The Hero of Sherwood Forest

  • Robin Hood, Robin Hood
    Riding through the glen.
    Robin Hood, Robin Hood
    With his band of men.
    Feared by the bad, loved by the good.
    Robin Hood, Robin Hood, Robin Hood
    —The Adventures of Robin Hood (ITV series, 1955-60).



    1

    Eine dicke schwarze Fliege flog wieder und wieder gegen die Fensterscheibe, suchte verzweifelt den Weg nach draußen. Dr. Maria Gioioli beobachte Jenny Dorn, wie sie das Insekt mit ihrem grünen Augen verfolgte. Auch sie schien sich hier gefangen zu fühlen und sehnte sich nach der Freiheit.
    „Jenny, ich habe Sie etwas gefragt.“
    Die junge Polizistin spielte nervös mit ihrem mintfarbenen Pullover und löste nur langsam ihren Blick von der Fliege. „Entschuldigung“, sagte sie mit belegter Stimme. „Ich habe nicht zugehört. Wie war die Frage?“
    Dr. Maria Gioioli lächelte. „Ich wollte wissen, ob Sie immer noch Albträume haben.“
    „Ja.“
    „Aber Ihnen ist inzwischen bewusst, dass sie nichts für den Tod ihres Kollegen Dieter Bonrath können?“
    Wieder kam ein leises Ja als Antwort.
    Sie musterte ihre Patientin. Jenny saß angespannt auf dem Sofa, die Beine überschlagen und die Arme inzwischen vor ihrer Burst verschränkt. Eine eindeutige Defensivposition und ein Anzeichen dafür, dass noch viel Arbeit auf sie warten würde.
    „Und dennoch haben Sie sich anfangs dagegen gesträubt, einem anderen Kommissar zugewiesen zu werden. Sie kennen aber doch die Regeln der Polizei, oder?“
    „Ja, sicher.“
    „Herr Gerkhan ist Ihnen lange ein guter Freund und Kollege gewesen, was war der Grund dafür, dass sie bei Ihrer Chefin vorgesprochen haben.“
    „Was wollen Sie von mir hören?“, fragte Jenny.
    „Nun ja, wollen Sie sich nicht vielleicht dazu äußern, weshalb Sie hier sind.“
    „Ein guter Freund hat mir dazu geraten, er hat ähnliches durchgemacht“, antwortete die junge Frau und rutschte dabei nervös hin und her.
    „Dann wird er aber auch erwähnt haben, dass Sie mit mir sprechen müssen.“
    Jenny stöhnte und raufte durch ihre Haare. Sie schluckte schwer und Dr. Maria Gioioli sah, wie die Hände ihrer Patientin zu zittern begannen.
    „Wenn ich alleine bin, dann stirbt niemand, weil er ich beschützen will“, presste die braunhaarige Polizistin heraus und sah auf die große Uhr, auf der die Minuten langsam heruntertickten.
    „Sie werden diese Prüfung bestehen müssen, Frau Dorn.“
    „Ich weiß … natürlich“, kam es leise von dem Sofa. „Sie sind eine starke junge Frau, lassen Sie sich nicht von der Angst beherrschen.“



    „Was hast du für mich?“
    Semir duckte sich unter dem rot-weißen Absperrband durch und ging in Richtung eines Audi A4, dessen Vordertüren weit geöffnet waren. Er war vor 20 Minuten angerufen worden, dass man eine Leiche gefunden hatte, Genaueres hatte man ihm allerdings noch nicht mitgeteilt.
    „Ich würde sagen, er ist gestern Nacht gestorben. Massives Kopftrauma“, erklärte ihm der Gerichtsmediziner. Ein blonder großgewachsener Kerl, dessen Namen sich der Kommissar nie merken konnte. Semir nickte, während er dem Polizeifotografen bei der Arbeit zu sah. „Ist es hier passiert? In dem Wagen oder wurde er hierher gefahren?“ Der erfahrene Polizist sah sich um und machte sich ein Bild von dem Rastplatz. Keine Überwachungskameras – das wäre auch zu schön gewesen!
    „Er ist ganz sicher nicht im Wagen gestorben“, wurde seine Frage beantwortet.
    Der Fotograf machte noch ein paar Bilder, dann überließ er Semir das Feld und der Kommissar der Autobahnpolizei machte einige Schritte auf den Wagen zu und lugte hinein. Ein Mann saß auf dem Beifahrersitz, die Rückenlehne war zwar blutig, aber nicht so blutig, als das man das Auto als Tatort in Betracht ziehen könnte, da hatte der Mediziner schon Recht gehabt. Er beugte sich in das Auto herein, um auch das Gesicht des Opfers sehen zu können.
    „Heilige!“ Er preschte wieder aus dem Wagen und schnappte Luft. Das konnte doch nicht sein! Das war vollkommen unmöglich.
    „Du kanntest ihn?“, fragte der Mann von der Rechtsmedizin.
    „Maximilian Alexandsky. Wir sind schon seit einigen Monaten hinter ihm her. Er schmuggelt Drogen und Waffen … oder hat es zumindest.“
    „Oh.“
    Semir beugte sich jetzt wieder hinein und begutachtete den Toten, der immerhin jetzt einen Namen hatte und den Fall weitaus weniger spektakulär machte. Vermutlich handelte es sich ganz einfach um Streitigkeiten im Banden-Milieu. Nicht mehr und nicht weniger, so hart es auch klang.
    „Wo treibt sich eigentlich Brandt rum? Ich sollte ihm eigentlich einen netten Gruß von Nele ausrichten.“
    Er beugte sich wieder aus dem Auto heraus. „Alex ist in Afrika, kommt nicht wieder zurück.“
    „Wie?“
    „Was musst du denn da nachfragen?“, hakte er kurz angebunden nach. Diese Fragereien anderer Kollegen trieben ihn in den Wahnsinn und das ließ er sie inzwischen auch spüren, nachdem er ähnliche Fragen schon hundert Mal beantwortet hatte.
    „Und jetzt? Musst du alleine ermitteln?“ Der Rechtsmediziner hatte seine Neugier noch nicht aufgegeben.
    „Nein. Frau Dorn wird so lange an meiner Seite sein, bis die Stelle von Alex neu besetzt wurde.“
    Ehe der Mediziner neue Fragen stellen konnte, hatte Semir das Weite gesucht. „Ruf mich an, wenn du die erste Untersuchung beendet hast“, rief er noch und stieg dann hastig in seinen Wagen ein. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und atmete tief durch. Die Wut über den nächsten neuen Partner hatte sich inzwischen gelegt, aber es hieß nicht, dass er Alex nicht vermissen würde. Sie hatten sich gerade erst aneinander gewöhnt und waren doch in den letzten Monaten ein eingespieltes Team geworden. Langsam kam es ihm vor, als würde er seine Kollegen öfters wechseln als seine Autos. Er seufzte. „Und jetzt noch so ein Mordfall. Na toll!“
    Semir wollte gerade den Motor starten, um in Richtung Dienststelle zu fahren, da klopfte es an der Scheibe. Der Rechtsmediziner stand neben seinen Wagen. Er ließ die Fensterscheibe herunter. „Was denn noch?“, schimpfte er.
    „Es gibt da etwas, dass solltest du dir ansehen.“
    Der Deutschtürke schaltete den Motor wieder, stieg aus und ging dann zurück in Richtung des Audi.
    „Also? Was war so dringend?“, fragte er angespannt.
    Der Rechtsmediziner hielt ihm eine Beweistüte hin, in der ein Zettel eingetütet war. „Das haben wir in seinem Mund gefunden.“
    Semir zog die Augenbraue hoch. „In seinem Mund?“
    „Ja.“
    Semir nickte und begutachtete den Zettel, den man ihm gereicht hatte. Schuldig. Gezeichnet Robin Hood, stand darauf. „Wer ist Robin Hood?“, murmelte er.
    „Zentrale Held mehrerer spätmittelalterlicher bis frühneuzeitlicher englischer Balladenzyklen. Du weißt schon den Reichen neh…“
    „Jaja, das meine ich doch nicht“, fuhr Semir dazwischen. „Ich meine, wer ist unserer Robin Hood. Doch wohl kaum einer von Alexandsky Konkurrenten. Niemand würde sich Robin Hood nennen.“
    „Nun, das herauszufinden ist deine Aufgabe.“ Der Rechtsmediziner lächelte breit und verabschiedete sich dann von ihm.
    Semir studierte den Zettel wieder. „Immerhin hat der Mörder eine Visitenkarte hinterlassen, ist doch auch nett.“

  • 2


    „Wir haben einen Mord“, begrüßte Semir Jenny, als sie wieder in das Büro kam. Sie legte die Jacke über den Stuhl und setzte dich. „Die Leiche wurde in einem Auto auf der A1 gefunden.“
    „Auf der A1?“
    „Auf einem Rastplatz, um genau zu sein“, führte Semir näher aus.
    Jenny schaltete ihren Computer ein und starrte gebannt auf dem Bildschirm, während das Gerät hochfuhr. „Warst du schon vor Ort?“
    „Ja, ich bin seit etwas 15 Minuten wieder hier.“
    Ihre grünen Augen lösten sich von dem Monitor. „Du hättest mich anrufen können, ich wäre gerne mitgefahren.“
    „Du hattest eine Sitzung bei der Psychologin“, erwiderte Semir.
    „Was wohl wichtiger ist“, grummelte Jenny und wandte sich wieder ihrem PC zu. Sie hasste es, von allen hier wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Sie war alt genug ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und war sich sehr wohl darüber bewusst, was sie sich zutrauen konnte und was nicht.
    „Der Täter hat eine Visitenkarte hinterlassen“, ertönte Semirs Stimme.
    „Wie?“ Ihr Kopf war wieder hochgeprescht und sie lauschte dem älteren Kollegen, wie er von dem Zettel erzählte, den sie im Mund des Opfers gefunden hatten. Auch berichtete Semir ihr, woher er das Opfer kannte und was er alles auf dem Kerbholz hatte. Drogen, Menschenhandel, Waffen. Bei ihm hatte man alles Bekommen, was man sich gewünscht hatte. Vermissen würden ihn sicherlich nur wenige Menschen, dachte Jenny bei sich.
    „Mhm …“ Jenny lehnte sich zurück. „Robin Hood, also.“
    „Ich denke, wir sollten uns im Umfeld es Opfers umhören“, erklärte Semir nach einer Weile.
    „Ja? Ich glaube kaum, dass der Täter aus dem Umfeld kommt. Das passt nicht.“ Sie drehte eine Haarsträhne auf ihren Finger. „Ich meine … Robin Hood, der Name, den er hinterlässt, spricht doch eher für eine Art Rachetat.“
    „Kommst du mir jetzt mit Fallanalytik?“
    Jenny schwieg für einen Moment. Sie hätte sich eigentlich denken können, dass Semir ihre Idee nicht positiv auffassen würde. Er stand diesen neuen Methoden eher skeptisch gegenüber, folgte lieber den alten Schemen der Polizeiarbeit.
    „Ja“, sagte sie dann. „Es würde uns nur Zeit kosten, uns im Umfeld umzuhören, denn aufgrund der Faktenlage, können wir ja ganz klar davon …“
    „ … weil er sich Robin Hood nennt? Gut, deine Option klingt wahrscheinlich, aber deshalb können wir nicht einfach auf diese Schritte verzichten.“
    „Aber Zeugen sind leicht beeinfluss ..“
    „Ich will nichts mehr hören“, unterbrach Semir sie abermals und stand dann auf. „Wir gehen jetzt zuerst das Umfeld befragen und dann kümmern wir uns um die Zeugen. Der uniformierte Kollege hat zwar schon erste Aussagen aufgenommen, aber doppelt hält besser.“
    „Aber …“
    „Was habe ich gesagt?“ Semir griff bereits nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. Sie pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.
    „Wie du meinst“, presste sie heraus und stand nun ebenfalls auf, um ihren älteren Kollegen aus der Wache zu folgen. Denn sie war im Grunde auch darauf angewiesen, dass Semir einen guten Bericht über sie schreiben würde, sobald ihre Zusammenarbeit beendet war. Denn nur dann hatte sie die Chance weiterhin ihre zivile Laufbahn anzukurbeln.
    Jenny saugte alles in sich auf, während sie Semir den Vormittag wie ein zweiter Schatten folgte und die Befragungen aus der Beobachterrolle verfolgte. Viel neues hatten sie dabei allerdings nicht erfahren. Alles im Umfeld des Opfers schwieg und auch obwohl sie noch deutlich weniger Dienstjahre auf dem Buckel hatte als Semir, war Jenny bewusst, dass sich diese Tatsache im weiteren Verlauf der Ermittlungen wohl kaum ändern dürfte. Sicherlich war die Familie des Mannes ohnehin schon selbst dabei nach dem Mörder zu suchen und ihn zu stellen. Auch die Zeugenbefragungen waren am Ende reine Zeitverschwendung, denn viele neue Informationen kamen auch da nicht heraus. Das Paar, welches die Leiche gefunden hatte, hatte auf dem Rastplatz eine kleine Pause machen wollen und es war ihnen komisch vorgekommen, wie der Mann in seinem Auto gesessen hatte.
    Sie drehte ihre Kaffeetasse in den Händen und lehnte sich in dem Schreibtisch-Stuhl zurück. „Vielleicht sollten wir etwas mehr über Robin Hood herausfinden … also ich meine den richtigen Robin Hood, die Vorlage“, äußerte sie nach einer Weile. „Ich für meinen Teil kenne nur diesen Zeichentrick-Film.“
    Der Ältere sah nachdenklich aus dem Fenster. „Ich denke, es kann uns vielleicht helfen, den Täter zu verstehen“, fuhr sie fort.
    Semir grummelte vor sich hin und seufzte. „Vielleicht. Ich bin ehrlich, ich habe derzeit keinen besseren Ansatz“, gab er schließlich zu. Er lehnte sich etwas nach vorne. „Könntest du das übernehmen? Ich wollte gleich mit Andrea und den Kindern essen und …“
    Jenny lächelte. „Es ist okay, kein Problem.“
    Semir grinste breit. „Du bist ein Schatz! Ich werde es wieder gutmachen versprochen!“
    „Das hoffe ich für dich.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Denn alles hat seinen Preis.“


    Jenny goss sich ein weiteres Mal neuen Kaffee ein und klickte die nächste Seite in ihrem Browser an. Bisher hatte sie schon einiges über Robin Hood herausgefunden und einige der historischen Bücher hatte sie sogar in einer Online-Bibliothek durchblättern können. Ganz früher, erklärte einer der Historiker, sei Robin Hood ein Beiname, den man als Synonym für solche Menschen benutz hatte, die offensichtlich das Gesetz gebrochen hatten. Viele er Charakterisierungsmerkmale von Robin Hood gab es dabei schon in den Balladen aus dem 15. Jahrhundert. Hood widersetzt sich der weltlichen und geistigen Oberschicht, aus der seine Opfer zu meist stammten, er war listig, tollkühn und ein ausgezeichneter Kämpfer. Einer seiner größten Feinde war der Sheriff von Nottingham. Sie machte sich ein paar Notizen und klickte dann die nächste Seite an. „Mhm, interessant“, murmelte sie. Auf der Seite, wo sie jetzt las, stand, dass in den früheren Balladen das heute so bekannte Motiv fehlte, dass er die Raubzüge zugunsten des ärmeren Volkes beging. Auch ging er mit dem Sheriff und seinen Männern häufig äußerst brutal zu Werke. „So viel zu meinem Disney-Bild!“ Sie nahm einen weiteren Schluck Kaffee, während sie sich aufschrieb, dass Robin Hood den Sheriff durch Pfeilschüsse getötet hatte. Einen Kopfgeldjäger hatte er sogar enthauptet. In der Vorzeit hatte sich Hood schließlich zu einem Vorkämpfer gesellschaftliche Freiheit und Gerechtigkeit gewandelt.


    Als die Buchstaben langsam vor ihren Augen verschwammen, löste sich Jenny von dem Monitor und lehnte sich zurück. Sie sah nach draußen, wo es bereits dunkel war. Wenn er nach den Grundmustern seines Vorbilds handelte, hatten sie es keineswegs mit einem sanftmütigen Charakter zu tun, das wurde ihr inzwischen bewusst. Wenn er Robin Hood als historische Figur verehrte, dann war die Sache deutlich komplexer, als sie zu zunächst geglaubt hatte. Denn es gab auch den unbarmherzigen Robin Hood in diesem historischen Bild. Sie rieb sich durch die müden Augen. Nun wussten sie zwar, welchem Grundzügen der Mörder wahrscheinlich folgen würde, denn es könnte natürlich sein, dass er auch nur die Symbolik der Gerechtigkeit übernahm, aber seiner wahren Identität waren sie dadurch noch nicht näher gekommen. Vielleicht hatten sie ja Glück und es gab Spuren in dem Wagen, mit denen sie etwa anfangen konnten?
    Jenny griff nach ihrem Telefon und wählte zunächst die Nummer von Hartmut an.
    „Jenny hier. Sag mal, wie viel habt ihr schon im Fall Alexandsky?“
    Sie hörte ein Räuspern an der anderen Seite. „Es gab haufenweise verschiedene Fingerabdrücke, wir lassen sie gerade durch das System laufen.“
    „Und sonst. Was ist mit der Sitzeinstellung? Alexandsky saß ja auf dem Beifahrersitz, also muss der Täter gefahren sein.“
    „Der Täter ist zwischen 1,70 und 1,85 Meter groß“, erklärte Hartmut am anderen Ende.
    Sie nickte. „Und Faserspuren, was ist damit?“
    „Nein. Nichts, also schon … aber die sind vom Opfer. Ich habe das bereits gescheckt.“
    „Wäre auch zu schön gewesen“, antwortete sie.
    Sie bedankte sich bei Hartmut, ehe sie wieder auflegte und die Nummer der Gerichtsmedizin eintippte. Aber auch dort gab es bisher noch nicht viel. Der Rechtsmediziner erklärte ihr, dass das Opfer gestern Abend zwischen 20:00 und 22:00 Uhr getötet wurde, der Schlag auf den Kopf wurde mit einem stumpfen Gegenstand ausgeübt. Aufgrund des Materials in der Wunde vermutete er einen großen Findling. Zugeschlagen wurde wohl drei Mal. „Aber ich vermutete, ein Schlag hätte auch gereicht“, kam es vom anderen Ende der Leitung.


    Als sie wieder auflegte, stand Kim Krüger in ihrem Büro. Sie lächelte, aber nicht freundlich, sondern vielmehr gezwungen. „Sie sollten nach Hause fahren, Frau Dorn. Es ist bereits spät.“
    „Ich wollte nur noch etwas nachschauen“, erklärte sich die junge Polizistin.
    „Das kann sicherlich auch noch bis morgen warten.“
    „Es ist wirklich kein Problem“, widersprach sie.
    Kim Krüger trat näher an sie heran. „Haben Sie noch Albträume?“, fragte sie ohne Umschweife und Jenny blieb für einen Augenblick die Luft weg. Sie wusste nicht, was sie darauf antworteten sollte. Es war schon so lange her und doch plagten sie die Gedanken an Bonraths Tod weiterhin. Sie schluckte und schüttelte leicht den Kopf. „Nein.“
    „Sicher?“
    „Ja. Ich … es geht mir gut.“
    „Sie wissen hoffentlich, dass meine Tür immer für sie offen ist.“
    „Ja … ja natürlich weiß ich das.“ Jenny stand auf und griff nach ihrer Jacke, die über dem Stuhl hing. „Sie haben ja Recht, es ist spät. Ich werde nach Hause gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

  • Ein Klingeln riss Jenny aus ihren dunklen wiederkehrenden Träumen. Er tastete schlaftrunken nach dem Wecker auf ihrem Nachttisch, musste jedoch schnell feststellen, dass es nicht der Grund war. Ihr Handy tanzte rhythmisch auf dem billig gepressten Ikea-Holz.
    „Ja?“, nuschelte sie in das Gerät.
    „Entschuldigung, dass ich dich geweckt habe.“
    „Schon gut Semir… wie spät ist es?“
    „Halb fünf“, sagte Semir. „Es gibt eine Leiche. Gleiches Muster wie beim ersten Mal.“
    Das hatte gereicht und Jenny war hellwach. „Wo hat man sie gefunden?“
    „Auf einem Rastplatz kurz vor Düsseldorf. Ich dachte, dass du es vielleicht wissen möchtest. Soll ich dich abholen?“
    „Ja natürlich … danke für den Anruf.“
    „Okay, ich bin ich 15 Minuten bei dir.“
    Jenny legte auf und kämpfte sich aus dem Bett. Sie griff nach ein paar Klamotten, eilte ins Bad und machte sich etwas frisch. Für einen Augenblick betrachtete sie sich im Spiegel. Konnte man sehen, dass sie am Abend noch lange wachgewesen war und nicht hatte schlafen können? Ihre Hand tastete nach dem Make-Up und sie legte schnell noch Hand an. Als sie zufrieden war, band sie ihre Haare noch schnell zu einem Zopf. Er hatte also wieder zugeschlagen, dachte sie. Er hatte nicht viel Zeit verloren. Nur 24 Stunden war der letzte Mord her. Innerlich war sie schon etwas nervös und gespannt auf die ersten Details. Ob ihre These wohl stimmte? Handelte es sich um jemanden, der Gerechtigkeit für die Schwachen übte?
    Als es an der Tür klingelte, griff sie noch schnell nach ihrem Handy und ihrer Jacke und begab sich dann die Stufen von ihrer kleinen Wohnung herunter auf die Straße, wo Semir sie erwartete. „Weißt du schon genaueres?“, fragte die junge Polizistin, als sie in den BMW stiegen. Der Ältere nickte. „Heinz Müller. Kredithai.“
    Jenny lehnte ihren Ellenbogen auf die Ablage der Beifahrertür und sah in die Nacht, während Semir neben ihr den BMW beschleunigte. Das schien tatsächlich zu passen.
    „Was hast du gestern noch so herausgefunden?“, kam es von der Seite.
    Sie drehte den Kopf nach links. „So einiges“, antwortete sie und begann Semir von ihren Erkenntnissen zu berichten. Als sie fertig war, nickte der Deutschtürke einige Male. „Das klingt schon logisch, ja …“ Dann lächelte er. „Gute Arbeit, Jenny.“
    „Es war nicht besonders schwer“, sagte sie bescheiden.
    „Das spricht leider auch für einen Serienmörder … der es leider auch ziemlich eilig zu haben scheint. Zwei Leichen in zwei Tagen. Er scheint einen straffen Zeitplan zu haben.“
    Jenny seufzte. „Wir können nur hoffen, dass er einen Fehler macht. Denn sonst wird es nicht leicht, ihn aufzuhalten.“
    „Die Technik ist heutzutage so weit. Ich bin mir sicher, dass er nicht davon kommt.“
    „Beim ersten Mord hat man nichts gefunden“, antwortete sie niedergeschlagen und sah dann wieder aus dem Fenster, wo die Bäume am Rande der Autobahn an sie vorbeirauschten. Da hatte sie ihren Fall, denn sie sich schon seit dem Seminar für Fallanalytik so sehr gewünscht hatte und nun, war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht vielleicht doch lieber einen normalen Fall gehabt hatte. Es konnte so viel schief gehen. Der Mann mag zwar ehrenhafte Motive haben, aber er war ja doch skrupellos. In ihr keimte wieder die Angst hoch, dass sie vielleicht durch einen Fehler einen Kollegen in Gefahr bringen konnte. Sie versuchte die aufkeimende Panik im Keim zu ersticken, schloss für einen Moment die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Es würde alles in Ordnung kommen. Sie würden diesen Fall lösen, ohne dass es große Probleme gab.
    „Wir sind da“, ertönte es neben ihr.
    Jenny öffnete die Augen wieder und nickte. Dann stiegen sie gemeinsam aus. Um ein Auto herum standen einige Flutlicht-Masten, die einen silbernen Opel beleuchteten. Polizeifotograf und Spurensicherung waren noch bei der Arbeit.
    „Und?“, fragte Semir den Rechtsmediziner und wollte ins Auto lupfen.
    „Das würde ich nicht tun“, erklärte der großgewachsene Mann, doch zu spät.
    „Heilige!“ Der Deutschtürke preschte regelrecht zurück und schüttelte den Kopf. „Was ist nur in den gefahren?“
    „Was ist denn?“ Jenny trat vorsichtig an das Auto heran und bückte sich leicht, damit sie hineinsehen konnte. Ihre Augen weiteten sich ungläubig und eine leichte Gänsehaut überzog ihre Arme. Er hatte den Mann enthauptet. Sein Kopf lag in seinem Schoss. „Wie Robin Hood …“, sagte sie leise. Sie drehte sich zu Semir. „Er eifert ihm nach. Es gab eine Geschichte, da wird erzählt, wie er einen Kopfgeldjäger enthauptet hat.“
    Semir versenkte die Hände in seinen Taschen. „Fehlt nur noch, dass er sich im Wald versteckt, wie dieser Robin Hood!“
    „Vielleicht tut er das ja?“
    „Wirklich, jetzt gehst du mir mit deiner Fallanalytik doch zu weit, Jenny!“
    Semir ging ein Stück und sie hörte, wie er der KTU einige Anweisungen gab, auf was sie achten sollten. Sie lief im hinterher. „Ist es denn wirklich so abwegig? Ich meine, sieh dir an, was er mit dem Kredittypen gemacht hat!“
    „Aber im Wald?“, hakte der Ältere ungläubig nach.
    „Lass uns das wenigstens in Betracht ziehen.“
    „Gut gut wie du meinst. Aber ich werde jetzt nicht mit Hunden jeden Wald in der Umgebung absuchen, denn dann sind wir Weihnachten noch nicht fertig.“


    Wenige Stunden später hockten sie wieder vor ihren Computern und warteten gespannt auf die Berichte. Sie hatten Glück gehabt und der Fall war an Wichtigkeit hochgestuft worden, so dass schnell etwas kommen würde. In dem Büro war es still, nur das gleichmäßige Surren des Lüfters von dem Computer war zu hören. „Hat Robin Hood auch Menschen erschlagen?“, fragte Semir nach einer Weile.
    „Du meinst wegen dem ersten Opfer?“
    „Ja.“
    „Ja, ich denke schon. Ich kann mich nicht genau an eine Stelle erinnern, aber in einem Text stand, dass er bei seinen Übergriffen extrem brutal vorging.“
    „Verrückt“, murmele der Deutschtürke.
    „Mhm?“
    „Na, das so jemand ein Volksheld ist.“
    „Naja, er ist eigentlich nicht einmal bewiesen, dass es ihn tatsächlich gab … es sind ja nur Geschichten, die sich eben mit der Zeit gewandelt haben.“
    „Von Negativen zum Positiven meinst du?“
    „Ja … das mit dem Geld für die Armen stehlen zum Beispiel. Das kommt in den ganz alten Geschichten über Robin Hood nicht vor.“
    „Trotzdem, verrückt. So was.“


    Das Telefon klingelte und Semir griff eilig nach dem Hörer. „Ja? … Hartmut … ich verstehe.“ Jenny hörte Aufmerksam zu, doch aus den wenigen Wortfetzen, die Semir verlor, konnte sie sich kaum einen Reim machen.
    „Und?“, fragt sie aufgeregt, als ihr Kollege aufgelegt hatte.
    „Sie haben Fingerabdrücke gefunden, die weder vom Opfer noch aus seinem näheren Umfeld kommen.“
    „Es könnte also der Täter sein“, schloss sie daraus.
    „Ja. Es ist schon einmal ein brauchbares Indiz, nur leider fehlen uns noch die Verdächtigen.“ Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. „Wie kommen wir ihm näher?“
    „Vielleicht gibt es ja doch eine Verbindung zwischen beiden Opfern?“, mutmaßte Jenny. „Irgendein kleines Rädchen, eine Person, die mit Beiden zu tun hatte, irgendetwas …“
    „Hoffentlich. Mir gehen nämlich langsam die Ideen aus“, fügte Semir wehmütig hinzu.



    *


    Jenny senkte den Kopf in die Hände und rieb sich die müden Augen. Es war bereits 22:00 Uhr, aber keinen von ihnen war Willens jetzt nach Hause zu fahren, denn beide wussten, dass er wieder morden würde und doch stocherten sie im Leeren. Sie hatten noch einmal beide Opfer bis ins kleinste Detail durchleuchtet, nach einer Verbindung gesucht, doch es schien keine zu geben. Sie hörte Semir am anderen Ende des Schreibtisches stöhnen und sah auf.
    „Das bringt doch alles nichts! Verflucht“, schimpfte der erfahrende Polizist.
    „Er hat ja immerhin einen Fingerabdruck hinterlassen. Ist ja schon einmal was“, murmelte sie verschlafen.
    „Das ist nichts, wenn wir nicht auch den passenden Mann dazu haben“, widersprach Semir. „Und ich kann ja kaum von allen Männern in Köln und Umgebung die Fingerabdrücke nehmen.“
    „Jaja … ich weiß.“ Sie winkelte die Arme auf dem Tisch an und legte den Kopf darauf. Sie war verdammt müde und die schlaflosen Nächte machten sich inzwischen bemerkbar.
    „Hast du immer noch Albträume?“, fragte Semir.
    „Nein“, nuschelte sie hervor. Sie wollte jetzt nicht über ihre Probleme reden. Sie wollte gegenüber ihren Kollegen stark wirken. So etwas, dass durfte sie einfach nicht umhauen. So etwas, wie sich das anhörte. Es war nicht einfach nur so etwas. Ein Kollege war vor ihren Augen gestorben. Ein Kollege, der ihr sehr viel bedeuten hatte. Es war keine kleine Sache gewesen, es war eine verdammt große Angelegenheit.
    „Jenny, du weißt, dass du immer mit mir reden kannst … oder?“
    „Ja doch.“ Ihr Stimme klang nun immer genervter.
    „Aber du hast doch die letzten Nächte kaum geschlafen und …“
    „Lass es einfach, okay!“ Ihr Kopf war hochgeprescht und alleine ihr Blick ließ Semir verstummen. Er senkte den Kopf wieder auf seine Akten. „Wie du meinst, aber ich bin immer da, wenn du reden willst.“


    Es war 23:30 Uhr als das Telefon klingelte und ihre Hoffnungen zerschlugen. Sie waren zu langsam gewesen und Robin Hood hatte innerhalb von drei Tagen das dritte Opfer gefordert. Müde und ohne Schlaf in den Knochen machten sich die beiden auf dem Weg zu dem Rastplatz, wo ein Fernfahrer vor gut zwanzig Minuten die Leiche entdeckt hatte.
    „Was haben wir?“, fragte Semir den Rechtsmediziner, der dieses Mal ein anderer war, als bei den ersten Morden. Zumindest der schien also seinen Schlaf zu bekommen.
    „Ein Pfeil steckte in seiner Brust, nah am Herzen. Es hat nicht lange gedauert und er war tot.“
    „Nun auch noch Pfeil und Boden. Der Kerl glaubt wirklich, dass er Robin Hood ist“, stöhnte Semir, während Jenny neugierig in das Auto sah. Der Pfeil war ein Stück vor dem Körper abgebrochen worden, vermutlich wäre es sonst zu schwer gewesen ihn in den Wagen zu bekommen.
    „Könnte es dadurch nicht leichter sein ihn zu finden?“
    „Wie meinst du das, Jenny?“, erfragte Semir hinter ihr.
    „Es war nur so ein Gedanke. Ich meine Pfeil und Bogen, ich könnte mir vorstellen, dass es eine Sportart ist, die nun nicht von der großen Maße betrieben wird und unser Robin Hood muss gut sein.“ Sie drehte sich zu ihrem Kollegen. „Ich meine. Er hat sein Ziel nur um wenige Millimeter verfehlt. Er wollte sicherlich das Herz treffen, nicht?“
    „Da ist etwas dran. Wir werden das gleich morgen früh überprüfen.“
    „Ich kann es auch heute noch machen“, schaltete sich Jenny ein.
    Semir betrachtete die junge Kollegin skeptisch. „Nein, wir werden jetzt nach Hause fahren. Wir beide brauchen Schlaf.“
    „Aber …“
    „Nichts aber. Ich sehe doch, dass dir schon fast beim Gehen die Augen zufallen!“
    Jenny wollte erneut protestieren, doch die brünette Frau fand keinen Zuhörer mehr. Semir hatte sich schnell noch um einige Kleinigkeiten gekümmert, ehe er sie in Richtung Wagen gedrängt hatte, um sie persönlich vor ihrer Wohnungstür abzusetzen. „Geh schlafen“, ermahnte er sie einmal mehr, als sie gerade dabei war, den Gurt zu lösen und die Beifahrertür zu öffnen. Sie setzte die Füße auf den Asphalt. „Jaja“, schimpfte sie noch leise und stieg dann vollständig aus.
    „Ich meine es Ernst“, kam es ein weiteres Mal aus dem Auto, doch sie hörte nicht mehr hin.

  • Jenny konnte nicht schlafen, kam einfach nicht zur Ruhe. Sie hatte quälend lange Stunden in ihrem Bett gelegt und versucht die Augen zu schließen, doch es war ihr nicht gelungen. Auf der einen Seite war da diese Angst vor Albträumen, auf der anderen Seite allerdings der Fall. Sie hatte eine innere Unruhe gepackt. Oder war das vielleicht sogar so etwas wie dieser berüchtigte Jagdinstinkt, in dem in schlechten Krimis immer die Rede war? Sie blickte zur Seite. 03:00 Uhr zeigten die rotleuchtenden Ziffern ihres Funkweckers an. Sie drehte den Kopf wieder gerade und blickte nach oben an die Decke. Er ahmte Robin Hood nach, doch sie war sich ganz sicher, dass er jetzt einen Fehler begangen hatte. Über den Pfeil würden sie an ihn herankommen. Hörst du Robin Hood, der Sheriff von Nottingham und seine Gehilfin sind dir auf der Spur, sagte sie in ihren Gedanken. Sie seufzte. Egal, wie sehr sie es wollte, sie konnte nicht schlafen.
    Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Noch war es dunkeln, aber bald würde es bereits beginnen hell zu werden. Sie dachte über ihren Robin Hood nach. Einerseits war er so brutal und doch war er kein Mörder, wie sie sie kannte. Er tötete diejenigen die Unrechtes getan hatten. Er tötete keine hilflosen Menschen. Sie legte die Arme um ihren Körper. Dennoch, er war ein Mörder und kein zimperlicher und es galt ihn zu fassen!


    Die junge Polizistin löste sich von dem Fenster und ging in das Wohnzimmer, wo sie sich auf das Sofa setzte und ihren Laptop vom Tisch zog. Sie drücke den Power-Knopf und legte das Gerät beiseite. Während er hochfuhr, brühte sie sich einen Kaffee, denn den hatte sie jetzt bitter nötig. Anders als üblich verzichtete sie auf Milch und Zucker und goss die schwarze Flüssigkeit pur in ihren Rachen. Sie nahm die Tasse Kaffee mit zurück und öffnete dann den Browser. Zuerst suchte sie verschiedene Vereine heraus, wo Bogenschießen angeboten wurde, danach machte sie eine weitere Liste mit Geschäften, wo Material für diesen Sport angeboten wurde. Als es 05:00 Uhr war, brühte sie sich einen weiteren Kaffee und kümmerte sich im letzten Schritt noch um Communitys und Foren, wo es um solche Themen ging. Mit kleinen Augen las sie über die Usernamen. „Kein Robin Hood“, stellte sie enttäuscht fest. „Das wäre aber auch zu leicht gewesen.“


    Das Klingeln der Tür riss sie abrupt aus den Gedanken. Jenny sah auf den rechten Rang des Monitors. „Fuck!“ Eilig legte sie das Gerät beiseite und sprang auf. „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“
    „Jenny, bist du wach?! Ich habe dich angerufen, aber du bist nicht rangegangen.“ Es war Semir. Es war bereits 08:00 Uhr und sie hätte eigentlich schon auf der Wache sein sollen. Sie hatte vollkommen die Zeit vergessen.
    „Jenny? Geht es dir gut?“
    „Ja, ich komme gleich!“, rief sie und hastete in ihr Schlafzimmer, um schnell die Klamotten zu wechseln. Dann ging sie zur Tür und öffnete.
    Semirs Gesicht sagte alles. Seine Augen weiteten sich für einen kleinen Augenblick, das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. „Sehe ich so schlimm aus?“
    „Hattest du einen Albtraum?“, fragte Semir besorgt und zwängte sich jetzt in die Wohnung.
    „Es ist viel mehr der Fall, der mich heute nicht schlafen lassen hat“, antwortete sie und sah ihrem älteren Kollegen hinterher, der auf dem Weg zum Tisch war und einige Zettel in die Hände nahm. „Du hast die ganze Nacht daran gesessen?“, fragte er verwundert.
    „Es ging mir nicht aus dem Kopf. Ich musste diese Sachen nachprüfen“, verteidigte sie sich, denn sie konnte die Vorwürfe und väterliche Sorge im Gesicht des Deutschtürken sehen.
    „Du hast schon Nächte nicht mehr richtig geschlafen, Jenny. Das kann nicht gesund sein.“
    „Ich werde schlafen, wenn wir ihn haben. Wir sind ganz nah dran!“
    Semir legte die Zettel wieder auf den Tisch und setzte sich auf das Sofa. „Du bist dir sicher, dass du dich nicht in diesen Fall stürzt, um darüber deine Sorgen zu vergessen?“
    „Die Albträume sind nicht der Grund“, wiederholte sie abermals.
    „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“
    „Ich habe alles im Griff. Pass auf …“ Jenny setzte sich nun ebenfalls auf das Sofa und griff nach einigen der Zettel. „Ich habe schon einmal eine Liste gemacht, mit allen Geschäften hier im Umkreis.“
    Ihre Taktik ging auf und sofort als sie begonnen hatte, war Semir vom eigentlichen Thema abgelenkt und konzentrierte sich nun voll auf die neuen Informationen, die sie gesammelt hatte.
    „ … und ich habe geschaut, was es hier für Vereine gibt.“ Semir nickte und nahm einen anderen Zettel aus dem Haufen vor ihnen. „Und das?“
    „Foren, aber da ist er nicht bei“, antwortete sie.
    „Ach nein?“
    Sie lächelte. „Ich glaube nicht, dass er sich einen anderen Usernamen als Robin Hood geben würde und der ist nirgendwo angemeldet.“
    „Das klingt einleuchtend“, bestätigte Semir. Er legte den Zettel wieder hin und lehnte sich zurück. Dann sah er sie eindringlich an. „Wie ist es? Du gehst jetzt erst einmal duschen, machst dich etwas frisch und danach, da fahren wir zur Spusi und Rechtsmedizin und schauen, ob sie schon was haben, womit wir die Suche eingrenzen können?“
    Jenny lächelte breit. „Das wäre super!“, erklärte sie und sprang vom Sofa auf, um im Bad zu verschwinden.


    Semir streifte durch die kleine Dreizimmerwohnung während Jenny in der Dusche war. Er musste zugeben, dass er sich wirklich Sorgen um sie machte. Hatte sie wirklich nur wegen dem Fall wachgelegen oder waren da auch die Albträume für verantwortlich. In den letzten Wochen waren sie es zumindest, so viel war sicher. Er blieb vor einer Kommode stehen, auf der ein paar Bilder standen. Eines davon zeigte Jenny und Alex beim Boxtraining. „Toller Freund“, schimpfte er, „lässt Jenny hier so sitzen, wo du der Einzige warst, mit dem sie geredet hat.“ Sofort als diese Worte seinen Mund verließen, schämte er sich dafür. Nein, Alex hatte einen guten Grund gehabt, wieso er gegangen war und weshalb er sich nun abermals auf einen neuen Partner einlassen musste. Er war Alex gutes Recht gewesen nach seiner Mutter zu suchen. Und doch, er vermisste ihn an seiner Seite schmerzlich, immerhin lief es doch gerade erst richtig gut zwischen ihnen und er hatte ein gutes Gefühl gehabt, dass sie vielleicht noch engere Freunde hätten werden können.


    Nur schwer löste sich Semir wieder von den Bildern und setzte sich auf das Sofa. Sein Fuß wippte auf und ab, während er wartete. Dann griff er wieder nach den Notizen. Eines musste er Jenny lassen, sie hatte hervorragende Arbeit geleistet. Vermutlich würde sie es noch so einer guten Kommissarin schaffen und die ganzen Fortbildungen, die sie in den letzten Monaten unermüdlich bestritt waren am Ende nicht nur da, um das Gefühl der Hilflosigkeit zu verdrängen, welches seine junge Kollegin nach Bonraths Tod so häufig beschlich.
    „Ich bin fertig!“, ertönte es. Kurz darauf stand Jenny im Raum. Schminke sorgte dafür, dass man ihr die schlaflose Nacht nun kaum noch ansah. Er stand auf. „Gut, dann lass uns mal los.“




    *


    Nachdem Jenny und Semir den genauen Typ des Pfeils erfahren hatten, machten sich die beiden daran die Vereine abzuklappern. Eine mühselige Arbeit, die sich bereits einige Stunden hinzog. Enttäuscht strich die junge Beamtin den nächsten Namen von der Liste.
    „Wieder nichts.“ Sie legte den Zettel wieder hin, während Semir den Schlüssel im Zündschloss umgedreht hatte und die Adresse des nächsten Clubs ansteuerte. „Bald werden wir unseren Robin Hood schon finden“, machte er ihr Mut. „Wie du sagtest, er wird diese Leidenschaft kaum für sich behalten können.“
    Sie seufzte und sah aus dem Fenster. „Hoffentlich.“


    Der nächste Bogenschützen-Club lag etwas außerhalb von Köln auf einem großen Gelände, was vor vielen Jahren einmal ein Bauernhof gewesen zu schien. Jenny drehte sich einmal um die eigene Achse, als sie das Auto verließ. Das war wahrlich ein beeindruckendes Gebäude. Das Haus vor ihnen sah alt aus, aber dennoch hatte es ein modernes Flair erhalten. Semir schien sich für die Schönheit weniger zu interessieren, er war bereits dabei den Kiesweg in Richtung Haustür hinaufzugehen und betätigt die Klingel. Er sah sich kurz zu ihr um und sie folgte ihm eilig in Richtung Tür.
    „Wie heißt der Besitzer?“, wollte Semir wissen.
    „Jonathan Martinham, kommt aus England.“
    „Aus England … so, so …“
    „Er ist nicht unser Mann, glaube ich“, erklärte Semir. „Ich habe ihn gegoogelt, bei Wettkämpfen schießt er mit anderen Waffen.“
    Ein schnaufen entfuhr dem Älteren. „Nun, das wäre auch zu schön gewesen, was?“
    Semir klingelte abermals, während er ungeduldig mit dem rechten Fuß zappelte. „Wo treibt denn der sich rum?“
    Es vergingen abermals einige Sekunden, ehe die Tür aufgezogen wurde. Ein dunkelhaariger, großgewachsener Mann um die 40 blickte in ihre Augen. „Ja?“
    Semir holte seinen Ausweis heraus und Jenny tat es ihm kurz drauf nach. „Kriminalhauptkommissar Semir Gerkhan, Kripo Autobahn. Meine Kollegin Jenny Dorn. Können wir vielleicht reinkommen?“
    „Worum geht es denn?“, stellte Martinham die Gegenfrage.
    „Wir haben nur ein paar Fragen. Nichts Großes.“
    Martinham zog die Augen zusammen, sah sie skeptisch an, trat dann aber dennoch zur Seite und ließ sie eintreten. „Gehen Sie ruhig durch in das Wohnzimmer. Wollen Sie etwas zu trinken?“
    Jenny schüttelte den Kopf, Semir indes bestellte beim Herrn des Hauses ein Wasser.


    Jonathan Martinham stellte Semir ein Glas halbgefüllt mit Mineralwasser hin. Dann setzte er sich ihnen Gegenüber in einen Sessel. „Also, was kann ich für Sie tun?“
    „Es geht um eine Reihe von Mordfällen“, begann Semir und beobachtete wie das Lächeln im Gesicht des Mannes erstarb. Martinham schluckte. „Ich habe niem …“
    „Nein darum geht es nicht“, beschwichtigte der Hauptkommissar. „Es geht viel mehr um eine Auskunft über ihren Club. Sie verwalten das doch alles?“
    „Ja, sicher … ja“, antwortete Martinham mit dünner Stimme.
    „Wir wollen eigentlich nur wissen, ob Sie vielleicht ein Mitglied haben, welches sich in besonderer Weise für Robin Hood als Figur interessiert.“
    „Robin Hood?“
    „Ja. Gibt es da so jemanden?“
    Martinham lehnte sich zurück, blieb einige Sekunden still. Dann nickt er. „Ja … es gibt da so jemanden“, berichtete er vorsichtig.
    „Wen?“, schaltete sich nun Jenny ein, deren Neugier geweckt war.
    „Carl Thomas. Junger Bursche, vielleicht Dreißig … ich habe nicht viel mit ihm zu tun, aber ich habe ihn oft über das Thema reden gehört.“
    „Welchen Typ von Pfeil und Bogen benutzt er, wissen Sie das?“, fragte nun wieder Semir.
    „Lassen Sie mich kurz überlegen.“
    „Vielleicht steht es ja auch in Ihren Unterlagen. Wir bräuchten ohnehin die Adresse von Herrn Thomas“, sprach Semir weiter. Martinham nickte. „Natürlich, da haben Sie Recht. Einen Augenblick, ich werde nachsehen.“
    Der Mann stand auf und verließ den Raum. Jenny blickte aus dem Fenster auf eine große Weide, die allerdings vollkommen leer stand. „Denkst du, es ist unser Mann, Semir?“
    „Mhm … es ist zumindest wahrscheinlich. Hoffen wir, dass auch das letzte Detail passt, dann reicht es zumindest zu einer Vernehmung auf dem Präsidium.“
    In diesem Moment kam Martinham zurück in das Wohnzimmer. Er reicht ihnen einen kleinen gelben Notizzettel. „Ich habe alles aufgeschrieben. Ich hoffe, es hilft Ihnen weiter.“
    Semir nickte dankend, während er sich die Informationen durchlas. „Ja, vielen dank!“ Er stand auf und reichte Martinham die Hand. „Sie haben uns sehr weitergeholfen.“
    Nachdem auch Jenny ihren Dank ausgesprochen hatte, führte sie Martinham wieder zurück zur Tür und wünschte ihnen noch einen schönen Tag.
    Als sich die Haustür geschlossen hatte, hielt Semir den Zettel in Jennys Richtung. „Sieh dir das an. Der Waffentyp passt.“
    Sie nickte eifrig und lächelte. „Heute wird es hoffentlich keinen weiteren Toten mehr geben!“
    „Schon alleine, damit du endlich mal ein Auge zu machst. Du siehst grauenvoll aus“, führte Semir fort und zwinkerte mit dem Auge.

  • Carl Thomas stand auf dem Messingschild an der Tür. Semir drückte die Klingel, und als sich nichts rührte, begann er zu klopfen. „Herr Thomas, sind Sie da?“
    Im Inneren der Wohnung blieb es still. Semir drückte erneut die Klingel. „Herr Thomas, hier ist die Polizei. Wenn Sie da sind, machen Sie bitte die Tür auf.“
    Er klopfte noch einmal fester. Jennys Hand fuhr neben ihm zu ihrer Waffe. Sie war nervös und fragte sich, was sie wohl im inneren des Hauses erwarten würde.
    „Herr Thomas!“, versuchte Semir ein weiteres Mal, doch auch jetzt kam keine Reaktion aus der Wohnung. Der Deutschtürke sah zu Jenny. „Wir gehen rein.“
    „Ohne Beschluss?“, hakte sie unsicher nach.
    „Gefahr in Vollzug“ war seine einzige Antwort, ehe er in seine Jackentasche griff und etwas hervorzog. Mit einem Siegerlächeln im Gesicht ruckelte er mit dem Dietrich im Türschloss so lange auf und ab, bis ein leises Knacken zu hören war. Semir drückte die Klinge leicht herunter und öffnete die Tür ein Stück. „Du bleibst hinter mir“, raunte er, während er nach seiner Pistole griff. Jenny nickte und zog ebenfalls die Waffe aus dem Holster.


    Als Semir die ersten Schritte in die Wohnung gemacht hatte, ging alles ganz schnell. Ohne das einer von ihnen hätte reagieren können, was ein surrende Geräusch zu vernehmen. Kurz darauf ein Schrei. „Ich ergebe mich nicht Sheriff!“, rief Thomas.
    „Scheiße!“, presste Jenny mit zittriger Stimme hervor. Der Pfeil hatte Semir in der Schulter getroffen und ragte an seinem Rücken hervor. Der Deutschtürke ging vom plötzlichen Schmerz benommen auf die Knie. Sie schoss, doch Thomas hatte schnell reagiert, den Bogen fallen gelassen und sich aus dem schmalen Fenster hinter ihm gewuchtet, ohne dass sie ihn hatte treffen können. Von der anderen Seite war ein metallisches Scheppern zu hören.
    Für einige Sekunden verharrte die junge Polizistin in einer Schockstarre. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie merkte, wie die Waffe in ihrer Hand bebte. Dann fiel sie schon fast neben Semir auf die Knie, dessen Gesicht vor Schmerzen verzogen war. Seine Hand umfasste den Pfeil an der Schulter, Blut sickerte durch seine Finger. „Wie …“ Sie schluckte. „Wie schlimm ist es?“, fragte sie leise und wollte nach dem Pfeil greifen.
    „Geht schon“, presste Semir hervor. „Los, renn ihm nach. Schnapp ihn dir! Ich holte von hier aus Verstärkung!“
    Sie verharrte neben ihm. „Jetzt Jenny!“ Die Härte in der Stimme des Älteren, riss sie aus ihrem Schockzustand und Jenny setzte sich in Bewegung.


    Jenny rannte zum Fenster, sprang geübt auf die Fensterbank und sah in die Tiefe. Es ging drei Meter herunter, ehe ein Müllcontainer kam. Sie atmete tief durch und sprang. Sie befand sich jetzt in einem kleinen Hinterhof. Langsam drehte sie sich im Kreis, scannte jeden Winkel und war dankbar darüber, dass Thomas niemals mit seinem Bogen durch das Fenster gekommen wäre. Denn dann würde sie jetzt auf dem Präsentierteller stehen. Adrenalin pumpte durch ihre Adern, ihre Hand hatte die Waffe fest umgriffen. „Kommen Sie raus Thomas!“, schrie sie. „Los!“
    Es rührte sich nichts. Es blieb still.
    „Sie haben doch keine Chance!“
    Wieder nichts. Sie überlegte, wie sie ihn aus der Deckung locken konnte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Hood, zeig dich!“
    „Du bekommst mich niemals, Sheriff!“, hallte es aus einer engen Gasse. Sie hörte Schritte, die sich entfernten und eilte hinterher in die schmale Gasse. Carl Thomas hatte einen Vorsprung, hatte das Ende der Gasse bereits erreicht und warf ihre mehrere Mülltonnen in den Weg. Der ersten konnte sie ausweichen, über die zweite hüpfte sie rüber. Als sie die Gasse verließ, sah sie nach links und rechts. Wohin war er nur verschwunden?
    „Hood!“, schrie sie laut. Doch dieses Mal blieb ihr Gegner still. Er versteckte sich vor ihr. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, vorsichtig tastete sie sich Meter um Meter nach vorne. Er musste hier irgendwo sein, so schnell konnte er nicht gerannt sein!
    Und dann kam der Angriff.
    Eine schnelle Bewegung, die Jenny aus dem Augenwinkel in einer der Nischen der Hauswand wahrnahm, warte sie, als es schon zu spät war. Thomas sprang auf sie zu und legte den Arm um Jenny Hals. Der Unterarm umklammerte ihren Hals mit solcher Kraft, dass ihr sofort die Luft verblieb. Ihre Hand löste sich instinktiv von der Waffe, die mit einem Scheppern zu Boden fiel und griff nach dem Arm. Doch Thomas umklammerte sie wie ein dickes Seil.
    Sie versuchte sich loszubekommen, doch der Gegner gab nicht nach. Er umfasste ihr Kinn und riss ihren Kopf nach hinten. Ihre Halsmuskeln spannten sich zum Zerreißen und ihr trieben Tränen in die Augen. „Was tust du nun Sheriff“, zischte Thomas und seine kalten brauen Augen sahen in ihre.
    „Ich bin Jenny Dorn. Polizei“, keuchte sie hervor. „Herr Thomas, Sie sind nicht Robin Hood!“
    Das Lächeln, was seinen Mund umspielte, zeigte, dass sie keinesfalls zu ihm durchgerungen war.


    Sie musste sich befreien, war Jenny einziger Gedanke. Sie ramme ihren Ellenbogen nach hinten und erwischte Thomas in den Rippen, der daraufhin aufstöhnte. Dann riss sie sich frei, wirbelte herum und holte zum Gegenschlag aus und knallte ihm ihre Faust Mitten ins Gesicht und hörte, wie seine Nase brach. Rotes Blut spritzte hervor und er schrie wütend auf. „Noch bin ich nicht fertig!“
    „Doch bist du!“, erwiderte sie. Nun war der Kämpferwille geweckt und die junge Polizistin vertraute auf das, was sie in ihren vielen Boxstunden gelernt hatte. Ehe Carl Thomas reagieren konnte, setzte sie zum nächsten Schlag aus, griff nach seinen Schultern und wirbelte ihn gegen die Mauer. Er schnaufte auf vor Schmerz.
    „Du bist festgenommen, Hood!“ Jenny bückte sich und griff nach ihrer Waffe. Ein Fehler, wie sich herausstellte.

  • Thomas schwang herum und schlug ihr mit einem Stein gegen den Kopf, den er aus der porösen Wand gerissen hatte. Ihr wurde für einen Augenblick übel und sie verlor die Orientierung. Thomas nutzte diese Gelegenheit und schleuderte sie mit voller Wucht gegen die Wand. Im ersten Moment war sie zu benommen, um etwas zu tun. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund und auch aus ihrer Nase floss die rote Flüssigkeit. Viel Zeit verstrich, ehe sie sich wieder fing und die Orientierung wiederfand.
    Als sie zur Seite blickte, sah sie wie Thomas einmal mehr sein Glück in der Flucht suchte. Sie kämpfte gegen das Gefühl sich einfach fallen zulassen an, griff nach ihrer Waffe und stelle sich taumelt wieder auf die eigenen Beine, um erneut die Verfolgung aufzunehmen. Gerade noch hatte sie gesehen, wie der Flüchtige in einem der Räume verschwunden war. Vorsichtig, die Waffe im Anschlag, zog sie die gleiche Tür ebenfalls auf und schlich hinein. Ihr Herzschlag beschleunigte sich einmal mehr, denn sie wusste, dass nicht nur Thomas, sondern auch sie hier in de Falle saß. Wenn er sie überraschen konnte, dann war es das vielleicht gewesen. Langsam und mit bedacht setzte sie einen Fuß vor den anderen, jeder einzelne Muskel ihres Körpers war angespannt.
    Da! Sie hörte ein leises Geräusch und wirbelte mit erhobener Waffe herum, doch sah nur einen kleinen Kieselstein, der vom Blatt einer Schaufel rollte.
    Sie hatte erneut die Oberhand verloren.
    Carl Thomas sprang aus einer Ecke, packte sie am Oberkörper und schleuderte sie in Richtung eines großen schmutzigen Fensters. Die Scheibe zerbarst und sie flogen hindurch, landeten auf feuchtem Gras. Jenny knallte mit dem Hinterkopf unsanft aus und erneut geriet die Welt um sie herum in Schieflage. Sie drückte mehrmals die Augen zusammen und schleuderte die Hand mit der Waffe fast blind durch die Gegend, ehe sie das Ziel fand und Thomas mit dem Knauf der Pistole an der Schläfe erwischte. Für einen Augenblick ließ er von ihr, taumelte benommen. Sie nutze die Chance, warf ihn auf den Bauch und stemmte ihm dann das Knie zwischen die Schulterblätter. „Nun ist aber gut“, schnaufte sie zwischen schweren Atemzügen hervor. Sie schob eine Hand in ihren Rücken und tastete dort nach ihren Handschellen. Sie ließ die erste Handschelle um sein Handgelenk zuschnappen. „Ich verhafte Sie, wegen des Mordes in drei Fällen!“, sagte Jenny und kurz darauf schnappte auch die zweite Handschelle zu. Sie zog Carl Thomas wieder auf die Beine, merkte, wie ihr für einen Moment schwindelig wurde, von der plötzlichen Bewegung.
    „Braust du Hilfe?“, ertönte eine bekannte Stimme. Sie sah zur Seite. Semir stand einige Meter von ihnen entfernt und kam jetzt näher.
    „Du solltest in der Notaufnahme sein, wegen deinem Arm“, erwiderte sie überrascht. Der Pfeil war nicht mehr zu sehen, stattdessen hatte sich ein großer roter Fleck an der Stelle gebildet. Er hatte ihn doch wohl nicht selbst rausgezogen?
    „Das sagt die Richtige“, erwiderte der Ältere nur und zwinkerte. „Es ist nicht so schlimm.“
    „Es blutet wie Sau“, erklärte Jenny mit einem leichten Kopfschütteln.
    Semir nahm ihr Thomas ab, der seit der Festnahme kein Wort mehr verloren hatte. „Ehrlich gesagt, ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest. Ich muss sagen, Respekt. Du hast dich gut gehalten!“
    „Wenn du wüsstest“, murmelte sie leise und fuhr dabei mit der linken Hand in ihr Gesicht. Sie spürte warmes Blut unter ihren Fingerkuppen und ein unangenehmes Ziehen an den Stellen, wo die Scherben die Haut zerschnitten hatten.
    „Komm, lass uns den Kerl in die Zelle verfrachten und dann bringe ich dich ins Krankenhaus“, sagte Semir und setzte sich bereits mit Carl Thomas in Bewegung. Sie folgte mit wackeligen Schritten. „Da kannst du dich dann gleich ebenfalls durchchecken lassen, was?“
    Er winkte ab. „Jaja, natürlich.“


    - FIN -

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