Tödliche Entscheidung

  • Dieser Satz riss den Türken förmlich in seinem Bett in die Höhe, um ihn anschließend wieder in sich zusammen fallen zu lassen.


    „Sagen sie nicht, dass das wahr ist! …. Das ist nicht wahr!“, die Stimme des Türken nahm hysterische Tonlagen an. „Das kann einfach nicht wahr sein!“ Er schüttelte seinen Kopf.


    „Doch!“, wisperte Kim Krüger zurück „Es ist die Wahrheit!“


    Der neuerliche Schock saß tief bei Semir. Mit geschlossenen Augen lag er in seinem Bett, drückte seinen Kopf tiefer ins Kissen und rang krampfhaft darum, nicht seine Fassung zu verlieren. Zwischen seinen Schläfen hämmerte der Pulsschlag wie verrückt, es fühlte sich an, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren. Verzweifelt presste er seine Handflächen dagegen und brüllte schluchzend auf: „Nein … nein … nein!“


    Frau Krüger umschlang die Handgelenke von Semir und zog sie vom Kopf weg. „Herr Gerkan, bitte …!“ Sie suchte nach Worten des Trostes und fand sie doch nicht.


    Nach einigen Minuten des Schweigens murmelte er mehr zu sich selbst: „… Oh mein Gott, das macht es ja alles nur noch entsetzlicher. Ich hätte es wissen müssen, … ahnen müssen … ich kenne doch Ben! … Welcher Teufel hat mich nur geritten? … Was habe ich denn nur getan? …. Wie konnte ich nur so blind sein?“


    Fast schon beschwörend klangen seine Worte. Er schlug seine Hände vor das Gesicht. Zwischen seinen Fingern rannen die Tränen hindurch. Das Grauen hatte ihn voll im Griff. Weitere Minuten der Stille vergingen.


    Frau Krüger saß regungslos auf ihrem Stuhl, Tränen liefen ihr ebenfalls übers Gesicht. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Not nicht ebenfalls lauthals hinauszuschreien.


    Als Semir in ihre Augen blickte, konnte er darin ihre Not und Verzweiflung erkennen. So aufgewühlt und emotional am Ende hatte er seine Chefin noch nie erlebt. Er richtete sich im Bett auf, griff nach dem Arm von Kim Krüger, krallte sich darin fest, dass sie vor Schmerz aufschrie. Beschwörend redete er auf sie ein, „Bitte Frau Krüger, ich habe ein Recht darauf! Bitte! … sagen Sie mir, was ist passiert? … Was hat Ben dazu gebracht, solch einen Kamikaze Einsatz völlig alleine auf sich gestellt durchzuziehen?“


    Kim Krüger schnaufte mehrmals durch und versuchte sich erst mal zu beruhigen. Sie goss sich aus der Mineralwasserflasche, die auf dem Nachttisch stand, etwas in ein Glas ein und trank einige Schlucke. Langsam und stockend, erzählte sie Semir, was in den letzten Monaten geschehen war, während sie mit ihren Fingern das leere Glas krampfhaft umklammerte.


    „Sie können sich vielleicht noch an den Unfall auf der A4 an zu Beginn des Jahres erinnern? Die Familie mit den beiden kleinen Kindern, die aus ihrem Skiurlaub zurückgekehrt waren und tödlich verunglückt sind?“


    Semir nickte, er hatte noch immer das Bild des Unfalls vor Augen. Es hatte sich unauslöschlich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Keiner der offiziellen Sachverständigen, die am Unfallort gewesen waren, konnte im Nachhinein feststellen, warum der Fahrer von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen einen Brückenpfeiler gekracht war. Man vermutete, dass der Fahrer wegen Übermüdung eingeschlafen war und das Lenkrad verrissen hatte. Das Auto hatte sofort Feuer gefangen, die Insassen waren alle bei lebendigem Leibe verbrannt.


    Ben war damals auf dem Weg zur Dienststelle einer der ersten Helfer am Unfallort gewesen und musste hilflos zusehen, wie die Kinder und ihre Eltern verbrannten … hatte keine Chance gehabt, einzugreifen … es war einfach nur grausam gewesen. Semir war erst etliche Minuten später dazugekommen. Der Schock über dieses Erlebnis saß sehr tief beim dem jungen Kommissar. Er war damals tagelang völlig verstört gewesen, ja wie traumatisiert und hatte keinen an sich heran gelassen.


    „Der Fahrer des Wagens, die Familie, stammten aus Düsseldorf. Ben hatte sie gut gekannt, war mit ihnen befreundet gewesen. Wussten Sie das?“


    Der Deutsch-Türke schüttelte den Kopf. Jetzt war ihm auch klar, warum Ben damals mehrmals alles riskiert hatte, um zumindest eines der Kinder zu retten. Wenn Semir ihn nicht in letzter Sekunde zurückgerissen hätte, wäre er mitverbrannt. Die nächsten Worte von Frau Krüger drangen wie durch Watte zu ihm durch.


    „Es war ein ehemaliger Kollege von Ben, ein Freund, mit dem er zusammen zur Schule gegangen war und anschließend die Kommissars-Ausbildung absolviert hatte. Die beiden waren zu jener Zeit eng miteinander befreundet gewesen … spielten zeitweise zusammen in einer Musikband… Ben war auf der Hochzeit Trauzeuge des Bräutigams gewesen. Das Schicksal der Familie hatte ihn verständlicherweise sehr mitgenommen… Ben hatte dafür gesorgt, als das Fahrzeugwrack freigegeben worden war, dass der Wagen in die KTU zu Hartmut kam. Herr Freund wurde fündig. An den Bremsen und der Benzinzuleitung des Wagens war geschickt manipuliert geworden. Es war eiskalter Mord gewesen… verstehen sie!“, sie strich sich eine ihrer Haarsträhnen hinter das Ohr „… Einige Tage später bekam ich einen Anruf von der Staatsanwältin Schrankmann. Ben war auf der Beerdigung der Familie gewesen, sie hatte ihn dort angesprochen. Peter Kellermann, so hieß der LKA Beamte, hatte Undercover Ermittlungen gegen den Sizilianer durchgeführt… so wie vor ihm schon drei andere Kollegen des LKAs und zwei Kollegen der Drogenfahndung. Auch die drei anderen LKA Kollegen waren aufgeflogen und bestialisch gefoltert und ermordet worden. Ich denke, sie kennen die Berichte über diese Mordfälle des vergangenen Jahres auch!“


    Semir nickte zustimmend.


    „Irgendwo im LKA … der Staatsanwaltschaft oder auch im Justizministerium sitzt ein Maulwurf. Keiner weiß im Moment wo und wer dieser große Unbekannte ist. Er verkauft streng geheime Informationen über geplante Razzien, Undercover-Einsätze an die Unterwelt, speziell an Calderones Kartell oder den Sizilianer. Jemand aus unseren Reihen, der vermutlich weit oben sitzen muss und Einsicht und Zugang in geheimen Akten und Aktionen hat…. Frau Schrankmann suchte jemanden, der es erneut wagen würde, in die Bande einzudringen… Ben hat sich dazu freiwillig bereit erklärt, gegen meinen Willen.“ Sie verstummte für einige Sekunden und sammelte sich. „Ben bestand auf diesen Einsatz, warum wissen die Götter. Es wissen nur sie Semir, Frau Schrankmann und der Innenminister, dass Ben immer noch Polizist ist. Seine Familie habe ich gestern Abend ebenfalls eingeweiht.“ Kim Krüger seufzte auf. „Es wurde schriftlich festgehalten und durch einen Notar beglaubigt, dass er sogar gewisse kriminelle Handlungen durchführen darf, um glaubhaft zu wirken, unterzeichnet vom Innenminister, der ihm völlige Straffreiheit garantierte!“


    „Sie wollen mir sagen, dass die ganze Geschichte mit der Spielsucht, den Geldverleiher … den Verkauf von Informationen fingiert war. Die Dienstaufsicht …?“, Semir riss ungläubig die Augen auf, „… er hatte das Geld doch verloren … riesige Summen … ich habe seine Kontoauszüge gesehen … die Schuldscheine … mich umgehört … Ben hatte Geldeintreiber am Hals … Schlägertypen … Alles gespielt?“


    „Nein, es war alles echt gewesen. Alles abgesprochen … und mit ausdrücklicher Genehmigung des Innenministers … Ben hatte die Aktion von Anfang an selbst geplant, seine kriminelle Karriere … seinen sozialen Abstieg … es musste real sein. …. Ben hatte darauf bestanden, es war eine seiner Bedingungen für diesen Einsatz. Keine fingierten Beweise!“


    „Seine Spielsucht? … Bedeutet das jetzt … Ben ist pleite …?“


    Seine Chefin schüttelte den Kopf. „Ich hoffe es nicht…. Die Schrankmann stellte ihm aus beschlagnahmten Drogengeldern, die eigentlich laut Protokoll verbrannt worden sind, eine größere Summe zur Verfügung. Der Rest ist sein Geheimnis …!“


    Kim Krüger saß auf dem Besucherstuhl und konnte nicht verhindern, dass ihre Hände zitterten. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie zögerlich weitersprach.


    „Herr Gerkan … Semir! … Ben hatte gewusst, auf was er sich einlassen würde, was auf ihm zukommen würde und trotzdem ….Die internen Ermittlungen gegen ihn … Bohm dieses Arschloch … diese letzten Wochen … diese Ungewissheit, wenn er sich tagelang nicht gemeldet hatte … Verstehen sie mich Semir? …. Alles …alles … es war einfach die Hölle. Wir wussten nicht, wo das Leck ist!“ Sie lachte ironisch auf und gleichzeitig kullerten ihr Tränen über die Wangen. „Wir wissen es ja immer noch nicht. Alles umsonst ... umsonst ... Außer Ben wacht wieder auf oder auf dem Handy sind ausreichende Beweise!“


    „Das Handy!“, krächzte der Türke und krallte seine Hände in die Zudecke, „Das Handy ist in meiner Jackentasche.“


    Kim erhob sich von ihrem Stuhl und mit schweren Schritten, so als würden Zentnergewichte an ihren Füßen hängen, schlurfte sie zum Kleiderschrank, öffnete ihn und fand nach kurzer Suche das kleine Mobiltelefon.


    Sie betrachtete andächtig das alte Klapp-Handy in ihren Händen. Die Oberfläche war mit Blutspuren überzogen … Bens Blut … Das Grauen, das sie überfiel, schüttelte sie …

  • Kim kämpfte darum, nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren. Der Boden schwankte unter ihren Füßen und in letzter Sekunde schaffte sie es, sich auf den Stuhl zu setzen. Mehrmals atmete sie tief durch bis der Schwindel wieder verschwand. Das letzte Telefongespräch mit Ben vor vierundzwanzig Stunden geisterte durch ihren Kopf, seine letzten Worte, die er mit ihr gewechselt hatte, als sie hypnotisiert das Handy anstarrte.
    „Warum? …. Warum haben sie mich nicht eingeweiht?“ beklagte sich der kleine Türke währenddessen völlig entrüstet, „Ich bin Bens Freund, sein Partner! … Verdammt noch mal warum?“, den letzten Satz schrie er hinaus und riss sie aus ihren Gedankengängen.
    Frau Krüger blickte auf und lachte erneut verbittert auf. Sie stand vom Stuhl auf, wankte zum Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Das Handy legte sie neben sich, als wäre es eine kleine Kostbarkeit, zog ihre Beine an und umklammerte diese mit ihren Armen. Verloren blickte sie durch die Glasscheibe nach draußen und dachte nach, bevor sie die Frage des Türken beantwortete.
    „Herr Gerkan! … Semir!“, murmelte sie tonlos und drehte ihren Kopf in Richtung des Krankenbettes. „Ben wusste genau, sein größter Feind bei der Undercover-Aktion sind SIE.“
    „ICH!“, kam es aufgebracht vom Türken. „ICH! … Aber wieso?“
    „Ja, sie!“, fuhr Kim mit ihren Ausführungen fort, „…Ihm war von Anfang an klar, sie hätten es nie geglaubt, dass er spielsüchtig geworden ist … was letztendlich ja auch so gekommen ist.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und blinzelte die aufkommende Feuchtigkeit in ihren Augen weg. „Ben war sich sicher, ihr Verhalten hätte ihn verraten. … oder sie hätten sich selbst und ihre Familie in Lebensgefahr gebracht. Er wollte sie schützen, hatte Angst, dass die Mafia ihnen und ihrer Familie oder seiner Schwester etwas antun könnten!“
    Semir lag laut keuchend mit auf gerissenen Augen in seinem Bett. Sein Gehirn versuchte die Informationen seiner Chefin zu verarbeiten und gleichzeitig lauschte er weiter gebannt ihren Worten. Er konnte es nicht verhindern, dass ein ums andere Mal ein eiskalter Schauer seinen Körper durchfuhr.
    „Denken sie mal nach Herr Gerkan! … Was sie die letzten Tage und Wochen gemacht haben? … Ben hat es genauso vorausgesehen …sie hätten ihn hören sollen, als er uns prophezeit hat, wenn Sie nicht eingeweiht werden, rennen sie los, wie ein wild gewordener türkischer Hengst, dem man seine Herde Stuten geklaut hat … und wenn wir sie einweihen …. Dann bemuttern sie ihn, wie eine Glucke ihr Küken … und bringen uns alle in Gefahr.“
    Kim brach ab und hielt inne und sammelte sich erneut bevor sie weitersprach „Deshalb sollte der letzte Teil des Einsatzes, während ihres Urlaubs zu Ende gebracht werden … über die Bühne gehen. … Keiner konnte ahnen, dass es so lange dauern würde, bis er an die richtigen Leute rankommen würde … in den inneren Kreis der Bande eindringen könnte … und die gewünschten Informationen beschaffen! … Keiner … Absolut keiner!“ Sie biss sich auf die Lippen und bewegte ihren Kopf hin und her.
    Wieder herrschte diese Stille im Zimmer. Kim lehnte sich mit ihrer Stirn an die kalte Fensterschreibe und starrte blicklos zum Fenster hinaus. Semir lag in seinem Bett und schaute zur Decke hoch. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er richtete sich auf. „Das ist noch eine Sache Frau Krüger, der Mord!“
    „Der Mord?“
    „Ja, der Mord, Frau Krüger! Ich bin doch nicht blöd, und weiß genau, was ich gesehen habe. Ben hat den blonden Mann erschossen“, bemerkte Semir vorwurfsvoll „Das Blut! … Die Leiche … in dieser Halle!“
    „Ben hatte speziell präparierte Munition. Nach einigen Tagen im Kreise der Bande war ihm klar, dass dieser Erik bzw. der Kopf der Bande, ihn früher oder später auf die Probe stellen würden. Ihn eventuell sogar zu einem Mord zwingen würde, um ihn so endgültig an sich zu binden und erpressbar zu machen. Der Opfer war nur betäubt. Das Blut war Kunstblut. Fragen sie mich aber nicht, wie Ben es angestellt hat. … Herr Freund war mit eingeweiht!“ gab Kim noch kleinlaut zu „ In jener Nacht hat Einstein die gesicherten Spuren manipuliert und Ben konnte mich informieren. Ich habe letztendlich in jener Nacht die Leiche entsorgt!“
    „Sie haben die mutmaßliche Leiche beseitigt?“ kam es ungläubig von Semir. „Und Harmut … Einstein war eingeweiht?“
    Sie nickte zustimmend und fuhr sich nachdenklich mit ihrer Hand über das Gesicht „Wissen Sie, Ben hatte in jener Nacht furchtbare Angst …“
    „Angst?“ fiel er seiner Chefin ins Wort „Warum ist er dann nicht ausgestiegen?“
    „Semir … wegen Ihnen! Sie hatte den vermeintlichen Mord beobachtet … Er hatte Angst vor ihnen … und ich … ich wusste nicht, wie ich Sie stoppen kann, zur Vernunft bringen kann…ohne ihn zu verraten. … Es gab an diesem Punkt der Ermittlungen kein Zurück mehr. Sie wissen doch, was mit Peter Kellermann und seiner Familie passiert ist oder? … Es wäre Bens Todesurteil gewesen! … Wahrscheinlich auch ihres und das ihrer Familie! In der Zwischenzeit konnte das Verschwinden von zwei weiteren Kollegen der Drogenfahndung von Ben aufgeklärt werden. … Auch sie wurden umgebracht! Diese Bande kennt keine Skrupel und tötet alle, die ihr im Wege stehen oder ihr zu Nahe kommen!“
    Es herrschte Stille im Krankenzimmer, die der Deutsch-Türke durchbrach. Er wisperte vor sich hin, „Angst? …Ben hatte Angst … Vor mir?“
    Kim beobachtete ihren Kommissar, wie es in dessen Mimik arbeitete und nach einigen Minuten durchbrach sie das Schweigen.
    „Ihr bester Freund weiß genau, wie sie ticken. Ihm war klar, sein Verhalten würde auf sie wie ein Verrat wirken. … Vielleicht sollte ich ihnen erzählen, was sich in jener Nacht zugetragen hatte und auch danach ….“

  • Wie in den letzten beiden Tagen saß Kim seit Stunden in ihrer Wohnung und wartete darauf, dass das Prepaid-Handy klingelte und Ben Jäger sich bei ihr, wie verabredet, meldete. Das war auch eine seiner Bedingungen gewesen. Keinen Kontakt über eine offizielle Telefonleitung oder Handy, die abgehört werden bzw. wo die Rufnummer zurückverfolgt werden konnten.
    Doch stattdessen klingelte ihr Diensthandy und Semir Gerkan berichtete ihr über den beobachteten Mord.
    Auf der Fahrt zum Tatort schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Eine Frage beschäftigte sie unablässig, was war mit Ben Jäger und warum meldete er sich nicht bei ihr, wie vereinbart. Als die Kollegen der Spurensicherung zusammenpackten und wegfahren wollten, ertönte endlich das ersehnte Geräusch in ihrer Jackentasche.
    „Jäger, sind Sie das?“, meldete sie sich aufgeregt.
    „Ja, Frau Krüger!“, er hörte sich hektisch an. „Ich brauche ihre Hilfe! Dringend! … Ich habe den gewünschten Kronzeugen. Sorgen Sie für eine sichere Unterkunft! Wir treffen uns in zwei Stunden auf der B8 in Richtung Düsseldorf, kurz vor Hesseldorf befindet sich eine alte leerstehende Tankstelle mit einigen Gebäuden. Dort erwarte ich sie.“
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er das Gespräch beendet.
    Zwei Stunden später erreichte Kim mit ihrem Privat PKW das vereinbarte Ziel. Fast wäre sie im Dunkel der Nacht daran vorbeigefahren. Immer wieder hatte sie sich während der Fahrt vergewissert, dass ihr niemand gefolgt war. Langsam bog sie in die schmale Zufahrt ein. Der Schotterweg war übersät mit Schlaglöchern. Rechts von ihr lag die zurückgebaute Tankstelle, an der nur das äußere Gerippe und das Kassenhäuschen an die frühere Verwendung erinnerten. Links von ihr befand sich der frühere Parkplatz, der Gaststätte, der wie die Zufahrt mit Unkraut überwuchert war. Zwischendrin reckten sich junge Bäume in den Nachthimmel. Die Natur nahm Stück für Stück das verlassene Grundstück in Besitz. Vorsichtig umfuhr sie das Gebäude und gelangte in den hinteren Teil des Grundstücks, der von der Straße aus nicht einsehbar war. Sie schaltete das verräterische Licht der Scheinwerfer aus. Der Vollmond, der am wolkenlosen Himmel hing, leuchtete das Gelände gespenstisch aus. Nirgendwo konnte sie eine Spur von Ben Jäger entdecken. Eingehend scannte sie die Umgebung, bevor sie sich entschloss auszusteigen. Die entsicherte Waffe in der Hand haltend, bewegte sie sich auf die Hauswand zu.
    „Jäger? Sind sie hier?“ Angst schwang in ihrer Stimme mit. Aus dem Schatten des gegenüberliegenden Gebäudes löste sich eine schemenhafte Gestalt, die auf sie zuschritt. Im ersten Moment war sie erschrocken.
    „Ben?“ „Guten Abend Frau Krüger!“, begrüßte er sie, während er seine Kapuze vom Kopf schob.
    Kim musterte ihren Mitarbeiter eingehend und erschrak fürchterlich. Selbst das fahle Licht des Mondes konnte nicht verbergen, wie mitgenommen ihr junger Kollege aussah.
    „Geht es ihnen gut, Herr Jäger? Sollen wir die Aktion abbrechen?“, fragte sie besorgt nach.
    Er schüttelte eigensinnig den Kopf. „Nein! Nein! Vergessen Sie das! … Ich bin in den letzten Monaten nicht durch die Hölle und zurück gegangen, um kurz vor dem Ziel aufzugeben! Verstanden?“
    Er fasste sie dabei an der Schulter an und sie konnte ihm direkt in die Augen blicken. Was sie da sah, flößte ihr Angst ein.
    „Dort drüben in der Halle steht mein Wagen. Der Zeuge heißt Frederik Svensson. Er war Buchhalter in Calderones Organisation.“ Er hielt ihr einen USB-Stick hin. „Ich bin mir sicher, er kann ihnen alle Angaben, die ich auf diesen Stick gespeichert habe, bestätigen und vielleicht ein bisschen mehr, wenn Sie ihm Zeugenschutz anbieten. Der wird so was von froh sein, noch am Leben zu sein. Sein größter Fehler war, er hat Geld am Kartell vorbei in die eigene Tasche gewirtschaftet und da versteht die Mafia keinen Spaß.“ Bens Stimme klang heißer und angespannt. „Eine Bedingung habe ich noch. Warten Sie noch ein paar Tage, bis ich in Sicherheit bin, bevor ihr den ganzen Mafia Klan hochnehmt!“
    „Herr Jäger“, bedrängte sie ihn „Ben? Wollen Sie nicht aufhören? …. Aussteigen? …. Was sie bisher erreicht haben und an Informationen geliefert haben, ist mehr als wir zu erhoffen gewagt haben. Ab heute sind sie ein gesuchter Mörder! Für Bohm werden Sie der Staatsfeind Nummer 1 sein. Wie sollen ich oder Frau Schrankmann Sie da noch schützen?“
    Ben schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. „Nein! Und nochmals nein! Haben Sie schon vergessen, was mit Peter Kellermann passiert ist? … Er war damals nach seiner Ansicht rechtzeitig ausgestiegen und was hat es ihm gebracht? Nichts! … Absolut nichts! Man hat ihn und seine Familie aus Rachsucht umgebracht!“ Er wendete sich von Kim Krüger ab, stützte seine Hände gegen die raue Oberfläche der Hauswand und schien nachzudenken. Zwischen ihm und seiner Chefin herrschten Minuten des Schweigens, nur die Geräusche der Nacht, des Waldes, das Zirpen der Grillen war zu hören. Durch seinen Körper ging ein Ruck und er drehte sich zu ihr um. „Es gibt für mich keinen Weg zurück, haben Sie das immer noch nicht kapiert? Ich muss diese Undercover-Aktion erfolgreich zu Ende bringen. Ich habe den Maulwurf … den großen Unbekannten im Hintergrund … identifizieren können. Nur für meinen Verdacht brauche ich stichhaltige Beweise, die auch vor Gericht Stand halten würden. Sie haben keine Vorstellung davon, in welcher Position sich dieser Mann befindet! Welche Macht dieser Mann hat? Ich habe auf Eriks Laptop nicht nur eine komplette Kopie von Bohms Ermittlungsakte in meinem Fall gefunden, sondern auch die Personalakten der anderen Kollegen, die … die umgebracht worden sind. … Und noch ein bisschen mehr … Ist ihnen bewusst, was das heißt? Welche Möglichkeiten dieses korrupte Schwein hat? Erik ist nicht der Boss der Bande, das war mir schon nach wenigen Tagen klar. Das hatte ich ihnen auch mitgeteilt, dass er einen Hintermann hat, der die Fäden in den Händen hält, mit den Menschen, wie mit Marionetten spielt. Diesen großen Unbekannten, den, … genau DEN will ich haben! Er soll seine gerechte Strafe bekommen, den Rest seines Lebens im Knast verbringen. Der Kerl ist nicht nur am Tod von Peter Brauer schuld, sondern am Tod der Kollegen der Drogenfahndung, am Tod von unschuldigen Menschen. Der hat seine dreckigen Finger überall mit im Spiel, nicht nur in der Kölner Unterwelt, sondern im gesamten Ruhrgebiet.“
    Seine Augen schimmerten feucht bei seinen nächsten Ausführungen und er schniefte. „Semir war an der Lagerhalle. Ich habe den Ausweichdienstwagen beim Wegfahren entdeckt. Wenn er den scheinbaren Mord beobachtet hat, Frau Krüger, ich kenne ihn! … Chefin, … er wird endgültig durchdrehen … bitte … ich flehe sie an, tun Sie alles, was in ihrer Macht steht, um den türkischen Hengst zurückzuhalten, verstehen sie mich! Verschaffen sie mir nur ein paar Tage noch! … Bitte! … Durch die Aktion heute Nacht genieße ich das grenzenlose Vertrauen von Erik und werde dem großen Boss persönlich vorgestellt. …Kann die alles entscheidenden Beweise sammeln! … Nur Semir … Ich habe Angst, dass ein Unglück passiert!“
    „Soll ich ihn einweihen? Würde das helfen?“ murmelte Kim fast lautlos.
    Ben schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Laut entwich die Atemluft seiner Nase, bevor er wisperte: „Es ist noch viel schlimmer, als sie sich vorstellen. Chefin, die haben Semir über Wochen beobachten lassen, um sicher zu gehen, ob sie mir vertrauen können. Semirs wütendes Verhalten … seine Nachforschungen blieben nicht unbemerkt. Letztendlich haben sie dazu geführt, meine Position in der Bande zu stärken, endgültig deren Vertrauen zu gewinnen.“ Ben lachte voller Sarkasmus vor sich hin. „Das ist doch ein Witz oder?“ Sie sah, wie er sich auf die Lippen biss und mit sich kämpfte. „Was glauben sie, was passieren würde? … Die haben Semir im Visier, sobald er nur eine verdächtige Handlung machen würde, wäre alles aus. Die würden nicht nur mich umbringen, sondern vorher Semir vor meinen Augen zu Tode foltern und noch ein bisschen mehr …!“ Den Rest sprach er nicht mehr aus. Kim verstand auch so, was er meinte. Er saß in der Zwickmühle und sein größter Gegner war sein bester Freund.
    Es herrschte ein Moment der Stille. Ben ergriff als erster wieder das Wort. Mit knappen Sätzen informierte er Frau Krüger über einige Erkenntnisse, seine Vermutungen und sein weiteres Vorgehen. Danach trug er den bewusstlosen Mann zu ihrem Auto und verfrachtete ihn auf der Rücksitzbank. Anschließend fuhr Kim an die Nordseeküste und übergab den Zeugen an ihren ehemaligen Ausbilder beim LKA, dem sie bedingungslos vertraue. Er lebt auf einer der Halligen, abgeschottet von der Außenwelt.

  • Kim Krüger hatte während ihres Berichts ihre Augen geschlossen gehabt und blickte nun ihren Kommissar mitfühlend an. Dessen Gesichtsfarbe glich mittlerweile der Farbe seiner weißen Bettwäsche. Semir starrte die Zimmerdecke an und versuchte das Gehörte zu verarbeiten. Nach einer Weile des Schweigens räusperte er sich und suchte Blickkontakt mit Frau Krüger.
    „Da gibt es noch viele unbeantwortete Fragen Frau Krüger! Fakten, die ich nicht verstehe!“ stellte er nachdenklich fest. „Werden Sie mir diese beantworten?“
    Sie nickte ihm schweigend zu, strich sich die Haare aus dem Gesicht und streifte sie hinter ihre Ohren. „Ich denke, wenn einer darauf das Recht hat, alle Details zu erfahren, dann Sie, Herr Gerkan! … Aber später … nicht heute! … Nicht heute!“
    „Doch eine Frage noch! … Sie beschäftigt mich die ganze Zeit schon! …. Warum ist Ben vor mir in der alten Ziegelei geflüchtet?“, murmelte der Kommissar mit zittriger Stimme, „ich begreife es einfach nicht!“
    „Warum?“ sie lachte ironisch auf, „Versetzen Sie sich einmal in seine Lage am gestrigen Nachmittag!“ Sie runzelte angespannt die Stirn und gab ihm weiter zu bedenken, „Was wäre denn passiert, wenn Ben sich ihnen ergeben hätte? … Wenn sie ihn verhaftet hätten? … Sie hätten ihn an Bohm übergeben. Das war doch ihre Absicht oder? … Ben, war … nein … er ist es ja noch nach wie vor … ein polizeilich gesuchter Mörder! … Vor der Intensivstation sitzen Polizisten, die ihn bewachen.“ Wieder lachte sie sarkastisch vor sich hin und suchte an der gegenüberliegenden Wand einen imaginären Punkt. Als sie mit ihren Erklärungen fortfuhr klang ihre Stimme um einige Nuancen rauer, heißerer. „Wäre Ben verhaftet worden, hätte ich seine Tarnung auffliegen lassen müssen! … Egal, ob die gesammelten Beweise ausgereicht hätten oder nicht! … Ich hätte ihn niemals unschuldig ins Gefängnis gehen lassen … verstehen Sie?... Niemals! … Und dann wäre alles … alles, was er auf sich genommen hatte, … alles wäre umsonst gewesen! … Und wäre letztendlich auch sein Todesurteil gewesen!“
    Semir sank endgültig in sich zusammen. Resignierend schloss er seine Augen … und wieder lief vor seinem inneren Auge die Situation vor und in der Lagerhalle, gleich einem Kinofilm in Dauerschleife, ab. …. Bens flehende Worte nach Vertrauen hallten in seinem Kopf gleich einem Echo wieder … und seine Antworten, die er zurückgegeben hatte. Jetzt, da er mehr und mehr die Zusammenhänge verstand und begriffen hatte, wurde ihm bewusst, wie sehr seine Bemerkungen, die er seinem Freund an den Kopf geknallt hatte, diesen wohl innerlich verletzt hatten. War es nicht er, Semir Gerkan gewesen, der immer und immer wieder den Standpunkt vertreten hatte, Partner vertrauen sich blindlings, egal was passiert. Sie waren ja nicht nur Partner sondern auch Freunde, eine Freundschaft fürs Leben. Vertrauen … dieses Wort hämmerte auf seinen Kopf ein. Der Türke stöhnte gequält vor sich hin und presste seine Handflächen gegen die Schläfen.
    Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, nein … er hatte Ben zu diesem Zeitpunkt, als er ihn gestellt hatte nicht vertraut … nicht in diesem Augenblick … nicht in dem Moment als Bens Flucht vor der verschlossenen Tür geendet hatte. In den Augen seines Freundes war so viel Verzweiflung und Angst gelegen … Damals interpretierte er darin die Furcht eines gestellten Mörders hinein, der nicht ins Gefängnis wollte.
    Es war so als könnte seine Chefin seine Gedanken lesen, als sie das aussprach, was durch seinen Kopf geisterte. „Seien sie ehrlich zu sich selbst Herr Gerkan! Hätten sie ihm in diesem Moment geglaubt? … Hätten sie ihm die Zeit gegeben, bis ich eingetroffen wäre? … Hätten sie mich angerufen?“ Wie ein Hagelsturm prasselten ihre Fragen auf Semir ein. Dieser bewegte den Kopf hin und her …. Und gestand sich ein, nicht mal den Anruf hätte er seinem Freund gewährt, so groß war sein Misstrauen und Hass zu diesem Zeitpunkt gewesen. Es war ihm fast schon unheimlich, wie gut Ben ihn kannte und seine Reaktionen einschätzen konnte.
    „Als sie gestern Ben auf dem Fabrikgelände gestellt haben, hatte er um ein Treffen mit mir gebeten. Er hatte mir auf die Mailbox gesprochen und den Treffpunkt und die Uhrzeit genannt. Ich war viel zu spät dran. Bohm … dieser Vollidiot hatte uns wieder mal alle auf der PAST festgehalten und verhört. … Er hatte Verdacht geschöpft, dass an der Beweisführung wegen des Mordes etwas manipuliert worden war. Sonst ….!“ Sie brach erneut ab, biss sich auf die Lippen und versuchte die aufkommenden Tränen wegzublinzeln.
    „Ben war außerdem besorgt, dass er trotz aller Vorsicht, bei der Beschaffung der Beweise aufgeflogen war. Er fühlte sich beobachtet. Dieser Erik war wegen irgendetwas misstrauisch geworden … Diese Beweise wollte er mir geben. Sobald Frau Schrankmann uns mitgeteilt hätte, ob diese ausreichen, um den Kerl im Hintergrund endgültig dingfest zu machen, wollten wir die Aktion beenden. Ja … beenden … aber nicht so … oh mein Gott … nicht so!“ Sie schlug ihre Hände vor das Gesicht … Ihr Körper bebte. …
    „Offiziell haben sie gestern auf dem Fabrikgelände einen gesuchten Mörder und dessen Komplizen gestellt. Sie gelten wegen des erlittenen Schocks als nicht vernehmungsfähig. …“ Tränen kullerten über ihre Wangen, als sie Semir direkt in die Augen sah. „Wir haben verdammt hoch gepokert … Ben … Frau Schrankmann und ich … und vielleicht alles verloren. Ben verloren?“ … Sie öffnete das Handy und eine SD-Speicherkarte fiel ihr entgegen. …. War es das wert gewesen, fragte sie sich in diesem Augenblick?

  • Entgegen allen ärztlichen Prognosen überlebte Ben die schwierige Operation am Vormittag. Um die Nachblutungen zu stoppen, musste der verantwortliche Gefäßchirurg seine sämtlichen Fähigkeiten aufbieten. In den darauffolgenden kritischen Stunden wich Julia Jäger nicht mehr von der Seite ihres Bruders. Auch ihr Vater verbrachte viele Stunden neben dem Krankenbett seines Sohnes, bis er dessen Anblick und die nervliche Anspannung einfach nicht mehr ertragen konnte.
    Kim Krüger überbrachte im Laufe des Nachmittags die Nachricht, dass Ben noch am Leben war, höchstpersönlich an Semir. Da der Türke kein direkter Angehöriger von Ben Jäger war, verweigerte der behandelnde Oberarzt zunächst seine Zustimmung, dass der Türke seinen Freund auf der Intensivstation besuchen durfte. Es war einzig und allein Julia Jäger zu verdanken, die ihren Einfluss auf ihren Vater nutzte, damit dieser seine Einwilligung gab. Es gab nur einen Wehrmutstropfen dabei, Konrad Jäger bestand darauf, dass Semir Gerkan Ben nur besuchen durfte, wenn er auf der Intensivstation nicht anwesend war.


    Am darauffolgenden Morgen wurde der Türke aus dem Krankenhaus entlassen. Doch er konnte das Gebäude nicht verlassen in dem Wissen, dass zwei Stockwerke über seinem Krankenzimmer sein Freund mit dem Tode rang. Wider besseres Wissen, dass am Vormittag keine Besuchszeit auf der Intensivstation war, machte er sich auf den Weg und probierte sein Glück.
    „Ich will Herrn Jäger sehen … Ich muss zu ihm … Verstehen Sie mich doch! … Er braucht mich … Ich bin doch an allem schuld!“ Immer wieder forderte Semir die Krankenschwester der Intensivstation an der Gegensprechanlage auf, ihm Zutritt zu gewähren. Er bettelte sie förmlich an, dass sie ihn zu seinem Freund ans Krankenbett ließ. Letztendlich hatte der Türke es wieder Bens Schwester zu verdanken, dass man ihn außerhalb der Besuchszeit auf die Intensivstation ließ. Julia hatte der Krankenschwester, die einige Stunden Wache an Bens Krankenbett gehalten hatte, von der besonderen Freundschaft, die die beiden Autobahnpolizisten verband, erzählt.
    „Ok, ich habe mit dem Oberarzt gesprochen. Sie haben die Erlaubnis, ich bringe Sie zu Herrn Jäger.“ Mit diesen Worten holte die Krankenschwester den Türken im Wartebereich an der Zugangstür zur Intensivstation ab. „Der Patient liegt momentan alleine in seinem Zimmer. In der Krankenakte steht ein Vermerk, dass der Arzt ihnen gegenüber auch über den Gesundheitszustand des Patienten Auskunft geben darf. Wenn Sie ein wenig Zeit haben, kommt er nachher bei ihnen vorbei.“ Die Krankenschwester blieb vor einer Schiebetür mit einem Glasausschnitt stehen. Semir merkte wie sich sein Pulsschlag beschleunigte und etwas schien ihm die Kehle förmlich zuzuschnüren. Gleich einer Statue blieb er unter der Zugangstür des Intensivzimmers stehen. Der Anblick von Ben löste in dem Türken eine wahre Flut von Höllenqualen aus.
    Zu tiefst erschüttert betrachtete er die Ständer mit Perfusoren und Infusionen, deren Schläuche größtenteils an Bens Hals endeten. Er sah die all die Aparte und Monitore, auf denen Zahlen aufleuchteten und gezackte Kurven durch den Bildschirm wanderten. Dazu kam das gleichmäßige Geräusch der Beatmungsmaschine. Alles war um das Krankenbett herum aufgebaut und ihm wurde bewusst, welche Technik notwendig war, um seinen Freund am Leben zu halten. Es kostete Semir eine unsägliche Überwindung, den steril wirkenden Raum zu betreten. Es war ein Unterschied Ben von draußen durch eine Glasscheibe zu betrachten oder so direkt vor seinem Bett zu stehen. Das Kopfteil war leicht erhöht. Seine dunklen Haare bildeten einen Kontrast zu seiner Gesichtsfarbe. Er sah so merkwürdig blass … Eine Schwester oder Pfleger hatten den schrecklichen Bart abrasiert. Sein Gesicht wirkte so vertraut … so jugendlich, so friedlich … und doch durch den Beatmungsschlauch so anders. Auf seiner linken Brust klebte ein weißes großes Pflaster an der Stelle, wo seine Kugel in Bens Körper eingedrungen war und ihr zerstörerisches Werk verrichtet hatte. Ganz still lag er da. Sein Brustkorb hob und senkte sich in dem Rhythmus, in dem die Beatmungsmaschine Luft in seine Lungen pumpte. …. . Überall klebten Elektroden … seitlich am Bett kam ein Schlauch heraus, der in einem viereckigen Behälter unterhalb des Bettes endete. Eine blutige Flüssigkeit sammelte sich darin und es blubberte vor sich hin. Es flößte einem Angst ein … Langsam trat Semir näher ans Bett und umschlang Bens rechte Hand. Sie fühlte sich warm an und doch so leblos. Gleichmäßig hörte er das Piepsen des Herzschlags, sah die Zahlen, beobachtete die Kurven auf dem Monitor.
    Vorsichtig begann er Ben über das Haar zu streichen, über seine Handrücken zu streicheln … es tat gut in der Nähe seines Freundes zu sein. Semir spürte förmlich, dass Ben ihn ebenso brauchte wie er.


    „Hörst du mich Partner, ich bin da…. Oh Gott, was würde ich dafür geben, alles ungeschehen zu machen...! Warum habe ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört? … Warum? … Partner vertrauen sich immer …!“, wisperte er leise. Er konnte nicht mehr weiter reden und weinte lautlos vor sich hin. Wie von der Krankenschwester versprochen, erschien nach einer Stunde der Oberarzt, der Ben behandelte und operiert hatte. Mit einfachen Worten versuchte der Arzt dem Türken das Ausmaß der Verletzungen seines Patienten klar zu machen. Letztendlich hatte er verstanden, dass seine Kugel in den linken Lungenflügel eingedrungen ist und dort mehrere wichtige Blutgefäße zerfetzt hatte, was zu einem massiven Blutverlust geführt hatte. Dazu kam, dass der linke Lungenflügel praktisch komplett zusammengefallen war. Der Arzt verabschiedete sich mit den Worten: „Es tut mir leid, dass ich ihnen keine besseren Nachrichten überbringen kann. Der Zustand von Herrn Jäger ist nach wie kritisch oder um es mit anderen Worten auszudrücken: Er befindet sich noch immer in Lebensgefahr.“

  • Semir benötigte einige Zeit, bis er die schockierende Nachricht des Arztes verdaut hatte. Er blieb an Bens Seite sitzen, bis ihn die Krankenschwester wegen der pflegerischen Maßnahmen förmlich aus dem Zimmer warf. „Bitte Herr Gerkan, dafür müssen Sie doch Verständnis haben. Es geht hier schließlich um die Intimsphäre ihres Freundes.“
    Einlenkend nickte der Türke und meinte mit einer tonlosen Stimme, „Sie haben ja Recht. … Danke, dass Sie mich zu ihm gelassen haben!“ Er verabschiedete sich von Ben. Draußen im Krankenhausflur rief er über sein Handy Andrea an und bat darum abgeholt zu werden. Für den Rest der Woche war Semir krank geschrieben worden.
    In den nächsten Tagen verbrachte Semir jede mögliche Minute am Bett seines Freundes. In all dieser Zeit blieb der Zustand des jungen Polizisten kritisch. Nach einer Woche trat eine leichte Veränderung ein und der Oberarzt hatte ein paar gute Nachrichten.
    „Ihr Freund stabilisiert sich langsam. Sein kollabierter Lungenflügel hat sich wieder voll entfaltet, deshalb konnten wir die Thorax-Drainage entfernen. Seit gestern Abend entwöhnen wir ihn von der Beatmungsmaschine.“ Der Arzt setzte ein zuversichtliches Lächeln auf, während er auf der anderen Seite von Bens Bett stand und mit Semir redete „Herr Jäger arbeitet gut mit. Sobald er selbstständig atmet, werden wir ihn Stück für Stück aus dem künstlichen Koma aufwecken!“ Der Oberarzt, Dr. Renger, klopfte dem Türken aufmunternd auf die Schulter, als er das Krankenzimmer verließ.


    *****
    Nach seiner Krankschreibung wurde Semir auf Drängen von Hauptkommissar Bohm vom Dienst suspendiert, bis der Vorfall in der Lagerhalle und die Umstände, die dazu geführt hatten, lückenlos geklärt waren. Frau Krüger und die Staatsanwältin Frau Schrankmann unternahmen alles in ihrer Macht stehende, um den Türken vor dem übereifrigen Ermittler der Internen Abteilung zu schützen.
    Semir saß neben dem Krankenbett und hielt Bens linke Hand umschlungen. Wie in den Tagen zuvor beobachtete er seinen Freund. Nichts … da war einfach nichts, was darauf hindeutete, dass er aufwachen würde. Kein Flattern der Augenlider … kein Zucken der Muskeln … Es war wie in all den Tagen vorher. Keine Veränderungen … kein echtes Lebenszeichen … nichts von Ben … er lag einfach da …. Leblos! Sein Gesicht war hohlwangig und eingefallen. Nur das Piepsen des Monitors zeigte eindeutig, dass sein Herz noch schlug und noch Leben in ihm war.
    Dabei hatte alles in den letzten Tagen so hoffnungsvoll ausgesehen. Zwar atmete er seit einigen Tagen wieder selbstständig, aber er wollte einfach nicht aufwachen, obwohl das künstliche Koma von den Ärzten längst beendet worden war.
    Ein Anfall von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überfiel den Türken. Seine Gedanken fingen an sich im Kreis zu drehen. Schuldgefühle wallten in ihm auf.
    Das Öffnen der Zimmertür holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Ein Assistenzarzt, mit dem er bisher noch nicht viel gesprochen hatte, betrat das Zimmer und verabreichte Ben ein Medikament über den Infusionszugang.
    „Herr Doktor Rützel, bitte! …. Können Sie mir sagen, wann Ben wieder aufwacht?“ versuchte Semir von diesem Arzt eine Antwort zu bekommen.
    Der junge Mann druckste herum und probierte ein paar ausweichende Äußerungen. Dadurch weckte er erst Recht Semirs Interesse, der solange nachbohrte, bis Dr. Rützel nachgab und sich zu der nachfolgenden Aussage hinreißen ließ.
    „Naja! … Hmmm! … Ich weiß nicht so recht, wie ich ihnen das erklären soll. Also, …. Herr Jäger hat durch die Schussverletzungen sehr viel Blut verloren … und … ähm … dazu der Herzstillstand … Es besteht Grund zu der Annahme, dass das Gehirn von Herrn Jäger durch Sauerstoffmangel geschädigt wurde und er in eine Art Wachkoma gefallen ist. ….Wir überlegen momentan, ob wir seiner Familie eine Verlegung in eine Spezialklinik für Koma-Patienten empfehlen sollen! ….“
    Den Rest der Ausführungen des Arztes hörte Semir nicht mehr. Panik stieg in ihm hoch, sein Herz begann wie wild zu rasen. Übelkeit stieg in ihm auf … Ein gallenbitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus …raus … er musste raus … hier!
    Er rannte aus der Intensivstation und torkelte in die nächste Besuchertoilette. Dort übergab er sich bis nichts mehr kam … er würgte … und … würgte ….keuchte … hustete … es kam nichts mehr. Völlig erschöpft blieb er vor der Kloschüssel mit geschlossenen Augen sitzen. Die Worte des Arztes hallten in seinem Kopf wider, trieben seinen Verstand an den Rand des Wahnsinns.
    „Hallo? Geht es ihnen gut? Soll ich einen Arzt holen?“ fragte ein älterer Herr nach, der die Herrentoilette aufgesucht hatte. Er reichte Semir die Hand und half ihm beim Aufstehen.
    „Alles gut … alles gut … nur ein Virus!“ … murmelte der kleine Türke, worauf der grauhaarige erschrocken seine Hand zurückzog.
    Der Polizist wankte zum Waschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt seinen Kopf darunter. Er richtete sich wieder auf blickte sein Spiegelbild an. Er ekelte sich vor seinem eigenen Anblick. Auf dem Waschtisch stand ein metallener Seifenspender, den er ergriff und voller Wut und Verzweiflung gegen den Spiegel knallte, dass dieser in unzählige Scherben zerbarst.
    Er schrie lauthals „Fuck!“ Ihm wurde in diesem Augenblick klar, er konnte vor seinem Schicksal … vor seinen Schuldgefühlen nicht fliehen. Bens Blut würde immer an seinen Händen kleben. … Er war schuld!

  • In Semir war nur noch Leere … grenzenlose Leere. Sobald er die Augen schloss, waren diese fürchterlichen Erinnerungen da, die ihn gnadenlos verfolgten, egal, ob er wach war oder schlief. Mit jedem neuen Schluck aus der Flasche Raki versuchte er ihnen zu entfliehen. Aber sie blieben, peinigten ihn in seinen Alpträumen … er konnte ihnen einfach nicht entkommen.
    Das war es wieder dieses Bild … diese Szene, welche sich unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt hatte.
    Immer wieder durchlebte er diesen schrecklichen Augenblick … das Mündungsfeuer, das vor ihm aufleuchtete … er zog den Abzug seiner Waffe durch … die Kugel schlug in Bens Brust ein … und der Dunkelhaarige fiel … Sein Freund lag vor ihm im Staub der Lagerhalle. Unaufhörlich quoll der Blutstrom aus seiner Brustwunde. Da war dieses Wissen … er war schuld, ganz allein ER … ER … nur er. Warum hatte er seinem Partner nicht vertraut? Warum hatte er geschossen? Er hätte es doch besser wissen müssen, Ben hätte niemals auf ihn geschossen … niemals … niemals. Seine letzten Worte …. Ununterbrochen hämmerten diese Gedanken auf ihn ein.
    Wieder setzte er die Flasche an seine Lippen an und nahm einen neuen Schluck aus der Pulle. Verzweifelt versuchte er mit dem Alkohol den Dämon in seinem Kopf zu ertränken. Unzählige geleerte Flaschen lagen vor ihm am Boden.
    Wie lange saß er denn schon hier vor dem Sofa auf dem Boden? Er hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Durch die runtergelassenen Jalousien schimmerten ein paar verirrte Sonnenstrahlen ins Wohnzimmer. Ein Strom von Tränen bahnte sich seinen Weg über seine Wangen, benetzte sein Hemd. Er war innerlich ausgebrannt, wusste nicht mehr, wie es weiter gehen sollte … er war am Ende.
    Semir hörte auch wenig später nicht das Geräusch, als ein Schlüssel in das Haustürschloss gesteckt wurde, die Tür geöffnet wurde … es war alles in weiter Ferne gerückt.


    Alarmiert von Susanne Anruf, war Andrea schon einen Tag früher, als mit ihrem Mann abgesprochen, nach Hause gekommen. Sie hatte die beiden Mädchen vor drei Tagen zu ihren Eltern gebracht, um ihnen die Sorgen und Aufregung um Ben zu ersparen. Vor allem Aida mit ihren fünf Jahren war die schlechte psychische Verfassung ihres Vaters nicht entgangen. Immer wieder hatte sie nachgebohrt, warum ihr Onkel Ben im Krankenhaus sei und warum sie ihn nicht besuchen dürfe. Semir hatte teilweise die Kontrolle über sich verloren, das Mädchen angeschrien und anschließend regelrecht die Flucht vor seiner Tochter ergriffen.


    „Semir? … Semir … bist du zu Hause?“ rief sie nach ihren Mann. Ihre Freundin hatte seit gestern vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Sein silberner BMW stand in der Auffahrt, seine Lederjacke hing an der Garderobe. Er sollte eigentlich zu Hause sein.
    „Boah, hier stinkt es wie in einer Schnapsfabrik!“, entfuhr es ihr, als sie den Haustürschlüssel ans Schlüsselbrett hängte und ihr Blick in Richtung Wohnzimmer schweifte.


    Andrea erschrak bis ins Mark, als sie ihren Mann am Boden sitzend erblickte. War dieser unrasierte Zombie dort vor dem Sofa tatsächlich Semir?
    „Oh mein Gott Semir! Was ist denn passiert?“, stammelte sie voller Entsetzen. Langsam blickte er von seiner Flasche, die er in der Hand hielt, nach oben in das Gesicht seiner Frau. Verwirrung und Überraschung lag in seinen Augen.
    „Andrea …. Duuuuu … hier? Ich … dachte … du … bist … bei … deinen … Eltern?“ lallte er vor sich hin und setzte die Schnapsflasche an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck daraus.
    „Hör auf damit!“ schrie Andrea ihn an. Sie umrundete das Sofa und trotz seiner energischen Gegenwehr nahm sie ihm die Flasche ab und stellte die fast leer getrunkene Glasflasche mit Raki auf den Wohnzimmertisch.
    „Nein, lass mich …. Ich will nicht mehr!“ krächzte er unwillig und fuchtelte mit seinen Armen völlig unkoordiniert in der Luft herum.
    Sie kniete sich vor ihm hin, packte ihn mit beiden Händen am Hemdkragen. Ihr Mann stank fürchterlich nach Schweiß und Alkohol. Die letzte Dusche schien schon einige Zeit her zu sein. Seine Ausdünstungen ließen ihren Magen rebellieren.
    „Was ist los Semir? Rede mit mir! Ist was mit Ben?“ brüllte sie ihn erneut an, in der Hoffnung in sein alkoholvernebeltes Gehirn durchzudringen.
    „Er wacht … nicht mehr … auf Andrea! Verstehst Du! … Und ich bin schuld … ich bin an allem schuld!“, nuschelte er mit schwerer Zunge vor sich hin. In seinem Blick lag so viel Verzweiflung. Sein Zustand war noch schlimmer als an jenem Morgen nach dem Schusswechsel, als er im Krankenhaus aufgewacht war. „Wie soll ich denn nur Aida und Lilly erklären, dass ich daran schuld bin, dass ihr geliebter Ben nicht mehr kommt!“ Die letzten Worte grölte er herzzerreißend heraus. Der Rest war ein unverständliches Gebrüll.
    „Und Saufen ändert was? Verdammt noch mal komm zu dir Semir! So hilfst du keinen!“ fauchte Andrea ihn wütend und gleichzeitig verzweifelt an. Er versuchte ihre Hände abzustreifen.
    „Lass mich! Das verstehst du nicht!“ winselte er. Tränen schossen ungehemmt aus seinen Augen.
    „Dann erkläre es mir!“ schrie sie ihn an. Ihr Mann war erneut am Rande des totalen nervlichen Zusammenbruchs.

  • Andrea wusste sich nicht mehr anders zu helfen und knallte ihm ihre flache Hand auf die Wange. Erschrocken fuhr er zusammen und nahm Blickkontakt zu seiner Frau auf.
    „Hör mir zu! Das Leben geht weiter … hörst du?“, schrie sie ihn an, dabei krallte sie sich in sein Hemd und schüttelte seinen Oberkörper, „Die Kinder brauchen dich, ich brauche dich! … Höre auf … vor Selbstmitleid dahin zu triefen! … Deine Trauer in Alkohol zu ertränken! … Das wäre dein Untergang … das wäre unser Untergang!“ Ihre Stimme klang belegt, sie kämpfte selbst darum, nicht in Tränen auszubrechen. Sie räusperte sich mehrmals. „Semir! … Semir, bitte! …. Komm einfach zu dir!“, brüllte sie ihn mit einem flehenden Unterton an. Auch in ihr tobte die Hoffnungslosigkeit und Trauer wegen Ben und jetzt musste sie stark sein, für ihren Mann und die Kinder. Entschlossen umschlang sie seine Handgelenke. Unter Aufbietung aller ihrer Kräfte zerrte sie Semir in die Höhe.
    „Na los, steh auf, ich bringe dich erst mal ins Bad! Du brauchst dringend eine Dusche und dann reden wir! Verstehst du!“
    Er gab seinen Widerstand auf und ließ sich von Andrea ins erste Stockwerk mitziehen. Beim Anblick der Toilette zollte er seinem übermäßigen Alkoholgenuss Tribut. Semir konnte den aufkommenden Brechreiz nicht mehr unterdrücken und fing an sich zu übergeben, bis nur noch bittere Galle kam. Andrea kniete neben ihrem Mann nieder und blieb bei ihm, kühlte ihm mit einem feuchten Waschlappen die Stirn, als sich dort Schweißperlen gebildet hatten. Völlig erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken an die kalte Fliesenwand an. Nach einigen Minuten hatte sich sein Kreislauf soweit erholt, dass er sich mit der Unterstützung seiner Frau im Zeitlupentempo entkleidete. Daraufhin kroch er mehr, als er lief, in die Duschkabine. Zu Beginn prasselten warme Wassertropfen auf den Türken herab. Erst zum Schluss stellte Andrea die Armatur des Wasserhahns auf kalt. Laut prustend und protestierend stand Semir, der sich mit seinen Handflächen an den Fliesen abstützte, da.
    Nachdem sie ihn anschließend in ihr Ehebett verfrachtet hatte, begann er schon wenige Minuten später mit einem Schnarchkonzert, das noch in der Küche zu hören war. Andrea kochte dort eine Kanne extra starken Kaffee und entsorgte die beschmutzte und zerrissene Kleidung in der Mülltonne.
    Viele Stunden später schien das Licht des Mondes durch die Jalousien ins Schlafzimmer. Als Semir wieder einigermaßen ansprechbar und nüchtern war, erfuhr sie, was ihren Mann so aus der Fassung gebracht hatte. Er berichtete von dem Gespräch mit dem Arzt im Krankenhaus, der ihm mitgeteilt hatte, dass es bei Ben durch den hohen Blutverlust zu einer Unterversorgung des Gehirns gekommen sei. Deshalb sei er in eine Art Koma gefallen und würde wahrscheinlich nie mehr das Bewusstsein wieder erlangen.
    *****
    Draußen vor dem Fenster hat die Morgendämmerung eingesetzt. Die ersten Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg in das Schlafzimmer der Gerkans. Andrea lag zusammen mit Semir im Bett und hielt ihren schlafenden Mann im Arm. Sein Kopf ruhte auf ihrer Brust. Sie hatten die letzten Stunden geredet. Andrea musste ihr ganzes Einfühlungsvermögen aufbringen, damit sich ihr Mann öffnete und seine Verzweiflung und seinen Kummer ihr offenbarte.
    Sie dachte über das nach, was er ihr erzählt hatte.
    „Ich kann nicht mehr Andrea … ich kann nicht mehr auf der PAST arbeiten. Es ist nicht mehr dasselbe, wenn ich das Büro betrete. Die Blicke der Kollegen verfolgen mich wie Nadelstiche bei jedem Schritt. In ihren Augen kann ich den stillen Vorwurf lesen, wie konntest du nur auf Ben schießen. Sein leerer Stuhl in unserem Büro, ich ertrage den Anblick nicht mehr. Mit dem Schuss auf Ben habe ich nicht nur sein Leben zerstört, sondern auch meines.“ Sie hatte die Schauer förmlich spüren können, die Semirs Körper bei den nachfolgenden Sätzen durchrasten. „Nach der Diagnose war ich auf dem Übungsschießstand … Als ich die Waffe in der Hand hielt, fing ich an zu schwitzen … zu zittern … Ich konnte einfach die Pistole nicht ruhig halten … nicht abdrücken. Und die Zielscheibe … die Zielscheibe verwandelte sich in Bens Brust … das Blut lief an ihr herunter. Die Waffe fühlte sich wie ein Stück glühendes Eisen an. Ich konnte sie nicht mehr festhalten … es ging einfach nicht … es ging nicht!“
    Der Deutsch-Türke hatte während des Gesprächs einen folgenschweren Entschluss gefasst. Er wollte gleich morgen früh mit Frau Krüger sprechen, um seine sofortige Freistellung bitten und seinen Job bei der PAST quittieren.
    Oh Gott, was hätte Andrea noch vor ein paar Monaten dafür gegeben, dass Semir seinen gefährlichen Job bei der Autobahnpolizei aufgibt und nur noch im Innendienst einer Polizeibehörde arbeiten würde. Doch der Preis, den sie alle dafür zahlen mussten, war zu hoch. Sie weinte still vor sich hin, als sie ihm über sein kurzgeschorenes Haar streichelte.
    Über ihre Gedanken war auch sie nochmals eingenickt. Das Klingeln des Weckers riss sie beide aus dem Schlaf. Halbwegs nüchtern und nach einem spartanischen Frühstück fuhr Semir zur Dienststelle. Der Parkplatz neben ihm war leer. Bens Parkplatz! Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Es kostete ihn eine wahnsinnige Überwindung aus dem BMW auszusteigen und durch die Eingangstür zu schreiten. Ohne nach links oder rechts zu blicken, steuerte er direkt das Büro seiner Chefin an und schloss die Tür hinter sich, nachdem er das Zimmer betreten hatte. Diese schaute erstaunt auf und runzelte bei seinem Anblick sorgenvoll die Stirn.
    „Guten Morgen Herr Gerkan!“ begrüßte sie ihn „Ich habe gute Nachrichten für sie.“ Dabei hielt sie einige Blätter in der Hand. „Hier ist der offizielle Abschlussbericht der Internen Abteilung und der Kriminaltechnik. Man spricht sie von jeglicher Schuld frei. Der Schuss auf Herrn Jäger wird als Unfall zu den Akten gelegt.“
    Semir lachte gequält auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Seine Augen schimmerten feucht.
    „Das macht es auch nicht mehr ungeschehen Frau Krüger.“ Er seufzte abgrundtief auf, „Tut mir leid! Ich sehe mich nicht mehr im Stande weiterhin hier Dienst zu tun.“
    Mit diesen Worten legte er ihr sein Versetzungsgesuch, seine Dienstwaffe und seinen Ausweis auf ihren Schreibtisch. Es herrschte eine unheimliche Stille im Raum und die Zeit schien stehen zu bleiben. Der Schock stand Kim Krüger bei seinen Worten ins Gesicht geschrieben. Sie wusste, es gab nichts, was ihren besten Mann aufhalten konnte, seine Entscheidung nochmal rückgängig machen würde. Fassungslos blickte sie ihm nach, als er sich wortlos umdrehte und ihr Büro verließ.
    Dann trat er mit hängenden Schultern den schweren Gang in sein Büro an. Überall war Bens Anwesenheit zu spüren. Sorgfältig schloss er die Jalousien und begann seinen Schreibtisch aufzuräumen und seine persönlichen Sachen in einen Karton zu stapeln. Ein letzter abschließender Blick fiel auf Bens aufgeräumten Schreibtisch. Früher herrschte dort Chaos pur. In der Ecke stand seine Lieblingsgitarre. Nie wieder würde sie unter seinen Fingern erklingen. Es kostete ihn den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung sich von Susanne zu verabschieden, deren Augen feucht schimmerten, als sie sich umarmten.
    Draußen wartete Andrea auf ihm. Als er die Beifahrertür öffnete, wanderte ein letzter trauriger Blick über den Parkplatz der Dienststelle und die Fensterfront des Großraumbüros. Es war ein Abschied für immer. Für einen Augenblick schloss der Türke seine Augen und dachte an die vielen Jahren und glücklichen Stunden, die er hier verbracht hatte. Daran, dass die Dienststelle und seine Kollegen seine zweite Heimat und seine zweite Familie gewesen waren.
    Frau Krüger beobachtete es von ihrem Büro aus. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie fragte sich, war es das wirklich wert gewesen? Dieser Einsatz? … Die Festnahmen … letztendlich hatte es die Dienststelle ihre beiden besten Männer gekostet und zwei Leben zerstört. Auch ihre Zukunft war ungewiss. Ihr eigenes Versetzungsgesuch lag bei ihrer vorgesetzten Dienststelle.


    Semirs nächster Weg führte zu Ben ins Krankenhaus, in dem vor drei Tagen dieses verhängnisvolle Gespräch stattgefunden hatte.

  • Ben lief einen dunklen Tunnel entlang, an dessen Ende ein warmes helles Licht erstrahlte, das ihn wie magisch anzog. Bei jedem Schritt zogen Bilder der Vergangenheit, ja, er hatte das Gefühl sein ganzes Leben zog an ihm vorbei. Das vertraute Gesicht seiner Schwester Julia, die seiner Kollegen, Aida und Lilly und Semir. Er sehnte sich danach das Ende des Tunnels zu erreichen. Mit einem Hochgefühl durchschritt er die Grenze zwischen Finsternis und dem Lichtschein. Wärme und Geborgenheit umfingen ihn. Der Anblick kam ihm seltsam bekannt vor. Die Baumwipfel wiegten sich sanft im Wind. Ja, er war zu Hause angekommen ... zu Hause, im parkähnlichen Garten seiner Eltern. Es war wie das Eintreffen im Paradies. Eine vertraute Frauengestalt kam auf ihn zu. Ungläubig entfuhr ihm „Mama? … Mama? … Bist du das wirklich?“ Seine Mutter war vor vielen Jahren gestorben. Ihr Verlust hatte ihn damals hart getroffen.
    „Ja, ich bin es mein Sohn!“ bestätigte ihm die Frauenstimme. „Was machst du denn hier?“ fragte sie verwundert nach. „Es ist doch noch gar nicht an der Zeit. Komm setze dich zu mir und erzähle!“ Sie deutete auf eine Parkbank, die von einem Rosenspalier eingerahmt wurde. Die roten Rosen blühten in voller Pracht und verbreiteten einen angenehmen Duft. Es war wie früher, als er ein Kind gewesen war. Seiner Mutter konnte er sein Herz ausschütten, vor allem wenn er etwas angestellt hatte. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als er mit seiner Geschichte geendet hatte.
    „Du kannst nicht hier bleiben mein Sohn. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen. Auf dich warten Freunde, die brauchen, die dich lieben.“
    „Auf mich wartet niemand Mama!“ widersprach er ihr. „Ich möchte hier nicht mehr weg, ich will bei dir bleiben. Hier gibt es keine Schmerzen und kein Leid, es fühlt sich an, wie das Paradies.“
    „Willst du das deinem Freund wirklich antun?“
    „Semir?“
    „Ja Semir, so heißt er. Er braucht dich!“
    „Aber ich habe doch alles für ihn gegeben Mama, ich war sogar bereit mein Leben zu opfern, mehr kann man für einen Freund nicht tun.“
    „Doch du kannst mehr tun! Noch ist es nicht zu spät, mein Junge! Du kannst noch umkehren und den Weg zurückgehen. Kämpfe, kämpfe um dein Leben! Du musst es nur wirklich wollen, dann kannst du zurück … zurück zur anderen Seite!“ belehrte sie ihn und sprach weiter auf ihn ein „Schließ die Augen Ben, ich zeige dir etwas!“
    Er fand sich an einen völlig anderen Ort wieder, der ihm ebenfalls bekannt vorkam. Den Kiesweg war er schon oft entlang gegangen. Die Erinnerung setzte schlagartig ein. Es war der Waldfriedhof, auf dem sich das Grab seiner Mutter befand. Eine große Ansammlung von Menschen hatte sich um die Grabstätte eingefunden. Der Kies knirschte bei jedem Schritt, als er sich langsam näherte. Der Himmel war wolkenverhangen und feiner Nieselregen bahnte sich seinen Weg zur Erde. Er betrachtete die einzelnen Trauergäste. Er kannte sie alle, ehemaligen Klassenkameraden, frühere Arbeitskollegen und direkt vor dem geöffneten Grab, in dem gerade ein Sarg hinabgelassen wurde, standen die Kollegen der PAST, seine Familie und Semirs Familie. Er erstarrte und las die Worte auf den Trauergebinden, die letzten Grüße. Sie galten ihm: BEN.
    Seine Schwester lag in den Armen seines Vaters. Andrea hielt Lilly eng an sich gedrückt. Ihre große Schwester hatte sich so nah wie möglich an das Bein ihrer Mutter herangedrückt. Alle hatten etwas gemeinsam: Sie weinten bitterliche Tränen. Sein Blick ging weiter zur offenen Grabstätte. Vor ihr kniete im Schlamm und Dreck ein Mann: Semir. Seine Hände hatte er in die Erde gekrallt. Seine ganze Körperhaltung drückte nur noch Trauer und Hoffnungslosigkeit aus. Ben erschrak bis ins Innerste, als er Semir ins Gesicht blickte. Das war nicht mehr der Freund, den er kannte, dieser Mann war ein menschliches Wrack … zerbrochen … ein Schatten dessen, was er einmal war. Er hatte das Gefühl, ihn weinen zu hören.
    Leise drang die Stimme seiner Mutter zu ihm durch „Willst du das wirklich mein Sohn? Denk nach … denk nach … und triff deine Entscheidung! Noch ist es nicht zu spät! … Du wirst gebraucht!“

  • Es war das Auftauchen aus einer Dunkelheit, die ihn die ganze Zeit über eingehüllt hatte, in ihren tiefen Abgründen gefangen gehalten hatte. Er hatte das Gefühl zu schweben … wie auf einer Wolke. Da waren immer wieder Stimmen, die auf ihn einredeten und dann wieder im nichts der Dunkelheit verschwanden. Er versuchte sich zu erinnern, was war denn nur geschehen … Bilder und Erinnerungen stiegen in ihm hoch …verschwammen ineinander, wie bunte Nebelschwaden … Was war Wahrheit und was war Traum? … Seine Mutter … da war seine Mutter gewesen … Er war sich sicher, dass er mit ihr gesprochen hatte, zum Greifen nah, war sie neben ihm gesessen. Er verursachte Ordnung in das Chaos, das seine Gedankenwelt beherrschte, zu bringen.


    Aus weiter Ferne drangen Geräusche an sein Ohr, gedämpft wie durch einen Wattebausch. Angestrengt lauschte er. … Wer redete denn da? … Sprach da wirklich jemand mit ihm? … Sein Name … jemand nannte seinen Namen: BEN … Die vertraute Stimme wurde von einem monotonen Piepsen unterbrochen … Wo kannte er die nur her? So langsam dämmerte es ihm. Das war sein Freund und Partner … das war Semir … Bilder seines Traumes blitzten vor seinem inneren Auge auf … Wo war er nur? Was war denn nur passiert?
    Langsam drangen einzelne Wortfetzen zu ihm durch, deren Sinn er so nach und nach erfasste. Schlagartig setzte wieder seine Erinnerung ein. Sein Undercover-Einsatz … die Verfolgungsjagd durch die Lagerhalle … Erik, der hinter Semir aufgetaucht war … der Schuss … und dann war da nur noch Schmerz gewesen … ein unendlicher Schmerz war in seiner Brust gewesen. Er horchte in seinen Körper hinein, holte Luft … Wo war er geblieben? Dieser unbeschreibliche Schmerz, der ihn innerlich zerrissen hatte. … Es fühlte sich anders an. …. Vorsichtig holte er erneut Luft … Erleichterung machte sich in ihm breit … das Stechen … das Brennen … es war nicht mehr da …Das grauenhafte Gefühl ersticken zu müssen, war verschwunden …


    Ben fühlte die Wärme einer Hand, die ihm zärtlich über die Stirn und Haare strich … den Arm entlang … den Kontakt zu seiner Hand suchte und diese umschlang. Die Stimme war verstummt. Stattdessen ein Schluchzen … die Erkenntnis, Semir weinte. Warum? Wegen ihm? Das brauchte er doch nicht … es war doch alles gut. Er fing an zu kämpfen. Seine Augenlider waren schwer wie Blei und ließen sich einfach nicht öffnen. Unter Aufbietung all seiner Energie versuchte er seine Finger zu bewegen und die Hand seines Partners zu drücken.


    Semir verstummte schlagartig und zuckte zusammen. Ungläubig schaute er zu seiner Hand und fixierte diese förmlich mit seinem Blick. Litt er schon unter Halluzinationen, fragte er sich, verlor er endgültig den Verstand? Der Türke hätte bei allem was ihm heilig ist, schwören können, dass sich die Finger seines Partners bewegt hatten. Sein Blick wanderte hoch zu Bens Gesicht. Er konnte deutlich erkennen, dass dessen Augenlider flatterten und sich die Mimik verändert hatte.
    „Ben… Ben …. Hörst du mich?“ flüsterte Semir fast schon ehrfürchtig.
    Das Piepsen des Monitors hatte sich verändert.
    „Drück meine Hand … zeig mir das du da bist…Bitte, für mich!“ Seine Stimme vibrierte vor Aufregung. Er spürte eine leichte Bewegung von Bens Fingern in seiner Hand. Sofort drückte Semir den Alarmknopf für die Krankenschwester. Sekunden später kam die ins Zimmer gestürmt, dicht gefolgt vom Oberarzt.
    „Er wacht auf… Er hat sich bewegt!“ stotterte Semir. „Dr. Renger …Ich bin mir völlig sicher, Ben hat seine Finger bewegt!“ kam es fast schon euphorisch „Oh Gott, ich kann es gar nicht glauben. Ihr Kollege meinte doch, Ben würde nie mehr aufwachen! Wie kann das so plötzlich sein?“
    „Der junge Kollege war wohl etwas voreilig mit seiner Prognose. Er hatte mir gebeichtet, was er ihnen gesagt hatte. Daraufhin hatte ich mehrfach versucht, sie unter der angegebenen Handynummer zu erreichen, um die Aussage meines jungen Kollegen zu relativieren. Denn ich hatte nach den letzten neurologischen Untersuchungen, immer noch einen Funken Hoffnung, dass Herr Jäger aufwacht. Wir hatten schon in den vergangen beiden Tagen Veränderungen feststellen können.“ Die Krankenschwester nickte zustimmend. „Den großen Moment richtig wach zu werden, hat er sich wohl für sie aufgespart. Na dann schauen wir mal!“
    Dann schenkte Dr. Renger seine volle Aufmerksamkeit seinem Patienten und umfasste dessen freie Hand.
    „Herr Jäger! … Herr Jäger können sie mich hören? Ich bin ihr behandelnder Arzt, Dr. Renger. Bewegen sie mal ihre Finger!“ forderte er nach einer Reaktion, um Semirs Beobachtungen bestätigt zu bekommen.
    Ungläubig hatte Ben dem Gespräch zwischen dem Arzt und Semir gelauscht. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. All seine Kraft musste er dazu aufwenden, um die Schwerkraft zu besiegen. Er blinzelte … alles war so hell, blendete ihn, tat weh. … Es dauerte … bis er sich orientiert hatte. Vor seinen Augen lag ein Schleier, der sich langsam lichtete. Sein Blick fixierte seinen Partner. Er bewegte seine Lippen und bemühte sich zu sprechen. Doch in seinem Mund fühlte sich alles wie ausgetrocknet an. Seine Zunge klebte förmlich am Gaumen. Sein Hals brannte und schmerzte.
    Die erfahrene Krankenschwester erkannte sofort das Problem ihres Patienten. Gedankenschnell hatte sie ein bisschen Wasser in einer Schnabeltasse eingefüllt.
    „Herr Jäger … ich habe etwas zu trinken für Sie!“ Sie schob ihre Hand unter Bens Kopf, hob ihn leicht an und setzte den Becher an den Lippen des Patienten an, der gierig zu schlucken begann. Seine dunklen Augen drückten seine Dankbarkeit aus. Die Flüssigkeit wirkte belebend auf ihn. Er wandte den Kopf zur anderen Bettseite.
    Ben versuchte erneut ein paar Worte zu sprechen … der Klang seiner Stimme war so merkwürdig blechern … ein kaum hörbares Flüstern … „H...a...l...l...o S…e…m…i …r!“
    Seine Kraft war aufgebraucht und er dämmerte hinüber in den Schlaf…

  • Semir saß zitternd auf seinem Stuhl und starrte auf seine Hände, die die Rechte seines Freundes umschlungen hielten. Sein Verstand versuchte verzweifelt zu begreifen, was in den letzten Minuten geschehen war. Die Emotionen überwältigten ihn und er konnte es nicht verhindern, dass ihm die Tränen über die Wangen rannen. Mitfühlend legte ihm der Oberarzt seine Hände auf die Schultern.
    „Glauben Sie mir Herr Gerkan, ihr Freund ist über den Berg … ehrlich …“, meinte Dr. Renger.
    Semir hob den Kopf und blickte über die Schulter den Arzt an. „Wirklich?“
    Der Oberarzt antwortete zuversichtlich: „Ja, wirklich! … Lassen wir Herrn Jäger ein wenig schlafen. Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis er wieder der Alte ist, aber geben Sie ihm einfach die Zeit, die er braucht, um sich zu erholen.“ Der Türke nickte zustimmend und dachte an die Hölle, die er in vergangen Tagen durchlebt hatte.
    „Kommen Sie mit ins Arztzimmer. Schwester Erika hat bestimmt eine gute Tasse Kaffee für Sie und wir bei unterhalten uns ein wenig über die medizinischen Fakten.“


    ****
    Am darauf folgenden Tag …
    Ben hörte das gleichmäßige Piepsen des Monitors. Mittlerweile war er schon mehrmals wach gewesen und wusste, dass er auf der Intensivstation der Uni-Klinik Köln lag. Er konnte förmlich spüren, diesmal war er nicht alleine im Zimmer. Der Dunkelhaarige schlug vorsichtig die Augen auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis der Schleier sich lichtete und sein Blick klar war und er ihn im Zimmer umherschweifen ließ. Seine rechte Hand fühlte sich so angenehm warm an… sein Blick wanderte dahin. Semir saß auf einem Stuhl neben seinem Bett … sein linker Arm lag auf der Zudecke und sein Kopf ruhte darauf … Semirs Rechte hatte seine Hand umschlungen. Sein Freund schlief und sah dabei so friedlich aus.
    Es war so, als schien Semir zu spüren, dass Ben erwacht war. Er hob den Kopf und blickte seinem verletzten Freund in die Augen. Ein Lächeln umspielte Bens Lippen.
    „Hallo Partner!“ wisperte der junge Polizist.
    „Partner?“ flüsterte Semir leise und senkte schuldbewusst seinen Blick. „Du … nennst … mich noch … Partner? … Ich habe …auf dich geschossen, Ben!“ Semirs Augen wurden feucht.
    „Es tut mir leid, … so unendlich leid Ben!“ schluchzte der kleine Türke bedrückt „Kannst du mir das jemals verzeihen? … Dieser Schuss?… Ich … hätte es doch wissen müssen … wie konnte ich nur glauben …!“ Er konnte den Satz nicht vollenden … es nicht aussprechen.
    Der dunkelhaarige Polizist spürte durch den Körperkontakt wie sein Freund zitterte … am ganzen Körper vor Erregung vibrierte.
    „Oh Gott, Semir! Alles ist gut …“, stieß Ben erregt hervor und richtete sich ein wenig auf. „Es war in diesem Moment meine Entscheidung in der Lagerhalle, glaube mir doch, ich wusste, was passieren wird. Als ich abdrückte, um Erik zu töten, war mir klar, dass auch du schießen würdest … so wütend und voller Zorn, wie du in diesem Augenblick warst … Ich war für dich ein gesuchter Mörder … Du musst dir keine Vorwürfe machen … bitte… glaube mir !“
    Langsam kam der Sinn dieser Worte von Ben bei Semir an. Eine Zentnerlast fiel von dem kleinen Türken ab. Seine angespannten Gesichtszüge lockerten sich auf. „Wirklich? … Du hasst mich nicht dafür? … Ich hätte … dich … fast umgebracht!“ Vorsichtig versuchte er Ben zu umarmen und fühlte die Hand seines Freundes am Rücken.
    „Es ist gut Semir … alles gut!“ flüsterte er ihm ins Ohr. Dieser schluchzte abermals auf, sein Körper erbebte … er war fassungslos, als der die Bedeutung dieser Aussage im vollen Umfang begriff.
    „Du warst wirklich bereit, … dich von mir erschießen … zu lassen, um mir … das Leben zu retten … Oh mein Gott Ben!“
    „Ja!“ hauchte der Dunkelhaarige. „Wir sind doch Freunde … Brüder … die machen das für einander …!“ Bens Augen schimmerten ebenfalls feucht. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange. Seine Hände zitterten, als er Semir zu sich heranzog und versuchte die Umarmung zu erwidern, „Nur versteh doch, … du hättest mir nicht geglaubt, wenn ich versucht hätte, dich zu warnen. Ich habe es in deinen Augen gesehen! Ich hatte die Wahl …und habe eine Entscheidung getroffen!“
    Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte Semir. Die Erleichterung wich den Schuldgefühlen der letzten Tage und Wochen. Sie war wieder da … ihre Freundschaft … die Verbindung, die zwischen ihm und Ben herrschte … die Brüder war wieder vereint …

  • Viele Tage später …
    Ben war zwischenzeitlich auf eine normale Pflegestation verlegt worden. Ihm ging es von Tag zu Tag besser und es war nur eine Frage der Zeit, bis er aus dem Krankenhaus in eine Reha-Klinik entlassen werden würde.
    Es klopfte und Kim Krüger trat ein. Die Anspannung der letzten Tage und Wochen hatten auch bei ihr Spuren hinterlassen.
    „Darf ich reinkommen?“ erkundigte sie sich vorsichtig.
    Ben saß am Bettrand und verputzte gerade mit großem Appetit die Reste seines Mittagessens. „Hallo Chefin, setzen Sie sich doch!“, forderte er seine Chefin auf, auf dem Besucherstuhl neben seinem Bett Platz zu nehmen. Kim zog ihre Lederjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne.
    „Wie geht es ihnen?“, fragte sie ihn.
    „Ich glaub, ich werde es überleben!“ feixte er und schob sich das nächste Fleischstück in den Mund. Mit seiner Gabel deutete er auf den fast geleerten Teller und meinte kauend: „Nur bei der mageren Krankenhauskost wird man einfach nicht satt. Sie haben nicht zufällig ein paar Bananen oder eine Currywurst mit Pommes für einen hungrigen Mann im Gepäck?“ Dabei setzte er sein schelmisches Grinsen auf.
    „Schön, dass sie ihren Humor wieder gefunden haben Herr Jäger!“, gab sie mit einem Anflug eines Lächelns im Mundwinkel zurück.
    Nach diesen Worten veränderte sich der Ausdruck von Bens Mimik und er wurde schlagartig ernst. „Wie ist die Anhörung heute Morgen gelaufen Frau Krüger? Sind diese Schweine noch in Untersuchungshaft? Haben die Beweise auf der Speicherkarte ausgereicht? Vor allem um dieses Schwein Winterstein zu überführen? Oder war alles umsonst?“
    „Wir haben ihn! Und nicht nur ihn, auch den Rest von Eriks Bande. … Ich bin überzeugt, dass wir alle bezahlten Handlanger von diesem Winterstein haben“ Sie kniff kurz die Lippen zusammen, nickte vor sich hin und bekräftigte nochmals ihr Aussage. „Alle! … Wir haben sie alle!“ Kim streifte sich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr, während Ben klappernd sein Besteck auf den geleerten Teller ablegte und den Nachttisch etwas zur Seite schob.
    „Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes ganze Arbeit geleistet. Ihr Hinweis mit den Schließfächern … die Videoaufnahmen, die sie gemacht haben, bestätigt durch ihre Aussage, wurden vom Richter als Beweise zugelassen. … Winterstein hatte unter seinem Pseudonym tatsächlich die Namen der verdeckten Ermittler, die geplanten Razzien an Calderones Bande und andere kriminelle Elemente gegen entsprechende Geldzahlungen weitergeben. Wir konnten ihn und die führenden Köpfe des Kartells festsetzen. Dank ihres Kronzeugen werden die Herrschaften sehr viele Jahre in Haft verbringen.“
    „Das ist gut. Das ist wirklich gut! … Die Gerechtigkeit hat gesiegt!“ Die Erleichterung war aus Bens Stimme rauszuhören. Er hielt einen Moment inne und sammelte sich. Ein trauriger Ausdruck huschte in seine Augen.
    „Es macht nur Peter und seine Familie nicht mehr lebendig und all die anderen Kollegen, die ihnen zum Opfer gefallen sind!“


    „Nur wie sind Sie auf Winterstein gekommen? Unglaublich … keiner hätte gedacht, dass ein pensionierter Hauptkommissar des LKAs der Kopf des Ganzen ist? Der Kerl wirkt so wie der nette Opa von nebenan, was treibt jemanden dazu, dass zu verraten, wofür er sein Leben lang gearbeitet hat!“
    „Das wollen Sie nicht wissen Frau Krüger. …. Wirklich nicht …!“ Der dunkelhaarige Kommissar schüttelte sich, als würde er sich vor etwas ekeln.
    „Was heißt das Herr Jäger?“ fasste sie nach. Ihre Neugierde war geweckt worden.
    „Der Mann hat eine Leidenschaft … und nein … nein …! …. Reden wir nicht drüber … nicht hier und nicht jetzt!“
    „Na gut. Ist letztendlich für die Ermittlungen auch nicht mehr wichtig. Übrignes in der anderen Sache hat sich ihr Verdacht bestätigt. Eriks Geliebte, diese Hannah Neubert, die als Angestellte in der Staatsanwaltschaft arbeitete, war tatsächlich eine wichtige Informationsquelle. Sie hat Winterstein und ihren Freund Erik regelrecht mit Informationen gefüttert. Zu Beginn hatte sie alles abgestritten. Aber als die Kollegen sie im Verhör so richtig in die Mangel genommen haben, ist sie zusammengebrochen und hat alles gestanden. Sie sitzt in Untersuchungshaft und wartet auf ihren Prozess!“ Ungläubig schüttelte Kim den Kopf „Wer hätte gedacht, dass die in ihrem Job in der Verwaltung, an solche brisanten Daten rankommen konnte, die teilweise streng vertraulich waren!“
    „Und wie geht es mit mir weiter?“
    „Ihre berufliche Rehabilitation ist bereits in die Wege geleitet. Alle Vorwürfe und Anschuldigungen, die gegen sie erhoben worden sind, werden aus ihrer Personalakte gelöscht. Sobald Sie nach ihrer Reha wieder dienstfähig sind, wartet ihr alter Job auf Sie!“
    „Und auch mein alter Partner? Oder hat Semir die Kündigung nicht zurückgezogen!“


    Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Keine Sorge! Der kleine Türke macht seit Montag wieder die Autobahn unsicher und hat gestern den nächsten Dienstwagen erfolgreich geschrottet.“
    Man konnte ihr die Freude ansehen, dass ihre beiden Chaos-Polizisten wieder als Team vereint zusammenarbeiten würden.
    „Nur eins bedauere ich wirklich…“, merkte Ben noch an.
    “Was?“
    „Bohm … ich hätte zu gerne sein doofes Gesicht gesehen… oh ja … als er die Wahrheit erfuhr!“ Ben lachte amüsiert auf …. „Das hätte für einiges entschädigt! Sie haben das nicht zufällig mit ihrem Handy gefilmt!“
    Kim lachte auf. „Ja, da gebe ich ihnen recht! Dessen dämlicher Gesichtsausdruck im Büro von Frau Schrankmann hatte schon Seltenheitswert und fast einen Preis verdient.“
    Nun lachten sowohl Frau Krüger als auch Ben lauthals auf.
    „Übrigens“, mit diesen Worten fischte Kim einen Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche „ihr Porsche wartet bei meinem Vater darauf noch abgeholt zu werden.“


    Epilog


    Viele Wochen später …
    Nach einer erfolgreichen Reha-Maßnahme nahm Ben an einem Montag wieder seinen Dienst auf der PAST auf. An seinem ersten Arbeitstag veranstalteten seine Kolleginnen und Kollegen eine kleine Willkommensparty. Nachdem er viele Umarmungen über sich ergehen ließ… viele Hände gedrückt hatte … stand da zum Schluss der Türke, in dessen Augenwinkel es feucht schimmerte, an Susannes Schreibtisch gelehnt und blickte ihn erwartungsvoll an. Ben ging auf ihn zu, umarmte ihn, klopfte ihn leicht auf den Rücken und wisperte ergriffen: „Ich bin zurück Partner!“
    „Willkommen daheim mein Freund!“, presste Semir hervor. Krampfhaft versuchte der Türke seine Emotionen in den Griff zu bekommen und hielt dabei Ben eng an sich gedrückt. Der Augenblick gehörte den beiden Freunden.
    Nach einigen Minuten löste sich Ben von Semir, lächelte ihn an, zwinkerte ihm zu und ging den Weg zu Kim Krügers Büro. Ihn fröstelte es, als er an den Moment zurückdachte, als er ihn vor vielen Monaten das letzte Mal gegangen war.


    Kim Krüger lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen ihres Büros und hatte von dort die Begrüßung von Ben Jäger durch seine Kollegen beobachtet. Mit einen Lächeln auf den Lippen erwartete sie ihn und folgte ihm ins Büro. Auf ihrem Schreibtisch lagen seine Dienstwaffe, sein Ausweis und der Autoschlüssel für seinen Dienstwagen bereit.
    „Mit den besten Grüßen des Innenministers soll ich Sie zurück im Dienst empfangen Herr Jäger.“ Sie überreichte die besagten Gegenstände an Ben „Und ach ja, bevor ich es vergesse, hier ist ein extra Belobigungsschreiben, persönlich unterzeichnet von dem Herrn Minister.“
    Ben grinste schelmisch.
    „Heißt das, ab sofort darf ich ein paar Dienstwagen mehr schrotten … und dies mit Erlaubnis des Ministers?“
    Kim rollte die Augen und fing lauthals an zu lachen.


    Zusammen mit seinem Partner Semir jagt er weiterhin Autoschieber, Mörder und Erpresser …

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