Wachablösung

  • Ben sah prüfend in den Spiegel und brachte noch einige Strähnen in Ordnung. Nachdem sie diesen Fall nun hinter sich gebracht hatten, hatte Semir ihn nach einem ereignislosen weiteren Tag in Köln zu sich zum Essen eingeladen und er hatte diese Einladung natürlich nur zu gerne entgegengenommen. Es war schon viel zu lange her, dass er mit seinem Partner an einem Tisch gesessen hatte.
    „Und du willst wirklich nicht mitkommen?“, rief er.
    „Nein, lass mal.“
    „Semir würde es nichts ausmachen.“ Ben trat aus dem Badezimmer in das kleine Wohnzimmer, in dem Thore auf dem Sofa lag und eine Serie auf seinem Tablet ansah. „Sag nicht dein Anime ist dir wichtiger …“
    Thore seufzte und drehte eine Strähne zwischen den Fingern. „Ihr werdet über alte Zeiten reden und ich mich tierisch langweilen. Außerdem wäre es mir unangenehm, wenn du von Nora schwärmst.“
    Der Ältere lachte und lehnte sich über die Sofalehne. „Du meinst, dass ich sie für das hübscheste Geschöpf auf der ganzen Erde halte?“ Sein Blick ging auf das Tablet. „Zur Hölle, ist das ein Horrorfilm, da spritzt es ja nur so voller Blut.“
    „Mhm? Es geht nicht nur um Blümchen und so im Anime, ist dir schon klar?“ Thore grinste. „Aber nein, du hast nur die blutige Szene erwischt. Ist ziemlich gut … ich denke, es kommt in meine Sammlung.“
    Ben drehte sich weg. „Ich kann nicht glauben, dass du das der realen Welt vorziehst“, entgegnete er empört. „Und vor allem Andreas Essen.“
    „Andrea?“
    „Semirs Frau. Sie kocht wirklich gut.“
    Thore lachte auf. „Jeder kocht besser als Nora.“
    „Und wenn ich dir sage, dass sie besser kocht als du, Schnuckelbär?“ Ben drehte sich wieder herum und fuhr durch die schwarzen Haare seines Freundes. „Wärst du dann beleidigt?“
    „Ich wäre tödlich gekränkt!“
    Ben zwinkerte ihm zu. „Na dann, gut das es nur eine Hypothese war und ich es nicht gesagt habe.“
    „Du bist übrigens schon viel zu spät dran.“ Thore richtete seinen Blick wieder auf sein Tablet. „Aber das wird er als dein ehemaliger Kollege ja gewohnt sein.“
    Erschrocken weiteten sich Bens Augen, als er auf die Uhr sah. Thore hatte Recht, er würde es niemals pünktlich schaffen. „Und ich weiß nicht einmal, wo genau Semir jetzt wohnt …“ Eilig griff er nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. „Benimm dich, während ich weg bin“, rief er noch und sah wie Thore die Hand hob und ein „Jaja“ durch die Wohnung hallte.




    Am Ende war Ben tatsächlich viel zu spät gekommen und hatte sich auf dem Weg zum neuen Haus der Gerkhans auch noch maßlos verfahren. Aber zu seinem Glück hatten Andrea und Semir mit so etwas schon gerechnet und das Essen nicht pünktlich zubereitet, so dass es doch noch frisch auf den Tisch kam.
    „Das ist wirklich köstlich, Andrea“, erklärte Ben, als er sich das Steak im Mund zergehen ließ. „Genau auf den Punkt.“
    Andrea winkte verlegen ab. „Ach was … so gut ist es auch nicht.“
    „Doch doch … ich habe gerade noch meinem Kollegen erklärt, wie gut du kochen kannst.“
    „Und er wollte wirklich nicht mit?“, hakte Semir nach. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass Ben Thore mitnehmen würde.
    „Er dachte, dass wir nur über alte Zeiten reden würden …“ Der Jüngere lachte. „Und seine Schwester. Ich glaube, dass war dann doch noch etwas schlimmer als der Rest.“
    „Ich hoffe doch wir lernen sie bald kennen?“ Andrea schenkte ihm etwas Wasser nach. „Wie wäre es, wenn wir für ein paar Wochen nach Helsinki kommen? Es schon etwas her seit unsere letzten Urlaub und …“
    „Andrea-Schatz, nun überfall doch Ben nicht gleich so“, versuchte Semir seine Frau zu bremsen, doch ohne Erfolg. Sie schien sich den Urlaub bereits in den Kopf gesetzt zu haben.
    „Nein, nein … es wird Zeit, dass du mal wieder einen längeren Urlaub einplanst. Ich bin mir sicher, dass Helsinki dir gut tun würde.“
    Semir grinste frech. „Der letzte Urlaub dort war ja nun nicht sehr entspannend.“
    „Da hast du recht“, stimmte Ben zu. Das letzte Mal, als sie in Finnland waren, war es alles andere als entspannend. Da waren sie nämlich in einen Fall reingeschlittert, ohne es wirklich zu wollen.
    „Aber es freut mich, dass du dich dort so gut eingelebt hast.“ Andrea lächelte. „Als Semir mir erzählt hast, dass du in Finnland wohnen wirst, wollte ich ihm zuerst nicht glauben.“
    „Ja … es war auch eigentlich nicht geplant“, gab Ben zu. Eigentlich hatte er nach dem gescheiterten USA-Trip nicht gewusst wohin und war dann irgendwie vor Mikaels Haustür gestrandet Und der hatte ihn dann auf Niilo angesetzt und ihn geradezu in den Job bei Totenwinter hineingedrängt. Wenige Wochen später war dann Thore in ihr Team gekommen. „Aber ich bin froh, dass ich mich darauf eingelassen habe. Wenn die langen Winter nicht wären, dann ist es dort auch wirklich traumhaft.“
    „Und Mikael, erzählt. Was treibt der?“ Andrea beugte sich nach vorne. „Geht es ihm gut?“
    Ben nickte. „Er bereut keinen seiner Entscheidungen der letzten Jahre. Ist ziemlich aufgestiegen in der Akademie, hat dann noch ein Projekt nebenbei mit seinem Schwiegervater.“
    „Mit seinem Schwiegervater?“ Semirs Augen weiteren sich. „Wie ist das denn passiert?“
    „Du würdest dich wunden, wie oft Mikael seinen Rat sucht.“ Ben grinste. „Aber ich glaube, dass die Beziehung nicht ganz unbeteiligt war bei meiner Jobbeschaffung. Samuel Järvinen hat wieder eine ziemlich hohe Position im Polizeiapparat und auch wenn Mikael es mir gegenüber bestreitet, nutzt er es doch aus.“
    „Immerhin für gute Dinge.“ Semir stand auf und holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank und reichte eine davon Ben.
    „Ja, immerhin das“, bestätigte Ben. „Schade, dass der Fall nun gelaufen ist … eigentlich würde ich liebend gerne noch ein paar Tage hierbleiben.“
    Der Ältere nickte. „Wann müsst ihr zurück?“
    „Der Flug ist für Übermorgen gebucht. Wir wollen noch die restlichen Fakten in diesem Fall klären.“
    „Wie den Selbstmord?“, hakte Semir nach.
    Andrea stand auf und lächelte. „Ich sehe schon, ich werde nicht mehr gebraucht … ich gehe schon einmal ins Wohnzimmer.“
    „Wir wollten dich nicht vert …“, setzte Ben an, doch Andrea schüttelte den Kopf. „Das tust du nicht. Alles gut … besprecht ihr nur den Fall.“
    Als Andrea gegangen war, nickte Ben. „Es fällt mir immer noch schwer, ich meine, sie schien auf euch ja nicht besonders deprimiert oder so und auch Niilo … er kann sich das nicht erklären, wieso sie sich umbringen wollte.“
    „Und Thore, er hat damit kein Problem?“
    „Womit?“
    „Na der genauen Untersuchung von dem Selbstmord?“
    „Wie kommst du darauf?“ Ben richtete seinen Blick auf den Tisch. „Das er ein Problem damit haben könnte?“
    „Sein Benehmen an dem Abend, als ihr sie gefunden habt … die Sache gestern Morgen. Und nun erzähl mir nicht, dass ich mir das einbilde.“
    Der Braunhaarige lächelte ertappt. „Ja, es gibt da etwas … privater Natur.“
    „Du brauchst es nicht erzählen.“
    „Es ist schon okay …“ Ben nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. „Ich glaube nicht, dass Thore mir böse wäre, wenn ich es dir erzähle.“ Er atmete tief durch. „Er hat seine Mutter gefunden, als sie sich umgebracht hat … erhängt.“
    Semir Lippen formten sich zu einem Lautlosen „O“.
    „Er ist nie wirklich darüber hinweggekommen.“ Ben legte seine rechte Hand um den Hals. „Manchmal, wenn es ganz schlimm ist, dann legt er sich die Hand um den Hals und drückt zu … er macht das nicht bewusst, oder so … aber jedes Mal, wenn ich diese Druckstellen sehe, dann habe ich Angst um ihn …“
    „Denkst du, er denkt auch darüber nach sich …“
    „Nein, eigentlich traue ich es ihm nicht zu. Denn trotz allem ist er ein positiver Kerl, der sich nicht unterkriegen lässt. Es ist nur, ihn so am Boden zu sehen, ist nicht leicht … vor allem, wo wir ja auch noch neben der Arbeit dauernd zusammen hängen.“
    „Du wirst also die letzten Fakten alleine prüfen?“, fragte Semir nun.
    „Ich denke schon. Ich werde Thore fragen, aber ich glaube, dass es zu viel für ihn ist. Er war schon ziemlich durch den Wind, als wir sie gefunden haben.“ Ben drehte die Bierflasche zwischen den Händen. „Andererseits ist er ziemlich begabt. Er sieht oft Kleinigkeiten, die mir erst auf den zweiten Blick ins Auge fallen. Da verzichte ich nicht wirklich gerne auf ihn."

  • Thore gab dem Taxifahrer das Geld, bedankte sich und stieg dann aus. Er sah auf das Haus vor ihm, blickte die Straße runter. Keine Menschenseele war zu sehen. Er schlang das Seil um seine Schulter und ging dann über einen schmalen Steinweg in Richtung des Einfamilienhauses. Seine Hand ging in seine Tasche, er zog ein Taschenmesser heraus und er löste die Versieglung. Danach steckte er es wieder weg und griff stattdessen nach einem Dietrich und hockte sich vor dem Schloss hin. Es dauerte nicht lange und die Tür sprang auf. Er trat in den dunklen Hausflur und ging weiter bis in das Wohnzimmer durch, wo er den Lichtschalter betätigte. Für einen Moment verharrte er in der Tür, ehe er hineintrat. Sein Kopf hob sich in Richtung Decke und für einen winzigen Augenblick war es, als könnte er Nila Virtanen dort hängen sehen. Ein Zittern breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Es war, als würde plötzlich ein eisiger Wind wehen und ihn mitreißen wollen. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und zwang sich dann weiterzugehen. Als er in der Mitte des Raumes stand, verharrte er. Er nahm das Seil in die Hand und knüpfte eine Schlaufe, dann sah er sich um und griff nach dem Hocker, den sie umgekippt neben der Leiche der Toten gefunden hatten. Thore zog ihn unter den Balken und kletterte rauf. Er sah wieder nach oben, streckte die Arme in Richtung des Balkens, kam jedoch nicht dran.
    „Sie hat sich nicht umgebracht“, murmelte er leise. Er stellte sich auf Zehenspitzen, doch auch jetzt kam er nicht an den Balken heran. Nach einem weiteren Versuch sprang er vom Hocker. Sein Bauchgefühl war richtig gewesen. Er hatte gewusst, dass irgendwas nicht gepasst hatte, als er die Tatort-Fotos gesehen hatte. Erst heute Abend, als er sie noch einmal angesehen hatte, war es ihm bewusst geworden, was es war. Der Hocker schien zu niedrig zu sein, als das jemand ihrer Größe an den Balken kam. Das ungute Gefühl hatte sich nicht abschütteln lassen und er hatte einfach herfahren müssen. Er war fast gleichgroß wie das Opfer. Es war ein Leichtes für ihn die Situation nachzustellen. Eine Kleinigkeit, die niemand bemerkt hatte, weil ein Suizid so offensichtlich schien.
    Sein Blick ging durch das Zimmer und blieb auf einem Stuhl haften. „Vielleicht damit.“ Er griff nach der Lehne und zog ihn direkt neben den Hocker. Wieder sprang er drauf und dieses Mal erreichte auch er den Balken ohne Probleme. Thore warf das Seil um den Balken und knüpfte es fest. Dann stand er einfach nur da, die Schlinge baumelte vor seinem Gesicht hin und her. Kalter Schweiß lief ihm am Nacken und an den Schläfen herunter. Sein Herz begann aufgeregt gegen seine Brust zu hämmern. Der Raum verschwamm vor seinen Augen.
    Er klopfte sich mit den Handflächen gegen die Wangen. „Get hold of yourself, idiot!“
    Thore nahm tiefe Atemzüge und langsam beruhigte sich das durcheinander um ihn herum. Er würde es schaffen. Er konnte diese Sache zu Ende führen. Seine Augen folgten dem baumelnden Seil vor sich.
    „Mach dir keine Sorgen, ich bin stark“, hörte er die Stimme seine Mutter.
    Zwei Tage später hatte sie sich umgebracht. Er hatte sie nicht retten können. Wie auch? Er hatte ja nicht einmal sich selbst retten können.
    Alle Ängste waren wieder präsent.


    Er war schon fast abgetaucht in die dunklen Erinnerungen, da holte in etwas zurück in die Gegenwart. Ein Knacken! Metallisch dreht sich ein Schlüssel im Türschloss, an der Eingangstür. Thore sprang eilig vom Stuhl, schaltete das Licht aus und presste sich in eine Nische. Wer zur Hölle war das? Ein Einbrecher. Er schüttelte innerlich den Kopf. Einbrecher haben keinen Schlüssel. Ihr Mörder? Aber woher sollte der einen Schlüssel haben? Das ergab doch alles keinen Sinn.
    Er hörte Schritte, die sich näherten. Seine Hand glitt in seine Jackentasche und er seine Finger tasteten nach dem Griff seines Messers. Inzwischen wusste er, wie man sich verteidigte. Er würde den Kerl stellen, wer auch immer das war.
    Thore wartete geduldig ab, während die Schritte immer näher kamen. Dann sah er einen Schatten in die Tür treten. Das war seine Chance! Er sprang aus der Ecke, zog das Messer aus der Tasche, klappte es auseinander. Ehe der Unbekannte reagieren konnte, hatte er bereits nach dessen Arm gepackt, ihn auf den Rücken gedreht und gegen die Mauer gedrückt. Die Klinge des Messers drückte gegen den Hals des Mannes, der nicht viel größer schien als er selbst.
    „Was willst du hier?“, zischte er, löste für einen Moment die Hand von seinem Opfer und schaltete das Licht an.
    „Das könnte ich dich auch fragen“, kam es zurück.
    Thores Augen weiteten sich überrascht und die Messerklinge löste sich vom Hals des nun nicht mehr so unbekannten Mannes. „Paul …“
    „Ich muss mich wohl bedanken, dass du mir nicht gleich die Kehle aufgeschlitzt hast.“
    „Was machst du hier?“, fragte Thore erneut, dieses Mal in einem ruhigeren Ton.
    „Es gab einen Anruf, dass hier Licht brennen würde. Ich war in der Nähe, bin dem nachgegangen.“
    Thore lockerte seinen Griff von dem deutschen Kollegen und Paul löste sich von der Wand. Der Blonde drehte sich herum und starrte auf das Seil, das von der Decke baumelte. „Was treibst du hier?“, wollte er wissen.
    „Ich habe die Tatortfotos nachgestellt.“
    Paul nickte und machte einige Schritte nach vorne, bis er direkt vor dem Seil und dem Stuhl stand. „Aber lag da nicht ein Hocker neben dem Opfer?“
    „Ja. Ich hatte es vorher mit dem Hocker versucht, bin aber nicht an die Decke gekommen.“
    Paul schien sofort zu begreifen. Er sah Thore an. „Du bist ungefähr so groß, wie sie gewesen ist?“
    „Ja.“
    „Aber niemand würde doch vorher noch von einem Stuhl zu einem Hocker wechseln, wenn er sich umbringen will …“
    „Ja.“
    Der deutsche Polizist grinste. „Kannst du auch etwas anders sagen, außer ja?“
    „Ja …“ Thore schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. Er trat neben Paul. „Das spricht dafür, dass sie jemand umgebracht hat. Wir müssen noch einmal checken, ob es da nicht doch ein Betäubungsmittel gab.“
    Paul nickte.
    „Ich denke auch, dass wir schon jetzt den Kreis der Täter eingrenzen können“, fuhr Thore fort.
    „Ach ja?“
    Der Finne nickte in Richtung Hocker. „Er muss schon über 1,90 gewesen sein, um es mit dem Hocker hinzubekommen …“
    „Du meinst, dass jemand aus der Basketball-Mannschaft sie umgebracht hat?“
    „Es wäre die plausibelste Lösung … jemand musste wissen, dass dieser Zeitpunkt perfekt war. Jemand, der wusste, dass Kimmo tot ist.“
    „Es stand in allen Zeitungen, dachte ich.“ Paul musterte ihn kritisch. „Sag mal, bist du hier eigentlich hingejoggt?“
    „Wie?“
    „Na, du bist ganz nass vom Schweiß.“
    „Ich …“ Thore stockte. Es fühlte sich an, als würde sein Gehirn plötzlich schockfrieren. Er konnte nicht mehr klar denken.
    „Bist du okay?“ Pauls Stimme schien plötzlich von weit wegzukommen. „Hey … geht es dir gut?“
    Thore spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte zusammen. Er starrte in das Gesicht vor sich. „Was ist denn los mit dir? Du schaust, als hättest du einen Geist gesehen.“
    „Das habe ich auch“, antwortete er so leise, das er sich nicht sicher war, ob ihn Paul überhaupt verstand. „Meine Mutter … sie hat sich erhängt …“
    Stille. Eine beängstigende Stille umgab sie. Es kam Thore wie Stunden vor, ehe sein Gegenüber seine Stimme wiederfand. „Ich verstehe“, erklärte Paul. Dann spürte er, wie die Hand von seiner Schulter auf den Rücken wanderte. „Lass uns rausgehen. Woanders weiter reden.“


    Thore hatte keine Ahnung, wie er zu diesem „Woanders“ gekommen war. Es war, als wäre er hingebeamt worden. Die letzten Minuten schienen aus seinem Gehirn gelöscht. Nun saß er irgendwo an einem kleinen Wald auf einer Bank.
    „Hier.“ Paul hielt ihm eine Flasche Wasser hin und er nahm sie dankend entgegen. Er löste den Verschluss und nahm einige gierige Schlucke.
    „Hast du sie gefunden?“
    „Ja.“ Er schluckte. „Ich hatte an dem Tag früher Schluss in der Schule. Ich wollte ihr erzählen, dass ich eine gute Note in Mathe bekommen habe und dann, als ich die Tür aufmachte, da … da hing sie da und war ganz blass … ich … das Bild, ich kann es nicht mehr aus meinem Kopf löschen.“
    „Wieso hat sie sich …“ Paul unterbrach seine Frage. „Tut mir leid, es war taktlos von mir … du brauchst darüber nicht zu reden.“
    „Mein Vater hat sie geschlagen.“ Thore knibbelte am Etikett der Flasche. „Immer wenn er nach Hause kam und einen schlechten Tag hatte, hat er sie geschlagen … erst hat er nur mich geschlagen, weil ich immer Probleme gemacht habe, aber dann … dann war es nur noch meine Mutter.“ Eine Träne rollte über seine Wange. Dann noch eine. „Manchmal denke ich, sie ist tot, weil ich damals nicht stark genug war und die Schläge nicht ertragen konnte … ich habe sie nachts schreien gehört, sie hat ihn angefleht nur noch sie zu schlagen.“
    „Du hast keine Schuld.“ Pauls Stimme zitterte vor Wut. „Dein Vater hat Schuld, nur er alleine!“
    Thores Hand fuhr an seinen Hals und er drückte langsam zu. „Ich habe versucht, mich gegen ihn zu behaupten, aber ich kann das nicht … er gewinnt immer und immer wieder!“
    Eine Hand umgriff sein Handgelenk und zog sie von seinem Hals. „Solange du nicht zerbrichst, hat er nicht gewonnen.“
    Thore sah zur Seite. Paul lächelte. „Du bist stärker als er, denn trotz allem, was er dir angetan hat, stehst du hier.“
    „Ich sitze“, nuschelte Thore leise.
    „Du weißt, was ich meine. Du hast noch nicht verloren, weil du noch nicht am Boden liegst.“
    Der Schwarzhaarige lachte. „Vor einem Jahr habe ich ihm auf einer Abschiedsfeier eines Kollegen in seine verlogene Fresse geschlagen … ich habe geschrien, dass er Schuld ist, dass er sie umgebracht hat, dass er sie geschlagen hat.“ Sein Lachen wurde lauter, ehe es erstickte. „Er hat nur gelächelt und gesagt, dass ich verwirrt wäre, nie über ihren Tod hinweggekommen wäre und alle … alle haben ihm geglaubt. Ich wurde in den Innendienst versetzt, musste zwei Mal die Woche zu der Psychotante gehen. Er hat mich wissen lassen, dass er mich jederzeit vernichten kann.“
    „Und trotzdem bist du jetzt wieder auf Außeneinsätzen“, gab Paul zu bedenken.
    Thore lächelte. „Scheint, dass zumindest eine Person mir damals geglaubt hat und mir diesen Job angeboten hat. Ich weiß, dass mein Vater mich dennoch im Blick hat. Wie ein Albtraum, den ich nicht loswerden kann.“
    Neben ihm wurde es wieder still. Er konnte es Paul nicht verübeln, denn so ging es den meisten Leuten, denen er die volle Wahrheit erzählte. Ben war ihm danach sogar zwei Tage unauffällig aus dem Weg gegangen, weil er nicht gewusst hatte, wie er damit umgehen sollte.
    „Lass und über den Fall reden, weshalb ich glaube, dass es einer der Mannschaft ist“, lenkte Thore das Gespräch in eine andere Richtung. „Wenn wir die Größe beachten, ist es die wahrscheinlichste Komponente. Es sind keine 100%, aber immerhin 80%.“
    Paul nickte. „Dann lass uns die einzelnen Mannschaftsmitglieder durchleuchten. Seit ihr noch in dem gleichen Hotel?“
    „Nein, eine kleine Ferienwohnung“, antwortete Thore und nannte die Adresse.
    „Gut, dann gehen wir dahin. Es ist von hier am Nächsten.“

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  • Paul saß auf dem Sofa, während Thore in die Küche gegangen war, um eine Flasche Wasser und zwei Gläser zu holen. Sein Blick fiel auf zwei Bücher und er griff danach. Das erste war bereits ziemlich verschlissen und deutete darauf hin, dass es viel gelesen wurde. Macbeth von Shakespeare. Er selbst hatte es nie gelesen. Die Klassiker der Literatur waren nicht gerade seins. In der Schule hatte er sich durch Faust gekämpft, das war es dann aber auch schon gewesen. Das Buch darunter schien etwas neuer zu sein, wenn es auch schon deutlich gebraucht war. „Number 6“, las Paul laut vor und öffnete es. Er blickte auf einen Haufen wirrer Schriftzeichen, die für ihn keinen Sinn machten. „Sprichst du was Asiatisches oder so?“, rief er.
    Kurz darauf hörte er Schritte und Thore kam aus der Küche. Der finnische Kommissar stellte die Gläser auf den Tisch und füllte sie jeweils zur Hälfte mit Wasser. „Japanisch“, antwortete er.
    Paul pfiff durch die Zähne. „Respekt. War sicher nicht leicht zu lernen, was?“
    „Ich habe lange dort gelebt“, antwortete der Schwarzhaarige bescheiden. „Aber eigentlich fällt es mir auch nicht besonders schwer, Sprachen zu lernen.“
    „Wie alt ist das Buch?“
    Thore setzte sich neben ihn auf das Sofa. „Mhm … ich glaube zwölf Jahre. Ich war Fünfzehn, als ich es gekauft habe.“
    „Worum geht es darin?“
    Sein Gesprächspartner lachte. „Ich habe dich jetzt eigentlich nicht für eine Leseratte gehalten.“
    „Es interessiert mich nur.“
    „Die Geschichte findet in der "idealen" und perfekten Stadt namens No.6 statt. Shion, ein Junge, der in der Elite und aufgewachsen ist, gibt auf seinem 12. Geburtstag einem anderen Jungen mit dem Namen Nezumi Unterschlupf.“
    „Und dann? Wie geht es dann weiter?“
    „Vier Jahre später stirbt Shions Vorgesetzter vor seinen Augen, eine schwarze Wespe beißt sich aus seinem Hals heraus. Er wird von der Regierung verhaftet, aber Nezumi rettet ihn und bringt aus der Stadt. Vor deren Mauern liegt die Stadt der Ausgestoßenen. Shion erkennt, dass No.6 nicht die Utopie ist, die die Regierung vermittelt hat und will nun die Wahrheit erfahren.“
    „Also in Richtung Sci-Fi?“
    „Ja, schon eher … ja.“ Thore legte das Buch wieder auf den Tisch. „Es gibt auch ein Anime, aber ich denke nicht, dass es deine Filmrichtung ist, was?“
    Paul lachte. „Nein, nicht wirklich. Wenn es sich auch spannend anhört.“ Der Blick des Blonden fiel auf das andere Buch. „Liest du viel?“
    „Ich habe ein ganzes Zimmer nur voller Bücher.“ Thore kratzte sich am Hinterkopf. „Aber das bleibt unter uns.“ Dann holte der Finne sein Tablet raus. „Was die Basketball-Mannschaft angeht. Bei den Ermittlungen zu Kimmo Lehtolainens Tod habe ich gesehen, dass die auf der Vereinsseite detaillierte Spielerprofile haben.“
    „Das ist doch schon einmal was. Dort sind sicher auch die Größen angegeben.“
    „Exakt“, stimmte Thore zu und legte das Tablet dann auf dem Tisch. „Hier gibt es sogar eine praktische Listenansicht. Von den fünfzehn Spielern können wir …“ Er scrollte etwas nach unten, um die komplette Liste zu sehen, „ … drei ausschließen. Die sind kleiner als 1,90 Meter. Der hier, Manfred Krüger, den vielleicht auch. 1,91 ist so gerade an der Grenze. Aber wir sollten ihn dennoch erst einmal in der Gruppe der Verdächtigen lassen.“
    „Was ist mit den Trainern und andern Funktionsträgern neben den Spielern?“
    Thore nickte zustimmend und machte wieder einige flinke Fingerbewegungen auf dem Gerät. „Ich gehe dem mal nach und gebe die Namen in die Suchmaschine ein. Hier in der Liste sind ihre Größen nicht angegeben.“
    „Im Zweifel müssen wir sie eben zum Messen beten“, sagte Paul und kicherte bei dem Gedanken. Wie das klingen würde, wenn man sie auffordern würde, ihre Größe preiszugeben.
    „Das wird ihnen sicher gefallen.“
    Es vergingen zwei Stunden, in denen sie jedes kleine Detail über die Spieler heraussuchten und in einer Datei abspeicherten. „Und wie finden wir nun raus, wer von denen einen Grund hatte Nila Virtanen zu töten?“, stöhnte Paul und warf sich zurück in die Sofalehne.
    „Vor allem, was ist das Motiv? Wieso ausgerechnet jetzt?“
    „Kimmo Lehtolainen muss der Auslöser sein.“
    Thore schnaufte durch die Nase. „Was für ein Dreck!“
    „Vielleicht hatte sie eine Liebesbeziehung“, mutmaßte der Blonde.
    „Und wo Lehtolainen tot war, hat sie mehr verlangt, als nur Sex?“ Thore wippte mit dem Kopf hin und her. „Aber das Zeitfenster ist so eng … das macht mich stutzig.“




    Ben stutzte als er aus seinem Mietwagen ausstieg. Das war doch Pauls Ersatzwagen, der vor der Haustür der Ferienwohnung stand? Was suchte er hier? Eigentlich waren in die beiden Kollegen in den letzten Tagen nicht so vorgekommen, als würden sie sich einfach abends treffen. „Da ist doch was im Busch“, murmelte er, als er den Schlüssel ins Schloss steckte und umdrehte. Als er durch die Tür trat, hörte er aus dem Wohnzimmer Stimmen. Ja, Paul, bestätigte er sich selbst. Die beiden saßen am Wohnzimmertisch vor dem Tablet und schienen sich etwas konzentriert anzusehen.
    „Sag bloß, Thore hat dich mit Anime angesteckt?“
    Die beiden Jüngeren drehten ihre Köpfe zur Tür.
    „Nein, nein“, winkte Paul grinsend ab. „Wir arbeiten.“
    „Ihr arbeitet?“ Ben zog die Stirn in Falten. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? „Was arbeitet ihr denn noch. Der Fall ist abgeschlossen.“
    „Es war kein Selbstmord. Ich habe es nachgestellt. Sie wäre niemals mit diesem Hocker an den Balken gekommen.“
    „Du hast was?!“ Für einen Moment blieb Ben die Luft weg. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie Thore alleine in die Wohnung gegangen war, wo sich die Verlobte von Lehtolainen das Leben genommen hatte. Er wollte sich nicht vorstellen, wie er sich gezwungen hatte, die Bilder vom Tatort anzusehen.
    „Ich war dort und habe es ausprobiert. Mit dem Seil bin ich nicht an den …“
    „Mit dem Seil!“ Ben fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast wirklich ein Seil mitgenommen?“
    „Soll ich es ohne Seil nachstellen?“, kam es vorsichtig.
    „Ich finde es überhaupt nicht gut, dass du überhaupt alleine dort hin bist und …“
    „Paul war mit“, unterbrach Thore ihn. „Ich habe ihn angerufen und wir sind zusammen hingefahren.“ Der Schwarzhaarige schlug auf Pauls Schulter. „Stimmt doch, oder?“
    Der Blonde nickte langsam. „Äh ja … er wollte euch den Abend nicht verderben und hat mich angerufen …“
    „Und was treibt ihr jetzt?“ Ben ließ sich den Sessel fallen und betrachtete Thore aufmerksam. Er schien okay zu sein, trotz der Extremsituation, die er sich ausgesetzt hatte. Vielleicht hatte er ihn doch einmal mehr unterschätzt und er hatte das Trauma inzwischen deutlich besser im Griff als noch vor wenigen Monaten. Und immerhin schien er ja Paul angerufen zu haben. Wobei? Er sah in das Gesicht des Blonden. War es wirklich so, wie Thore erzählte? Oder war er einer Lüge aufgesessen?
    „Wir glauben, dass es jemand aus der Basketball-Mannschaft war. Es liegt nahe, wegen der Größe“, berichtete ihm sein Partner aus Finnland.
    „Schon ein Motiv?“
    „Nein … daran knabbern wir noch.“

  • Es war kurz nach sieben, als Ben von Stimmen geweckt wurde. Nur schwermütig kämpfte er sich aus dem Bett und griff schläfrig nach einigen Klamotten. Als er die Tür vom Schlafzimmer öffnete und ins Wohnzimmer ging, stand Thore bereits in der Küche und schien das Frühstück vorzubereiten. Das Tablet lag auf dem Tisch und er selbst hatte ein Headset aufgezogen, während er auf Japanisch redete. Als er Ben sah, hob er leicht die Hand und er erwiderte den Morgengruß kurz, ehe er in das Bad weiterschlich und sich unter die kalte Dusche stellte. Er lehnte den Kopf an die Wand. Es war am gestrigen Abend einfach zu spät geworden, er hatte viel zu wenig Schlaf bekommen. Sie hatten noch bis um ein Uhr darüber nachgedacht, wieso Nila Virtanen ermordet wurde.
    „Was für ein verzwickter Fall“, murmelte er leise und griff blind nach dem Shampoo. Was würde er dafür geben, wenn er jetzt in Finnland wäre und neben Nora aufwachen könnte.
    Als er wieder aus dem Badezimmer kam, war der Tisch gedeckt und Thore hatte sein Internet-Telefonat beendet. „Und, alles okay bei Mitsuki?“, fragte er.
    Sein Freund nickte, während er an einem geknüpften Lederarmband spielte. Mitsuki war eine Freundin aus Japan, mit der Thore mehrmals die Woche telefonierte. Nora hatte ihm erzählt, dass sie gemeinsam zur Schule gegangen waren und viel gemeinsam unternommen hatten. Ben selbst war sich sicher, dass er diese Mitsuki liebte. Er hatte immer dieses unbeschwerte Lächeln im Gesicht, wenn er mit ihr sprach.
    „Wieso bist du nicht zurück als du 18 warst?“
    „Wie?“ Thore sah ihn fragend an.
    „Na, nach Japan“, erklärte er und griff nach einem Brötchen.
    „Ich weiß nicht … vielleicht wegen Nora. Ich glaube, ich wollte sie nicht alleine lassen.“ Thore sah aus dem Fenster. „Aber das erzählst du ihr hoffentlich nicht. Sie würde sich vielleicht Vorwürfe machen.“
    „Denkst du, sie weiß es nicht schon längst?“
    „Vielleicht, ja.“
    Ben zog die Augenbraue hoch. „Du bist ein hoffnungsloser Fall. Immer sind dir andere Leute wichtiger als du selbst. Was ist mit Mitsuki, hat sie einen Freund?“
    „Ben …“
    „Was denn? Es ist eine normale Frage?“, wiegelte er mit vollem Mund ab. „Also, hat sie?“
    „Nein, nicht mehr.“ Thore verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber sie ist trotzdem unerreichbar. Diese Distanz ist nicht zu überwinden.“
    „Und dennoch hast du immer noch keine feste Beziehung.“ Ben nahm einen weiteren Bissen von seinem Brötchen. „Du könntest professioneller Shogi-Spieler werden.“
    Thore lachte. „Willst du mich loswerden? Ich habe einen Job, der übrigens nicht so schlecht bezahlt ist …“
    „Ich möchte nur, dass du glücklich bist.“
    „Du hast einen ausgeprägten Mutter-Komplex, hat dir das schon mal jemand gesagt?“ Der Schwarzhaarige stand auf und begann den Tisch abzuräumen. „Und nun los, wir kommen noch zu spät.“
    „Sag mal, warst du wirklich mit Paul in der Wohnung?“
    Thore ließ den Teller wieder auf die Tischplatte sinken und sah ihn an. „Ist das so wichtig?“
    „Für mich schon … bist du es nicht gewesen, der gesagt hat, dass man mit einer Lüge auf den anderen Menschen herabsieht?“
    „Ich war alleine dort, es war Zufall, dass wir in der Wohnung aufeinander getroffen sind“, gab sein Gegenüber zu. „Aber es war alles gut. Es geht mir gut … du brauchst dir keine Sorgen machen, wirklich.“
    Ben studierte die Geschichtszüge seines Freundes. „Hast du es deshalb verschwiegen? Weil ich dich bedränge mit meinen Sorgen?“
    „Ich … vielleicht, ich weiß es nicht.“
    Er nickte langsam. „Ich werde versuchen, das abzustellen. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.“
    „Danke. Sollen wir dann los?“
    Ben stand auf. „Ja, warte, ich helfe dir beim abräumen.“




    Als sie an der PAST ankamen, hatte Paul Semir bereits in die neusten Fakten zum Fall eingeweiht. „Wir könnten DNA-Proben von allen aus dem Verein nehmen“, eröffnete Paul die morgendliche Besprechung.
    „Werden wir dafür einen Beschluss bekommen?“, fragte Ben skeptisch.
    „Wir haben immerhin stichhaltige Beweise dafür, dass es kein Selbstmord war“, erklärte Thore.
    „Der zuständige Richter ist allerdings ein guter Freund vom Vorstand“, widersprach Ben. „Da könnte es schwer werden, dass er uns einfach so handeln lässt.“
    Semir seufzte. „Dann müssen wir den Täter eben anders aus der Deckung locken.“
    Ben stand auf und ging zum Fenster. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wir sind uns einig, dass sie nicht wegen einer Affäre umgebracht wurde, oder?“
    „Ich schließe es aus“, antwortete Thore. „Es ist nicht unmöglich, aber es gibt am wenigsten Sinn.“
    „Paul, Semir. Was ist mit euch?“, hakte Ben nach.
    Die beiden deutschen Kommissare nickten. „Wie Thore sagt“, antwortete Semir. „Wieso? Was ist dein Plan?“
    Ben drehte sich herum und lächelte schief, ehe er sich an die Wand des Büros lehnte. „Wir müssen ihn einfach glauben lassen, dass es einen Beweis gibt.“
    „Heißt?“
    „Vielleicht ein USB-Stick, auf den sie Informationen gespeichert hat, so etwas …“
    „So etwas?“ Thore zupfte sich am Ohr. „Und du denkst, darauf fallen die rein? Und außerdem, wie willst du das als Falle benutzen. Du wirst ihn ja nicht dort in der Wohnung liegen lassen haben, wenn dort wirklich etwas relevantes drauf sein könnte.“
    „Dort nicht, aber bei uns in der Ferienwohnung.“
    Der Schwarzhaarige lehnte sich zurück und sah an die Zimmerdecke. „Ich weiß nicht, das ist so offensichtlich.“
    Ben löste sich von der Fensterbank und trat hinter seinen finnischen Kollegen. Er tippte mit dem Finger gegen dessen Stirn. „Nicht jeder ist so intelligent wie du.“
    „Lass das …“ Thore schlug seine Hand weg. „Überleg du dir lieber eine bessere Falle.“
    „Besser? Ich finde den Plan gut.“ Ben sah zu Semir. „Was hältst du denn davon?“
    „Ich? Wenn der Täter sich schnell unter Druck setzen lässt, dann könnte es funktionieren. Ist er allerdings bedacht und von der ruhigeren Sorte, dann nicht.“
    „Ich finde, es ist einen Versuch wert“, schaltete sich Paul ein. „Wenn es nicht klappt, dann können wir uns immer noch etwas anders überlegen. Wir sollten gleichzeitig versuchen, den Richter davon zu überzeugen, dass ein DNA-Test unverzichtbar ist.“
    Ben nickte. „Gut, dann lass uns die Falle aufstellen. Ich und Semir fahren zu diesem Verein und mischen die etwas auf. Thore, du legst einen USB-Stich bereit.“
    „Es liegt schon einer auf dem Wohnzimmertisch“, kam es zurück.
    „Heh, siehst du, hast wohl schon vorher diesen Pla…“
    „Es ist mein Stick, den ich gestern liegen lassen habe. Mehr nicht.“
    „Umso besser. Dann fahrt ihr schon einmal hin und habt die Wohnung im Auge.“
    Thore seufzte und stand auf. „Das wird sicher Spannung pur.“
    Ben lachte und klopfte dem Jüngeren auf die Schulter. „Nun stell dich nicht an, wird schon werden.“
    „Und wenn es ein Verbrechen ist, für das es überhaupt keine Beweise geben könnte?“, fragte Thore skeptisch.
    „Dann weiß er trotzdem, dass wir ihm dicht auf den Fersen sind“, widersprach Ben.
    „Oder das wir im Finsteren tappen.“
    „Positiv denken, positiv!“ Ben sah zu Semir. „Sollen wir?“
    „Auf geht’s Partner, mischen wir die auf.“

  • Als Ben und Semir am Rakuzan Dome angekommen waren, hatten sie die Mannschaft zusammengetrommelt und über den neusten Ermittlungsstand informiert. Als sie auf den Tod von Nila Virtanen zu sprechen kamen, zeigten sich die Gesichter vor ihnen einerseits geschockt und andererseits überrascht. Niemand schien glauben zu können, dass auch ihr Tod ein Mord sein sollte. Doch Ben war sich sicher, dass einer dieser Gesichter log. Jemand aus diesem Raum war der Mörder der jungen Frau, hatte die Situation eiskalt ausgenutzt und dann zugeschlagen. Auf dem Weg hierher hatte er sich noch einmal mit Semir darüber unterhalten und sie waren sich einig gewesen, dass vielleicht ihr Beruf eine Verbindung darstellen könnte. Nila Virtanen war Krankenschwester gewesen und so vermutete er, dass es eventuell um Doping ging. Vielleicht hatte sie nicht mehr länger schweigen wollen? Oder sie hatte den Dopingsünder erpresst. Beides war eine Möglichkeit, die sie in Betracht ziehen mussten.
    „Im Augenblick werten wir einen Datenstick aus, den wir in der Wohnung von Frau Virtanen gefunden haben“, erklärte Semir neben ihm. „Leider dauert die Arbeit, da sie den Stick durch ein Passwort gesichert hat. Aber wir hoffen, dass wir schnell einen Erfolg verzeichnen können.“
    „Auch im Sinne der Mannschaft“, setzte Ben ein. „Wir möchten, dass sie so schnell wie nur möglich wieder normal trainieren können ohne sich Sorgen machen zu müssen.“
    „Vielen Dank. Wir wissen Ihre Bemühungen sehr zu schätzen.“ Der Trainer der Mannschaft drückte ihnen die Hand. Ben setzte ein falsches Lächeln auf. „Wir geben unser Bestes. Wir danken, dass Sie uns Ihre kostbare Zeit zur Verfügung gestellt haben.“
    Als das Gespräch beendet war, ging Ben in Richtung Tür. Dann drehte er sich zu Semir um. „Lass uns etwas Essen gehen und danach hole ich den Stick aus der Ferienwohnung“, sagte er laut und deutlich.
    Semir folgte ihm. „Hier im Zentrum gibt es einen guten Italiener, das wäre doch was“, antwortete er und gemeinsam gingen sie aus der Tür.
    Als sie den Gang heruntergingen, sah sich Ben unauffällig um. Der Großteil der Spieler bog in die andere Richtung ab, drei allerdings folgten ihnen in Richtung des Haupteinganges. „Es wäre auch etwas Unauffälliger gegangen“, flüsterte Semir ihm zu.
    „Was denn, es scheint ja geklappt zu haben. Einer von denen ist es sicher …“
    „Bestimmt. Fragt sich nur, wie er nun an die Adresse kommt. Die hast du ihm ja nicht genannt.“
    Ben kratzte sich am Hinterkopf. Da war etwas Wahres dran. „Meinst du Zentrum ist wirklich so gut? Das ist ganz schön weit weg vom Rüschenweg, oder nicht?“, fragte er mit lauterem Ton.
    Semirs Gesicht zeigte kurzzeitig Verwirrung, dann schien er aber zu begreifen. „Davon lasse ich mir meinen Italiener aber nicht versauen. Sie ist tot, da wird es auf die ein oder andere Stunde nun auch nicht mehr ankommen.“
    Ein Lachen entkam Bens Kehle. „Da ist was Wahres dran. Also Italiener in der Innenstadt.“




    Thore lehnte sich gelangweilt zurück. „Wieder die Arschkarte gezogen“, nuschelte er und zog sein Tablet heraus. „Die nächsten Minuten passiert ja doch nichts.“
    Paul sah kurz nach rechts, richtete seinen Blick dann aber wieder auf das Ferienhaus. Er wollte sich nachher nicht anhören müssen, dass sie ihren Job nicht vernünftig gemacht hatte, wenn der Kerl doch früher als vermutet auftauchen würde.
    „Semir und du, kennt ihr euch schon lange?“, fragte Thore neben ihm nach einer Weile.
    „Sagen wir so, wir hatten eine Begegnung, als ich noch ein kleiner Junge war. Da war für mich klar, dass ich auch Polizist werden will.“
    „Mhm. Du wolltest also schon immer Polizist werden?“
    Paul sah wieder für einen Augenblick nach rechts. Thore hatte die Füße inzwischen auf dem Armaturenbrett abgelegt. Das Tablet lag auf den Oberschenkeln und der Kollege aus dem hohen Norden
    schien ein Spiel zu spielen.
    „Ja. Und du?“
    Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Nein, eigentlich nicht. Als ich Fünf war, wollte ich Feuerwehrmann werden, danach Mangazeichner, dann Architekt und irgendwann bin ich dann bei der Polizei gelandet.“
    „Und wieso bist du Polizist geworden?“
    Ein Lachen erklang. „Wieso?“ Thore sah ihn an. „Ist es nicht immer der gleiche Grund? Gegen das Böse in dieser Welt kämpfen … was für eine dumme Traumvorstellung das ist.“
    „Hm?“
    „Na, wir werden doch nie den Punkt erreichen, in dem es in dieser Welt keine Verbrechen mehr gibt. Es ist wie ein unendlicher Kreis.“
    „Gut, da hast du Recht.“
    „Und trotzdem machen wir immer weiter.“ Thore seufzte. „Verrückt.“
    Paul lehnte den linken Ellenbogen an das Fenster und legte den Kopf auf seine Hand. „Das hört sich an, als würdest du es bereuen zur Polizei gegangen zu sein.“
    „So ist das nicht. Ich habe es nie bereut … manchmal ist es nur schwer, das zu verstehen, was ich mache, was mein Job ist.“
    Der blonde Kommissar nickte. Er konnte die Gefühle durchaus verstehen. Wenn es einen harten Fall gab, dann ging es ihm genauso. Vermutlich ging es jedem Polizisten so, dass sie dann an allem zweifelten. „Wie lange arbeitest du schon mit Ben zusammen?“
    „Zweieinhalb Monate.“
    „Echt? Erst so wenig … ihr wirkt, als wäre es schon viel länger.“
    Thore lachte. „Ja? Vielleicht liegt es daran, dass er mit meiner Schwester zusammen ist. So hängen wir auch außerhalb der Dienstzeit dauernd zusammen.“
    „Das erklärt einiges.“
    „Wie?“
    „Ben scheint immer darauf bedacht zu sein, dich nicht in Gefahr zu bringen.“
    Ein Schnaufen kam vom Beifahrersitz. „Ja, das werde ich ihm wohl noch austreiben müssen.“
    „Und Niilo, wie lange ist der schon bei euch im Team?“
    „Drei Monate. Er war schon vor mir Bens Partner, kam direkt von der Polizeiakademie. Beziehungen oder so …“
    Paul nickte. „Und vorher, wo hast du da gearbeitet?“
    „Ist das so etwas wie ein Bewerbungsgespräch?“ Wieder lachte Thore. „Meine Lieblingsfarbe ist übrigens Grün.“
    „Nennen wir es ‚Zeit totschlagen‘“
    Der Schwarzhaarige schwieg einige Sekunden und tippte auf seinem Tablet, ehe er sich wieder ihm zu wendete. „Sorry, ne Partie Shogi … musste meinen Spielzug machen. Ich war bei der Spezialeinheit Gewaltkriminalität. Geiselnahme, Entführungen, Erpressungen … so was.“
    „Klingt jetzt nicht, als wäre es ne kleinere Nummer als dieses Totenwinter.“
    „Totenwinter operiert meist über die Landesgrenze und übernimmt spezielle Fälle im Inneren in Kooperation mit den anderen Dienststellen. Am Ende hört es sich spannender an, als es am Ende wirklich ist.“ Thore seufzte. „Aber alles war besser, als den ganzen Tag im Büro eingesperrt zu sein.“

  • Die hinteren Türen des Mercedes wurden geöffnet und Semir und Ben setzen sich auf die Rückbank.
    „Aua, Ben … deine Knie“, schimpfte Thore. „Du rammst die in meinen Rücken.“
    „Dann bring deinen Sitz wieder in die richtige Stellung.“ Ben drückte mit der Hand die Lehne nach vorne und lachte. „Das ist eine Observation und kein DVD-Abend.“
    „Den mache ich normalerweise nicht im Auto!“
    „Jaja.“ Ben hielt ein Trinkpäckchen über den Sitz nach vorne und wedelte damit vor Thores Nase. „Ich hab dir auch was mitgebracht.“
    Der Schwarzhaarige griff an den Sitz und schob ihn wieder nach vorne, sodass Ben hinten mehr Platz hatte. „Dein Täter ist bisher noch nicht aufgetaucht“, brachte er die beiden älteren Kollegen auf den Stand.
    „Das wird er schon noch“, bekräftigte Ben.
    „Wenn du die Falle nicht zu offensichtlich gestellt hast“, widersprach Semir. „Er hat geradezu gebrüllt, wo er den Stick finden kann.“
    Ein Seufzen von Thore war zu vernehmen. „Darf ich wenigstens in der Wohnung schlafen, oder müssen wir jetzt im Auto sitzen, bis der Kerl kommt?“
    „Er wird schon kommen … er weiß, dass er nur ein paar Stunden hat“, munterte Ben seinen Freund und Kollegen auf.
    „Was wenn er euch gesehen hat, als ihr hierher zum Auto gekommen seid?“, fragte nun Paul.
    „Da war niemand“, beschwichtige Semir sofort. „Das hätten wir gemerkt.“
    „Na dann, bleibt uns wohl nur abwarten.“ Thore atmete tief durch und tippte auf seinem Tablet herum.
    „Vielleicht ist der Kerl dir auch entgangen, weil du die ganze Zeit auf dein Spielzeug starrst“, murmelte Ben von hinten.
    „Paul schaut ja“, entgegnete Thore ruhig.
    „Und vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei“, ergänzte Ben mit einem ironischen Unterton.
    Thore hantierte mit dem Strohhalm und steckte ihn in das mitgebrachte Trinkpäckchen. „Jaja … ist ja alles gut gegangen.“


    Es verging eine weitere halbe Stunde, ehe sich endlich etwas tat. „Da kommt jemand“, flüsterte Paul und nickte in Richtung Haus. Und tatsächlich: Ein stämmiger, großer Mann ging auf das Ferienhaus zu und blieb vor der Tür stehen. Dort sah er sich für einige Sekunden um, ehe er in den Garten schlich. „Er will sicher durch die Terrassentür“, mutmaßte Ben.
    „Dann mal los“, bestimmte Semir neben ihm und öffnete bereits die Autotür. Unmittelbar darauf taten es ihm die anderen Kommissare nach.
    „Ihr übernehmt die Vordertür. Ben und ich den Garten“, erklärte der älteste der Vier kurz und knapp und zog dann die Waffe aus dem Holster.
    Er bekam ein kurzes Nicken als Antwort und dann schlichen sie in Richtung Haus. Semir war einen kurzen Blick auf Ben. Sein ehemaliger Partner sah nach hinten und folgte mit seinem Augen Thore und Paul. „Er ist lange genug Polizist, hab Vertrauen“, flüsterte er Ben zu.
    „Mhm?“
    „Thore, meine ich.“
    „Ich mache mir keine Sorgen“, erwiderte Ben.
    Semir schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. „Daran ist nichts verwerfliches Partner, habe ich damals bei dir auch gehabt. Du warst ähnlich wie er, stürmisch und ein Sturkopf.“
    „Wer sagt, dass ich das nicht immer noch bin?“
    „Du bist für mich wie ein offenes Buch“, klärte Semir seinen früheren Kollegen auf und lugte dann durch die kaputte Terrassentür in die Ferienwohnung. „Da ist der Kerl. Ich glaube, es war Steiner … ja genau, Max Steiner, hieß der.“
    „Wollen wir loslegen?“
    „Auf geht’s.“
    Semir zählte leise bis Drei herunter und dann zog er die Terrassentür in einer schnellen Bewegung auf und sie sprangen in das Wohnzimmer, wo Steiner gerade den USB-Stick in seine Hosentasche steckte. „Die Hände hoch, Steiner. Polizei!“, rief Ben.
    Der Mann vor ihnen weitete die Augen, bäumte sich aber noch einmal auf und hechtete in Richtung Wohnungstür. „Immer das Gleiche, was Ben?“
    Ben grinste breit. „Die lernen es wohn nie“, antwortete er und steckte die Waffe ein, während er verfolgte, wie Max Steiner Thore und Paul geradewegs in die Arme rannte. Sofort als sich die Haustür öffnete, packte Thore zu und drückte Steiner gegen die Wand. „Sie sind festgenommen wegen Mordverdacht gegen Nila Virtanen. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Haben Sie das verstanden?“, betete der junge Kommissar herunter und ließ dann die Handschellen um die Handgelenke knacken.
    Steiner nickte und senkte den Kopf, als er aus der Wohnung geführt wurde.
    „Meinen Stick hätte ich übrigens gerne wieder“, flüsterte Thore dem deutlich größeren Mann zu und ließ die Hand in die Tasche des Festgenommenen sinken. „Ich verzichte ungerne auf meine Sammlung von Literaturklassikern.“
    Semir klopfte Ben auf die Schulter. „Das war ja leichter, als ich gedacht habe. Und das obwohl deine Falle so offensichtlich gestellt war.“
    „Ich hoffe übrigens, dass wir das Pizza-Essen noch nachholen. Es gibt da wirklich einen guten Italiener in der Innenstadt.“
    „Nach der Vernehmung, mein Freund, nach der Vernehmung“, winkte Semir ab. „Nun bin ich neugierig, wieso Frau Virtanen sterben musste.“

  • Semir setzte sich, legte die Akte Virtanen auf den Tisch vor sich und begann damit die Lebensdaten des Tatverdächtigen vorzulesen und bestätigen zu lassen. Unmittelbar darauf war auch Paul in den Verhörraum gekommen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie beide das Verhör übernehmen würden.
    „Sie wissen sicher, dass ein Geständnis sich positiv auswirken könnte“, begann Semir und lächelte Max Steiner an. „Wieso haben Sie Nila Virtanen ermordet?“
    „Wer sagt, dass ich es war?“
    Paul lehnte sich zurück und biss in einen Apfel, den er sich mitgebracht hatte. „Kommen Sie, Herr Steiner. Sie sind in unsere Falle getappt, jetzt kann ihnen nur noch die Wahrheit helfen.“
    „Sie wollte mich verraten.“ Steiner lehnte sich nach vorne. „Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?“
    „Verraten? Was verraten?“
    „Sie hatte mal gesehen, wie ich in ein Wettbüro ging … hat einem Gespräch belauscht.“
    „Sie manipulieren also Spiele?“, fragte Paul.
    „Ja, verdammt. Ich brauchte das Geld!“ Steiner preschte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat mir Druck gemacht und als Kimmo dann ermordet wurde …“
    „Sie dachten, dass der Zeitpunkt gut wäre, um sie zu beseitigen?“
    „Ja. Eine trauernde Freundin, ich dachte, das prüft niemand länger als nötig.“
    „Das hat wohl nicht geklappt“, erwiderte Paul schmatzend.
    „Ich hatte keine andere Wahl“, beteuerte Steiner einmal mehr. „Die Kerle von der Wettmafia haben mir ja auch gedroht.“
    „Sie hätten zur Polizei gehen können.“ Semirs Gesicht verfinsterte sich. „Aber stattdessen haben sie entschieden, dass sie sterben muss.“
    „Aber …“ Steiner verstummte und fuhr sich durch die Haare. „Jetzt ist alles zu Ende, oder? Ich werde alles verlieren …“
    Semir klappte die Akte zu und nickte Paul zu, ehe er aufstand. „Das haben Sie bereits in dem Moment, als Sie sich auf illegale Geschäfte eingelassen haben. Ein Kollege wird Sie jetzt abführen.“
    Als sie aus dem Vernehmungszimmer traten, warteten Thore und Ben bereits auf die beiden Autobahn-Kommissare. „Immerhin ist er geständig“, seufzte Ben. „Wenn es das Verbrechen auch nicht besser macht. Dann haben wir ja jetzt Zeit zum Essen.“
    „Du hättest mich mit ihm reden las …“
    Noch ehe Thore seinen Satz beenden konnte, wurde er von Ben lautstark unterbrochen: „Auf keinen Fall!“
    „Ihm tut es doch nicht einmal leid. Er nimmt es einfach so hin, dass er sie ermordet hat. Es war notwendig! Wirklich? Jetzt bekommt er einen tollen Anwalt gestellt und redet sich irgendwie raus!“
    „Thore …“
    „Was?! Ist doch so … man wird darauf plädieren, dass er sich unter enormen psychischen Druck befand und er deshalb so gehandelt hat.“ Der Schwarzhaarige schnaufte und verschwand dann aus dem Vorraum des Verhörzimmers.
    Ben sah seinem Kollegen hinterher. „Sorry, manchmal ist er etwas aufbrausend.“
    Semir verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sagte ja, er erinnert mich ein bisschen an dich.“
    „Ich hatte mich deutlich mehr unter Kontrolle.“
    „Jaja“, winkte Semir ab, „sicher hattest du das.“
    „Ich werde mal nach ihm sehen“, ließ Ben verlauten. „Ihr könnt euch ja schon einmal um das Essen kümmern.“
    Ben hatte nicht lange gebraucht und er hatte Thore auf dem Parkplatz gefunden. Sein jüngerer Partner saß auf einem Bordstein, den Kopf in die Hände gelegt und starrte auf die Autobahn. „So leicht wird er mit dem Mord nicht davonkommen.“
    Thore pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich hasse meinen Job“, murmelte er.
    „Wir haben Jussila dingfest machen können, ehe er noch andere Mitglieder der Mannschaft ermordet hat. Wir haben in diesem Fall auch Positives geleistet.“
    „Es ist also nicht positiv, dass wir einen Mörder gefasst haben?“, hakte Thore nach.
    „Du weißt ja wie ich das meine.“ Ben schüttelte den Kopf. „Ich mag es nicht, wie du mir die Wörter im Mund umdrehst.“
    Thore stand auf und sah auf die PAST. „Wirst du zurückgehen?“
    „Wie kommst du auf so etwas?“ Der Ältere folgte dem Blick seines Freundes. Es stimmte, dass dieser Fall viele Erinnerungen mit sich brachte und es stimmte auch, dass er für einen Moment darüber nachgedacht hatte, wieder zurückzukehren. Am Ende hatte er aber auch in Finnland ein gutes Leben und Freunde. Auch das wollte er nicht so einfach aufgeben.
    „Weil es deine einzige Option ist, wenn die unsere Dienststelle dichtmachen.“
    Ben lachte leise auf. „Das wird nicht passieren, glaub mir. Und selbst wenn, ich kann immer noch Musiker werden. Habe gehört in Finnland gibt es viele Möglichkeiten.“ Er legte seine Hand auf Thores Schulter. „Und nun, lass uns wieder reingehen.“



    Einige Stunden später
    Semir stellte den Pizzakarton auf den Tisch. „So Jungs, zugreifen. Es passiert nicht alle Tage das ich euch was ausgebe.“
    „Eigentlich dachte ich eher daran, einen Italiener zu besuchen“, schimpfte Ben, griff dann aber doch als Erster nach einem Pizzastück und biss herzhaft ab. „Ist aber trotzdem gut“, ließ er schmatzend verlauten.
    „Na dann, will ich auch mal zulangen.“ Paul beugte sich über den Tisch und zog sich ebenfalls ein Stück aus dem Karton. „Was ist mit dir Thore?“
    „Gibt es auch etwas ohne Fleisch?“, fragte der Finne und lugte in den geöffneten Karton.
    „Paprika und ich glaube Pilze.“
    „Dann nehme ich ein Stück Paprika.“
    Paul griff in den Karton und reichte dem Kollegen aus dem Norden das gewünschte Pizza-Stück. „Bitte sehr.“
    „Danke.“
    Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich würde sagen, wir haben gute Arbeit geleistet. Zwei Mordfälle in so kurzer Zeit gelöst.“
    „Wir hatten aber auch Glück, dass wir es mit so einem leichtgläubigen Mörder wie Müller zu tun gehabt hatten“, murmelte Thore. Der Jüngste im Zimmer hatte sein Tablet herausgezogen und machte ein Foto von der Pizza.
    „Stellst jetzt aber nicht auf Instagram, oder?“ Ben lachte. „Hashtag Foodporn.“
    „Schicke ich Niilo“, kam es schmatzend zurück. „Ein bisschen aufziehen wird man ihn ja wohl dürfen.“
    „Du bist unverbesserlich!“ Ben griff nach dem Tablet und zog es seinem Freund aus der Hand. „Der hat schon genug an deinem Kommentar zu knabbern, dass er sich so leicht überrumpeln lassen hat.“
    „Wozu gebe ich ihm denn das Training, wenn er dann doch in zwei Sekunden K.o. ist?“ Thore streckte den Arm aus, um das Tablet zurückzuerobern, doch Ben blieb hartnäckig und nutzte seine Größe knallhart aus. „Vielleicht sollte ich die nächsten Boxstunden übernehmen, du scheinst kein besonders guter Trainer zu sein, Herr Berg.“
    „Pah, für schlechte Schüler kann ich ja wohl nichts!“
    „Werden wir ja sehen.“ Ben hielt das Tablet wieder in Thores Richtung, der sofort danach griff und es an sich nahm. Nur ein schelmisches Grinsen verriet, dass er tatsächlich ein Foto von dem Essen an Niilos Handy sendete.
    „Erst einmal muss er wieder auf die Beine kommen. Die OP am Knie ist morgen, hoffen wir, dass die ihn wieder hinbekommen.“
    „Wird schon“, blieb Thore positiv. „Ich bin mir sicher, in ein paar Monaten hüpft er wieder durch die Gegend.“
    „Er schuldet mir zumindest noch ein Revanche-Match“, erklärte Ben als er nach einem weiteren Pizza-Stück griff. „Und ohne das lasse ich ihn nicht davonkommen.“


    -FIN-

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