während der junge Mann mit lauwarmem Wasser seinen Patienten säuberte. Er erzählte dabei, dass das letztjährige Stationsfest bei Sarah und Ben im Garten stattgefunden hatte. Man hatte ein Zelt aufgestellt, der Metzger des Ortes, der nebenbei auch Catering anbot, hatte für leckere Verpflegung gesorgt und Ben hatte zu später Stunde zwei Gitarren geholt und das Fest war erst in den frühen Morgenstunden mit Gesang am Lagerfeuer sehr stimmungsvoll ausgeklungen.

    Voller Mitleid hatte der junge Mann den verbundenen Unterkörper seines Patienten betrachtet und als er den Po wusch, zuckte er zurück. Ein dünnes Blutrinnsal lief heraus und die eingerissene Schleimhaut musste höllische Schmerzen bereiten. „Hat sich das schon ein Chirurg angesehen?“, fragte er, aber Semir schüttelte den Kopf. „Ach Mann-da macht man eine Spinale und denkt nicht daran, gleich alles was unter der Gürtellinie schmerzhaft ist, sofort zu behandeln-ich werde das nochmals dem Stationsarzt zeigen müssen und da kommt auch schon der Augenarzt!“, informierte Andy seinen Patienten und dessen Begleitung, drehte Ben auf den Rücken zurück und warf eine dünne Decke über ihn.


    „Semir ich will jetzt endlich meine Ruhe haben und schlafen!“, flüsterte Ben, aber da hatte sich der ältere Arzt schon vorgestellt. Er betastete das gerötete und entzündete Auge, ließ das Zimmer verdunkeln, leuchtete mit einer speziellen blendfreien Lampe hinein, machte mehrere Tests und hielt Ben Texte in unterschiedlichen Schriftgrößen vor, während er das gesunde Auge abdeckte und stellte dann die Diagnose. „Herr Jäger-das Auge muss natürlich später noch genau untersucht werden, aber diese Gerätschaften, die ich dafür brauche, sind nicht transportabel-das holen wir nach, wenn sie wieder sitzen können. Ich denke aber, sie haben noch Glück gehabt, die Hornhaut ist nicht verletzt und es sind keine bleibenden Schäden zu befürchten. Ich verordne eine spezielle Augensalbe, die lindert und beruhigt die Reizung und wünsche ihnen eine gute Besserung!“, verabschiedete er sich und verließ das Zimmer, um draußen noch seinen Konsilschein auszufüllen und den Namen der Salbe auf dem Verordnungsblatt aufzuschreiben.


    Inzwischen war die Antibiotikakonferenz für den Patienten Ben Jäger erfolgt-dabei hatten die Labormediziner und die Fachärzte der verschiedenen Fachbereiche gemeinsam ein Antibiotikakonzept für ihn erstellt, damit wollte man eine Resistenzentwicklung verhindern und eben auch nur dann ohne Keimnachweis behandeln, wenn das unumgänglich war. Weil Ben bereits alle Symptome einer Sepsis aufwies, kreislaufstützende Medikamente benötigte und die PCR, eine spezielle Laboruntersuchung, die zweifelsfrei eine bakterielle Infektion nachwies, stark erhöht war, wurde ein Breitbandantibiotikum eingesetzt, von dem man hoffte, dass es das Keimspektrum in seinen Harnwegen abdeckte. Beim Legen des ZVK und der Arterie unter sterilen Bedingungen hatte man ebenfalls mehrere Blutproben gewonnen, womit man in Blutkulturen mit speziellen Nährlösungen aerobe und anaerobe Keime anzüchtete, falls vorhanden. Wenn die Ergebnisse in etwa zwei bis drei Tagen vorlagen, konnte man immer noch wechseln, aber momentan glaubte man, das für ihn passende Medikament gefunden zu haben.


    Sarah war inzwischen wieder aufgewacht und hatte ihrer Kollegin im Aufwachraum die Hölle heiß gemacht. „Hör mal-du kannst mich doch nicht einfach schlafen legen, bevor ich nicht weiß, was mit meinem Mann ist!“, beschwerte sie sich, aber die ältere Schwester nahm die Kritik mit Gleichmut hin. „Sarah-hier bist du meine Patientin und ich fand, dass die Aufregung und die Schmerzen nicht gut für dich waren. Ich habe aber bereits deinem Ben nach telefoniert-er ist inzwischen auf deiner Intensivstation aufgenommen worden, wird von Andy und eurem versierten Stationsoberarzt betreut und sein Freund ist bei ihm-genügt das momentan an Informationen?“, fragte sie und mit einem Aufseufzen ließ Sarah sich zurück in ihre Kissen sinken. Okay-ihr Mann war in guten Händen, vielleicht sollte sie sich mal nicht so aufführen!

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!