Mit allen Mitteln

  • Einige Stunden zuvor

    Zwei der Männer hatten Ben in Konrads altes Arbeitszimmer in den 1. Stock geschafft. In mitten des Raumes befand sich ein weiß gestrichener Stützbalken. Einer der Kerle drückte Ben rücklings dagegen, während der andere ihm die Hände dahinter mit einem dünnen Kabelbinder fesselte. Ben lies es ohne Gegenwehr geschehen. Zu sehr hatte er noch mit den Folgen des letzten Schlages zu kämpfen und wenn er nicht mit dem Rücken angelehnt gestanden hätte, hätte er sich vermutlich noch gar nicht auf den Beinen halten können. Nur am Rande bekam er mit wie sich der eine von Winklers Handlangern zurückzog, während der andere es sich auf dem Zweisitzer am hinteren Ende des Raumes bequem machte und damm beobachtete wie noch ein schmächtiges Kerlchen den Raum betrat und das Kästchen, in dem sich Bens Dienstwaffe befand, auf dem Schreibtisch gegenüber der Tür abstellte.


    Erst als Winkler und Konrad später ebenfalls nach oben kam, hatte Ben sich soweit erholt, dass er wieder aufnahmefähig war. Schon von weitem hörte er sie miteinander sprechen und wie sein Vater mit lauter Stimme fragte ob Winkler nun einige seiner Leute weggeschickt hatte. Winkler bejahte die Frage und zählte auf, dass außer ihnen beiden nur noch Iwanow und der Junge anwesend seien. Ben horchte auf. Iwanow war doch der Killer, der Semir und ihn im Wohnzimmer der Gerkhans überfallen hatte. Und wieso fragte sein Vater das gerade jetzt? Hatte er es absichtlich getan, damit Ben wusste dass sich die Zahl der Angreifer nun deutlich verringert hatte?


    "Du musst mir schon recht geben, dass es verdächtig gewesen wäre, wenn die Polizei hier eintrifft und es überall von deinen Leuten wimmelt.", sagte Konrad gerade als er mit Winkler das Arbeitszimmer betrat.


    Der Angesprochene erwiderte darauf hin nichts. Er schien sichtlich genervt und sah sich kurz in dem Raum um wo sein Blick schließlich an Ben hängen blieb. „Iwanow!...", herrschte Winkler den Russen an, der sich wieder von dem Zweisitzer erhoben hatte "...sorg dafür dass er ruhig bleibt!"


    Ben spannte sich direkt an, als er hörte wie der Kerl von hinten auf ihn zukam. Doch der erwartete Schlag blieb aus. Stattdessen wurde sein Mund mit einem Streifen Klebeband zugeklebt. Iwanow zwinkerte Ben noch zu ehe er sich neben das Kästchen auf den Schreibtisch setzte.


    „So Konrad, jetzt mach endlich deinen Job und ruf die verdammten Bullen an!“, wandte sich Winkler ungeduldig an Bens Vater, neben dem der schmächtige Kerl seine Stellung bezogen hatte.


    Ben starrte in das Gesicht seines Vaters. Würde er ihn jetzt ein weiteres Mal verraten? Konrad hob den Kopf und sah zu ihm herüber. Als sich ihre Blicke trafen, fiel Ben sofort die Veränderung an ihm auf. Er konnte in den Gesichtszügen seines Vaters nichts mehr von Angst und Hilflosigkeit erkennen, im Gegenteil, jetzt wirkte er entschlossen und gefasst. Fragend schaute Ben ihn an. Was hatte er vor?


    Plötzlich zerriss das laute Klingen eines Handys die kurz entstandene Stille und ab da überschlugen sich die Ereignisse:


    Winkler, der Konrad zuvor ein Handy gereicht hatte, zog nun ein weiteres Smartphone aus seiner Tasche und starrte kurz auf das Display, bevor er sich von Konrad abwandte und das Gespräch entgegen nahm. Konrad sah wie Winkler, der ihm den Rücken zugedreht hatte während er telefonierte, sich nun auch noch einige Schritte von ihm entfernte. Er witterte seine Chance und handelte ohne darüber nachzudenken. Bens Vater entriss dem jungen Kerl neben ihm das Schnellfeuergewehr und zielte damit auf Winkler. Doch Konrad hatte noch nie zuvor jemanden getötet. Er zögerte einen Augenblick zu lange und die Gelegenheit verstrich unwiederbringlich. Denn von ihm unbemerkt hatte Iwanow unterdessen Bens Waffe an sich genommen und auf den Bauunternehmer angelegt. Ben, der die Gefahr sofort erkannte, wollte seinen Vater warnen, doch er hatte keine Chance. Seine Schreie wurden durch den Knebel erstickt und er konnte nur hilflos zusehen wie die Kugeln ungehindert ihr Ziel trafen als der Russe zweimal hintereinander abdrückte. Konrad stürzte zu Boden wo er sich vor Schmerzen krümmte. Das Schnellfeuergewehr war seinen Händen entglitten und lag nun nutzlos neben ihm.


    Obwohl die Beziehung zu seinem Vater auf dem untersten Tiefpunkt angelangt war, konnte Ben nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Mit aller Gewalt versuchte er sich von dem Kabelbinder zu befreien. Er musste zu seinem Vater! Er musste ihm helfen!
    Doch es ging nicht, er kam nicht los. Winkler war herumgewirbelt und starrte erst ungläubig auf die Szene die sich ihm bot und dann auf Iwanow. „Bist du irre?", schrie er ihn an. "Verdammt nochmal, du hattest nicht den Befehl zu schießen!", tickte er aus und stürzte auf den Russen zu. Im Affekt entriss er ihm die noch geladene Pistole und drückte ab. Die Kugel traf den überraschten Mann mitten ins Herz. Er war sofort tot.


    Als Winkler seinen Lebensretter erschoss, war Ben unwillkürlich erstarrt. Er rechnete fest damit dass er selbst als nächstes an der Reihe war. Und er wusste wie schlecht es um ihn stand und wie einfach es doch für seinen Gegner war ihn zu töten. Ben konnte sich weder wehren noch ausweichen. Er kam hier nicht weg! Er konnte nichts tun! Wenn Winkler jetzt die Waffe auf ihn richtete war alles aus - aus und vorbei.


    Doch es kam anders. Winkler stieß einen animalischen Schrei aus und schleuderte die Pistole von sich. Als er den schockierten Blick des Jungen bemerkte, fuhr er ihn kalt an: "Was ist? Sei froh, einer weniger, mit dem wir den Gewinn an unseren Geschäften teilen müssen!" Dann hielt er sich sein Handy ans Ohr und verließ den Raum wo er sein unterbrochenes Telefonat wieder aufnahm. Der Junge, kreidebleich im Gesicht, folgte ihm verunsichert.


    Ben konnte selbst noch nicht richtig begreifen was sich da gerade abgespielt hatte. Erschüttert löste er sich aus seiner Starre. Er hatte überlebt, fürs Erste jedenfalls. Doch was jetzt?


    Ben schaute zu seinem Vater. "Hilf mir...", flehte Konrad ihn an. Seine Stimme war ein kaum hörbares Flüstern.


    „JA, WIE DENN?“, hätte Ben ihn am liebsten angeschrien. Verzweifelt versuchte er wieder sich zu befreien, aber je stärker er an dem verdammten Kabelbinder riss desto tiefer grub sich das scharfkantige Plastik unter seine Haut. Es schien aussichtslos. Ben gab auf und schloss die Augen. Sein Vater würde sterben, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.


    NEIN! Alles in ihm wehrte sich gegen diese Vorstellung. Nein, verdammt!! Noch war es nicht vorbei!!


    Noch mehr Adrenalin durchflutete ihn und Ben begann erneut sich mit aller Gewalt von den Fesseln zu befreien. Ohne Rücksicht auf Verluste zog und zerrte er wie von Sinnen - und fiel plötzlich vornüber. Der Kabelbinder war gerissen. Endlich! Eilig entfernte Ben den Knebel von seinem Mund und stürzte zu seinem Vater.


    „Mein Sohn...", hauchte Konrad leise, als er Ben neben sich erkannte. "...es tut mir so leid. Ich.... ich... hab das.... nicht.... gewollt. Bitte..... verzeih mir.“, stieß er mühsam hervor.


    „Schscht, nicht sprechen.“, versuchte Ben seinen Vater zu beruhigen. Dort wo ihn die Kugeln getroffen hatten, hatte sich sein Hemd bereits großflächig dunkelrot gefärbt. Mit fahrigen Fingern tastete Ben am Hals seines Vaters nach dessen Puls. Dabei sah er auch das Blut an seinen eigenen Händen. Bevor der Kabelbinder gerissen war, hatte er ihm die Handgelenke fast bis auf die Knochen aufgescheuert. Doch Ben hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn im gleichen Moment drangen noch drei weitere Dinge in sein Bewusstsein. Die Panik, weil er den Puls seines Vaters nicht fühlen konnte und er die Augen schlossen hatte, das Handy, mit dem er die Rettung rufen musste und das Geräusch, das von der Tür gekommen war.


    Ben schaute auf und sah dort den Jungen stehen. Er konnte deutlich sehen wie sich die Augen des Kerlchens entsetzt weiteten, als er ihn bei seinem Vater knien sah. Sofort hatte er sich die Pistole vom Gürtel gerissen, entsicherte sie und richtete sie auf Ben.


    "Nimm die Hände hoch!!!", schrie er. "Du sollst sofort die Hände hochnehmen!! Los nehm die Hände hoch!!! Ich hab gesagt du sollst die Hände hochnehmen!!", brüllte er ununterbrochen. In Bens Kopf gingen sämtliche Alarmglocken an. Die Stimme des Jungen klang so schrill und hysterisch und die Art wie er die Waffe mit seinen zittrigen Händen umklammerte ließ ihm keinen Zweifel, dass der Junge mit der Situation völlig überfordert war.


    Doch Ben war trotzdem nicht in der Lage sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Zwar schrie jede Faser seines Körpers danach der Aufforderung des Jungen nachzukommen um der tödlichen Gefahr zu entgehen. Aber da war noch etwas anderes - etwas das ihn daran hinderte sofort zu reagieren.


    Die rechte Hand immer noch am Hals seines Vaters, spürte er plötzlich doch dessen unregelmäßigen Puls und ein Funken Hoffnung überkam Ben.


    Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde.


    Plötzlich fühlte er einen brennenden Schmerz an der linken Schläfe und wie etwas durch sein Haar pflügte. Fast zeitgleich hörte er den lauten Knall, der mitten in seinem Kopf zu explodieren schien. Und dann kam der Schmerz, der so heftig über ihn hereinbrach, dass er die Kontrolle über seinen Körper verlor.


    Doch das bekam Ben gar nicht mehr richtig mit, denn als er neben seinem Vater zusammenbrach war es schon dunkel um ihn geworden und als Winkler wenig später zurück in den Raum stürzte, war er schonnicht mehr bei Bewusstsein.

  • Zum wiederholten Mal hatte sie Semirs Nummer gewählt und zum wiederholten Mal ging nur die Mailbox ran. Die Sorgenfalten auf Kim Krügers Stirn wurden immer tiefer. Dass bei dem Hauptkommissar etwas passiert sein musste, war inzwischen keine bloße Vermutung mehr, sondern sichere Gewissheit.


    „Verdammt! Ich hätte ihm nicht erlauben dürfen alleine loszufahren.“, sprach die Chefin ihre Gedanken laut aus und schaute in die besorgten Gesichter ihrer Mitarbeiter.


    „Wenn Semir sein Handy ausgeschaltet hat, können wir ihn zwar nicht mehr darüber orten, aber wir müssten doch trotzdem sehen können wo sein Dienstwagen steht.“, überlegte Bonrath.


    „Und das Gleiche gilt auch für Ben, der sich ohne meine Erlaubnis einfach den Porsche geschnappt hat.“, warf Hotte ein, der immer noch über die freche Aktion seines Kollegen verärgert war.


    „Ja, genau!“, pflichtete auch Jenny ihren älteren Kollegen bei und wie auf Kommando richteten sich alle Blicke auf Susanne.


    „Moment mal…“, sagte die Dienststellensekretärin, die wie gebannt auf den vor ihr stehende Monitor starrte. „Bei den Kollegen aus der Innenstadt ist gerade ein Notruf aus dem Hahnwald eingegangen. Der Anrufer behauptet, dass er mehrere Schüsse im Haus seines Nachbarn gehört hat.“


    „Hahnwald?“, wiederholte Jenny. „Da wohnt doch Bens Vater, oder?“


    „Richtig!“, bestätigte Susanne während sie eilig etwas in den PC tippte. „Und jetzt ratet mal wo Ben den Porsche geparkt hat.“


    „Im Hahnwald?“, fragten Dieter und Hotte gleichzeitig.


    Susanne nickte und tippte wieder etwas in den Computer. „Semirs BMW steht allerdings hier.“, sie deutete mit dem Finger auf den zweiten markierten Punkt auf ihrem Bildschirm.


    „Das ist etwas außerhalb.“, bemerkte Kim Krüger, die inzwischen hinter Susanne getreten war und ihr über die Schulter ebenfalls auf den Computerbildschirm schaute.


    „Dann ist Semir also nicht zu Bens Vater nach Hause gefahren, sondern in seine Firma.“, überlegte Susanne.


    „Sieht ganz so aus.“, meinte Frau Krüger und wandte sich an Jenny. „Okay, wir fahren jetzt los und schauen uns die Sache im Hahnwald an. Bonrath und Herzberger, Sie übernehmen die Konrad Jäger AG und sehen nach was bei Gerkhan los ist. Und nehmen Sie sich Verstärkung mit!“, fügte sie noch hinzu, nach dem die beiden schon aufgestanden und im Begriff waren das Büro zu verlassen.


    „Ich melde mich sobald es was Neues gibt!“, rief Susanne ihren Kollegen noch hinterher als sie eilig das Büro verließen.


    Die beiden Frauen waren mit dem Dienstwagen der Chefin unterwegs. Kim Krüger fuhr und Jenny hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Während der Fahrt herrschte Schweigen zwischen ihnen, jede schien sich still für sich auf das Kommende vorzubereiten. Frau Krüger hatte die Signalgeber eingeschaltet und obwohl ihnen die meisten Fahrzeuge bereitwillig auswichen und sie die Sirene nur kurzzeitig dazu schalten musste um besser durchzukommen, fühlte es sich für beide wie eine halbe Ewigkeit an, bis sie endlich den Hahnwald erreichten.


    Dass der im Süden von Köln liegende Stadtteil zu den teuersten und exklusivsten Villenvierteln Deutschlands gehörte, sah selbst ein kleines Kind schon auf den ersten Blick. Argwöhnisch betrachtete Jenny im Vorbeifahren die riesengroßen Häuser, die auf ebensolchen riesengroßen Grundstücken standen. Wer hier wohnte hatte es im Leben zu etwas gebracht – finanziell zumindest. „JetSet-Leute“ nannte ihr Onkel, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammte, die Leute aus dieser Gegend hier. Und Jenny fragte sich still ob es wohl tatsächlich so war, wie sie es sich in Gedanken als Kind so oft ausgemalt hatte. Ob die größten Sorgen dieser Leute unter anderem darin zu bestehen schienen, dass sie sich nach Feierabend nicht entscheiden konnten, ob sie abends im geräumigen Hausflur Golf spielten oder sich doch lieber unter der hauseigenen Sonnenbank räkelten und ob sie am nächsten Morgen mit dem Maserati oder doch lieber mit dem Ferrari zur Arbeit fuhren.


    „Da vorne ist es!“, sagte Kim Krüger und riss Jenny aus ihren Gedanken. Sie parkte ihren Dienstwagen zwischen dem Porsche, den Ben dort abgestellt hatte und dem schwarzen Bentley, der offensichtlich seinem Vater gehörte. Die beiden Frauen stiegen aus und gingen auf die Gruppe ihrer städtischen Kollegen zu, die auch vor wenigen Minuten erst eingetroffen waren. Den Polizisten blieb allerdings nicht viel Zeit um sich gegenseitig vorzustellen. Der besorgte Nachbar war ihnen sogleich entgegen gestürzt und berichtete mit aufgeregter Stimme, dass ihm trotz mehrmaligem Klingeln niemand die Tür geöffnet hatte. Während sich zwei der Polizisten um den Mann kümmerten, ihn zur Seite nahmen um ihn zu beruhigen und auch um weitere Informationen zu bekommen, machte sich der Rest der Truppe, ausgestattet mit kugelsicheren Westen und vorgehaltener Pistolen daran das große Haus zu stürmen. In Sekundenschnelle hatten sie die massive Haustür eingetreten und stürmten in die Villa.


    „Gesichert!“, erklang es vom Eingangsbereich aus, wenig später auch von der Küche und vom Wohnzimmer. Rasch verteilten sich die Polizisten in dem Gebäude. Frau Krüger und Jenny waren mit bei den Ersten, die nach oben in den 1. Stock stürmten.


    „Hierher!“, hörten sie kurz darauf einen der Beamten rufen. Sie folgten dem Ruf bis in das alte Arbeitszimmer am linken Ende des langen Flurs.


    Als Kim Krüger dicht gefolgt von Jenny den Raum betrat, fiel ihr Blick sofort auf die leblosen Körper der beiden Männer, die dort am Boden lagen. Der eine Mann war ganz offensichtlich russischer Abstammung. Und auch wenn es ihr so vorkam als hätte sie sein Gesicht schon mal irgendwo gesehen, konnte sie sich in dem Moment weder an das wann noch an das wo erinnern. Den anderen, ein älterer Mann mit grau meliertem Haar, hatte sie dagegen sofort erkannt. Es war der Hauseigentümer - Konrad Jäger.


    Sofort stürzte sie auf ihn zu. Sein weißes Hemd war auf der rechten Seite blutdurchtränkt und direkt darunter hatte sich eine kleine Blutlache auf den hellen Fußbodendielen gebildet. Links neben ihm war ebenfalls eine nicht unbeachtliche Menge an Blut zu sehen und Frau Krüger fiel es in dem Moment gar nicht auf, dass dieses Blut unmöglich von den Verletzungen des Bauunternehmers stammen konnte. Sie schaute in sein Gesicht, das vor Schmerz ganz verzerrt war. Der starre Blick in seinen Augen war zur Tür gerichtet.


    Obwohl sie es längst wusste, dass es sinnlos war, kniete sie sich neben ihn und legte ihre Hand auf seinen Hals, in der Hoffnung, dass sich ihr Verstand vielleicht geirrt hatte. Doch sie wartete vergebens auf den schwachen Pulsschlag unter ihren Fingern.


    „Der RTW ist schon auf dem Weg.“, wurde Frau Krüger vom Einsatzleiter der Kollegen informiert.


    „Ich glaube den brauchen wir hier nicht mehr.“ Langsam erhob sie sich und schaute in das entsetzte Gesicht von Jenny. Sie konnte sich in etwa vorstellen, was gerade im Kopf der jüngeren Kollegin vor sich ging. Ein Leichenfund war immer schlimm. Und dabei war es ganz egal, ob es sich um einen lang gesuchten Schwerverbrecher handelte oder „nur“ um einen unbeteiligten Passanten, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Doch ganz besonders schlimm war es bei Kindern oder wenn man das Opfer, wenn auch nur flüchtig, gekannt hatte, so wie jetzt.



    Einige Zeit später, als sie schon längst wieder draußen standen und nur noch das Team der Spurensicherung drinnen im Haus seine Arbeit machte, klingelte das Handy von Kim Krüger. Sie nahm es aus der Tasche und hielt es sich ans Ohr, ohne vorher auf das Display zu schauen.


    „Chefin, wir haben nur Semirs Wagen gefunden, von ihm selbst fehlt leider jede Spur.“, hörte sie Bonraths Stimme am anderen Ende der Leitung sagen. „Und angeblich hat ihn niemand von den Arbeitern hier gesehen.“


    „Ich hatte gehofft, wenigstens Sie hätten bessere Neuigkeiten.“, konnte Frau Krüger ihre Enttäuschung nicht verbergen.


    „Wieso, wie sieht’s denn bei Ihnen aus?“, fragte Bonrath alarmiert.


    „Wir haben Konrad Jäger und Igor Iwanow gefunden.“ Kim Krüger atmete tief durch. „Beide sind tot.“


    „Und Ben?“, wollte Bonrath dann wissen.


    „Nichts. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“

  • Obwohl das Licht des Blitzes schon längst wieder erloschen war, starrte Semir immer noch wie paralysiert auf die Stelle wo er ihn eben hatte liegen sehen – regungslos und das Gesicht blutüberströmt.


    Und dann hielt er es nicht mehr aus. Er schrie. Er schrie Bens Namen so laut wie er konnte. Aber als kurz darauf ein weiterer Blitz vom Himmel zuckte, lag Ben immer noch mit geschlossenen Augen da, genauso leblos wie vorher. Semir hatte nicht genau sehen können, woher das viele Blut tatsächlich kam, dafür hatte das Licht nicht ausgereicht. Aber der Anblick seines schwer verletzten Partners hatte in ihm eine Welle von Wut und gleichzeitig auch von Hoffnungslosigkeit ausgelöst. Und diese Hoffnungslosigkeit breitete sich immer weiter in ihm aus, bis sie die Wut bei weitem überwog. Denn Semir wusste, dass er Ben nicht helfen konnte, dass er zur Untätigkeit verdammt war, ganz egal wie sehr er sich dagegen wehrte. Trotzdem nahm er noch einmal all seine Kraft zusammen und versuchte sich entgegen jeglicher Vernunft wieder und wieder von den Handschellen zu befreien. Doch es war sinnlos, es ging nicht, er kam nicht los. Er konnte nichts tun, gar nichts und das machte ihn fertig, mehr noch, es machte ihn schier wahnsinnig.


    Schwer atmend sank er schließlich auf die Knie. Voller Verzweiflung versuchte Semir sich gegen das zu wehren, was ihm sein Verstand ununterbrochen eintrichterte. Dass es sowieso schon zu spät war und keinen Sinn mehr hatte, dass Ben schon längst tot war. Doch Semir wollte es nicht wahr haben. Ben war nicht tot! Er konnte nicht tot sein! Er durfte einfach nicht tot sein! Nicht nachdem was sie schon alles gemeinsam erlebt und durchgestanden hatten! Schwindel überkam Semir und er suchte Halt an der Wand, an der er angekettet war. Er war sich nicht sicher, ob er es ein weiteres Mal durchstehen könnte oder ob er diesmal am Tod eines Partners zerbrechen würde. Schon viel zu oft hatte er den schmerzlichen Verlust erleben und danach alleine neu anfangen müssen. Und Semir war sich auch nicht sicher ob er, falls er ohne Ben aus der Sache hier rauskommen sollte, seine Zukunft überhaupt noch bei der Autobahnpolizei sehen konnte.


    Mit diesen Gedanken wurde er unweigerlich an den letzten Nachmittag mit Ben in der PASt erinnert. Obwohl sie nicht direkt im Streit auseinander gegangen waren, kam es Semir trotzdem so vor. Weil er sich Vorwürfe machte. Ben hatte seinen Vater in Schutz genommen, obwohl alles gegen ihn sprach. Und er? Was hatte er selbst getan? Warum hatte er sich nur an die verdammten Fakten gehalten, ohne Bens Einstellung genauer zu hinterfragen? Warum hatte er sich nicht einfach auf seine Seite geschlagen, zu ihm gehalten, so wie es Freunde eben taten? Dann wäre Ben sicherlich nicht alleine von der PASt weggefahren. Semir wäre bei ihm gewesen und er hätte vielleicht verhindern können, dass Ben verletzt wurde. Doch er hatte es nicht verhindert, er hatte versagt, nicht nur als sein Partner sondern vor allem als sein Freund. Wie sehr wünschte Semir jetzt er könnte die Zeit noch einmal zurück drehen und sich dann anderes entscheiden. Doch das ging nicht, er war im hier und jetzt und er konnte Ben noch nicht einmal sagen dass ihm sein Handeln leid tat – und er hatte vielleicht auch niemals mehr die Gelegenheit dazu.







    „Dann stammt das Blut, das ihr neben der Leiche von Konrad Jäger gefunden habt, also von Ben?“, fragte Susanne ihre Kollegen, die sich mangels konkreter Hinweise und zur Besprechung des weiteren Vorgehens erst einmal wieder in der PASt eingefunden hatten. Draußen tobte ein heftiges Gewitter, der Regen wurde vom starken Wind an die Fensterscheiben gepeitscht und in unregelmäßigen Abständen erhellte ein Blitz für wenige Sekunden die stockfinstere Nacht.


    „Ja, das hat zumindest der DNA-Schnelltest ergeben.“, bestätigte Kim Krüger. „Aber solange wir keine weiteren Anhaltspunkte haben, können wir nur spekulieren, was sich dort im Hahnwald abgespielt hat.“


    „Genau wie in der Firma von Bens Vater.“, überlegte Dieter laut „Semir verschwindet ja schließlich nicht einfach so.“


    „Da muss es einen Zusammenhang geben.“, fügte Hotte nachdenklich hinzu.


    „Aber welchen?“, fragte Jenny ungeduldig und verschränkte die Arme vor der Brust.


    In den Moment klingelte das Telefon auf Susannes Schreibtisch und alle schauten erwartungsvoll auf. Wer rief jetzt an? Gab es endlich erste Hinweise? Oder war es vielleicht sogar Semir? Oder Ben?


    Susanne nahm den Hörer ab. „Hartmut!“, begrüßte sie den KTU-Techniker. „Warte, ich stell dich mal auf Laut.“, sagte sie dann und aktivierte die Lautsprecherfunktion, damit die anderen mithören konnten.


    „Ich habe einen Bekannten beim Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf, der mir noch einen Gefallen schuldet.“, begann Hartmut. „Er hat mich eben angerufen und mir die ersten Ergebnisse aus der Ballistik durchgegeben. Und jetzt haltet euch fest: Die Projektile, mit denen Konrad Jäger und Igor Iwanow getötet wurden, stammen alle aus Bens Dienstwaffe.“


    „Was?!“, fragten Hotte und Dieter beinahe gleichzeitig.


    „Das kann nicht sein!“, warf Jenny erschrocken ein.


    „Ben würde doch niemals seinen eigenen Vater erschießen.“, empörte sich Susanne.


    „Das kann ich mir auch nicht vorstellen.", pflichtete Hartmut ihr bei. "Ich habe denen gesagt, die sollen das Ergebnis noch mal genau überprüfen. Da ist mit Sicherheit irgendetwas schief gelaufen.“


    "Okay, Hartmut. Melde dich wieder sobald du etwas Neues weißt, ja?"


    "Ja, mache ich.", erwiderte der KTU-Techniker und legte auf.


    „Was wenn er es wirklich getan hat?“, fragte Kim Krüger, ganz in Gedanken versunken, mehr zu sich selbst.


    „Sie glauben das wirklich?“, fragte Jenny entsetzt und starrte ihre Chefin fassungslos an.


    Doch sie hatte die Frage gar nicht mitbekommen. Einzelne Gesprächsfetzen von dem Telefonat mit Frau Dr. Bauer drangen wieder in ihr Gedächtnis:


    „… in der Klinik hat er einen Mann schwer verletzt…“


    „… er ist gefährlich und unberechenbar…“


    „… zwischendurch hat er Momente, da ist er völlig klar und rational…“


    „… er hat keinerlei Krankheitseinsicht gezeigt, im Gegenteil, er glaubt ihm wolle jemand etwas anhängen, was die Sache noch viel schwieriger macht…“


    Was wenn die Frau Recht hatte? Was wenn es stimmte? Wenn Ben Jäger wirklich an einer Psychose erkrankt war und seinen Vater und den Russen erschossen hatte?


    „Frau Krüger?“


    „Chefin?“


    Kim Krüger starrte perplex in die fragenden Gesichter ihrer Mitarbeiter. Sie hatte ihnen das Telefonat mit der Psychiaterin bisher verschwiegen. Außer ihr wusste nur Gerkhan davon. Und der war jetzt genau wie Jäger auf mysteriöse Weise verschwunden.







    Semirs Gedanken rasten nur so. Er grübelte darüber was sich wohl in den letzten Stunden bei Ben abgespielt hatte und wie er zu seiner Verletzung gekommen war. Hatte er eine Auseinandersetzung mit seinem Vater gehabt? Oder hingen diese Typen da mit drin, die ihn überwältigt hatten, nachdem er das Koks auf dem Firmengelände von Konrad Jäger gefunden hatte? Welches Spiel wurde hier gespielt? Wieso hatte Konrad Jäger seinen Sohn in die Klinik einweisen lassen und wieso behauptete diese Stationsleiterin er sei an einer Psychose erkrankt? Und was hatte es mit diesem Video auf sich, dass sie der Krüger auf den PC geschickt hatte? War das wirklich Ben gewesen, der im Büro seines Vaters austickte und die Angestellten mit einem Messer bedrohte? Semir hatte seine Zweifel daran und auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Da war doch dieser seltsame Typ gewesen, dem er vor einigen Tagen auf dem Gelände der Konrad Jäger AG hinterher gerannt war. Von hinten hatte der Kerl ausgesehen wie Ben - und in dem Video war Ben auch nur von hinten zu sehen. Das konnte doch unmöglich ein Zufall sein!


    Dann war es gar nicht Ben gewesen sondern sein Doppelgänger und das Video war ein Fake! Semir konnte nur hoffen, dass Frau Krüger das ebenfalls erkannte und sich nicht in die Irre führen ließ! Sie musste die Ermittlungen auf jeden Fall in die richtige Richtung lenken!


    Semir wusste nicht wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Es war immer noch stockdunkel als er plötzlich aufschreckte, weil er von draußen Stimmen gehört hatte. Kurz darauf machte sich jemand an der Tür des Bauwagens zu schaffen.

  • Die Tür wurde entriegelt. Zwei Männer betraten nacheinander den Bauwagen, wo einer von ihnen das Licht anschaltete. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit kniff Semir direkt die Augen zusammen, doch er zwang sich sofort sie wieder zu öffnen. Blinzelnd schaute er zu den Kerlen herüber. Der eine hatte eine kräftige Statur, wohingegen der andere eher klein und zierlich wirkte.


    „Na, ausgeschlafen?“, begrüßte der Kleinere ihn mit einem höhnischen Grinsen und schaute dann zu seinem Komplizen. „Ich hatte ja schon befürchtet, dass Billy mit seiner Drahtschlinge ein bisschen übertrieben hat, aber so wie es aussieht habe ich mir wohl ganz umsonst Sorgen gemacht.“


    „Ihr werdet bald noch ganz andere Sorgen haben.“, zischte Semir ihm drohend zu.


    „Wart‘ es ab, Bulle.“, erwiderte der Kleine, während er ein braunes Fläschchen mit wässrigem Inhalt aus seiner Jackentasche nestelte. „Deine schlauen Sprüche werden dir schon noch vergehen.“


    Semir aber nahm keine Notiz von diesen Worten, sie waren schon gar nicht mehr richtig zu ihm durchgedrungen. Denn während der Kerl noch redete, hatte er seinen Blick auf Ben gerichtet und starrte erschrocken in das blutüberströmte Gesicht seines Partners.


    Erst jetzt bei ausreichend Licht war das volle Ausmaß der Verletzung sichtbar geworden und Semir konnte seinen Blick gar nicht mehr abwenden, von der grabenförmigen Wunde an Bens linker Kopfseite, die sich von der Schläfe bis weit hinter sein Ohr zog und ganz offensichtlich für den furchtbaren Anblick verantwortlich war, der in Semir eine Mischung aus Schuldgefühlen, Wut und Angst ausgelöst hatte, zusätzlich zu den zwei Fragen, die sich so dicht in den Vordergrund drängten. Wie viel Blut konnte ein Mensch verlieren bis er starb? Und wie viel Blut hatte Ben bereits verloren?


    „Ist er schon tot?“, fragte der Stämmige mit leicht verunsicherter Stimme.


    „Was fragst du mich!?“, blaffte der Kleine ihn an. „Geh hin und sieh nach!“


    Nur zögernd näherte er sich dem am Boden liegenden Polizisten. Um zu überprüfen ob noch Leben in ihm war, musste er nach seinem Puls fühlen, doch an den Handgelenken und am Hals, wo er dies hätte tun können, war überall Blut, zum Teil schon Geronnenes und er ekelte sich so vor geronnenem Blut. Er überlegte kurz ob er sich nicht auch anders behelfen konnte. Und dann kam ihm auch schon eine Idee. Er holte sein Handy, ein altes Modell mit Wähltasten und einem kleinen Display, aus der Hosentasche und hielt es Ben vor Mund und Nase. Als er es kurz darauf wieder wegnahm und zu sich herumdrehte, war das Display beschlagen.


    „Er lebt noch!“, verkündete der Stämmige voller Stolz auf sich selbst, da er ganz alleine auf die Idee mit dem Handy gekommen war.


    Semir atmete auf. Ganz erleichtert von diesen drei Worten, spürte er wie sich wieder etwas Hoffnung in ihm regte. Hoffnung, von der er in den letzten Minuten schon geglaubt hatte sie für immer verloren zu haben.


    „Na schön.“, brummte der Kleine. „Jetzt komm her und hilf mir.“ Voller Konzentration öffnete er den Verschluss des Fläschchens und zog eine Pipette, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, heraus.


    „Was ist das?“, wollte der Stämmige wissen, während er sein Handy wieder einsteckte.


    Eindringlich sah der Kleine seinen Komplizen an. „Du weißt, wir können uns jetzt kein Risiko leisten. Nicht nachdem, was sich bei Winkler abgespielt hat. Es muss ab jetzt alles glatt gehen.“ Er hielt dem Stämmigen das Fläschchen hin, so dass der das Etikett lesen konnte. „Und das ist unsere Garantie dafür.“, grinste er verheißungsvoll.


    Semir hatte der Unterhaltung der beiden keine Beachtung geschenkt. Seine ganze Aufmerksamkeit war immer noch auf Ben gerichtet und so merkte er auch nicht wie der stämmige Kerl von hinten an ihn herangetreten war.





    Es hielt nicht lange an als Ben das erste Mal zu sich kam. Alles was er in dieser kurzen Zeit wahrnehmen konnte, war der schreckliche, scheinbar unendliche Schmerz, der sich wie ein Schraubstock um seinen Kopf festgezogen hatte. Dazu kam das fast unerträgliche Druckgefühl auf beiden Ohren und das hochfrequente Pfeifen, dass in seinem Kopf dröhnte, so laut und übermächtig, wie er noch nie zuvor ein Geräusch gehört hatte. Das alles vereinnahmte ihn so sehr, dass er unmöglich im Stande gewesen wäre auch nur für eine Sekunde einen klaren Gedanken zu fassen. Es war weit mehr als eine Erlösung für ihn als er endlich wieder das Bewusstsein verlor.


    Als Ben das zweite Mal zu sich kam, blieb ihm abermals kaum Zeit bevor er wieder wegsackte. Der Schmerz in seinem Kopf war noch genauso da wie beim ersten Mal, doch der Druck auf seinen Ohren und das laute Pfeifen hatten etwas an Intensität verloren. Aber dafür quälte ihn jetzt ein fürchterlicher Durst. Er brauchte so dringend etwas Flüssigkeit. Jetzt sofort!
    Ben wollte die Augen öffnen, doch seine Augenlider schienen tonnenschwer und alle Versuche, sie oben zu halten scheiterten kläglich und ganz erschöpft von dieser kurzen Anstrengung holte ihn die Dunkelheit auch schon wieder ein.





    Da! Er hatte gerade gesehen wie seine Augenlider flatterten! Er hatte es genau gesehen!


    „Ben!!!“ Voller Aufregung rief Semir den Namen seines Partners. „Ben, kannst du mich hören?“ Mit unbeschreiblicher Spannung wartete er darauf, dass Ben in irgendeiner Weise auf seine Worte reagierte.


    Aber er tat es nicht. Stattdessen hatte der Stämmige seinen kräftigen Arm um Semirs Hals gelegt und leicht zugedrückt.


    „Mach die Augen auf und schau zu mir hoch!“, herrschte er ihn an. Doch Semir dachte gar nicht daran dieser Forderung nachzukommen. Seinen Blick immer noch fest auf Ben gerichtet, hoffte er weiterhin auf ein Lebenszeichen von ihm.


    „Los, sieh zu mir hoch!“, forderte der Dicke erneut und verstärkte gleichzeitig den Druck um Semirs Hals. Doch Semir reagierte auch darauf nicht. Er hätte sich in dem Moment wohl eher erwürgen lassen, als sein Blick von Ben abzuwenden. Erst als der Kleine seine Pistole aus dem Gürtel zog und drohend auf Semirs Partner richtete, kam der endlich der Aufforderung nach.


    Semir durchschaute sofort was ihm blühte, doch er hatte keine Chance etwas dagegen zu unternehmen. Seine verzweifelten Abwehrversuche wurden durch die gefesselten Hände und den Würgegriff auf das Minimalste reduziert. So konnte er nicht verhindern, dass der Kerl ihm mehrere Tropfen der durchsichtigen Flüssigkeit gewaltsam in beide Augen träufelte.


    Semir rechnete sofort mit dem Schlimmsten, doch als der Kerl von ihm abließ, passierte zunächst gar nichts. Die Tropfen in seinen Augen brannten nicht, sie taten ihm auch überhaupt nicht weh. Doch dann begann sich seine Sicht zu verändern. Semir blinzelte. „Was soll der Scheiß?“, schrie er. Panik stieg in ihm auf. Er versuchte das Zeug wegzublinzeln, doch vergebens. Seine Sehkraft schien von Sekunde zu Sekunde schlechter zu werden. Ben, den er eben doch klar und deutlich dort am Boden hatte liegen sehen, war jetzt zu einem undeutlichen Schatten verschwommen - so wie auch alles andere um ihn herum.


    Semir schloss für einen kurzen Moment die Augen, als könnte er auf diese Weise dem Spuk entgehen, doch als er sie wieder öffnete, starrte er in völlige Dunkelheit. Er konnte nichts sehen! Verdammt, er konnte gar nichts mehr sehen! Die Erkenntnis schlug über ihm zusammen, wie die Welle über einem Ertrinkenden. Semir hätte schreien können, doch er brachte keinen einzigen Laut über die Lippen. Tief erschüttert lehnte er sich seitlich an die Wand, die ihm als einzige Orientierungshilfe geblieben war.


    „So!“, klatschte der Kleine begeistert in die Hände „Dann kann es ja jetzt los gehen, wo wir alle vorbereitet sind. Lass uns den hier zuerst raus bringen.“, wies er seinen Komplizen an und deutete auf Ben.


    „Wenn er Glück hat, verreckt er schon, bevor Billy ihn nachher in die Finger kriegt.“, überlegte der Stämmige laut als sie Ben hochgehoben hatten und ihn gemeinsam in Richtung Tür trugen.


    „Da hast du wohl recht.“, stimmte der Kleine ihm zu und an Semir gewandt rief er: „Bete für ihn, dass er die Fahrt nicht überlebt!“


    „Ihr Schweine!“, stieß Semir heiser hervor. „Ihr elenden Schweine!“ Kraftlos lehnte er immer noch an der Wand und versuchte irgendwie den Schock zu verarbeiten, den der Verlust des Augenlichts mit sich gebracht hatte. Von draußen hörte er wie die Schiebetür eines Autos geöffnet wurde, wie die Männer miteinander sprachen, wie der eine von ihnen lachte und wie dann die Schiebetür wieder zugezogen wurde.


    „Warum legen wir sie eigentlich nicht direkt hier um?“, maulte der Stämmige, als die beiden kurz darauf den Bauwagen wieder betreten hatten.


    „Weil sich der Boss etwas anderes für sie ausgedacht hat.“, knurrte der Kleine genervt.


    „Wer ist denn euer Boss, ha?“, schrie Semir ihnen entgegen, als er hörte wie sie auf ihn zukamen.


    „Nun, der Boss hat viele Namen.", antwortete der Kleine geheimnisvoll. "Du kennst ihn wahrscheinlich unter dem Namen Felix Winkler.“


    „Winkler!“, schrie Semir verächtlich. Das war doch der unsympathische lange Kerl mit den stechenden blauen Augen gewesen, den er gesehen hatte, als er bei Konrad Jäger in das Meeting geplatzt war und dessen Name Susanne in keiner Datenbank hatte finden können.


    „So, und der Kerl will uns jetzt also umlegen lassen?!", schrie Semir ungehalten. "Zweifacher Polizistenmord! Wisst ihr überhaupt was das für euch bedeutet? Ha, wisst ihr das?“, schrie er weiter. Er hatte das Gefühl, dass er die Situation besser ertrug wenn er schrie.


    „Du bist nicht der Erste den wir umgelegt haben und wirst auch nicht der Letzte sein, das verspreche ich dir.“, säuselte der Kleine dicht an Semirs linkem Ohr, welcher dabei seinen abstoßenden Atem von RedBull und Zigaretten riechen konnte.


    Mit geübten Handgriffen hatte der Kerl Semir die Handschellen abgenommen und ihn dann am rechten Oberarm gepackt. „So und jetzt komm.“, forderte er ihn auf und zog ihn ohne abzuwarten hinter sich her. Unsicher und nur ganz langsam folgte Semir ihm durch die Dunkelheit. Jetzt hatte er zwar die Hände frei, doch was nützte ihm das? Selbst wenn es ihm gelingen sollte, den schmächtigen Kerl zu überwältigen, würde er blind wie er war, gegen den Stämmigen keine Chance mehr haben. Ohne sein Augenlicht war Semir verloren und mit jedem Schritt wurde ihm seine Hilflosigkeit deutlicher bewusst. Es blieb ihm vorerst nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben und so folgte er dem Kerl ohne Widerstand zu leisten nach draußen bis zum Auto. Dort angekommen fesselte der Dicke ihm die Hände mit einem Kabelbinder auf den Rücken, wobei Semir zu einem kleinen Vorteil gelangte. Der Kerl hatte nicht genau darauf geachtet wo sich das Plastikband befand als er die Schlaufe zugezogen hatte, und Semir frohlockte innerlich als er merkte wie sich der Kabelbinder nicht direkt um seine Handgelenke sondern etwas weiter unten um seine zu Fäusten geballtem Hände schloss, und ihm so noch einen brauchbaren Spielraum hinterließ.


    Während der Stämmige um das vor ihnen stehende Fahrzeug herum ging und sich hinter das Steuer setzte, wurde Semir von dem Kleinen dazu aufgefordert auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Was sich in seiner Lage sowieso schon als schwierig gestaltete, wurde durch den hohen Einstieg des Fahrzeugs noch weiter erschwert und Semir hatte große Mühe den Sitz zu erreichen.


    „Okay!", sagte der Kleine dann zu seinem Komplizen, als Semir seinen Platz endlich gefunden hatte. "Du fährst schon mal vor. Ich werde derweil den Bauwagen ein bisschen in Brand setzen um unsere Spuren zu verwischen und in einer Stunde treffen wir uns an der alten Kiesgrube. Der Junge wird übrigens mit den beiden zusammen dort hingerichtet. Er weiß zu viel. Außerdem ist er einer von Iwanows Leuten. Noch ein Grund mehr um ihn loszuwerden.“ Noch bevor er die Beifahrertür zuschlug wandte er sich an Semir und verabschiedete ihn mit den Worten: „Genieß‘ die Fahrt, Drecksbulle. Es wird deine Letzte sein.“


    Kurz darauf wurde der Motor gestartet und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Aufgrund des Geräuschs der Schiebetür und des erhöhten Einstiegs vermutete Semir, dass sie in einem Sprinter oder einem ähnlichen Lieferwagen unterwegs sein mussten. Und sie waren noch nicht allzu weit gefahren, als er bereits versuchte seine gefesselten Hände von dem Kabelbinder zu befreien, was ihm nach wenigen Versuchen dann tatsächlich auch gelang.


    Ein leichtes Glücksgefühl durchströmte ihn und Semir wagte es wieder neuen Mut zu fassen. Er dachte an Andrea und die Kinder. Er hatte ihnen versprochen, dass er immer zu ihnen zurückkommen würde. Er hatte es ihnen versprochen! Semir beschloss fest sich zu wehren. Er konnte zwar nicht sehen auf welchem Weg sie fuhren und er war auch nicht in der Lage das Fahrzeug selbst zu steuern, doch wenn sie glaubten, die Blindheit allein würde ihn aufhalten können, dann hatten sie sich geirrt! Solange das Herz in seiner Brust noch schlug und der Verstand in seinem Kopf noch arbeitete, würde er nicht kampflos einfach so aufgeben! Nein, er würde alles dafür tun, dass diese Fahrt ihren Zielort nie erreichte - und er wusste auch schon wie.


    Doch es gab einen Grund, weshalb er noch zögerte. Er dachte an Ben, der hinten auf der Ladefläche des Lieferwagens lag. Ihm in seinem ohnehin schon so kritischen Zustand auch noch einen Autounfall zuzumuten, war mehr als fahrlässig, es war Wahnsinn! Doch was blieb ihnen für eine Wahl? Und was hatten sie zu verlieren?


    Semir rang noch einen Moment mit sich, obwohl er tief in seinem Inneren schon wusste, dass er in seiner Verzweiflung die Entscheidung längst getroffen hatte - und dann handelte er.


    Er lehnte sich nach vorne und griff dem Stämmigen während der vollen Fahrt ins Lenkrad. Mit beiden Händen riss er es mit aller Gewalt zu sich herum.

  • Noch bevor der Stämmige richtig realisieren konnte was da gerade geschah, nahm das Unglück auch schon seinen Lauf. Durch das abrupt herumgerissene Lenkrad vollzog der Transporter eine schlagartige Rechtsdrehung, die eingeschlagenen Vorderräder blockierten und den Rest erledigte die Schwerkraft. Angesichts der hohen Geschwindigkeit hatte der schwungvolle Richtungswechsel nicht nur für eine völlige Übersteuerung des Wagens gesorgt sondern auch gleichzeitig für einseitiges Übergewicht. Und das Fahrzeug kippte.


    Der Dicke schrie erschrocken auf, denn im Gegensatz zu Semir konnte er den steilen Abhang sehen, der sich rechts neben der Straße befand und der sich ihnen nun unaufhaltsam näherte. Mit seiner ganzen Kraft trat er noch auf die Bremse, doch dafür war es längst zu spät. Viel zu weit hatte sich das Fahrzeug schon zur Seite geneigt. Mit dem Dach voran stürzte der Sprinter seitlich den Abhang hinunter wo er sich auf dem Weg nach unten zweimal überschlug und dann auf der Seite liegend einige Meter über den Waldboden rutschte, bis er endlich von einer Reihe kräftiger Bäume gestoppt wurde.


    Semir hatte noch versucht sich irgendwo festzuhalten, als er merkte wie das Fahrzeug kippte, doch es ging alles viel zu schnell. Schon wurde er von seinem Sitz gerissen und durch den Fahrerraum des Transporters gewirbelt, begleitet von einem unnatürlich lautem Poltern und dem Geräusch von splitterndem Glas. Es dauerte alles nur wenige Sekunden, trotzdem kam es ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, bis er bei dem zweiten Überschlag durch die Frontscheibe nach draußen auf den Waldboden geschleudert wurde.


    Benommen und desorientiert blieb er liegen. Sein Körper schien von unzähligen schmerzhaften Prellungen übersäht und der Sturz durch die Frontscheibe hatte ihm zahlreiche große und kleine Schnittwunden an Kopf und Händen beschert.
    Semir hätte gar nicht sagen können, welche Stelle seines Körpers nicht wehtat und er wurde das beklemmende Gefühl nicht los, dass die verdammte Dunkelheit um ihn herum die Schmerzen noch zusätzlich verstärkte. Er wagte es gar nicht die Gedanken zu Ende zu denken was passieren sollte, wenn er sein Augenlicht wirklich für immer verloren hatte… Wenn er die Menschen, die er am meisten liebte nie mehr wieder sehen würde...


    Doch das alles war mit einem Mal vergessen, als er die Schreie hörte. Die Schreie von der Stimme, die er unter tausenden erkannt hätte und die jetzt vom Inneren des Fahrzeugs zu ihm herüber drangen, so grausam und verzweifelt, dass ihm das Blut in den Adern gefror.


    Oft genug hatte er sie während seiner Laufbahn bei der Autobahnpolizei schon gehört. Die schrecklichen Schmerzensschreie der schwerverletzten Unfallopfer, die eingeklemmt in ihren Fahrzeugen saßen oder denen Teile ihres Körpers abgetrennt worden waren. Und oft genug hatten ihm diese Schreie einen kalten Schauer über den Rücken gejagt und ihn noch tagelang nach dem Ereignis verfolgt, obwohl er die betreffenden Personen gar nicht kannte, gar keine Verbindung zu ihnen hatte – ganz im Gegensatz zu jetzt.


    Die Schreie aus dem Innern des Fahrzeugs stammten nicht von irgendwem, dem irgendwas passiert war. Nein! Sie stammten von Ben, seinem Partner und Freund, ausgelöst durch einen Unfall, den er absichtlich herbeigeführt hatte.


    Scheiße, verdammte! Was hatte er nur getan?


    Semir blieb für einen Augenblick die Luft zum Atmen weg und wie sehr wünschte er es sich in diesem Moment, dass auch sein Herz aufhören würde zu schlagen - einfach so. Doch es hörte nicht auf, genauso wenig wie Ben aufhörte sich dort drinnen die Seele aus dem Leib zu schreien und Semir daran erinnerte, dass er noch gebraucht wurde, dass es noch nicht vorbei war.


    Hastig rappelte Semir sich auf. Mit nach vorne ausgestreckten Händen stürzte er drauf los, in die Richtung aus der die Schreie kamen. Gerade als er glaubte das Fahrzeug jeden Moment zu erreichen, stolperte er plötzlich über ein am Boden liegendes Etwas und fiel der Länge nach hin. Eigentlich blieb ihm keine Zeit dafür, doch nach dem er sich erneut aufgerappelt hatte, drehte Semir sich einer bestimmten Ahnung folgend trotzdem um und tastete mit den Händen nach der Stolperfalle. Und er hatte richtig gelegen. Er war nicht etwa über die Reste eines verfaulten Baumstammes gefallen sondern über einen menschlichen Körper. Der Stämmige! Das musste der Körper des Stämmigen sein! In Semirs Gedächtnis tauchten unweigerlich die letzten Bilder von dem Kerl auf, als er ihn noch hatte sehen können und er erinnerte sich daran wie der Dicke Ben das alte Handy vor das Gesicht gehalten und es sich kurz darauf in die Hosentasche gesteckt hatte. Das Handy! Hektisch tasteten Semirs Hände über den Körper des Mannes, von dem er nicht einmal wusste ob er tot oder nur bewusstlos war, doch das spielte in dem Moment auch keine Rolle. Semir konnte es sich nicht leisten noch länger bei dem Kerl zu verweilen und dessen Zustand zu überprüfen, als er das Handy endlich gefunden hatte. Eilig steckte er es ein und setzte seinen Weg fort.


    Nach nur wenigen Schritten hatte er dann endlich den Transporter erreicht. Fieberhaft begann er nach den Schiebe- oder Hecktüren zu suchen, was sich aber mehr als schwierig gestaltete, da das Fahrzeug auf der linken Seite lag und Semir verlor wertvolle Minuten bis er dies durch sein Abtasten erkannt und sich von der Fahrzeugunterseite bis nach hinten zu den Hecktüren gearbeitet hatte. „Gott sei Dank!“, entfuhr es ihm als er endlich den länglichen Griff unter seinen Händen fühlte. Jetzt hatte er Ben schon so gut wie erreicht. Doch er sollte sich geirrt haben. Denn als er an dem Griff zog um die Tür zu öffnen, passierte gar nichts. Irritiert und mit mehr Nachdruck versuchte Semir es erneut – und wieder ohne Erfolg. Als er zum dritten Mal ansetzten wollte, hielt er plötzlich mitten in der Bewegung inne und horchte. Er horchte in die Stille. In diese gespenstische Stille, die auf einmal in der Luft lag und die ihm noch viel mehr Angst einflößte wie Bens Schmerzensschreie vorhin - und die jetzt so plötzlich verstummt waren.


    „NEIN!! Nein, nein, nein!! BEN!!! Hey!! Heeey!! BEN!“ Außer sich schlug Semir mit der flachen Hand gegen die Hecktüren des Sprinters und riss abwechselnd immer wieder mit aller Gewalt an dem verdammten Türgriff. Aber sie öffneten sich auch darauf hin nicht und Semir spürte wie der letzte kleine Funken Hoffnung in seinem Herzen zu erlöschen drohte.


    Und jetzt war er es, der schrie. Von seinen starken Emotionen überwältigt schrie er alles heraus, die Wut, die Verzweiflung und seinen Schmerz. Doch es ging ihm nicht besser danach, im Gegenteil er zitterte am ganzen Körper und die Tränen rannen ihm in Strömen über das Gesicht, als er sich gegen das Fahrzeug lehnte, aus dessen Innerem kein einziger Laut mehr zu hören war. Weil er tot war! WEIL BEN TOT WAR!

  • Nein! Semir wehrte sich mit ganzer Kraft gegen diese Vorstellung. Den Gedanken an Bens Tod konnte er einfach nicht ertragen! Schon gar nicht unter diesen Umständen! Nicht wenn er sich selbst die Schuld daran gab!


    Er wusste, dass er sich niemals damit abfinden konnte – und das würde er auch nicht! Entschlossen rappelte er sich auf. Noch war es nicht vorbei! Noch hatte er nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Die Schiebetür! Er musste es mit der Schiebetür versuchen! Angetrieben von dieser neuen Idee, begann Semir das Heck des Wagens nach etwas abzutasten, das ihm als Aufstiegshilfe dienen konnte. Wenn er die Schiebetür erreichen wollte, musste er auf die Oberseite des umgekippten Fahrzeugs klettern. Ein Vorhaben, das unter normalen Umständen schon nicht so einfach, aber trotzdem machbar gewesen wäre, schien ihm in seiner Situation, in der ihm die Sehkraft fehlte, auf die er jetzt so dringend angewiesen war, vor eine unlösbare Herausforderung zu stellen. Und Semir merkte wie ihn die Verzweiflung und das Gefühl von völliger Hilflosigkeit zu überwältigen drohte.
    Doch es gab da noch etwas das stärker war, stärker als die Verzweiflung und das Gefühl der Hilflosigkeit. Etwas das einen Großteil von Semirs Charakter ausmachte, das ihn schon durch unzählige verhängnisvolle Situationen hindurchgetragen hatte und dafür sorgte, dass er niemals aufgab: Sein starker Wille, der nach wie vor ungebrochen war und der ihm auch jetzt die nötige Kraft und Ausdauer verlieh, die er brauchte um sich der Herausforderung zu stellen.


    Den Griff der Hecktüren erst noch mit beiden Händen fest umklammernd gelang es Semir nach mehreren Anläufen den linken Fuß in der Nummernschildhalterung einigermaßen sicher zu platzieren um den rechten Fuß auf die Anhängerkupplung zu stellen. Von dort aus ließ er den länglichen Griff los, tastete er sich mit den Händen vorsichtig nach oben und stemmte sich gleichzeitig, das Gewicht auf den rechten Fuß verlagernd, immer weiter hoch.


    Ohne die Möglichkeit sich über seine Augen zu orientieren, erforderte jede Handlung enorm viel Zeit – Zeit die er nicht hatte und die ihm noch schneller davon laufen sollte wie zunächst angenommen. Denn während er sich am Heck des Wagens nach oben arbeitete, hatten weitere Geräusche seine Aufmerksamkeit erregt. Jetzt wo Bens Schreie verstummt waren, war auch noch etwas anderes zu hören gewesen, etwas das zusätzliche Panik in Semirs Herzen schürte und dessen verräterisches Knistern er nur allzu gut kannte.


    Der Wind drehte genau in dem Moment, in dem es ihm endlich gelang die Oberseite des Wagens zu erreichen und ließ gleichzeitig seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Feuer! Das war Feuer! Er hatte den Geruch des Rauchs nun so deutlich in der Nase und konnte die Hitze der Flammen schon von weitem auf seiner Haut spüren. Fuck! Der Transporter brannte! Blieb ihm den wirklich gar nichts erspart?


    Semir konnte nur vermuten, dass der Motor des Sprinters nach dem Unfall in Brand geraten sein musste und dass sich das Feuer, angeheizt von dem kräftigen Wind, nun in Sekundenschnelle ausbreitete. Ohne Zeit zu verlieren kroch er auf allen Vieren voran, doch je näher er der Mitte des Fahrzeugs kam, desto stärker wurde die Hitze, die ihm entgegen schlug und desto größer seine Angst, dass es vielleicht schon zu spät war. Was wenn das Feuer die Schiebetür längst erreicht hatte? Was wenn es ihm den letzten Weg zu Ben bereits versperrte? War er dann gezwungen aufzugeben? Nein! Er würde es trotzdem versuchen! Mit allen Mitteln! Mit allem was er hatte und selbst wenn es das letzte war, was er tat!


    Stück für Stück tastete Semir sich weiter vor, immer näher an die Flammen heran, bis er nach bangenden Sekunden die
    Schiebetür endlich erreicht hatte und den Griff der Tür tatsächlich zu fassen bekam. Doch aus seiner jetzigen Position heraus würde er sie niemals öffnen können. Nicht, wenn er mit seinem Gewicht auf der Tür lag und sie so blockierte. Um die verdammte Tür öffnen zu können, würde er sich auf die Beifahrertür hocken müssen, was bedeutete, dass er noch näher an die Flammen heran musste, die sich bereits im kompletten Fahrerraum des Transporters ausgebreitet hatten und aus dem zerbrochenen Fenster der Beifahrertür züngelten. Was hatte Semir schon für eine Wahl? Seinen inneren Instinkt ignorierend näherte er sich vorsichtig der tödlichen Gefahr. Es wirkte so surreal auf ihn, das laute Knistern der Flammen zu hören und die enorme Hitze zu spüren, aber den hellen, lodernden Schein des Feuers einfach nicht sehen zu können. Die Hitzeentwicklung war mittlerweile extrem stark und Semir konnte nur ahnen, dass ihm wenn überhaupt nur wenige Sekunden blieben um die Tür zu öffnen. Jeden Moment rechnete er damit von den Flammen erwischt zu werden, als er sich am äußersten Rand des Fahrzeugs auf die Beifahrertür hockte. Er konnte ja nicht sehen, dass der rechte Ärmel seiner Jacke schon Feuer gefangen hatte, als er sich aus der jetzigen Position heraus nach vorne lehnte und nach dem Griff langte. Es wurde ihm erst klar, als er es geschafft hatte, die Tür anzuheben und dann auf der dafür vorgesehenen Schiene nach hinten zu schieben. Wenige Sekunden, die das Feuer gebraucht hatte um den Stoff seiner Jacke zu vernichten, ehe es direkt an seine Haut gelangte.


    Semir schrie gequält auf als er spürte wie sich die Flammen in seinen rechten Unterarm fraßen. Die Schmerzen brachen so heftig über ihn herein, dass er unweigerlich das Gleichgewicht verlor und durch die nun geöffnete Schiebetür in das Innere des Fahrzeugs stürzte. Dort landete er unsanft auf der rechten Seite, was seine Qual noch weiter verstärkte aber auch gleichzeitig dafür sorgte, dass die Flammen an seinem Unterarm erstickten. Der darauf folgende Geruch von verbranntem Fleisch löste bei Semir eine Mischung aus Ekel und Übelkeit aus und es war gut, dass ihm in dem Moment keine Zeit blieb um weiter darüber nachzudenken. Vorsichtig richtete er seinen Oberkörper auf. Hier im Inneren des Fahrzeugs herrschte eine fast noch unerträglichere Hitze, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Er rief den Namen seines Partners in die Dunkelheit, doch wie erwartet bekam er keine Antwort. Als Semir begann mit den Händen seine unmittelbare Umgebung nach Ben abzusuchen, stieß er schnell gegen etwas, das sich hart und metallisch anfühlte. Angespannt tastete er den Gegenstand ab und kam zu dem Schluss dass es sich um eine Metallkiste handeln musste. Er rückte die schwere Kiste zur Seite und suchte weiter. Es dauerte nicht lange bis er den nächsten Gegenstand unter die Finger bekam. Diesmal war es ein Brecheisen und kurze Zeit später hatte er eine Bohrmaschine in der Hand. Der Laderaum des Transporters war voll mit sämtlichem Gerät der Gauner und Semir dachte sich im ersten Moment gar nichts dabei als er wenig später gegen das abgebrochene Eisenrohr stieß, dass senkrecht vor ihm aus dem Boden zu ragen schien. Doch dann stutzte er plötzlich. Senkrecht? Seine Hände folgten dem Eisenrohr bis nach unten und Semir wurden mehrere Dinge gleichzeitig bewusst. Das Teil steckte nicht wie erst vermutet im Transporter sondern in dem leblosen Körper, der direkt vor ihm lag und der zu keinem anderen gehören konnte als zu seinem Partner, den er so verzweifelt gesucht hatte. Vom Entsetzen erfüllt tastete Semir über dessen blutdurchtränktes Hemd immer weiter bis er lokalisieren konnte, dass das Eisenrohr unterhalb von Bens rechtem Rippenbogen in seinen Körper eingedrungen sein musste. Semir schossen erneut die Tränen in die Augen, doch das war nicht nur seinen überwältigenden Emotionen geschuldet sondern auch dem beißenden Rauch des Feuers, das sich immer weiter im Laderaum des Sprinters ausbreitete und Semir daran erinnerte, dass er sich unmöglich noch länger hier drinnen aufhalten durfte.


    Und dann traf es ihn auf einmal wie der Schlag! Er hatte einen Fehler gemacht! In seiner erdrückenden Sorge um Ben hatte er gehandelt ohne darüber nachzudenken! Und jetzt saß er in der Falle! Das Feuer musste mittlerweile längst bis zur Schiebetür vorgedrungen sein und ein herausklettern unmöglich machen, aber selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte er Ben niemals durch diese Öffnung da oben nach draußen bringen können, dafür war er viel zu schwer und die verdammte Schiebetür viel zu weit weg. FUCK! Semir musste husten, der Sauerstoff im Inneren des Fahrzeugs wurde immer knapper. Was jetzt? Die Hecktüren - ihm blieben nur noch diese gottverdammten Hecktüren, die er schon von außen nicht hatte öffnen können. Er musste es trotzdem versuchen. Und dann fiel es ihm auf einmal wieder ein. Das Brecheisen! Er hatte doch ein Brecheisen in der Hand gehabt. Fieberhaft begann er nach der Stange zu suchen. Damit würde es ihm bestimmt gelingen die Türen aufzubrechen, damit würde er es schaffen, ganz bestimmt.
    Semir wurde immer hektischer als er das Brecheisen nicht finden konnte. Das konnte doch nicht sein, er hatte es doch vorhin noch gehabt, es musste doch hier irgendwo liegen. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Er verfiel regelrecht in Panik und wurde kurz darauf von einem weiteren Hustenanfall heimgesucht, der diesmal so heftig war, dass er sich auf die vor ihm liegende Metallkiste stützen musste. Der beißende Rauch des Feuers schien nun überall und Semir wusste, dass er seine Zeit nicht weiter mit der ziellosen Suche nach dem Brecheisen verschwenden durfte. Er musste jetzt sofort hier raus! Und Ben auch!


    Wieder rappelte er sich auf. Mit beiden Händen zog er die Metallkiste hinter sich her, bis er die Hecktüren des Lieferwagens erreicht hatte. Er hielt kurz inne und sammelte seine ganze restliche Kraft. Dann bückte er sich und hob die Kiste vom Boden auf. Sie war schwer, fast zu schwer um sie zu heben. Doch es war seine einzige Chance, seine einzige Hoffnung. Einen Plan B gab es nicht. Sollte das hier nicht funktionieren, waren sie verloren, alle beide!


    Semir schwankte als er mit der Kiste ein Stück weit ausholte und sie dann mit aller Kraft gegen die Hecktüren des Transporters schleuderte. Das Geräusch war unbeschreiblich laut, als die Metallkiste gegen die Innenseite der Hecktüren prallte und diese aus den Verankerungen riss. Doch Semir fehlte die Zeit um sich über seinen Erfolg zu freuen, er musste zurück zu Ben! Und er musste sich beeilen!


    Er hielt den Atem an um so gut es ging von dem beißenden Rauch verschont zu bleiben, als er sich umdrehte und sich auf den Weg zu seinem schwerverletzten Partner machte. Und obwohl er sich so beeilte, kam es ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, bis er ihn endlich erreichte. Ungeachtet der zahlreichen Verletzungen packte er Ben unter den Armen und zog in rückwärts aus dem brennenden Fahrzeug ins Freie, wo er erst nach einigen Metern stehen blieb, die ihm als geeigneten Sicherheitsabstand erscheienen, nur für den Fall dass der Sprinter explodieren sollte.


    Schwer atmend ließ sich Semir neben Ben auf die Knie sinken. Völlig erschöpft zog er nun das alte Handy aus seiner Hosentasche, das er dem Dicken abgenommen hatte. Er ließ seine zittrigen Finger erst mehrmals über die Tasten gleiten, ehe er zweimal auf die Taste drückte, welche er für die 1 hielt und einmal auf die Taste drückte, die er für die 2 hielt. Danach drückte er noch die Taste über der mutmaßlichen 1 und hielt sich das Telefon ans Ohr.


    Semir war so unendlich dankbar, als er hörte wie die Verbindung aufgebaut wurde und danach das Freizeichen ertönte.


    „Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst.“, meldete sich kurz darauf der Leitstellendisponent am anderen Ende der Leitung. „Wo genau ist der Notfallort?“, wollte er sofort wissen.


    „Was weiß ich!“, schrie Semir mit vor Schmerz verzerrter Stimme. „Irgendwo im Wald! In der Nähe von der alten Kiesgrube! Die haben gesagt, die wollten uns zur alten Kiesgrube bringen!“ Seine Stimme überschlug sich beinahe.


    "In der Nähe der alten Kiesgrube?", wiederholte der Einsatzsachbearbeiter. "Können Sie das genauer beschreiben? Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?"


    "Ich hab keine Ahnung! Ich weiß es wirklich nicht!", schrie Semir völlig überfordert.


    „Schauen Sie sich doch mal um und beschreiben Sie mir ganz genau was Sie sehen.“, forderte ihn der Mann mit ruhiger Stimme auf.


    „Ich kann doch nichts sehen, verdammt nochmal!“, brüllte Semir am Rande der Verzweiflung.


    "Okay, ich werde jetzt versuchen die Mobilfunkzelle aus der Sie anrufen zu lokalisieren um Ihr Handy orten zu können.", erklärte der Mann weiter ohne sich von der Aufregung des Anrufers anstecken zu lassen.


    Das Handy orten! Natürlich! Semir hatte in seiner Panik gar nicht an die Möglichkeit gedacht.


    „Wie ist denn Ihr Name?“, fragte der Einsatzsachbearbeiter und riss ihn damit aus seinen Gedanken.


    „Semir Gerkhan!“


    „Herr Gerkhan, sagen Sie mir jetzt genau was passiert ist.“


    Aufgewühlt schilderte Semir ihm mit wenigen Worten die Ereignisse der vergangenen Stunden und während er redetet, hatte er mit der linken Hand nach Bens Puls gefühlt. Doch er konnte ihn nicht finden, da war nichts, da war gar nichts. Und als er geendet hatte, war er sich sicher, dass er den Puls nicht gefunden hatte, weil er an der falschen Stelle danach suchte, sondern weil es ihn schlicht und ergreifend einfach nicht gab. Erneute Panik überfiel ihn.


    "Er hat keinen Puls mehr!", schrie Semir hektisch "Ich kann keinen Puls fühlen!"


    „Herr Gerkhan, wir konnten die Funkzelle lokalisieren, in der sie sich befinden. Polizei und Rettungsdienst sind zu Ihnen unterwegs. Bleiben Sie am Telefon. Wir kümmern uns jetzt um Ihren Kollegen.", erklärte der Einsatzsachbearbeiter und fragte weiter nach Bens Alter. Semirs prompte Antwort tippte er ebenfalls in die Software des Einsatzleitsystems ein, die dafür sorgte, dass diese Information, wie auch die vorherigen Infos welche er aus Semirs Bericht gewonnen hatte, sofort auf dem dafür vorgesehenen Display im RTW der herannahenden Rettungskräfte angezeigt wurde.


    "Hören Sie mir zu, ich erkläre Ihnen genau was Sie machen müssen.“, wies der Leitstellendisponent Semir mit ruhiger Stimme an. "Schalten Sie bitte erst den Lautsprecher des Handys ein und legen es neben sich auf den Boden. Sagen Sie mir, wenn Sie soweit sind."


    Semir kam der Anweisung nach. Er drückte nochmal auf die Taste, die sich über der 1 befand. Dann legte er das Handy auf den Boden und gab dem Mann bescheid.


    "Können Sie mich gut verstehen?"


    Semir bestätigte.


    „Liegt Ihr Kollege vor Ihnen auf dem Boden auf dem Rücken?“


    Er bestätigt wieder.


    „Dann machen Sie jetzt seinen Oberkörper frei. Knien Sie seitlich neben ihm. Legen Sie einen Handballen auf seine Brustkorbmitte. Legen Sie Ihren anderen Handballen auf die erste Hand.“


    Wieder kam Semir den Anweisungen nach. Die Haut von Ben fühlte sich so kalt und feucht an als er seine eigenen blutverschmierten Hände auf dessen Oberkörper platzierte.


    „Drücken Sie kräftig mit gestreckten Armen den Brustkorb tief nach unten. Zählen Sie dabei laut mit.", forderte der Einsatzsachbearbeiter. "1, 2, 3, 4,..“, gab er die Taktung vor.


    Am Anfang klappte es gut und der Disponent bestätigte ihn, doch dann begannen seine Verletzungen ihren Tribut zu fordern und Semir spürte wie seine Kräfte von Sekunde zu Sekunde nachließen. Immer wieder musste er von dem Einsatzsachbearbeiter neu eingetaktet werden, da er das vorgegebene Tempo nicht mehr halten konnte. Und immer wieder biss er erneut die Zähne zusammen und zwang sich weiter zu machen. Weiter, immer weiter. Er durfte nicht aufgeben! Das war er Ben schuldig! Und das war er sich selbst schuldig!


    Semir konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen wieder in Strömen über die Wangen liefen, ihm vom Gesicht tropfen und sich mit dem Blut auf Bens Oberkörper vermischten während er immer verbissener um dessen Leben kämpfte. So lange bis auch seine letzten Kraftreserven aufgebraucht und er am äußersten Rand der Erschöpfung angelangt war. Am ganzen Körper zitternd musste er innehalten und sich eingestehen, dass er es nicht schaffen würde bis die Rettungskräfte eintrafen. Er würde es einfach nicht schaffen!


    Doch dann hörte er sie! Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge! Endlich! Semir wandte sein tränenüberströmtes Gesicht in die Richtung aus der er die Rettungsfahrzeuge kommen hörte und es war ihm als wenn er für einen kurzen Moment das flackernde Licht der blauen Signalgeber ganz schwach zwischen den Bäumen hatte hindurchleuchten sehen, ehe er völlig erschöpft über Ben zusammenbrach.

  • Er fühlte sich völlig frei und leicht. Es war so angenehm ruhig und friedlich um ihn herum, es fühlte sich so sicher und gut an. Semir hätte ewig so daliegen können. Doch mit der Zeit verschwand dieses wohlige Gefühl. Es wich Panik und Anspannung als die Erinnerung an die vergangenen Stunden mit einem Schlag zurückkam. Semir wollte die Augen aufreißen, doch es ging nicht. Erst jetzt wurde ihm der leichte Druck um die Augenpartie bewusst. Er griff unwillkürlich an die Stelle und fühlte einen Verband unter seinen Händen. Ruckartig setzte er sich auf. Wo war er? Was war zuletzt passiert? Was war mit Ben?


    „Semir?!“, ertönte plötzlich eine Stimme neben ihm und er zuckte erschrocken zusammen, obwohl er den vertrauten Klang der Stimme sofort erkannt hatte. Innerlich verfluchte er die Dunkelheit, die so viel Unsicherheit mit sich brachte, die sonst überhaupt nicht seine Art war.


    „Andrea?“, fragte er ungläubig und dreht den Kopf nach links, in die Richtung aus der er ihre Stimme gehört hatte.


    „Ich bin hier.“ Vorsichtig ergriff sie erst seine linke Hand und dann konnte sie sich nicht länger zurück halten. Sie umarmte ihn ganz fest und als Semir ihren vertrauten Geruch einatmete schienen seine Sorgen für einen kleinen Moment einfach verschwunden zu sein. „Ich bin so froh, dass du endlich wach bist.“, gestand sie leise.


    „Wo sind wir hier?“, wollte Semir wissen während er ihre Umarmung erwiderte.


    „In der Uni Köln.“, antwortete Andrea und drückte ihn noch fester an sich, so als wenn sie ihn nie mehr loslassen wollte. „Semir, ich hab mir solche Sorgen gemacht.“, schluchzte sie gedämpft und er konnte fühlen wie ihr Körper bebte als die Anspannung der letzten Stunden endlich von ihr abfiel.


    „Es wird alles gut, mein Schatz, hörst du? Es wird alles gut.“, versicherte er immer wieder während er ihr sanft über den Rücken streichelte. Sie saßen noch eine ganze Weile so da, ehe Semir sich vorsichtig aus der Umarmung löste.


    „Was ist mit Ben?“, fragte Semir schließlich mit belegter Stimme nach seinem Partner.


    Andrea wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, bevor sie antwortete. „Die berufen sich hier alle auf die ärztliche Schweigepflicht, niemand will mir etwas Genaueres sagen. Ich weiß nur, dass sie ihn stundenlang operiert haben.“


    Sie kannte ihren Mann nur zu gut um zu wissen, dass ihm diese Antwort nicht ausreichte und so wunderte sie sich nicht, als er entschlossen die Bettdecke zurück schlug und Anstalten machte aufzustehen. Doch sie hinderte ihn daran und drückte ihn mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück. „Semir das bringt doch nichts! Er liegt auf der Intensivstation. Du kannst im Moment nichts für ihn tun. Außerdem ist es für dich wichtig, dass du im Bett bleibst und dich schonst. Dein Körper braucht jetzt Ruhe und die solltest du unbedingt einhalten.“, redete sie auf ihn ein und er gab sich überraschend schnell geschlagen.


    Semir hatte eingesehen dass es wohl tatsächlich am besten war, wenn er erst einmal liegen blieb. Dass Ben auf der Intensivstation lag bedeutete dass er am leben war und das war im Moment alles was zählte - also zumindest fast alles.


    „Was ist mit meinen Augen?“, sprach Semir dann endlich die Frage aus, die ihn schon so lange quälte und vor dessen Antwort er sich gleichzeitig auch so sehr fürchtete.


    „Der Arzt hat mir erzählt, dass dein Gesicht tränenüberströmt war, als sie dich gefunden haben und dass das dein großes Glück war. Die Tränen haben einen Großteil der schädlichen Flüssigkeit aus deinen Augen gespült, bevor sich der Wirkstoff der Tropfen dort richtig festsetzen konnte und dadurch irreparable Schäden entstanden wären.“


    „Und das heißt?“, unterbrach Semir ungeduldig.


    „Das heißt, dass die Heilungschancen gut stehen und du nach Abschluss der Behandlung wieder normal sehen kannst.“, teilte Andrea ihm die positive Prognose voller Freude mit und Semir selbst war es als wenn ihm nach diesen Worten ein ganzer Steinbruch vom Herzen fiel. Befreit von dieser erdrückenden Last atmete er tief durch, unendlich dankbar, dass er von der drohenden Blindheit verschont geblieben war.


    „Und der Verband? Wann kann ich ihn abmachen?“, fragte Semir und begann gleichzeitig mit den Fingern daran herum zu nesteln.


    Andrea nahm bestimmt seine Hände runter und hielt sie fest. „Den Verband nimmt morgen der Arzt ab und bis dahin bleibt er wo er ist.“, forderte sie. „Versprichst du mir das?“


    „Ich werde es versuchen.“, gestand Semir ehrlich, dem ein solches Versprechen sichtlich schwer fiel.


    „Okay“, grinste Andrea und lies seine Hände wieder los.


    „Wie geht es deinem Arm? Hast du Schmerzen?“, fragte sie mit Blick auf den dicken Verband der die Brandverletzung an seinem rechtem Unterarm verdeckte.


    „Nein, im Moment nicht.“, antwortete Semir leicht schläfrig und lies sich zurück in das Kissen sinken.


    Beruhigt sah sie wie er sich ein bisschen entspannte. Die Infusionslösung, welche ihm eine Krankenschwester vor seinem Aufwachen angehängt hatte, schien nun zu wirken und Andrea kam zu dem Schluss dass es wohl das Beste war, wenn sie ihn jetzt alleine ließ und ihm etwas Ruhe zu gönnen.


    „Semir, ich werde jetzt mal nach den Kindern schauen und später wieder bei dir vorbei kommen.“, informierte sie ihn als sie von dem Stuhl neben seinem Bett aufgestanden war.


    „Wo sind sie? Geht es ihnen gut?“, fragte Semir nach seinen Töchtern.


    „Ja, es geht Ihnen gut.“, bestätigte Andrea „Sie sind bei meinen Eltern.“


    „Richte den beiden die besten Grüße von mir aus und sag ihnen dass ich sie liebe. Aber bring sie bitte erst morgen mit, okay? Sie sollen mich nicht so sehen.“, bat er.


    „Ganz wie du willst.“, willigte Andrea ein und drückte Semir einen zärtlichen Kuss auf den Mund ehe sie sein Zimmer verließ.


    Obwohl Semir müde und erschöpft war, konnte er nicht wirklich schlafen. Immer nur für einen kleinen Moment nickte er ein, nur um kurz darauf wieder aufzuwachen. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er noch zu aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Stunden war oder ob es an der Sorge um Ben lag, die ihn nicht zur Ruhe kommen konnte. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem zusammen.


    Als Frau Krüger am Nachmittag bei ihm hereinschaute war er auch gerade wach. Nachdem sie erst gefragt hatte wie es ihm ging, erzählte sie wie Winkler und ein Teil seiner Leute noch in der letzten Nacht festgesetzt werden konnten. Sie berichtete ausführlich, was sie über Winkler, der auch unter den Namen David Kowalski und Hagen Novák bekannt war, herausgefunden hatte und das ihnen mit ihm Europas meist gesuchter Drogenboss ins Netz gegangen war. Semir war tief betroffen, als Frau Krüger den Tod von Bens Vater ansprach und noch mehr als er hörte durch welche Waffe er gestorben war. Doch im Gegensatz zu seiner Chefin teilte er die Auffassung keine Sekunde lang, dass Ben seinen Vater selbst mit seiner Dienstwaffe erschossen hatte. Vielmehr erzählte er eifrig von dessen Doppelgänger und seiner Erkenntnis mit dem gefakten Video, was als weiterer Beweis dafür sprach, dass Winkler Ben nicht nur die Psychose sondern jetzt auch noch den Mord an seinem Vater und dem Russen anhängen wollte. Semir bemühte sich redlich Kim Krüger von seinem Verdacht zu überzeugen und hatte am Ende auch ein recht gutes Gefühl, als sie ihm zusicherte in alle Richtungen zu ermitteln, bevor sie sich nach Bens Gesundheitszustand erkundigte und erzählte, dass es Susanne endlich gelungen sei Bens Schwester im Urlaub auf den Malediven zu erreichen und dass sie mit dem nächsten Flieger nach Deutschland kommen wolle, ehe sie sich dann davon Semir verabschiedete und ihren Besuch beendete.


    Nachdenklich blieb Semir zurück. Was zum Teufel hatte sich nur bei Ben und seinem Vater abgespielt? Und wie lange würde es noch dauern bis er mit ihm darüber sprechen konnte?


    Gegen Abend kam Andrea zurück. Sie hatte frische Kleidung mitgebracht und half Semir dabei sie anzuziehen. Und obwohl er es anfangs strikt ablehnte, half sie ihm auch beim Abendessen. Semir hasste das Gefühl auf Hilfe angewiesen zu sein und er konnte es kaum abwarten endlich den verdammten Verband um seine Augen loszuwerden. Die Gelegenheit dazu ergriff er später viel schneller als erwartet. Andrea war schon längst gegangen und eine der Nachtschwestern hatte vor wenigen Minuten nochmal bei ihm hereingeschaut und die inzwischen leere Infusionsflasche mitgenommen um sie gegen eine neue auszutauschen, als er es einfach nicht mehr länger aushielt.


    Durch die andauernde Dunkelheit schien sein Tag-Nacht-Rhythmus völlig durcheinander geraten zu sein und obwohl es mitten in der Nacht war konnte Semir einfach nicht einschlafen. Nachdem er sich mehrmals erfolglos von einer Seite auf die andere gedreht hatte, setzte er sich schließlich frustriert auf und beschloss den Verband abzunehmen und zwar jetzt sofort.


    Ohne zu zögern machte er sich daran den Verband zu lösen. Der Druck auf seinen Augen nahm immer weiter ab und Semir atmete tief durch. Gleich war es soweit. Ganz deutlich konnte er schon den Helligkeitsunterschied durch die noch geschlossenen Lider sehen und ein Hauch von Euphorie durchflutete ihn, der allerdings sofort wieder zunichtete gemacht wurde. Denn als er dann das Licht anschaltete, die Augen öffnete und vorsichtig ein paar Mal blinzelte sah er alles nur stark verschwommen. Maßlos enttäuscht rieb er sich die tränenden Augen und wartete einen Moment ab ob es mit der Zeit nicht doch noch etwas besser wurde, aber das wurde es nicht.


    An Schlaf war immer noch nicht zu denken und Semir nahm sich vor Ben einen Besuch abzustatten und heraufzufinden wie es ihm inzwischen ging. Er war jetzt immerhin in der Lage sich zumindest ein wenig über die Augen zu orientieren und so wollte nicht länger untätig in seinem Zimmer sitzen.


    Kaum war er auf den Flur getreten, lief ihm auch schon einer Nachtschwester über den Weg, die natürlich sofort auf ihn aufmerksam wurde. „Herr Gerkhan! Was machen Sie denn hier?“


    Semir stutze. „Sie wissen wer ich bin?“


    Die Schwester lächelte. „Ich glaube so gut wie jeder vom Klinikpersonal weiß wer Sie sind. Die Geschichte von Ihnen und Ihrem Partner ist hier im Moment das Gesprächsthema Nummer 1. Überall wird davon erzählt, wie Sie ihm das Leben gerettet haben, obwohl sie selbst schwer verletzt waren. Sie sind wirklich ein Held.“, sagte die junge Schwester beinahe ehrfürchtig.


    Semir lächelte verlegen. „Ich bin sicher jeder andere in meiner Situation hätte genau das Gleiche getan.“


    „Das glaube ich nicht.", widersprach sie ihm sofort. "Wenn es irgendetwas gibt, was ich für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen, okay?“


    „Ich glaube ich wüsste da schon was.“, nahm Semir das Angebt sofort an.



    Als er ihr kurz darauf auf die Intensivstation folgte, war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob ein Besuch bei Ben wirklich eine so gute Idee gewesen war. Er fühlte sich plötzlich doch wieder so müde und erschöpft und außerdem konnte er ja nur verschwommen sehen und als hätte die Schwester seine Gedanken erraten, sprach sie ihn auf den fehlenden Verband um seinen Kopf an. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass Dr. Kohlemann seine Meinung ändert und Ihnen den Verband heute schon abnimmt.“


    Semir antwortete nur mit einem kurzen „Tja“ und einem verlegenden Schulterzucken.


    „Wie klappt es denn mit dem Sehen?“, fragte sie weiter.


    „Ist noch ziemlich verschwommen.“, antwortete er wahrheitsgemäß.


    „Das ist am Anfang völlig normal und wird sich mit der Zeit geben,Sie werden schon sehen.“


    Erleichtert über diese Mutmaßung atmete Semir auf. Vor dem Betreten der Intensivstation benutzte die Nachtschwester den an der Wand angebrachten Desinfektionsspender und forderte Semir auf das Gleiche zu tun. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend folgte er ihr über den Flur bis zu seinem Zimmer auf der rechte Seite. Die Tür dorthin stand offen, so wie alle Türen hier.


    "Gehen Sie ruhig rein.", forderte die Pflegerin ihn auf. "Ich sag nur schnell der Kollegin hier bescheid."


    Semir kam der Aufforderung nach und auch wenn er Ben nicht klar und deutlich erkennen konnte, reichte seine Wahrnehmung doch völlig aus um ihm einen tiefen Stich ins Herz zu versetzen. Bis auf das monotone Summen der zahlreichen Apparate an die sein Partner angeschlossen war, herrschte eine tiefe Stille in Bens Krankenzimmer und Semir konnte nicht verhindern, dass es ihn leicht fröstelte.


    „Du weißt, dass er eigentlich gar nicht hier sein dürfte.“, hörte er vom Flur die vorwurfsvolle Stimme einer Frau.


    „Komm schon, in besonderen Fällen können wir doch mal eine Ausnahme machen, hm?“, versuchte die Schwester, die ihn hergebracht hatte ihre Kollegin überzeugen.


    „Du musst es dem Chef ja auch nicht erklären, wenn er ihn hier sieht.“, rechtfertigte die Intensivkrankenschwester.


    „Bitte!“, bettelte die Jüngere weiter. „Ich kenne außerdem niemanden, der das so charmant erklären könnte wie du.“, schleimte sie ein bisschen.


    „Na gut.“, willigte die Ältere schließlich ein. „Aber das bleibt wirklich eine Ausnahme! Nicht das du mir ab jetzt regelmäßig irgendwelche Helden hier hoch schleppst, klar?“


    „Klar!“, bestätigte die junge Pflegerin und lächelte dankbar.


    Kurz darauf brachte die Intensivkrankenschwester einen Stuhl in Bens Zimmer und stellte ihn neben das Bett, damit Semir sich setzen konnte.


    „Wie geht es ihm?“, wollte Semir wissen nachdem er sich für den Stuhl bedankt und darauf Platz genommen hatte.


    „Nun, es sieht nicht so gut aus.“, antwortete sie ausweichend. Bewusst verschwieg sie ihm die Details, die sie bei der Übergabe von ihren Kollegen erfahren hatte. „Wir müssen abwarten was die nächsten Stunden bringen. Sein Körper braucht jetzt vor allem Zeit um sich von den enormen Strapazen zu erholen.“, ergänzte sie noch, bevor sie das Zimmer verließ um nach einem anderen Patienten zu sehen.


    Semir saß für einen Moment einfach nur still da. Es war schlimm für ihn Ben so hilflos zu sehen und gleichzeitig zu wissen gar nichts für ihn tun zu können. Dann lehnte er sich nach vorne. „Hey Partner!“, flüsterte er leise. „Das ist völlig okay, wenn du jetzt erstmal Zeit brauchst. Nimm sie dir." Semir lehnte sich zurück. "Nur nicht so lange, okay?“, fügte er gerade noch hinzu, ehe ihm erschöpft die Augen zu fielen.



    Ben wurde von einer unendlichen Panik erfasst und dann von dem Schmerz, der sich unerbittlich in seinem Körper ausbreitete als er gefallen und hart mit dem Kopf aufgeschlagen war, nachdem der Mann auf ihn geschossen hatte. Der Mann, der nun über ihm stand und die Waffe erneut auf ihn richtete. Ben wollte zurückweichen, weg von dem Kerl, weg aus der tödlichen Schusslinie, doch es ging nicht. Er konnte sich einfach nicht bewegen. Obwohl er sich so sehr anstrengte kam er nicht von der Stelle, keinen Millimeter, er konnte überhaupt nichts tun. Noch mehr Panik durchflutete ihn. Wieder schaute Ben zu ihm hoch und jetzt konnte er sein Gesicht erkennen - das Gesicht seines Vaters. Verstört starrte er ihn an. Was sollte das? Warum tat er ihm das an? Er war doch sein Vater! Und dann drückte er ein zweites Mal ab. Die Kugel traf Ben in der rechten Seite und er stöhnte gequält auf. Ein Zittern durchlief seinen ganzen Körper. Doch der Mann schien immer noch nicht genug zu haben. Er beugte sich zu ihm herunter und drückte den noch qualmenden Lauf der Pistole mit aller Gewalt in die Schusswunde und Ben schrie, er schrie wie von Sinnen. Oder tat er das nicht?



    Semir schreckte auf als er am nächsten Morgen plötzlich durch das hektische Piepen der zahlreichen Apparate um Ben herum aus dem Schlaf gerissen wurde. Als er die Augen öffnete, stürmte auch schon das alarmierte Team aus Ärzten und Pflegern herein und auf die Frage was den mit Ben sei, wurde Semir einfach kommentarlos auf den Flur geschoben und die Tür zu Bens Zimmer geschlossen.


    Semirs Herz schlug bis zum Hals, als er durch das Fenster in der Tür beobachtete, wie das Klinikpersonal hektisch um das Bett seines Kollegen herumwuselte. Er hatte deutlich gesehen wie sich Bens Hände krampfhaft in das Bettlaken gekrallt hatten, kurz bevor sie ihn aus dem Zimmer verfrachteten und erst jetzt wurde ihm bewusst dass er diese Beobachtung nur hatte machen können weil wieder in der Lage war klar zu sehen.


    Für einen kurzen Moment war Ben bei Bewusstsein und getrieben von seiner Panik und dem Schmerz riss er auch gleich die Augen auf. Doch er war nicht in der Lage die zahlreichen Reize, die so plötzlich auf ihn einströmten zu verarbeiten. Heillos überfordert mit dem ganzen sackte er wieder weg und bekam schon nichts mehr davon mit wie der diensthabende Arzt prüfend erst sein linkes Augenlid nach oben schob und mit einer kleinen Lampe hineinleuchtete und danach die gleiche Prozedur am rechten Auge wiederholte um zu testen wie die Pupillen reagierten, ehe er einige kurze und prägnante Anweisungen an das Team und ihn herum gab.


    Semir erschien es wie eine halbe Ewigkeit bis sich die Tür zu Bens Zimmer endlich wieder öffnete und er sofort auf die Pflegerin zustürzte, die er von letzter der Nacht kannte. „Was ist passiert? Wie geht es ihm?“


    „Sein Zustand ist weiterhin kritisch, aber er war für einen kurzen Moment wach und hat die Augen geöffnet. Werten wir es mal als ein gutes Zeichen.“ Die Intensivkrankenschwester hoffte so sehr, dass sie mit diesen Worten Recht behalten sollte. Hoffen gehörte zu ihrem Beruf.

    Einmal editiert, zuletzt von Anne ()

  • Ein halbes Jahr später

    Ein kühler, frischer Wind schlug ihnen entgegen, als sie den Tankstellenshop an der Raststätte entlang der A57 verließen. Es war bereits ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit und Ben zog sofort den Reißverschluss seiner Jacke weiter zu. Semir hingegen schien sich zwar schon an den Temperaturunterschied, dafür aber noch nicht an die neuen Preise der Tankstellenbäckerei gewöhnt zu haben.


    „Das gibt’s doch nicht! Die haben die Preise schon wieder erhöht!“, beschwerte er sich lautstark und starrte empört auf das belegte Baguette und den Kaffeebecher in seiner Hand. „Noch am Anfang vom Jahr hat das hier nur halb so viel gekostet! Wenn die so weiter machen, kann sich das doch bald kein Mensch mehr leisten!“, knurrte er verärgert.


    „Na da hast du doch jetzt einen guten Grund um bei der Chefin mal wieder nach einer fetten Gehaltserhöhung zu fragen.“, schlug Ben kauend vor, der neben dem Baguette und dem Kaffee noch eine Flasche Wasser gekauft hatte.


    „Hmmm“, nickte Semir ihm mit vollem Mund zu. „Das wissen wir ja wie das dann wieder ausgeht.“


    Ben grinste ihn vielsagend an und setzte dann plötzlich eine strenge Miene auf. „Es tut mir leid meine Herren, aber Sie wissen ja, dass wir bei der Vergütung an den gesetzlichen Tarif gebunden sind und da kann ich auch bei Ihnen keine Ausnahme machen.“, ahmte er die Krüger mit hohem Tonfall in der Stimme nach. „Außerdem sind die Kosten Ihrer geschrotteten Dienstwagen und was Sie sonst noch so demolieren mittlerweile schon so immens hoch, dass sie froh sein können, wenn sie überhaupt noch ein Gehalt bekommen.“


    Semir musste nun ebenfalls grinsen. Seit letzter Woche, seitdem Ben zurück war, kehrte nun Stück für Stück wieder so etwas wie Normalität in seinen Alltag ein und er war unendlich froh darüber. Nicht dass es schlecht gewesen war in den vergangenen Monaten mit Jenny, Bonrath oder Hotte in den Außendienst zu fahren. Nein, Semir schätze seine Kollegen und die gute Arbeit, die sie leisteten, sehr. Er hatte sich auch auf sie genauso verlassen können wie er sich auf Ben verlasse konnte - nur hätten sie die Vertrautheit und die Bindung, die in den letzten Jahren zwischen ihm und Ben entstanden war einfach niemals ersetzen können.


    „Schön, dass du wieder da bist, Partner!“, verriet Semir als er sich nach dem Essen neben Ben auf den Beifahrersitz des Mercedes fallen ließ.


    „Ja, das finde ich auch.“, stimmte Ben ihm zu und schüttelte kurz ungläubig den Kopf. „Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich die Arbeit mal so vermissen würde.“


    „So so, du hast also nur die Arbeit vermisst.“, wiederholte Semir gespielt erstaunt. „Und was ist mit deinen Kollegen?“, hakte er nach.


    „Ja, äh, die natürlich auch ein bisschen. Also allen voran natürlich den großen türkischen Hengst, dem ich es zu verdanken habe, dass ich überhaupt noch hier sitze.“, gestand Ben und schaute mit einem Augenzwinkern in das grinsende Gesicht seines Partners während er mit der rechten Hand in der Außentasche seiner Jacke herumwühlte. Das Grinsen in Semirs Gesicht erstarb als er den Blister mit den Tabletten erkannte, den Ben aus seiner Jackentasche zog.
    Ben war der veränderte Gesichtsausdruck seines Partners nicht entgangen und er spürte nun dessen besorgten Blick auf sich ruhen als er zwei Tabletten herausdrückte, sie in den Mund nahm und mit reichlich Wasser herunterspülte. Die Pillen halfen ihm dabei sich länger konzentrieren zu können, zumindest so lange wie es zur Bewältigung der heutigen Schicht notwendig sein würde.


    „Wie lange musst du die denn noch nehmen?“, wollte Semir schließlich wissen.


    „So lange wie der Arzt sie mir verschreibt.“, antwortete Ben ausweichend und ließ die restlichen Tabletten wieder in seine Jackentasche gleiten. Er hatte die Anweisung erhalten das Medikament mit der Zeit langsam auszuschleichen und es dann ganz wegzulassen. Und das wollte er auch – nur jetzt noch nicht. Nicht am Anfang seines beruflichen Wiedereinstiegs. Nicht wenn noch so viel für ihn auf dem Spiel stand.


    „Sag mal wie geht es denn eigentlich Julia?“, erkundigte sich Semir dann vorsichtig nach Bens Schwester.


    „Es geht so. Ich glaube ihr macht das Ganze immer noch ziemlich zu schaffen.“, antwortete Ben zögernd. „Es ist ja auch letztendlich alles an ihr hängen geblieben.“, fügte er nachdenklich hinzu und nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Es belastete ihn mehr als er zugeben wollte, dass er nicht für seine kleine Schwester hatte da sein können, als sie ihn am meisten gebraucht hätte - und er fühlte sich ihr gegenüber deswegen immer noch schuldig.


    Als hätte Semir die Gedanken seines jüngeren Kollegen erraten, sah er ihn mitfühlend an. „Ben du weißt, dass du dir deswegen keine Vorwürfe machen brauchst!“, redete er auf ihn ein. „Du lagst noch schwer verletzt im Krankenhaus und wärst gar nicht in der Lage gewesen dich um den ganzen Papierkram und die Beerdigung zu kümmern.“


    Als Antwort zuckte Ben nur gedankenverloren mit den Schultern und kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen.


    „Weißt du…“, setzte Ben plötzlich an und Semir konnte deutlich sehen wie er einen Moment mit sich rang, eher er weiter sprach „…manchmal denke ich, dass es gut war, dass ich nicht bei der Beerdigung dabei sein konnte.“, offenbarte der junge Hauptkommissar langsam den Gedanken, der ihm in der letzten Zeit so oft gekommen war und den er außer Semir mit niemandem sonst teilen würde.


    Zu tief saß noch der Schock über den Verrat und auch wenn sein Vater sich kurz vor seinem Tod dafür entschuldigt hatte, blieb der bittere Beigeschmack immer noch bestehen und Ben fragte sich in so mancher Stunde, in der er nachts wach lag, wie lange das wohl noch so bleiben würde. Er wollte nicht, dass diese Sache sein ganzes restliches Leben bestimmte und auch wenn es Tage gab, an dem es ihm verdammt schwerfiel, wollte er sein Leben auf keinen Fall in ein Davor und ein Danach einteilen.


    Verständnisvoll legte Semir seine linke Hand auf Bens Schulter. Das war eine der Situationen für die es keine tröstenden Worte gab, für nichts auf der Welt. Das Einzige, was er ihm anbieten konnte, war für ihn da zu sein wenn er ihn brauchte und ihm die nötige Zeit zu geben diese Momente selbst zu erkennen wenn es so weit war. „Du weißt ich bin jederzeit da, wenn du jemanden zum Reden brauchst.“, bot Semir ihm an und Ben nickte dankbar. Dann verstaute er die Wasserflasche in der Seitentür des Wagens.


    „Lass uns fahren.“, schlug er vor und startete auch schon den Motor des Mercedes. Das er wieder Autofahren durfte war noch lange nicht selbstverständlich. Nicht nachdem er im Krankenhaus kurz nach dem Verlassen der Intensivstation den ersten epileptischen Anfall als Folge seiner Kopfverletzung gehabt hatte. Und nicht nachdem trotz entsprechender Medikation weitere Anfälle folgten und die Ärzte ihm so eine schlechte Prognose für seine Zukunft gaben. Für eine Zukunft fernab dem Leben wie er es bisher geführt hatte. Und Ben wusste nicht, wie es weiter gegangen wäre, wenn er seinen Job bei der Autobahnpolizei auch noch verloren hätte. Er wusste nur, dass er verdammt großes Glück gehabt hatte – und zwar doppeltes.


    Das Erste war der komplizierte operative Eingriff, der trotz des hohen Risikos den gewünschten Erfolg und damit wieder neue Hoffnung gebracht hatte und dafür sorgte, dass es Ben nicht ganz so schwer fiel mit den Spätfolgen der Operation zurecht zukommen. Neben der Narbe, die sich glücklicherweise unter seinen Haaren gut kaschieren ließ, waren zeitweise starke Kopfschmerzen und die Konzentrationsschwäche zurück geblieben. Beeinträchtigungen, von denen niemand wusste ob sie jemals wieder ganz verschwinden würden.


    Das Zweite war der Umstand, dass er ausgerechnet von Dr. Bachmann bei der polizeiärztlichen Untersuchung geprüft worden war. Ben erinnerte sich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Wie der Arzt am Ende alle Augen zugedrückt und seine Unterschrift und den Stempel unter das Untersuchungsprotokoll gesetzt hatte - obwohl er wusste, dass er damit seinen gutbezahlten Job riskierte, als er Ben die Polizeidiensttauglichkeit bestätigte die er, solange er noch auf die Tabletten zur Bewältigung des beruflichen Alltags angewiesen war, eigentlich hinten und vorne nicht erfüllte.


    „Herr Jäger machen Sie was draus!“, hatte der Arzt zu ihm gesagt. „Ich will meinen Namen und meinen guten Ruf nicht umsonst auf’s Spiel gesetzt haben.“ Und Ben hatte sich fest vorgenommen den Arzt nicht zu enttäuschen – und auch nicht sich selbst! Allerdings war das Gutachten für seine gesundheitliche Eignung im Polizeidienst nicht auf Dauer ausgestellt. Schon in drei Monaten stand die nächste Untersuchung an und bis dahin wollte Ben beweisen, dass der Arzt die richtige Entscheidung getroffen hatte.


    Und die erste Gelegenheit dazu, bot sich dann auch schon viel schneller als zunächst angenommen. Sie waren noch nicht lange hinter der Raststätte auf die Autobahn aufgefahren, als plötzlich ein roter Ferrari in halsbrecherischem Tempo auf dem Standstreifen von hinten an ihnen vorbei preschte, dicht gefolgt von einem schwarzen Hummer aus dessen Seitenfenster sich ein Kerl mit einer MP im Anschlag lehnte und das Feuer auf den roten Sportwagen eröffnete.


    „Was soll das denn?“, schrie Semir und starrte aufgebracht den beiden Fahrzeugen hinterher.


    „Was das soll?!“, wiederholte Ben und tat so als würde er ganz kurz überlegen. „Keine Ahnung, aber fragen wir doch mal nach!“ Schnell trat er das Gaspedal durch, schaltete die Signalgeber an und nahm die Verfolgung auf.


    Weiter vorne hatte der Ferrari den Seitenstreifen verlassen und mischte sich unter den fließenden Verkehr. Als der Hummer ihm folgte, rammte er einen weißen 3er-Golf am Heck. Der VW drehte sich zweimal um die eigene Achse ehe er in den Kombi links neben ihm knallte. Der Kombifahrer bremste so abrupt ab, dass der hinter ihm fahrende Seat nicht mehr ausweichen konnte und mit voller Wucht in den Kofferraum des Kombis donnerte. Im letzten Moment riss Ben das Steuer herum, gerade noch rechtzeitig bevor der Mercedes auch noch mit den beiden Fahrzeugen kollidiert wäre.


    Währenddessen hatte Semir sich das Funkgerät geschnappt. „Cobra 11 an Zentrale! Wir verfolgen einen schwarzen Hummer auf der A57 Richtung Düsseldorf! Bitten dringend um Verstärkung und wir brauchen einen RTW!"


    „Ist beides zu euch unterwegs, Jungs!“, informierte Susanne kurz darauf über den Lautsprecher des Funkgerätes.


    „Danke, Susanne!“, rief Ben ihr zu, der den Wagen inzwischen wieder voll beschleunigt hatte.


    „Ben, ich dachte du solltest es jetzt am Anfang noch ein bisschen ruhiger angehen lassen?“, fragte Susanne.


    Ben schaute auf. Was? Hatte sie wirklich "ruhiger" gesagt? Die Frage stand ihm ins Gesicht geschrieben als er Semir einen irritierten Blick zuwarf. „Susanne, Außendienst und ruhig passt in etwa so gut zusammen wie Hotte und die Krüger auf nem Hochzeitsfoto!“, klärte er sie auf und tauschte noch schnell einen belustigten Blick mit Semir, bevor er wieder auf die Straße schaute und sein Partner die Pistole aus dem Holster zog.


    „Keine Zukunft, Freunde!“, rief Semir und lehnte sich mit vorgehaltener Waffe aus dem geöffneten Fenster des silbernen Mercedes.



    ENDE

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