Gefährliche Höhen!

  • Als Sarah am Morgen erholt aufwachte, hatte sie schon fast vergessen, dass sie gestern einen kleinen Streit mit Ben gehabt hatte. Nach einer Nacht darüber schlafen war sie beinahe ein wenig beschämt, dass sie wegen einer Kleinigkeit so ein Fass aufgemacht hatte. Ben hatte Recht gehabt-sie ging normalerweise auch alleine zum Arzt, sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, außer in den Schwangerschaften zum Ultraschall, da ihren Mann mit zu schleifen-ganz abgesehen davon, dass der daran gar kein Interesse hätte. Und außerdem rechtfertigte die Tatsache dass sie Krankenschwester war ja nicht, dass sie sich um alle Belange, die Ben´s Körper angingen, kümmern musste. Auch er hatte ein Recht auf eine Privatsphäre und sie würde sich jetzt einfach entschuldigen und dann den gestrigen Tag aus ihrer Erinnerung streichen. Sie würde die Kinder jetzt auch gleich mitnehmen, dass Ben die wieder sah, denn gerade Tim hatte schon mehrmals gefragt, ob denn der Papa nicht bald käme und Sarah hatte ihm dann kindgerecht erklärt, dass der noch ein bisschen im Krankenhaus bleiben müsse, bevor er wieder nach Hause dürfe. Tim hatte den Urlaub gemeinsam mit der ganzen Familie sehr genossen, denn wenn der Papa arbeiten war, sah er ihn nur morgens und abends kurz und eben am Wochenende, wenn Ben da frei hatte. Dann allerdings beschäftigte der sich viel mit seinen Kindern-manchmal war er ja selber noch wie ein großes Kind, wie Sarah mit einem glücklichen Lächeln konstatierte und wenn er mit Tim mit Matchboxautos im Kinderzimmer auf dem Bauch am Boden liegend, Autobahn spielte, wusste sie manchmal nicht, welchem von ihren beiden dunkelhaarigen Männern das besser gefiel! Nein sie liebte ihn einfach von Herzen und würde jetzt schnellstmöglich die Unstimmigkeiten ausräumen und sich bei ihm entschuldigen! So machte am späten Vormittag sie die Kinder fertig und fuhr dann los in die Klinik.


    Semir hatte wirklich fast den kompletten Nachmittag und die Nacht verschlafen. Am Morgen war er fieberfrei und sehnte sich nach einer Dusche, die ihm Andrea, nach einem prüfenden Blick aufs Thermometer, auch erlaubte. Er war zwar noch etwas wacklig auf den Beinen, aber er genoss die Dusche und als er sich danach wieder ein wenig hinlegte, hatte Andrea derweil sein verschwitztes Bett frisch bezogen. Im Laufe des Vormittags bekam er einen Bärenhunger und als er dann fürstlich gefrühstückt hatte, war er schon wieder ein anderer Mensch, obwohl er sich danach bereitwillig nochmals hinlegte und ein Ründchen schlief. Hartmut hatte ihn am gestrigen Tag von der KTU aus noch angerufen, dass Ben anscheinend keine Erinnerung an die Szenen in der Wohnung hatte und die ganze Zeit verpennt hatte. Semir wünschte ihm nichts mehr als das, denn er kannte seinen Freund und Partner und wusste, dass der anderenfalls an dieser Sache schwer zu knabbern hätte.


    Ben wurde am Morgen wieder von den Schwestern in den Waschraum hinaus gefahren. Er schloss die Tür hinter sich und sperrte sogar zu, damit ihn auch niemand überraschte. Die Schwester im Zimmer, die derweil sein Bett machte, das Nachtkästchen desinfizierte und die Antibiotikainfusion herrichtete, musste lächeln. Man konnte die Tür sofort mithilfe einer Münze von außen öffnen, falls nötig und was meinten denn die Patienten-dass sie als Schwestern ihnen was wegschauen würden? Mann die wenn wüssten, was man im Laufe seines Berufsleben zu sehen bekam, ob man wollte oder nicht, dann wären sie nicht so genant, allerdings musste sie schon sagen, dass so ein knackiger, durchtrainierter Männerkörper schon was hatte-vor allem weil er im Krankenhaus doch eher die Ausnahme war, die große Mehrzahl der Patienten war eher älter und hatte eben einen nicht so tollen Körper, aber das war schließlich egal.
    Ben hatte sich zuvor aus dem Schrank frische Wäsche geben lassen und die Pflegerin hatte das ein wenig verwundert konstatiert, sie hätte eigentlich gedacht, dass er sich erst frisch anziehen würde, wenn seine Frau da war und ihm half-alleine konnte er sicher noch nicht allzu viel machen mit seinen ganzen Verletzungen. Allerdings war das nicht ihr Bier und mehr als ihm Hilfe anzubieten, die er aber sofort ausschlug, konnte sie nicht machen. „Herr Jäger-denken sie bei der Visite auch mit dran, dass wir fragen, ob sie nicht mal duschen dürfen. Wir könnten Duschpflaster auf die OP-Wunden kleben, dann dürfte das klappen, aber der Arzt muss das nach einer Knochenoperation erlauben!“ rief sie noch durch die geschlossene Tür und Ben signalisierte seine Zustimmung. Ach wäre das schön, sich die ganzen Körperzellen von Estelle vom Leibe zu waschen. Er hatte inzwischen das Gefühl schon wie die zu riechen und ihn ekelte es vor sich selber. Irgendwie gelang es ihm nach dem Zähneputzen aus dem Gilchristverband zu schlüpfen, sein T-Shirt auszuziehen und sich, soweit er ran kam, zu waschen. Er schrubbte wie ein Wahnsinniger mit ganz viel Duschgel, aber es gab schmerzbedingt so viele Stellen, die er nicht erreichte und er hatte richtig das Gefühl, die würden zum Himmel stinken und die frisch gewaschenen Körperteile sofort wieder überwuchern!

    Man hatte in der Nacht, als die Infusion durch gewesen war, diese abgestöpselt. Die Nachtschwester hatte ihm erklärt: „Herr Jäger, ab sofort bekommen sie nur noch ihre Antibiose intravenös. Sie können ja essen und trinken und wenn sie ein Schmerzmittel brauchen, bekommen sie das als Tropfen oder Tablette.“ Und er hatte genickt, auch wenn es ihm schon beim Anblick der Schmerztropfen übel würde und er Magenschmerzen bekam. Nachdem er mit allerlei Verrenkungen in seine frische Wäsche geschlüpft war, ließ er sich ins Zimmer zurück fahren und setzte sich selber an den Bettrand. Wenn er sich festhalten konnte ging das ganz gut und er wollte einfach nicht, dass eine Schwester ihn anfasste. Gott sei Dank half ihm ein junger Pflegepraktikant beim Anziehen des Schulterverbandes, das konnte er aushalten! Inzwischen stand sein Frühstück auf dem Nachtkästchen, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach keinen Bissen hinunter bringen, nur den Kaffee trank er wieder, was ihm prompt heftige Magenkrämpfe bescherte. Er legte sich zurück und verkroch sich erneut unter seiner Decke und wartete, bis die vorbei gingen. Die Stationshilfe, die das Essenstablett abräumte, sah ihn merkwürdig an, aber dann verließ sie schulterzuckend den Raum-das war nicht ihr Bier, wenn die Patienten keinen Hunger hatten!
    Man ließ die Antibiose in ihn hinein laufen und als die Schwester dazu nur ein wenig seinen Unterarm berührte, durchfuhren ihn heisse Schauer-er wollte einfach nicht angefasst werden, aber er hielt es aus, um sich nicht zum Gespött zu machen. Die Visite brachte keine neuen Erkenntnisse, nur dass die HIV-Prophylaxe jetzt abgeschlossen war, man später nochmals Blut abnehmen würde und es jetzt sehr wichtig wäre, dass er kräftig Krankengymnastik machte. Das Duschen wurde für den morgigen Tag erlaubt und Ben war sich sicher, das würde erstens das Highlight des Tages werden und zweitens würde es ihm danach besser gehen, wenn er alle Reste von Estelle von sich abgewaschen hatte. Im Halbdämmer in der Nacht hatte er geträumt, sie wäre wieder von den Toten auferstanden und würde langsam auf ihn zukommen, um ihm erneut schlimme Dinge anzutun. Er hatte das Licht anmachen, seinen aufgeregten Atem beruhigen und sich selber zur Ordnung rufen müssen. „Ben-jetzt beginnst du langsam zu spinnen, die ist tot und du hast ihre Leiche gesehen, die jetzt sicher bereits in der Gerichtsmedizin im Kühlfach liegt, Tote sind tot und damit basta!“ sagte er zu sich, allerdings hatte er danach das Licht brennen lassen.


    Jetzt klopfte es an der Tür und als sich die öffnete, stand da Sarah mit Mia-Sophie auf dem Arm und Tim an der Hand und lächelte ihn an. Tim riss sich sofort los und rannte zu ihm. „Papa!“ rief er und war schon zu ihm ins Bett geklettert und hatte sich in seine Arme geworfen, soweit das mit den ganzen Verbänden möglich war. Obwohl es ihm weh tat, überzog ein glückliches Lächeln Ben´s Züge. „Na kleiner Kamikaze, wie geht’s dir denn und tut dein Arm noch sehr weh?“ erkundigte er sich und nun sah Tim erst auf seinen Verband-er hatte den anscheinend völlig vergessen. Sarah trat nun näher, legte das Baby ebenfalls auf dem Bett ab und beugte sich zu ihm herunter, um ihn zärtlich zu küssen. Ben hatte es wirklich nicht vor gehabt, aber unwillkürlich zuckte er zurück, so dass ihre Lippen ihn nur streiften und Sarah´s Miene versteinerte. Gerade hatte sie ansetzen wollen und sich entschuldigen, aber jetzt sah die Sache anders aus. Ben sah sie unglücklich an und sagte nur leise: „Es tut mir leid!“ woraufhin Sarah begann mit den Tränen zu kämpfen, ihre Kinder packte, was Tim lauthals protestieren ließ und aus dem Zimmer rauschte. Anscheinend wollte Ben wirklich nichts mehr mit ihr zu tun haben und gerade stürzte ihre Welt zusammen!


    Der sank wie ein Häufchen Elend in seinem Bett zusammen, wenn er nicht schon gelegen wäre, wäre er jetzt zusammen gebrochen und begann bitterlich zu weinen-oh verdammt, er machte gerade alles verkehrt, was man nur verkehrt machen konnte-was sollte nur aus ihm und Sarah werden? Aber auf diese Frage wusste er keine Antwort.

  • Die nächsten Stunden verlebte Ben wie in Trance. Der Krankengymnast kam wieder und machte mit ihm Übungen, die er wie eine Marionette absolvierte. Der Mann war freundlich zu ihm und versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln, auf das Ben aber nur einsilbige Antworten gab, oder gar nichts erwiderte. Innerlich zuckte der Physiotherapeut mit den Schultern, gut, wenn sein Patient sich nicht unterhalten wollte, dann eben nicht, er versuchte dennoch sich Mühe zu geben, das merkte man, aber ein wenig abgelenkt, durch was auch immer, war er schon. Als die Schulter mobilisiert war, Ben wieder mit dem Gehwagen ein wenig gelaufen war und auch der verkrampfte Rücken, dessen Muskeln teilweise hart und fest wie Stahl waren, ein wenig gelockert war, verabschiedete sich der Physio: „Morgen lasse ich sie zu uns runter bringen, Herr Jäger, da haben wir mehr Möglichkeiten und auch ein wenig Wärme, um die Muskulatur vor den Übungen zu lockern, der Fahrdienst wird sie dann mit dem Rollstuhl abholen!“ kündigte er an und Ben nickte. Allerdings war er froh, als er wieder angezogen war, der Schulterverband ihn schützte und er sich unter seiner Decke verkriechen konnte. Als die Schwestern durchgingen und ihn fragten, ob er etwas brauche, schüttelte er nur den Kopf und schlüpfte nur noch tiefer in die Kissen. Das Mittagessen ließ er unberührt zurück gehen, schluckte aber brav seine Tabletten gegen die Schmerzen und das Antibiotikum, das ab sofort oral gegeben wurde. Wieder wehrte sich sein Körper mit Magenkrämpfen, aber er sagte niemandem etwas davon, sondern hielt sie still aus und irgendwann wurde es auch besser.

    Am Nachmittag stand plötzlich die Chefin vor seinem Bett und er erschrak. Anscheinend war er doch kurz eingenickt gewesen und als sie ihn an der Schulter berührte und freundlich fragte: „Hallo Herr Jäger-wie geht es ihnen denn?“ zuckte er zurück, als hätte sie ihn mit einem Flammenschwert gestreift. Als er dann allerdings gewahr wurde, wer da vor seinem Bett stand, riss er sich zusammen und hörte auch interessiert zu, als sie ihm erzählte, dass der überlebende Wrestler die Tötung Frau Winkler´s ohne Umschweife zugegeben hatte, wie auch seine Beteiligung an den grausamen Morden an den Flüchtlingen. Anscheinend hatte dessen Leben durch den Verlust seines Partners keinen Sinn mehr und er nahm sein Schicksal, das ihn den Rest seines Lebens, oder zumindest die nächsten zwölf bis fünfzehn Jahre hinter Gitter führen würde, an. „Ich denke sie werden nicht einmal bei der Verhandlung aussagen müssen, denn die Entführung fällt bei den anderen Taten eigentlich nicht mehr ins Gewicht-außer da wäre noch etwas, was sie gerne gesühnt hätten?“ erklärte Frau Krüger und sah ihn aufmerksam an, aber Ben schüttelte den Kopf. „Da war sonst nichts!“ antwortete er und wusste, auf was die Chefin hinaus wollte. Immerhin hatte man ihn nackt im Bett der beiden Muskelprotze gefunden, aber Gott sei Dank war Semir rechtzeitig gekommen, bevor sie sich an ihm vergreifen konnten. Es hatte ihn schon angeekelt den beiden zuzusehen, wie sie sich zunächst miteinander vergnügt hatten und er wäre in Kürze dran gewesen, aber das war jetzt so weit weg und so unfassbar, dass er daran nicht mehr denken wollte.
    „Gut-dann fahre ich jetzt wieder!“ erklärte die Chefin und erhob sich von dem Stuhl, den sie sich ans Bett gezogen hatte. „Viele liebe Grüße von allen Kollegen aus der PASt, die wünschen ihnen-wie auch ich- eine baldige Genesung!“ richtete sie aus und streckte die Hand aus, um sich von Ben zu verabschieden. Der schützte allerdings einen Hustenanfall vor und presste seine rechte Hand auf seinen Mund, so dass Kim Krüger nun die Ihrige wieder zurück zog und mit einem kurzen Winken den Raum verließ. Irgendwie war Jäger ihr merkwürdig vorgekommen, aber dann schob sie die trüben Gedanken beiseite, der würde sich schon wieder fangen, er hatte sich schon so oft erholt, wenn er irgendwie verletzt worden war. Der war ein Stehaufmännchen und mit Hilfe seiner Familie und Gerkhan´s wäre der bald wieder auf den Beinen, da war sie sich ziemlich sicher. Erleichtert kehrte Kim Krüger wieder in ihr Büro zurück und begann Berichte zu diktieren, die Susanne später abtippen würde. Das war das Privileg einer Revierleiterin, die ließ schreiben und musste die Schriftsätze nicht selber mühsam in den PC eingeben, wie die anderen Beamten!


    Sarah war, nachdem Ben sie abgewiesen hatte, zu den Flüchtlingen in ihre Wohnung gefahren. Sie musste sich jetzt ablenken und bedankte sich als Erstes ganz herzlich für deren aufmerksame Beobachtungsgabe, die ihr und den Kindern das Leben gerettet hatte. Tim wurde gebührend bedauert und zeigte stolz seinen Verband, der schon ziemlich ramponiert war, her, bevor er mit Murat und den anderen Kindern zu spielen begann, das Baby ging von Arm zu Arm und die Frauen waren alle aufs Neue entzückt von dem süßen strampelnden Blondschopf. Sarah half beim Ausfüllen mehrerer Formulare, gab der ganzen Gruppe Deutschunterricht und fühlte sich wohl und gebraucht. Außerdem konnte sie so verdrängen, was innerlich an ihr nagte-der Streit mit Ben und dessen merkwürdiges Verhalten, das aber keinen anderen Schluss zuließ, als dass er sie nicht mehr liebte und daran hatte sie schwer zu knabbern! Zuletzt ließ sie die Kinder kurz in der Obhut der Großfamilie zurück, Tim, der lauter tolle neue Freunde gefunden hatte, wäre jetzt eh nicht mitgegangen und Mia-Sophie schlummerte gerade satt und zufrieden auf einem der Betten, liebevoll bewacht von den Frauen und so fuhr Sarah mit einem der Männer und der ältesten Frau in ein Geschäft in der Nähe, das arabische Lebensmittel führte und man kaufte die gewohnten Zutaten und Gewürze, woraufhin die Frauen in der Wohnung ein köstliches Mahl bereiteten, das wunderbar schmeckte. Mit leisem Bedauern dachte Sarah, dass Ben davon vermutlich ebenso begeistert wäre wie sie-er liebte doch fremdländische Küche-und kurz überlegte sie, ob sie etwas in Tupperschüsseln abfüllen und ihm bringen sollte, aber dann verwarf sie den Gedanken. Sie wollte jetzt nicht an Ben und ihren Streit denken und das war auch ein Grund, warum sie nicht zu Hildegard fuhr. Die würde ihr sicher ins Gewissen reden und versuchen die Gräben zu kitten, aber Sarah hatte eben auch ihren Stolz und wenn Ben jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, dann musste sie eben versuchen, damit zurecht zu kommen und die Verdrängungstaktik funktionierte ausnehmend gut.
    Erst am Abend fuhr Sarah mit den Kindern zurück in ihr Haus und die waren von den ganzen neuen Eindrücken so geschafft, dass sie fast sofort schliefen und erneut lenkte Sarah sich mit einem alten Film und einer Tüte Chips ab. Schuldbewusst betrachtete sie sich danach im Spiegel-wenn sie so weiter machte, würde sie bald aussehen wie eine Matrone, kein Wunder, wenn Ben nichts mehr an ihr fand, vielleicht hatte sie selber Schuld daran, dass er sie nicht mehr liebte-wenn sie an die Figur dieser Winkler dachte, die sie im Hotel im knappen Bikini gesehen hatte und an der kein Gramm Fett gewesen war, nur straffe große Brüste und ein flacher Bauch, an dem man jeden Muskel gesehen hatte, dann war sie dagegen ein undisziplinierter Fettkloß mit Schwabbelbauch und Hängebusen, der noch überhaupt nichts gegen die Schwangerschaftspfunde unternommen hatte, sondern stattdessen tütenweise Chips aß. Trotzdem kamen ihr nun die Tränen und sie weinte sich in den Schlaf. Was war nur zwischen Ben und ihr geschehen, dass sie nicht mehr miteinander konnten? Aber irgendwann verlangte die Natur ihr Recht und Sarah sank in einen Schlaf, der allerdings von allerlei bösen Träumen angereichert war und der Kern war immer, dass sie Ben verlor und als sie am Morgen aufwachte, war sie müde und traurig und hoffte im ersten Moment, dass der gestrige Tag nie stattgefunden hätte, aber leider war der bittere Realität.


    Semir erholte sich zusehends. Er überlegte zwar kurz, seinen Freund heute schon zu besuchen, aber Andrea ermahnte ihn streng, das nicht zu tun. „Semir-wenn du Ben ansteckst, hat der überhaupt nichts davon. Gönn dir noch einen Tag zuhause, dann kann das Antibiotikum wirken und umso eher bist du wieder fit!“ beschwor sie ihn und widerstrebend stimmte Semir ihr zu. Wie immer hatte seine Frau Recht, aber trotzdem vermisste er seinen Freund, aber der hatte ja Sarah-morgen allerdings würde ihn niemand mehr davon abhalten können, zu Ben zu fahren, aber so verbrachte er noch einen geruhsamen Couchabend, um danach zeitig ins Bett zu gehen und am Morgen erholt aufzuwachen-er war wieder gesund, Gott sei Dank!


    Ben brachte irgendwie einen schrecklichen, trostlosen Tag hinter sich. Am Abend weinte er sich lautlos in den Schlaf. Was war in seinem Leben nur schief gelaufen, dass er alles kaputt machte? Er fühlte sich von Gott und der Welt verlassen und als er am Morgen völlig erschöpft erwachte, merkte er, wie es in seinem Bauch plötzlich zu toben begann und er rollte sich voller Schmerzen unter seiner Decke zusammen-oh Gott, was geschah nur mit ihm? Am liebsten würde er auf der Stelle sterben!

  • Als die Frühdienstschwestern ins Zimmer kamen, sagte die zuständige Bereichsschwester fröhlich: „So Herr Jäger, wenn sie möchten klebe ich ihnen jetzt Duschpflaster auf die OP-Wunden und helfe ihnen beim Duschen!“ denn von Sarah war ja weit und breit nichts zu sehen, aber dazu brauchten sie ja auch keine Angehörigen. Als Antwort kam nur ein Stöhnen unter der Decke hervor, aus der ein dunkler, verstrubbelter Haarschopf hervor ragte. „Herr Jäger, was ist mit ihnen?“ fragte die junge Schwester erschrocken und zog die Decke zur Seite. Ben hatte die eigentlich von innen festhalten wollen, aber er hatte keine Kraft dazu, denn er musste seine beiden Hände-die im Verband und auch die andere, fest auf seinen Bauch drücken, in der Hoffnung so den Schmerz, der scharf wie ein Schwert in ihm tobte, zu begegnen. Zu allem Übel wurde ihm gerade noch kotzschlecht und als die Schwester, die soeben ihre Kollegin losgeschickt hatte, den diensthabenden Arzt zu verständigen, das Würgen hörte, schaffte sie es gerade noch ihm eine Brechschale aus Pappmache vorzuhalten, als sich schon eine Menge scharfer Magensaft, durchsetzt mit Blutfäden den Weg nach draußen suchte. Ben erbrach sich wieder und wieder, zugleich hatte er das Gefühl, ihm schnitte jemand den Bauch entzwei und gerade war es ihm schnurzpiepegal wer ihn anfasste, ob Mann oder Frau.

    Kurze Zeit später stand der diensthabende Arzt vor ihm und besah sich den Inhalt der Brechschale, die dann flugs durch eine neue ersetzt wurde. „Herr Jäger, wie lange geht das schon so?“ fragte er ihn, aber vor lauter Würgen konnte Ben, dem der kalte Schweiß ausgebrochen war, gerade nichts antworten. Irgendwie zog man ihm den Gilchristverband aus, damit der Arzt überhaupt den Bauch betasten konnte, aber Gott sei Dank hielt sich die Abwehrspannung dort noch in Grenzen. Man hatte seinen Blutdruck und die Herzfrequenz kontrolliert, beide waren erhöht, aber das war oft so, wenn die Leute Schmerzen hatten und brechen mussten. „Bitte sofort eine Ampulle Pantozol 40mg auflösen und eine Vollelektrolytlösung vorbereiten!“ ordnete der Arzt an und spritzte wenig später Ben das Medikament. Als die Infusion schnell in ihn tropfte und man der dann auch noch Novalgin zugab, das die Schmerzen ein wenig linderte, wurde es ein wenig leichter.

    Der Arzt hatte inzwischen in der Endoskopieabteilung angerufen und den diensthabenden Gastroenterologen, der gerade seine Schicht begonnen hatte, ans Telefon holen lassen. „Du ich hätte eine Bitte-ich habe hier einen Patienten, den Herrn Jäger, der eigentlich wegen multipler chirurgischer Verletzungen bei uns liegt. Der hat starke Magenschmerzen und erbricht leicht blutig, könntest du dir den mal anschauen, damit wir nichts übersehen?“ bat er und der spezialisierte Internist bat nach kurzer Überlegung und Rücksprache mit der Endoskopieschwester, ihn doch sofort her zu bringen. „Ich denke wir schauen da vorsichtshalber mal rein, Blutfäden sind immer ein Alarmsignal, nicht dass doch schon etwas perforiert ist!“ hatte er überlegt und so war Minuten später Ben in seinem Bett auf dem Weg in die Endoskopieabteilung. Ihm ging es schon ein wenig besser, aber trotzdem bat man ihn auf den Untersuchungstisch rüber zu rutschen, steckte ihm einen Sättigungsfühler auf den Finger und wenig später wurde ihm schwindlig und er bekam nur noch am Rande mit, wie man ihm einen Beißring in den Mund schob, das Zimmer verdunkelte und der Arzt ihm ein Endoskop in den Rachen schob. Ohne lange zu fackeln hatte sich der Internist die letzten Laborwerte angesehen, es sprach nichts gegen eine Sedierung und so hatte er ihm ein paar Milligramm Midazolam gespritzt, was aus Ben eine willenlose Puppe machte, die zu keiner Abwehr fähig war. Er wurde nicht so ausgeknockt, dass er gar nichts mehr mitbekam, denn man wollte ja auch seine Atmung und die Schutzreflexe nicht dämpfen und so bekam er zwar mit, wie das Instrument in seinen Hals geschoben wurde, musste gleichwohl auch würgen, aber es war ihm egal und seine Welt erschien ihm wie in eine dicke Schicht Watte gepackt.

    Als der Internist das Instrument weiter vorschob, konnte man auf dem Videoschirm die rot entzündete Speiseröhrenschleimhaut sehen und der ganze Magen war eine einzige knallrote Wunde mit vereinzelten Kratern. „Oh je-er muss nicht erst seit gestern ziemliche Schmerzen gehabt haben, warum hat er denn nichts gesagt?“ wunderte sich der Internist, während er einige Fotos machte, genau kontrollierte, ob bereits eine Perforation vorlag, was aber nicht so schien und dann sein Instrument wieder heraus zog. Man beförderte Ben auf einem Rollbrett wieder ins Bett, spritzte ihm nochmals Pantozol, um die Produktion der Magensäure zu hemmen, ließ ihn auf der Seite liegen, das dicke Kopfkissen im Rücken und unter dem Kopf ein Einmaltuch, denn manche Patienten sabberten noch eine Weile, bis sie ganz wach waren und stellte ihn mit dem Sättigungsfühler am Finger, gut zugedeckt in den Nebenraum, damit er dort unter Überwachung wieder zu sich kommen konnte. Der Internist informierte noch kurz seinen Chirurgenkollegen, der für Ben zuständig war, während die Endoskopieschwester schon den nächsten Patienten auflegte. Das würde den ganzen Vormittag gehen wie am Fließband, bis zur Mittagsbesprechung würde der Gastroenterologe mindestens 15 einbestellte Patienten untersucht haben, denn für eine Magenspiegelung musste man nüchtern sein, weswegen man die geplanten Untersuchungen als Patientenservice meist am Vormittag durchführte.

    „Ich habe gerade deinen Patienten gespiegelt, er hat eine heftige Refluxösophagitis und eine flächige Gastritis mit mehreren Geschwürkratern, allerdings sieht es noch nicht so aus, als wäre da bereits was perforiert. Ich habe auch noch auf seinen Bauch gefasst, er hat kaum Abwehrspannung, vermutlich haben wir es also noch rechtzeitig erwischt. Du hast gleich richtig reagiert, indem du ihm sofort Pantozol gegeben hast, ich würde sagen, er bekommt jetzt für drei Tage dreimal täglich 40mg, damit das abheilen kann, dazu bitte darauf achten, dass er möglichst oft milde Sachen, am besten Schleimsuppen und Weissbrot zum Puffern isst und Medikamente, vor allem Schmerzmittel, am besten intravenös, um den chemischen Reiz zu vermeiden. In drei Tagen schaue ich nochmals rein und wenn es dann gut ist, kann man das Pantozol für zwei Monate in Tablettenform ein oder zweimal täglich geben. Er bleibt jetzt noch ein wenig bei uns, bis er ganz wach ist und dann rufen wir an, wenn ihr ihn abholen könnt!“ sagte er und erleichtert nahm der Chirurg zur Kenntnis, dass sie noch rechtzeitig reagiert hatten. Allerdings wunderte er sich-erstens dass sich Herr Jäger nicht eher gerührt und von seinen Schmerzen berichtet hatte, denn solch ein Befund erwuchs sich nicht in einem Tag und zweitens, dass die Nahrung, die ja im Magen als Puffer diente, eine derart ausgeprägte Geschwürsentwicklung nicht verhindert hatte. Aber es gab mehr Dinge zwischen Himmel und Erde und gerade bei Magengeschwüren war die psychische Komponente ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Sein Patient hatte die letzten Wochen ja so einiges mitgemacht und vermutlich spielte das ebenfalls mit rein.

    Nach kurzer Überlegung griff er dann auch, nach einem Blick auf die Uhr-es war inzwischen halb acht geworden-zum Telefon, um die Ehefrau, die ja Krankenschwester war, zu verständigen. Als er dann allerdings auf die Akte sah, um nach der Telefonnummer zu kucken, entdeckte er den Vermerk: „Auskunftssperre, auch für die Ehefrau!“ und steckte daraufhin achselzuckend sein Telefon wieder weg. Merkwürdig, aber wenn der Patient das so entschieden hatte, war das natürlich auch für ihn bindend und so stillte eine ahnungslose Sarah derweil Mia-Sophie und gab parallel dazu Tim in seinem Hochstuhl sein Frühstück. Bisher hatte sie noch gar keinen Plan für den Tag, aber sie würde auf jeden Fall versuchen noch einmal mit Ben zu sprechen, wenn er es denn zuließ. Mit traurigem Gesichtsausdruck und einem Herz schwer wie Blei räumte sie dann ein wenig zusammen, die Kinder, die Mamas trübe Stimmung natürlich bemerkten waren beide quengelig und Sarah hatte plötzlich eine Heidenangst vor der Zukunft und sah sich schon mit zwei kleinen Kindern alleine da stehen. Wobei-eines war klar, auch wenn Ben sie persönlich nicht mehr wollte-an seinen Kindern hing er und würde für die auch sorgen, aber sie liebte ihn doch noch so unendlich, was war nur in ihn gefahren, dass er sich plötzlich von ihr abwandte-ob da eine andere Frau, vielleicht sogar eine ihrer Kolleginnen auf der Normalstation dafür verantwortlich war? Aber das würde sie herausfinden-sie würde ihn nicht kampflos aufgeben, beschloss Sarah und als sie aus dem Fenster sah und ein wundervolles Morgenrot, das bei diesem Wetter Schnee verhieß aufzog, straffte sie die Schultern-sie würde um ihren Mann kämpfen, egal gegen wen und das war ein gutes Gefühl!

  • Sarah machte sich zurecht. Sie zog sich den neuen schicken Pulli, den Ben ihr erst kürzlich gekauft hatte an, legte den Schmuck, den sie zu Weihnachten bekommen hatte, an, was eigentlich mit den Kindern unpraktisch war, aber um das gings jetzt nicht, machte ihre Haare und legte dezentes Make-Up auf. Dann rief sie Hildegard an, ob die ihr die Kinder für ein paar Stunden abnehmen könnte, lud die dann gemeinsam mit Lucky ins Auto und fuhr los. Nachdem sie Tim, Mia-Sophie und den Hund abgeladen hatte, fuhr sie weiter zum Krankenhaus und strebte, schon etwas positiver gestimmt, auf die Station, auf der Ben lag. Vielleicht hatte er heute Nacht gut geschlafen und die gestrige Missstimmung wäre einfach verflogen? Sie malte sich aus, wie er die Arme-na gut, zumindest den einen Arm ausstrecken würde und sie sich Entschuldigungen stammelnd, in den Armen liegen würden. Es konnte doch nicht sein, dass man eine langjährige Beziehung jetzt innerhalb von drei Tagen kaputt machte! Sie atmete nochmals tief durch und klopfte dann an der Zimmertüre. Als keine Antwort ertönte, drückte sie dennoch die Klinke nach unten und trat ein. Verwundert und ein wenig entsetzt starrte sie auf den leeren Bettplatz-Ben war nicht da! Allerdings waren seine ganzen privaten Sachen noch auf dem Nachtkästchen, im Bad und in den Schränken, wie sie nach kurzer Kontrolle feststellte, wo steckte er also. Als sie dann im Mülleimer noch eine Brechschale mit blutigem Schleim entdeckte, griff eine kalte Hand nach ihrer Kehle-was war geschehen? Sie drehte sich brüsk um und nachdem sie keinen Arzt und keinen ihrer Kollegen auf dem Flur entdecken konnte, brach sie wie eine Naturgewalt ins Stationszimmer ein, wo die alle miteinander beim Frühstück saßen. „Wo ist mein Mann?“ rief sie panisch und auch die Kollegen, die sie nicht persönlich kannten, wussten sofort wer sie war und wer gemeint war-es war nämlich gerade Thema gewesen.

    Seufzend erhob sich der Stationsarzt, bot Sarah einen Kaffee an, den sie aber ausschlug und forderte sie höflich auf, ihr ins Arztzimmer zu folgen. Oh je-was für eine schwierige Mission! Er persönlich kannte Sarah von seiner Facharztanerkennungszeit auf der Intensivstation her und hatte sie als nette und kompetente Schwester kennen gelernt. Was gerade zwischen ihr und ihrem Mann schief lief konnte und wollte er nicht beurteilen, aber er musste sich an rechtliche Vorgaben halten. „Sarah, nimm doch Platz!“ bat er sie, aber Sarah schüttelte den Kopf und blieb stehen. „Wo steckt Ben, was ist passiert und warum habt ihr mich nicht verständigt?“ fragte sie, aber weil ihm nichts anderes einfiel, antwortete der junge Chirurg einfach wahrheitsgemäß: „Sarah, dein Mann hat uns eine Auskunftssperre erteilt, die sich auch auf dich erstreckt, ich durfte dich nicht anrufen!“ und nun wurde Sarah blass und musste sich jetzt doch setzen. Ihr wurde gerade regelrecht schlecht. So weit war es also schon mit ihnen gekommen, dass sie nicht einmal mehr erfahren durfte, wenn es ihm schlecht ging. Anscheinend hatte er sich innerlich schon völlig von ihr abgewendet, denn er kannte sie gut genug um zu wissen, wie weh er ihr damit tat. Einerseits war jetzt da immer noch die Sorge um ihn, denn sie wusste ja definitiv nicht, wo er sich befand und wie es ihm ging, aber dann war da auch die große Enttäuschung, die ihre Knie weich werden ließ und alle Hoffnung auf ein Leben wie zuvor zunichte machte. „Sag mir wenigstens ob er lebt-ich werde dann auch sofort gehen und keinen Kontakt mehr suchen, wenn er das nicht möchte!“ sagte sie hohl und nach kurzer Überlegung teilte ihr der Arzt mit: „Ich kann dir sagen, dass es ihm schon wieder einigermaßen gut geht, er behandelt wurde und in Kürze wieder auf Station gebracht wird!“ teilte er ihr mit und fügte dann noch hinzu: „Vielleicht solltet ihr mal miteinander reden und ich schicke euch die Psychologin dazu, warte doch einfach noch ein bisschen?“ aber Sarah schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Locken nur so flogen. „Ich glaube da gibt’s nichts mehr zu reden-er hat mir mehrfach unmissverständlich klar gemacht, dass ich in seinem Leben-aus welchen Gründen auch immer-nichts mehr zu suchen habe. Ich werde jetzt gehen und nicht mehr kommen!“ sagte sie mit brüchiger Stimme und erhob sich mit Beinen schwer wie Blei. „Ich finde das ist nicht der richtige Weg!“ versuchte der Arzt sie noch umzustimmen, aber Sarah´s Entschluss war gefallen, sie würde von sich aus keinen Kontakt mehr mit ihrem Noch-Ehemann suchen. Der Vertrauensbruch wog zu schwer und mit schleppenden Schritten entfernte sie sich von der Station und schlich zu ihrem Wagen, wo sie erst einmal regelrecht zusammen brach und bitterlich zu weinen begann.
    Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, startete sie den Motor und fuhr in dichtem Schneetreiben, das den Verkehr in und um Köln fast zum Erliegen brachte, langsam zu Hildegards Haus. Sie fühlte sich leer und ausgehöhlt. Die glücklichste Zeit ihres Lebens hatte soeben ein Ende gefunden und als sie mit verweinten Augen ihre Kinder und den Hund einsammelte und mit denen im Schneckentempo, aber dank Allradantrieb relativ sicher, wieder zurück nach Hause fuhr, konnte auch Hildegard, die sie zu trösten versuchte und gerne erfahren wollte, was denn überhaupt los war, nichts ausrichten und blickte ihr unglücklich hinterher. Zu allem Unglück hatten beide Kinder zu fiebern begonnen und waren verschnupft und grantig und so hatte Sarah den Rest des Tages genügend zu tun die beiden kranken Mäuse zu pflegen und zu beschäftigen. Sie hatte den Schmuck abgelegt, den schicken Pullover und die zugegebenermaßen kneifende schicke Hose in die Ecke gepfeffert, sich in eine alte Jogginghose und ein ausgeleiertes Sweatshirt geschmissen-es war völlig egal wie sie aussah, ihr Leben war sowieso gerade nicht lebenswert-nie hätte sie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde!


    Semir hingegen fühlte sich wieder gut. Er hatte nochmals eine Nacht erholsam geschlafen, das Antibiotikum hatte seine volle Wirkung entfaltet, er war fieberfrei, der Husten hatte nachgelassen und das, was aus der Nase lief war klar und nicht mehr widerlich. „Andrea-ich muss jetzt einfach nach Ben sehen!“ sagte er. „Ich werde mir einen Mundschutz geben lassen und meine Hände desinfizieren, damit ich ihn nicht anstecke!“ erläuterte er ihr und kaum hatte sie die Kinder nach dem Frühstück in Schule und Kindergarten gebracht, machte er sich auf in Richtung Krankenhaus und freute sich, seinen Partner wieder zu sehen. Gott sei Dank hatte der von dem Missbrauch nichts mit bekommen-er würde einen Teufel tun und schlafende Hunde wecken!
    So betrat Semir frohgemut die Normalstation, ließ sich einen Mundschutz geben und desinfizierte sorgfältig seine Hände. Als er dann klopfte und ein müdes „Ja bitte!“ von drinnen ertönte, betrat er das Zimmer und bekam als Erstes einmal einen riesigen Schreck. Ben sah aus wie ausgekotzt, eine Infusion tropfte zügig in ihn und er wirkte wächsern und müde. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und er hatte sichtlich abgenommen-auch im Gesicht, seit Semir ihn zuletzt gesehen hatte. Man hatte seinen Gilchristverband wieder angezogen, aber das Waschen auf später verschoben, wenn er sich ein wenig erholt hatte. Er war zwar wieder einigermaßen wach, aber immer noch schrecklich müde, allerdings hatte er es genossen ein wenig ausgeknockt zu werden, zu schlafen und auch zu vergessen, aber je wacher er wurde, desto unlösbarer erschienen seine Probleme wieder. Trotzdem wandte er sich zu seinem Freund und seine Mundwinkel deuteten ein kleines Lächeln an. „Schön dass du da bist!“ sagte er rau und verzog dann das Gesicht, denn in seinem Rachen ließ gerade die Betäubung nach und auch die Bauchschmerzen waren immer noch da. „Ich hatte gerade eine Magenspiegelung-sie sagen ich habe da lauter Geschwüre!“ teilte er dann seinem betroffenen Freund mit, der sich einen Stuhl näher gezogen hatte und jetzt vor dem Bett seines Freundes Platz nahm und seine warme Hand auf die eiskalte seines Freundes legte. „Ach du liebe Güte!“ erwiderte Semir darauf und Ben schloss seine Augen nun wieder-erstens um das Midazolam noch ein wenig auszuschlafen und dann auch, um die Nähe und tröstliche Fürsorge seines besten Freundes zu genießen-gleich ging es ihm durch Semir´s Anwesenheit ein wenig besser!

  • Semir saß eine ganze Weile neben dem Bett und sah seinem Freund beim Schlafen zu. Langsam wurde die Hand, die er hielt wärmer und als Ben nach einiger Zeit die Augen aufschlug und nach dem Wasserglas griff, half er ihm beim Trinken und fragte dann: „Wann kommt denn Sarah?“ denn ehrlich gesagt, war er ein wenig verwundert, dass die noch nicht aufgeschlagen war, man hatte sie doch sicher angerufen, als man Ben zur Magenspiegelung gebracht hatte. Ein Schatten flog über Ben´s Gesicht und er sagte leise: „Die war nur gestern kurz da, heute noch gar nicht, wir hatten äh, eine kleine Störung!“ erklärte er und nun betrachtete ihn Semir mit gerunzelter Stirn. Was war eine kleine „Störung“?


    In diesem Augenblick-es ging schon auf Mittag zu- kam die für Ben zuständige junge Schwester, fröhlich eine Waschschüssel aus Edelstahl schwenkend, herein. „So Herr Jäger-jetzt wollte ich ihnen heute Morgen ja was Gutes tun und sie duschen, aber in Anbetracht der Umstände vertagen wir das auf morgen und ich würde sie dafür gerne im Bett waschen. Würden sie bitte solange rausgehen-vielleicht einen Kaffee in der Cafeteria trinken?“ wandte sie sich freundlich an Semir, aber da hatte sie die Rechnung ohne ihren Patienten gemacht. Semir wollte sich nämlich gerade erheben, da sagte Ben heftig: „Mein Freund bleibt und das mit dem Waschen ist mir jetzt zu anstrengend-das macht meine Frau dann am Nachmittag!“ behauptete er und hielt unwillkürlich seine Zudecke fest, damit ihn niemand entblößen konnte. Der Schwester entgleisten gerade die Gesichtszüge. Sie hatte Sarah´s Auftritt am Morgen ja miterlebt und der Stationsarzt hatte, nachdem sie gegangen war, natürlich auch davon erzählt, wie sie reagiert hatte-sie wagte zu bezweifeln, dass die überhaupt noch jemals kommen würde, aber eigentlich ging sie das auch nichts an und wenn ihr Patient partout nicht gewaschen werden wollte, würde sie ihn mit Sicherheit nicht dazu zwingen, das konnte und durfte sie gar nicht. „Na dann eben nicht!“ sagte sie ein wenig pikiert und stellte die Waschschüssel ab. „Ich bringe ihnen später ihr Mittagessen, der Gastroenterologe hat darum gebeten, dass sie Schleimsuppen und Weissbrot zu sich nehmen, damit die Magensäure abgepuffert wird!“ kündigte sie noch an und Ben zog eine Grimasse, als sie den Raum wieder verließ. „Pfui Teufel-Schleimsuppe-die kann sie selber essen!“ sagte er leise zu Semir und der musste sich jetzt ein Grinsen verkneifen-da war ein Hauch des alten Ben zu spüren, aber als der dann den Kopf wieder in die Kissen fallen ließ und vor Schwäche und Erschöpfung die Augen schloss, betrachtete er ihn voller Sorge-irgendwas stimmte nicht mit seinem Freund und einen kurzen Moment erwog er das Gespräch doch auf die Vorfälle in der Wohnung zu bringen, aber dann verrieten regelmäßige Atemzüge, dass Ben eingeschlafen war.


    Als eine Stunde später tatsächlich die angekündigte Suppe und auf einem Teller zwei Scheiben labbriges Toastbrot gebracht wurden, erwachte Ben, aber als Semir ihn aufforderte zu essen, wies er das mit allen Anzeichen von Ekel zurück. „Semir-du musst das verstehen-ich kann das nicht essen!“ sagte er und als Semir ihn dann überredete wenigstens ein bisschen Weissbrot zu probieren, biss er einmal davon ab, aber er hatte es kaum gekaut und runter geschluckt, da begann er schon wieder zu würgen und es kam sofort retour. „Ich bin noch nicht so weit-ich kann nichts essen!“ sagte Ben und verschwieg, dass er soeben wieder gemeint hatte Estelle zu riechen und zu schmecken und das hinderte ihn absolut daran, etwas zu sich zu nehmen. Semir sah ihn unglücklich an, läutete und ließ Ben eine frische Brechschale bringen. „Wollen sie es nicht später nochmals versuchen mit dem Essen?“ fragte die Schwester freundlich, aber als Ben blass den Kopf schüttelte, räumte sie die Suppenschüssel und das Brot wieder ab. Vielleicht war es bis zum Abend besser und zumindest Flüssigkeit hatte ihr Patient immerhin über die Infusionen. Man würde als nächste Trägerlösung für das Schmerzmittel fünfprozentige Glucose nehmen, dann hatte er wenigstens ein paar Kalorien und so machte man das.

    Ben verweigerte, dass man ihm die Kissen aufschüttelte, wollte nicht aus dem Bett und nicht einmal die Urinflasche hatte er benutzt, solange sie im Zimmer war. Semir erkannte seinen Freund nicht wieder, der sonst immer alles machte, um bald wieder gesund zu werden. Jetzt boykottierte er regelrecht alle gut gemeinten Versuche, ihm zu helfen und als kurz nach dem Mittagessen die Physiotherapeutin wieder zu ihm kam, um heute doch nochmals im Bett Übungen zu machen, schickte er sie ebenfalls unter dem Vorwand, er wäre zu müde und ihm sei immer noch übel, weg. „Herr Jäger, sie müssen sehr aufpassen, dass die Schulter nicht Schaden nimmt, wenn die nicht jeden Tag kontrolliert durch bewegt wird. Es kann sein, dass die aufwändige OP dann umsonst war-der Schulterspezialist geht uns allen miteinander an den Kragen!“ warnte sie ihn, aber Ben drehte sich kommentarlos im Bett um und präsentierte ihr seine Rückseite-natürlich zugedeckt bis zum Hals, woraufhin sie schulterzuckend das Zimmer verließ. Sie würde das in der Akte dokumentieren, aber warum hatte der Patient denn die OP dann überhaupt machen lassen, wenn er jetzt so überhaupt nicht dazu tat, dass er wieder vollständig gesund wurde, wofür die Physiotherapie eminent wichtig war?


    Semir starrte sprachlos seinen Freund an, so hatte er ihn noch nie erlebt und gerade wollte er ihn jetzt zur Rede stellen und erfahren, was überhaupt los war, da stöhnte der plötzlich auf und presste die Hände auf seine Flanke. „Oh Gott-Semir ich habe brutale Schmerzen!“ keuchte er und der Schweiß brach ihm aus, was Semir veranlasste, sofort auf den Klingelknopf zu drücken. Was war denn jetzt schon wieder los? Die Schwester kam wenig später und Ben ächzte und weinte inzwischen nur noch, sie holte den Arzt dazu und Semir stand regelrecht schreckensbleich daneben und konnte die Qualen, die sein Freund gerade ausstand regelrecht mitfühlen-du lieber Himmel, was war denn jetzt schon wieder los, irgendwie hörte das gerade gar nicht auf!

  • Der Arzt hatte die Decke nach unten geworfen, mithilfe der Schwester den Gilchristverband ausgezogen und Ben´s Shirt nach oben geschoben, damit er überhaupt an seinen Patienten ran kam. Der stöhnte die ganze Zeit laut, als die Schmerzen in Wellen über ihn hinweg liefen. Nach einer kurzen Tastuntersuchung war dem Arzt klar, dass der Flankenschmerz nichts für sein Fachgebiet war und anhand der Vorgeschichte tippte er stark auf eine urologische Ursache. Zur Schwester gewandt, die aufmerksam zuhörte, sagte er deshalb: „Bringen sie mir bitte eine Ampulle Piritramid in eine Spritze aufgezogen!“ was die veranlasste, sich sofort auf dem Absatz umzudrehen, um das Gewünschte zu holen und dann zog er sein Telefon aus der Kitteltasche, um die urologische Abteilung zu verständigen. Wenig später hatte er den diensthabenden Arzt an der Strippe: „Hör mal, ich habe hier einen Patienten, der an plötzlich aufgetretenen, kolikartigen stärksten Flankenschmerzen leidet. Vor wenigen Wochen wurden bei dem in einem anderen Krankenhaus Blasen-und scharfkantige Harnleitersteine festgestellt, bisher auf seinen eigenen Wunsch hin, aber bei uns nicht behandelt. Ich denke, jetzt wird er nicht drum herum kommen und wie ich ihn mir so anschaue-“ sagte er mit einem Blick auf Ben, der sich vor Schmerzen im Bett wand und das laute Stöhnen konnte sein Kollege ebenfalls durch das Telefon hören „wird er vermutlich im Augenblick nichts dagegen haben, wenn ihr euch um ihn kümmert. Er bekommt jetzt von mir noch ein wenig Piritramid und dann würden wir ihn zu euch runter bringen!“ offerierte er seinem Kollegen, der sofort zustimmte. Semir war wieder näher zu seinem Freund getreten und hatte ihn tröstend berührt. Dessen Schmerzen gingen ihm fürchterlich nahe und sein Herz floss über vor Mitleid. Auch die Übelkeit überfiel ihn wieder und ließ ihn zusätzlich noch würgen. Als die Schwester erneut herein kam und dem Arzt die Spritze in die Hand drückte, packte sie dann schnell eine frische Nierenschale und hielt sie Ben, der zusammen gekrümmt auf der Seite lag, vors Gesicht. Auch wenn im Moment nichts kam, es musste ja nicht sein, dass er das Bett versaute!


    Der Arzt spritzte fraktioniert einige Milligramm des Opiats, aber die Schmerzen wurden nur unwesentlich besser, allerdings bekam Ben Schwierigkeiten mit der Koordination, seine Atmung veränderte sich und eine große Müdigkeit ergriff von ihm Besitz, allerdings war an Schlaf wegen der Koliken nicht zu denken. „Vielleicht geben wir ihm noch Buscopan zum Krampf lösen in die Infusion und dann sollen sich die spezialisierten Kollegen um ihn kümmern-er geht in die Uro-Endo!“ informierte der Doktor die Schwester und die nickte und verließ erneut das Zimmer, um erstens das Medikament und zweitens die Akte zu holen. Der Arzt wandte sich an Semir. „Wenn ich sie dann bitten dürfte nach Hause zu gehen!“ sagte er. „Herr Jäger wird jetzt dann in einer anderen Abteilung behandelt, da ist es nicht möglich Besucher mit zu bringen!“ forderte er Semir zum Gehen auf, aber Ben schüttelte nun wie wild den Kopf. „Nein-er bleibt und soll mitkommen, sonst gehe ich nirgendwohin!“ stöhnte er und Semir beeilte sich zu erklären, dass er schon bei mehreren Blasenspiegelungen und anderen unangenehmen Behandlungen seines Freundes dabei gewesen wäre. „Nun gut-ich kann da jetzt gar nichts dazu sagen-das müssen sie mit meinen Kollegen in der urologischen Abteilung klären!“ beschloss der Doktor und in diesem Augenblick kam auch schon die Schwester wieder herein, spritzte das krampflösende Medikament in die Infusionsflasche zu und stellte dann die Tropfrate schneller. Man warf die Zudecke über Ben, der immer noch jammernd auf der Seite lag, denn irgendwie half die Schmerzmedikation gerade heftig wenig und zwischendurch würgte er immer wieder und Semir tat das schmerzgeplagte Häufchen Elend da vor ihm fürchterlich leid. Die Bremsen wurden gelöst und Sekunden später waren die vier Menschen unterwegs in die Urologie-hoffentlich würde man Ben erfolgreich behandeln können!


    Draußen schneite es weiterhin und obwohl Schnee in und um Köln ja nicht so die Ausnahme war, blieb er diesmal auf den gefrorenen Straßen liegen, es ereigneten sich mehrere Unfälle, die die Polizei auf Trab hielten und viele Kölner stellten fest, dass Winterreifen doch eine gute Anschaffung gewesen wären, wenn sie von den Straßen rutschten. Die Fahrer waren diese Straßenverhältnisse kaum gewöhnt, es gab zu wenige Schneepflüge und Räumfahrzeuge und so kam der städtische Verkehr so nach und nach fast zum Erliegen, während es weiter und weiter schneite.
    Sarah musterte sorgenvoll ihre Kinder, die hatten beide sehr hohes Fieber und sollten dringend von einem Kinderarzt angeschaut werden, aber nun rächte es sich, dass sie den nach ihrem Umzug nicht gewechselt hatten, sondern weiterhin bei dem netten Doktor geblieben waren, der Tim ab seiner Geburt betreut hatte und dessen Praxis um die Ecke ihrer Stadtwohnung lag. Als sie anrief, bedauerte die Arzthelferin, dass der Doktor leider keinen Hausbesuch so weit weg machen könne, sie erstickten hier schon in Arbeit, wenn Sarah aber mit den Kindern kommen würde, würden sie sie sofort dran nehmen. So schlüpfte Sarah seufzend in normale Straßenkleidung, zog die kranken Kinder an, obwohl es ihr sehr leid tat, die jetzt durch halb Köln zu fahren, stieg mit ihnen ins Auto, um nach wenigen Kilometern fest zu stellen, dass kein Durchkommen war. Der Geländewagen, den sie fuhr, lag sicher auf der Straße, dem konnten die Witterungsverhältnisse nichts anhaben, aber leider konnte sie ja schlecht über die anderen Verkehrsteilnehmer die herum schlitterten und die Straßengräben füllten, drüberfahren und musste nach einiger Zeit wieder umkehren. Tim und Mia-Sophie saßen eh brüllend in ihren Sitzen, bzw. dem Maxi-Cosi und kosteten sie den letzten Nerv. Ach Mann-wenn nur Ben da wäre-dem würde sicher was einfallen und als sie wieder zuhause war und Fieber maß, erschrak sie-beide Kinder hatten über 40°C, wollten jammernd getragen werden und weinten, als sie Wadenwickel anlegte. Mia-Sophie stellte das Trinken ein und jetzt wurde es gefährlich! Verdammt-sie brauchte einen Arzt, Medikamente und vielleicht sogar Infusionen-wie schnell kamen Babys in lebensbedrohliche Zustände, wenn sie begannen aus zu trocknen. Die Verzweiflung übermannte sie-sie versuchte es über die Rettungsleitstelle, aber da waren wegen der vielen Notrufe die Leitungen überlastet. Sarah hätte am liebsten gemeinsam mit ihren Kindern geheult und eine Megawut auf Ben überkam sie-eigentlich war der an diesem ganzen Schlamassel schuld, hätte sich der keine andere Frau angelacht, wäre sie jetzt mitten in Köln und viele Ärzte und Kinderkliniken um sie herum, die ihre Kinder behandeln konnten und säße nicht mutterseelenalleine mit den kranken Mäusen in ihrem Vorort, der zwar sehr schön, aber eben auch abgelegen war. Was sollte sie nur tun? Mit dem jammernden Baby auf dem Arm und einem phantasierenden Tim im Elternbett, der nach dem Papa rief, wanderte sie durch das Haus und inspizierte ihre Notapotheke. Leider hatte sie kaum noch Fieberzäpfchen und ob die alleine ihren Kindern halfen, stand eh in den Sternen, die waren ernsthaft krank und obwohl Sarah ja eigentlich eine erfahrene Krankenschwester war-bei Kindern und dann noch ihren eigenen stieß sie rasch an ihre Grenzen. Die Verzweiflung übermannte sie-was sollte sie nur tun?

  • Gerade hatte sich Sarah voller Verzweiflung vor Mia-Sophie´s Bettchen, das man an das Elternbett anbauen konnte, gesetzt und versucht, ihr wenigstens mit der Flasche ein wenig Tee einzugeben, aber sie brüllte und fieberte nach wie vor und Sarah bekam keinen Tropfen in sie hinein. Ihre Sorgen wuchsen ins Unermessliche, aber wenigstens hatte Tim jetzt aufgehört nach dem Papa zu rufen und war in einen unruhigen Fieberschlaf gesunken. Plötzlich läutete es an der Haustür und auch wenn Sarah sich nicht vorstellen konnte, wer bei diesem Schneetreiben zu ihr vorgedrungen wäre, ging sie an die Tür und öffnete sie. Zuvor hatte sie sich noch mit der Hand die Tränen fort gewischt, ohne zu bedenken, dass sie ja wenige Stunden vorher Make-Up, Lidschatten und Kajal aufgetragen hatte, so dass sie jetzt in Verbindung mit ihren Tränen einfach nur schrecklich aussah.
    Vor ihrer Tür standen bis oben herauf zugemummelt, zwei dunkelhäutige Flüchtlinge aus dem Ort, die den ersten Schnee ihres Lebens erlebten. Sie hatten als Dank für Sarah´s Hilfe und die Geschenke im vergangenen Jahr aus Wurzeln, Zapfen, Moos und anderen Dingen, die sie draußen gefunden hatten, ein paar wundervolle Dekogegenstände gebastelt und wollten ihr und ihrer Familie jetzt auch eine Freude machen. Seit Tagen hatten sie ihre Gaben schon vorbeibringen wollen, aber nie war jemand zuhause gewesen, jetzt hatten sie Sarah in einem unbekannten Wagen vorbei fahren sehen und wenig später wieder zurück kommen und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Die Deutschkenntnisse schritten bei Allen Dank Sarah´s Hilfe gut voran und der junge Mann, der da vor ihrer Tür stand, sprach außerdem perfekt Englisch, wie sie wusste. Beide Flüchtlinge aus Ghana spürten sofort Sarah´s Verzweiflung, die ältere Frau, deren Haut bereits ein wenig runzlig war, aus deren Augen aber Lebenserfahrung und Güte sprachen, streckte, nachdem sie ihre Handschuhe ausgezogen hatte, ihre Hand aus und wischte in einer tröstenden Geste eine Träne aus Sarah´s Gesicht. „Was ist geschehen?“ fragte sie mitleidig in gutem Deutsch und nun brach Sarah vollends zusammen. „Meine Kinder sind sehr krank!“ schluchzte sie „und mein Mann hat mich verlassen!“

    Die beiden Flüchtlinge wechselten einen Blick. „Dürfen wir hereinkommen?“ fragte nun der junge Mann, augenscheinlich der Sohn der Frau und Sarah nickte und trat beiseite, denn gerade rief Tim wieder nach dem Papa und weinte, während das Baby jetzt gerade für einen Augenblick still war. Schnell entledigten sich die beiden Helfer ihrer Winterjacken, Mützen und Handschuhe, schlüpften aus den Schuhen und ließen sich von Sarah zu den kranken Kindern führen. Der junge Mann untersuchte mit wachen Sinnen und seinen Händen Tim, der unter den Berührungen ganz ruhig wurde und den Mann, den er ja bereits kannte, mit großen Augen ansah. Die ältere Frau, die Hebamme ihres Heimatdorfs, nahm dagegen das Baby in ihre Arme und wiegte es. Auch sie scannte mit ihrer großen Erfahrung das blonde Mädchen und als sie sich kurz in ihrer Muttersprache unterhalten hatte, übersetzte der Mann in einer Mischung aus Deutsch und Englisch, was sie zu sagen hatten. „Beide Kinder sind sehr krank-sie brauchen entweder Antibiotikum oder Pflanzen aus unserer Heimat!“ erklärte er Sarah und die hätte beinahe höhnisch aufgelacht. Ja soweit war sie auch schon mit ihren Erkenntnissen, aber nun erklärte sie den beiden Dunkelhäutigen, dass sie nicht zum Arzt, oder in ein Krankenhaus durch kam und das mit den afrikanischen Pflanzen dürfte auch ein Problem darstellen! „Ich habe in meiner Heimat Medizin studiert, bin allerdings noch vor den Prüfungen geflohen. Lassen sie mich doch bitte ihre Hausapotheke sehen, vielleicht finden wir etwas!“ bat er freundlich und während die alte Hebamme sich liebevoll um die Kinder kümmerte, führte Sarah den jungen Mann ins Bad und schloss den Medizinschrank auf. Zielsicher griff er nach einer Medikamentenpackung. Ben hatte nach seiner letzten Verwundung eine ganze Weile ein Antibiotikum nehmen müssen und von der letzten Packung Amoxicillin waren noch ein paar Tabletten übrig geblieben, die holte der Beinahe-Arzt jetzt heraus, sah auf die Milligrammanzeige und begann zu lächeln. „Da haben wir ja schon etwas!“ sagte er und Sarah, die sich das auch schon überlegt hatte, schüttelte den Kopf. „Erstens ist das viel zu hoch dosiert und zweitens werden mir die Kinder weder Tabletten schlucken, noch einen übel schmeckenden Saft trinken, wenn ich das auflöse!“ sagte sie, aber nun lächelte der Mann geheimnisvoll. „Ich hole nur schnell etwas und komme bald wieder!“ sagte er und rannte beinahe aus dem Bad, schlüpfte in seine Winterkleidung und nachdem er seiner Mutter Bescheid gesagt hatte und die ihm auch noch etwas aufgetragen hatte, verschwand er eilig zu ihrer Unterkunft.

    Sarah trat wieder zu ihren Kindern, die gerade von der alten Hebamme in einem wundervollen Singsang etwas erzählt bekamen. Auch wenn sie fast mit Sicherheit kein Wort davon verstanden, hingen sie an den Lippen der alten Frau, die sie wiegte und kühlte und Sarah merkte, wie sie selber ruhiger wurde, als sie die beruhigenden Schwingungen spürte. Beschämt ging sie nochmals kurz ins Bad, wusch sich das Gesicht und entfernte die verschmierten Make-Up-Reste, als der junge Mann schon wieder zurückkehrte und eine Tasche mit allerlei Dingen mitbrachte. „Ich brauche einen kleinen Topf!“ sagte er und holte einen weisslichen Brocken heraus und seine Mutter nahm die Tasche mit dem restlichen Inhalt entgegen. Die alte Frau begann sofort mit der Essenz aus Wurzeln und Flechten, die sie im nahen Wald gesammelt hatte, die Beine der Kinder einzureiben und beruhigte sie weiter in ihrem speziellen Singsang. „Ich brauche noch Milch-egal ob Kondensmilch, oder normale Milch!“ bat der Ghanaer und voller Erstaunen sah Sarah zu, wie er erst nach dem Gewicht der Kinder, das er fast exakt geschätzt hatte, die Amoxicillindosis errechnete. Dann löste er in ein wenig Kondensmilch und Wasser die Tabletten auf, maß mit einer Spritze, die er ebenfalls im Schrank gefunden hatte die Dosis ab und kochte in zwei Portionen-eine für Tim, eine für das Baby- mit dem mitgebrachten Palmfett die Basis für Antibiotikazäpfchen. Er brachte die Masse kurz vor die Tür und als sie im Schnee sehr schnell halbfest geworden war, formte er Zäpfchen daraus, wog sie mit einer kleinen Briefwaage, die er ebenfalls dabei hatte und wenig später konnte man die den Kindern verabreichen, was die auch ohne Jammern über sich ergehen ließen, so beeindruckte sie die ruhige fremde Frau. „Mein Sohn wird wieder nach Hause gehen-ich bleibe heute Nacht bei dir!“ sagte sie mit einem freundlichen Lächeln zu Sarah. „Wir Frauen müssen zusammen halten, so ist das in meiner Heimat!“ radebrechte sie und Sarah wurde vor Erleichterung ganz warm ums Herz.
    Wenig später schliefen beide Kinder ein und als Mia-Sophie ein bisschen später erwachte, trank sie gierig an Sarah´s Brust und fühlte sich schon viel kühler an. Auch Tim schlief jetzt ruhig und ohne zu Phantasieren und als die dunkelhäutige Frau Sarah dann einen Tee brachte, damit die Milch nicht versiegte und aus dem Inhalt von Sarah´s Küchenschränken ein wundervolles Reisgericht gezaubert hatte, begann Sarah zu hoffen, dass diese Krise auch vorüber gehen würde. Ein wenig schuldbewusst dachte sie daran, wie sie Ben in ihrer Verzweiflung zum Sündenbock gemacht hatte, dabei konnte der nun wirklich nichts dafür, dass die Kinder krank geworden waren. Sobald sie ihren Nachwuchs wieder alleine lassen konnte, würde sie erneut das Gespräch suchen, aber jetzt gingen erst einmal Tim und das Baby vor, aber Sarah fühlte sich jetzt wieder ruhig und konnte klar denken, etwas was vor wenigen Stunden aus lauter Angst um die Kinder noch nicht funktioniert hatte.


    Ben und Semir waren inzwischen in der Uro-Endo angelangt, die Schwester und der Arzt hatten ihren Patienten mitsamt Akte übergeben und wenig später holte der Urologe Ben in seinem Bett in das Untersuchungszimmer. Aufmerksam hatte er zuvor die Berichte der Innsbrucker Kollegen studiert-aha, er wusste schon in etwa, was ihn erwartete. Ben jammerte immer noch leise vor sich ein-ein wenig hatten die Medikamente gewirkt, aber die Schmerzen waren immer noch ziemlich stark. Erst betastet der Urologe mit geübten Händen Ben´s Bauch und die Flanke und griff dann zum Schallkopf des bereit stehenden Ultraschallgeräts. Nach dem Auftragen des Sonographiegels betrachtete er die wabernden Schatten auf dem Monitor und Semir bemühte sich, Ben´s Hand fest zu halten und ihm so seine Unterstützung zu signalisieren. Aufmerksam beurteilte der Arzt die Bilder und sagte dann: „Herr Jäger, wie der Kollege schon vermutet hatte, haben sie eine Nierenkolik. Ein sehr großer Stein sitzt in ihrem linken Harnleiter fest und ihr Körper bemüht sich nach Kräften-leider wegen der Größe erfolglos-den Richtung Blase zu befördern, was die schlimmen Kolikschmerzen verursacht. Leider haben sich oberhalb der Verengung bereits der Harnleiter und das Nierenbecken aufgestaut, was auch die Übelkeit und den Brechreiz erklärt!“ dozierte er, denn Ben hatte schon wieder gewürgt. Der Arzt stand nun auch vor einem Dilemma. Einen Patienten, dem übel war und der ständig erbrach, konnte man nicht sedieren. Entweder der bekam gleich eine Vollnarkose mit Ileuseinleitung, was aber ein unverhältnismäßig großes Risiko darstellte, oder man begnügte sich mit einer Lokalanästhesie, wozu der Facharzt gerade tendierte. „Wenn sie einverstanden sind, versuche ich jetzt erst einmal von unten den Harnleiterstein zu fassen und zu entfernen. Vielleicht gelingt es mir auch, ihn mechanisch zu zerkleinern, oder mit Laser in Stücke zu schießen. Auf jeden Fall muss eine Ureterschiene eingebracht und auch sofort reagiert werden, sonst verlieren sie ihre linke Niere!“ machte er den Ernst der Lage klar und Ben hätte gerade alles mit sich machen lassen, wenn nur diese fürchterlichen Schmerzen aufhörten. „Falls es mir nicht gelingt, haben wir auch noch andere Möglichkeiten, aber wir müssen jetzt rasch handeln und deshalb darf ich ihren Besuch jetzt bitten draußen zu warten-sie können gleich nach Abschluss der Behandlung wieder zu ihrem“-der Arzt suchte nach Worten, weil er ja nicht wusste, wie die beiden Männer zueinander standen-„Freund“ sagte er dann, aber Ben schüttelte erneut vehement den Kopf. „Semir muss dabei bleiben, sonst halte ich das nicht aus!“ stöhnte er und als Semir nun wieder beteuerte, dass er nicht das erste Mal bei urologischen Behandlungen seines Partners dabei war, erlaubte der Arzt es schulterzuckend. Solange der Gast nicht umkippte, sollte es ihm Recht sein! So trat wenig später die Endoskopieschwester, die sich derweil im Nebenraum aufgehalten hatte, an Ben´s Bett, rangierte das neben den urologischen Behandlungsstuhl, sprach ihn freundlich an und wollte ihm die Decke wegnehmen und ihm helfen, hinüber zu rutschen. In diesem Augenblick erstarrte Ben zur Salzsäule und rief: „Ich lasse nichts machen-ich will wieder in mein Zimmer zurück, das geht schon!“ und nun starrten ihn Semir, der Arzt und die Schwester fassungslos an.

  • Die Endoskopieschwester verharrte. Hatte sie gerade richtig gehört? Verständnislos schaute sie auf ihren neuen Patienten, der sich nun krampfhaft in seine Decke krallte und nicht zuließ, dass sie ihn entblößte. „Herr Jäger-das ist für uns eine Routinesache und sie müssen sich vor mir und meinen Kollegen auch nicht genieren, wir wollen ihnen nur helfen!“ versuchte sie ihn in begütigendem Ton zu beruhigen, aber ihre Worte bewirkten gar nichts. Klar-gegen seinen Willen konnte man ihn nicht behandeln, aber dann musste er unterschreiben, damit sie aus der Haftung waren. Sie holte den Urologen, der schon in den Waschraum gegangen war, wieder her und gemeinsam versuchten sie, Ben davon zu überzeugen, dass die Behandlung erstens notwendig war, er zweitens eine örtliche Betäubung bekommen würde und drittens kein Grund bestand sich zu genieren, aber alle beide stießen auf Granit.
    Semir hatte seinen Freund zunächst verständnislos betrachtet, was hatte er denn plötzlich-das war doch nicht seine erste Blasenspiegelung und er war schon von Ärzten und Pflegekräften beiderlei Geschlechts behandelt worden, ohne dabei zu übertriebener Schamhaftigkeit zu neigen? Er hatte an und für sich ein normales Gefühl für seinen Körper und klar war das etwas, was niemand gerne über sich ergehen ließ, aber wenn er doch erstens solche massiven Schmerzen hatte und dann noch wusste, dass er vielleicht seine linke Niere verlieren würde, wenn er nichts machen ließ, warum war er plötzlich so voller Abwehr, ja regelrecht Panik? Semir beobachtete, wie Ben verzweifelt seine Zudecke festhielt und er fragte sich, warum er denn dann nicht gleich dem Arzt gesagt hatte, dass er sich nicht behandeln lassen wollte, sondern da ja so gut wie zugestimmt hatte?


    Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! Er hatte sich schon gewundert, dass Ben auch vorher schon so abweisend gewesen war-sowohl bei der Schwester oben, als auch bei der Physiotherapeutin. Lag das vielleicht einfach an der Tatsache, dass das Frauen waren? Hatte er den sexuellen Missbrauch durch Estelle vielleicht doch nicht völlig verschlafen, wie er Hartmut versucht hatte weis zu machen, sondern davon im Gegenteil ein Trauma davon getragen? Aufgeregt bat er den Arzt und die Schwester ins Nebenzimmer-freilich war das nur eine Vermutung, aber vielleicht lag da tatsächlich der Grund für sein Verhalten!
    „Ich kenne meinen Freund und Kollegen nun schon einige Jahre und er ist gerade nicht er selber. Normalerweise sieht er den Grund für eine medizinisch notwendige Behandlung ein und weiss auch, dass medizinisches Personal Patienten nicht nach Männern und Frauen einteilt, wir konnten aber anhand der Spuren nachweisen, dass er während seiner Entführung einen schweren sexuellen Missbrauch durch eine Frau erlitten hat, den er aber verneint. Vielleicht weiss sein Unterbewusstsein aber mehr als er und er hat jetzt eine Aversion gegen Frauen-gerade wollte er sich auch nicht von einer Physiotherapeutin behandeln lassen!“ teilte Semir aufgeregt dem Doktor und der Schwester mit. Die beiden wechselten einen Blick. „Gut versuchen wirs!“ sagte der Doktor und dann besprach er mit seiner Mitarbeiterin die Möglichkeit eines Tausches-im Nebensaal war nämlich ein älterer Urologiepfleger im Einsatz.

    Während Semir wieder zu Ben zurück eilte, der inzwischen gegen die Tränen ankämpfte, seine Decke festhielt und völlig mit den Nerven runter war und dem liebevoll eine verirrte Strähne aus dem Gesicht strich, besprach der Arzt die Sache mit seinem Kollegen und dem Pfleger und wenig später stand der etwa sechzigjährige Mann mit einem Lächeln vor Ben´s Bett. „Meine Kollegin ist leider anderweitig beschäftigt, ich übernehme hier-Herr Jäger, da haben wir jetzt ein reines Männermeeting. Kommen sie, ich helfe ihnen beim Rüberrutschen!“ sagte er aufmunternd und nahm wie selbstverständlich die Decke weg und Ben ließ zu, dass er ihm die kurze Sporthose und die Unterhose auszog. Gerade überfiel ihn wieder eine Schmerzwelle und bis er sich versah, lag er schon auf dem Untersuchungstisch, wurde gut zugedeckt und bekam Beinlinge übergezogen. „Alles wird gut!“ beruhigte ihn Semir und Ben schloss jetzt die Augen und erwartete ohne Gegenwehr, was als Nächstes geschehen würde.
    In Semir´s Kopf ging es rund-anscheinend hatte er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen und Ben tat ihm jetzt unendlich leid. Nicht nur wegen der Koliken, die ihn sich gerade wieder krümmen ließen, sondern auch wegen seiner nervlichen Verfassung. Warum hatte er denn nichts gesagt? Er als bester Freund hätte ihn doch von Anfang an unterstützt, ihm geholfen, ihm zugehört, aber anscheinend versuchte Ben gerade, das alleine mit sich auszumachen, aber bei manchen Dingen funktionierte das einfach nicht. Allerdings musste Semir ja auch fast ein wenig schuldbewusst zugeben, dass er durch seine Krankheit auch nicht da gewesen war-und das war sicher etwas, was man nicht am Telefon besprach! Als Hartmut ihm mitgeteilt hatte, dass Ben sich an nichts erinnern könne und die Entführungstage fast komplett verschlafen hatte, war er froh und erleichtert gewesen-ja man glaubte das Angenehmere nur zu gerne! Aber wenn jetzt die medizinische Behandlung vorbei war, musste man sich dringend um Ben´s Psyche kümmern, den wieder aufbauen, für ihn da sein und dazu brauchte man unbedingt einen Fachmann-Semir hatte nämlich keine Ahnung, wie man sowas anstellte, aber jetzt begann die Behandlung und seine Aufmerksamkeit wurde von anderen Dingen abgelenkt.


    Ben musste eine Menge trotz Lokalanästhesie aushalten und letztendlich schüttelte der Urologe, der sich nach Kräften bemüht hatte, den riesigen, scharfkantigen Harnleiterstein von unten zu zerkleinern, den Kopf. „Herr Jäger-so leid es mir tut, ich schaffe es nicht, den ohne Hautschnitt zu entfernen. Ich werde deshalb bei ihnen jetzt sofort eine perkutane Nephrolitholapaxie, kurz gesagt PNL vornehmen. Das bedeutet, dass wir sie jetzt auf die Seite lagern, sie bekommen eine Lokalanästhesie in die Flanke und ich entferne den Stein, eventuell, nachdem ich ihn mit dem Laser in Stücke geschossen habe, von außen. Danach legen wir noch eine Ureterschiene ein und dann haben sie hoffentlich ihre Ruhe!“ erklärte er begütigend, während Ben gerade wieder von einer heftigen Schmerzwelle heimgesucht wurde, die ihn aufstöhnen ließ. Er fühlte sich gerade wie ein Stück Schlachtvieh und wäre nur froh gewesen über den finalen Bolzenschuss, der seinem Leiden ein Ende machen würde. Man gab ihm nochmals Opiate, aber auch die konnten gegen die heftigen Schmerzen, die in ihrer Intensität Wehen glichen, nichts ausrichten. Sein Körper zeigte deutlich, dass ein wichtiges Organ in Gefahr war und der Schmerz sollte die Dringlichkeit einer Behandlung unterstreichen, nur konnte Ben sich dafür wahrlich nichts kaufen, sondern wünschte sich nichts mehr als eine gnädige Bewusstlosigkeit.


    Bevor er sich versah, wurden lange Beinstützen an den bisher kurzen Tisch angebaut, man nahm Ben´s inzwischen vor Erschöpfung zitternden Beine aus den Haltern heraus und ließ ihn sich ausstrecken. Mit ein paar Handgriffen entfernte man dann die Beinhalter und legte sie beiseite, denn nachher würde man sie wieder brauchen. Man lagerte ihn auf die Seite, Semir war weiterhin am Kopfende und versuchte seinen Freund zu trösten und ihm beizustehen, während der Arzt sich nun frisch steril anzog und dann sofort begann, Ben´s linke Flanke zu desinfizieren. Anschließend deckte er ein großes gefenstertes Steriltuch über ihn, so dass Ben fast völlig darunter verschwand und nachdem der Pfleger den Tisch noch elektrisch verstellt hatte und das Kopf-und Fußteil jeweils ein wenig abgesenkt hatte, so dass der Patient regelrecht ein wenig aufgeklappt war, ließ sich der Urologe das Lokalanästhetikum in einer Spritze mit einer langen Nadel anreichen und infiltrierte den Bereich, in dem er in Kürze schneiden würde.
    Der erfahrene Pfleger hatte derweil routiniert den neuen Steriltisch hergerichtet und kaum wirkte die Betäubung, eröffnete der Arzt auch schon mit einem kleinen Schnitt die Nierenpartie. Vorsichtig arbeitete er sich durch Muskulatur und die Fettkapsel, die die Niere umschloss, die auch bei schlanken Menschen das Organ an seinem Platz hielt und wenig später hatte er den riesigen, kantigen Stein, der sich kurz unterhalb des Nierenbeckens verklemmt hatte, freigelegt. Ben jammerte und stöhnte, aber nicht weil der Eingriff so weh tat, sondern weil ihn gerade wieder eine Kolikwelle überlief. Mit einem nicht allzu großen Schnitt eröffnete der Arzt den Harnleiter und der Pfleger, der inzwischen ebenfalls einen Mundschutz und sterile Handschuhe angezogen hatte, saugte den austretenden, angestauten Urin und das Blut ab. Ein letztes Mal kam der Laser zum Einsatz und schoss den Stein unter Sicht in Stücke, die der Arzt nun mit einem Fasszängchen herausziehen und in eine kleine Metallschale auf dem Instrumententisch fallen lassen konnte. Als keine großen Teile mehr zu entdecken waren, verschloss der Doktor erst den Harnleiter mit sehr feinen Fäden unter einer Lupenbrille und erledigte dann zügig den weiteren Wundverschluss. Ben war nun ganz still geworden und hatte erleichtert aufgeatmet. Mit einem Schlag waren die Kolikschmerzen vorbei und als man ihn nach dem erfolgreichen Wundverschluss nun nochmals auf den Rücken drehte, erneut seine Beine in die Halterungen legte und er nun durch das wieder eingeführte Cystoskop noch eine Ureterschiene eingelegt bekam, sagte er keinen Ton, sondern hatte nur erschöpft die Augen geschlossen.


    Wenig später lag er in seinem vorgewärmten Bett, sogar auf den Blasenkatheter hatte der Arzt verzichtet. „Falls das mit dem Pinkeln nicht klappt, melden sie sich. Ich muss sie auch warnen-es sind fast mit Sicherheit noch irgendwo kleine Steinreste, die auf natürlichem Weg abgehen werden, was durchaus noch Koliksymptome machen kann, aber es besteht keine Gefahr für die Niere mehr!“ erklärte der Urologe und Ben nickte, während ihm schon die Augen zufielen. Jetzt wirkte das Opiat erst so richtig und eine bleierne Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Man überwachte ihn noch kurz im Vorraum, aber als nach einer halben Stunde Blutdruck und Sauerstoffsättigung stabil waren, wurde die Station zur Abholung angerufen. Semir, der die ganze Zeit bei seinem Freund gesessen hatte, erhob sich nun und dankte dem Arzt und dem Pfleger im Nebenraum für ihre Hilfe. „Ich denke mein Verdacht hat sich dadurch bestätigt, aber das ist eine andere Geschichte und die werden wir jetzt gemeinsam in Angriff nehmen-sie haben ihm durch ihre Unkompliziertheit seine Niere gerettet und dafür sind wir ihnen sehr dankbar!“ fasste er in Worte, was ihm die ganze Zeit schon durch den Kopf ging und der Mediziner und der erfahrene Pfleger freuten sich über das Lob und wünschten ihnen noch alles Gute.

  • Wenig später kamen zwei Schwestern zur Abholung und anders als normalerweise üblich, machte man die Übergabe nicht am Bett des Patienten, sondern im Raum daneben. Semir blieb derweil bei seinem Freund. Er vertraute darauf, dass der Urologe und der Pfleger die beiden schon von Ben´s Problem mit Frauen unterrichten würden und sonst würde er es auf Station nachholen. Anscheinend war das aber bereits geschehen, denn normalerweise hätten jetzt die Schwestern kurz die Decke gelüpft, man hätte nachgesehen, ob der Verband an der Flanke trocken war und ob der Patient gut lag, aber das machte nun der Pfleger alleine und erst als er Ben wieder zugedeckt hatte, holte er die beiden Frauen dazu und erklärte: „Der Verband ist trocken, alles in Ordnung!“ und sie akzeptierten dessen Aussage, ohne das mit eigenen Augen gesehen zu haben. Man fuhr zurück auf die Station, hängte noch eine frische Infusion mit einem Schmerzmittel darin an und stellte eine Urinflasche bereit und dann ließ man Ben einfach in Ruhe.

    Inzwischen war es früher Abend geworden und Ben war furchtbar erschöpft, hatte endlich keine Schmerzen mehr und fühlte sich von seinem Freund Semir so bewacht und umsorgt, dass er eigentlich gar nicht mehr richtig wach wurde, sondern nur den dringend benötigten Schlaf, den er seit der Entführung vermisst hatte, nachholte. Semir schlich sich einmal leise hinaus und besprach mit dem Stationsarzt und dem Pflegepersonal, was zu tun sei. „Wie ihnen ja der Urologe bereits mitgeteilt hat, vermuten wir-nein eigentlich wissen wir anhand der Spurenlage sogar sicher- dass mein Freund einen schweren Missbrauch erlitten hat. Anscheinend kann er seitdem keine Frau mehr in seiner Nähe ertragen!“ erklärte er und der Arzt und die Schwestern nickten. „Das erklärt Vieles! Heute Morgen war seine Ehefrau da und weil er auch ihr Auskunftssperre erteilt hatte, war sie am Boden zerstört und beleidigt. Er war wegen einer Behandlung gerade nicht im Zimmer, aber sie hat das als Vertrauensbruch gewertet und jeden Schlichtungsversuch meinerseits abgelehnt!“ berichtete er und jetzt war Semir auch plötzlich klar, warum er von Sarah nichts mehr gehört und gesehen hatte. Oh Mann-der Karren saß ganz schön im Dreck! Da wäre eine Menge Vermittlungsarbeit seinerseits vonnöten, damit man die Sache wieder in Ordnung bringen konnte.


    Inzwischen war es früher Abend geworden. Die Dunkelheit war über das verschneite Köln herein gebrochen und langsam beruhigte sich auch die Lage auf den Straßen, denn es hatte aufgehört zu schneien und die Rush-Hour war vorbei. Semir war gerade noch so durch gekommen, aber es war auch nicht sonderlich weit von seinem Haus zur Uniklinik, allerdings war er regelrecht froh gewesen, dass er krank war, denn in der PASt wäre jetzt vermutlich jeder verfügbare Mann im Einsatz um die Lage auf den Autobahnen in den Griff zu kriegen. Er aber rief nach kurzer Überlegung Andrea an: „Schatz-ich werde heute Nacht bei Ben bleiben, mir geht es wieder gut, allerdings bräuchte ich den Namen des Antibiotikums, den habe ich mir nicht gemerkt!“ bat er sie und wenig später gab Andrea den durch. Semir wandte sich wieder an die Schwestern: „Wäre es möglich, dass ich bei meinem Freund über Nacht bleibe? Ich bekomme allerdings selber gerade ein Antibiotikum, das ich weiter nehmen müsste und möchte meiner Frau jetzt nicht zumuten, noch durch die Stadt zu kutschen, um mir das zu bringen!“
    „Kein Problem, Herr Gerkhan!“ beruhigte ihn die leitende Pflegekraft. „Wenn sie das bezahlen, stellen wir ihnen sogar ein Bett ins Zimmer-sie können das als Begleitperson buchen und bekommen dann auch Essen und Toilettenartikel von uns und das Medikament haben wir selbstverständlich da-sie bekommen das jetzt von uns sozusagen ausgeliehen und wenn sie uns dann die Tabletten in der Blisterverpackung zurück geben, stellt das keine Schwierigkeit dar!“ erklärte sie und wenig später war Semir wieder bei Ben, der inzwischen aufgewacht war und sich schon gefragt hatte, wo er war.
    „Hey-wie fühlst du dich?“ fragte er und nachdem Ben in sich hinein gehört hatte antwortete er ehrlich: „Eigentlich beschissen, aber erstens bin ich froh dass du da bist und zweitens geht’s mir trotzdem besser wie vor dem Eingriff, ich habe keine Koliken mehr!“ antwortete er wahrheitsgemäß. Durch die ganzen Opiate war er ein wenig durcheinander und konnte sich an die Einzelheiten der letzten Stunden nicht mehr genau erinnern, allerdings zwickte seine Flanke, die Schulter tat weh und auch das dumpfe Pochen in seinem operierten Bein war beständig zu spüren, genauso wie sein Unterkörper brannte. Trotzdem fühlte er sich besser, allerdings war ihm immer noch übel und als Semir ihm die Schleimsuppe und das Weißbrot anbot, was die Schwestern auf dem Tablett am Tisch abgestellt hatten, mitsamt einer Käseplatte, Brot und Tee für ihn selber, wandte er sich voller Ekel ab. „Semir ich kann nichts essen!“ sagte er und ließ sich auch nicht überreden, wenigstens einen kleinen Löffel zu probieren. Allerdings erhellten sich seine Gesichtszüge als nun ein zweites Krankenhausbett herein gefahren wurde. „Ich bleibe heute Nacht bei dir!“ erklärte Semir und Ben sagte nur ein Wort und die Erleichterung war ihm deutlich anzumerken: „Danke!“


    „Wo ist Sarah?“ fragte der dunkelhaarige Polizist nachdem er eine Weile an die Decke gestarrt hatte und Semir antwortete wahrheitsgemäß: „Ich weiss es nicht-soll ich sie anrufen?“ fragte er dann, aber Ben schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl er müsse das selber machen, aber dazu fehlte ihm momentan die Kraft. Auch wenn man es ihm gegenüber nicht explizit erwähnte-keine Schwester kam ihm gerade näher als ein paar Meter, nur Semir war um ihn herum und weil auf der Station heute kein Pfleger im Dienst war, liehen sich die Pflegekräfte von der Nachbarstation kurz einen Mann aus, der Ben am Abend frisch machte, die Verbände kontrollierte und fragte, ob er schon gepinkelt hatte, was er verneinte. Falls das nicht klappte würde man ihn einmalkathetern, aber als man ihn jetzt eine Weile alleine im Zimmer ließ, benutzte er doch unter Schmerzen-das brannte nämlich ganz ordentlich-die Urinflasche und so hatte er vorerst mal seine Ruhe.
    Semir schlüpfte danach in Unterhose und Shirt in sein Bett und als sie das Licht gelöscht hatten, hörte der Deutschtürke dass sein Partner nicht schlief und ohne lange nach zu denken sagte er: „Ben-du musst dir nicht überlegen, wie du mir etwas vorspielen kannst, ich weiss, dass du von Estelle sexuell aufs Übelste missbraucht wurdest!“ ohne näher auf Einzelheiten einzugehen und als Ben nun zu schluchzen begann, krabbelte er wieder aus dem Bett, kam näher und nahm seinen jungen Partner wortlos und tröstend in die Arme, bis der eine halbe Stunde später erschöpft einschlief.

  • Als Ben eingeschlafen war, löste sich Semir irgendwann von ihm, ging wieder ins Bett und wenn die Nachtschwester, die natürlich von ihren Kollegen informiert worden war, leise herein sah, zeugten leise Atemzüge, nur gelegentlich unterbrochen von Semir´s Husten oder Schniefen davon, dass zumindest Ben endlich einmal wieder ruhig schlafen konnte. Als er am Morgen erwachte, wusste er im ersten Moment gar nicht, was eigentlich Traum und was Realität gewesen war, aber als er dann im schemenhaften Morgenlicht Semir ein paar Meter von sich entfernt leise vor sich hin schnarchen hörte, ergriff trotz aller Probleme und Schmerzen ein warmes Gefühl von ihm Besitz. Das Versteckspielen hatte ein Ende-sein Freund würde ihm helfen, dass wieder alles in Ordnung kam. Voller Sehnsucht dachte er an Sarah und die Kinder. Wie gerne würde er jetzt gesund zuhause sein und einfach den Alltag wieder haben, aber das würde vermutlich noch ein Weilchen dauern. Auf dem Flur hörte man geschäftiges Treiben, es klirrte, ein gelegentliches Lachen, rollende Räder waren zu vernehmen, die typischen Krankenhausgeräusche eben und dann wurde auch schon die Tür geöffnet und die Frühschicht, in der sogar ein Pfleger heute Dienst hatte, betrat das Krankenzimmer. „Guten Morgen meine Herren!“ sagte er munter, um dann hinzu zu fügen: „Wie war die Nacht?“ und nun erst öffnete Semir verschlafen die Augen. „Auf jeden Fall zu kurz!“ knurrte er und nun musste Ben grinsen, denn normalerweise war er immer der Langschläfer und Semir war morgens munter und guter Laune, während er erst langsam und mit viel Kaffee in die Gänge kam.

    Während Semir im Bad verschwand, maß der Pfleger bei Ben den Blutdruck und den Puls, kontrollierte die Verbände und fragte dann: „Trauen sie es sich zu, nach dem gestrigen Tag zu duschen, oder soll ich sie lieber im Bett waschen?“ aber Ben schüttelte den Kopf: „Nicht waschen-bitte duschen, wenn das geht!“ kam es sehnsüchtig aus seinem Mund und so stöpselte der Pfleger die Infusion vorrübergehend ab, entfernte den Gilchristverband, den man nach der Uretersteinentfernung wieder angelegt hatte und klebte über sämtliche Pflaster, die die OP-Wunden bedeckten sogenannte Duschpflaster-dichte Folienpflaster, die die Verbände luft-und wasserdicht abdeckten. Als Semir, der sich nur kurz die Zähne geputzt und sich frisch gemacht hatte, aus dem Bad kam, saß Ben schon in einem Duschstuhl-das mit dem Laufen würde man erst später wieder probieren, nicht dass es zu anstrengend wurde. Der Pfleger schob seinen jungen Patienten hinaus, zog ihm das Shirt und die Unterhose aus, ohne dass er sich irgendwie wehrte und ließ ihn dann zunächst einmal alleine, damit er zur Toilette konnte, währenddessen er das Bett frisch bezog. Ben sog zwar scharf die Luft ein, als es wieder brannte wie die Hölle, aber dann putze er auch gleich seine Zähne und als wenig später das wohltuend warme Wasser auf ihn herunter prasselte, der Pfleger, der eine lange Plasikschürze angezogen hatte, ihm die Haare wusch und den Rücken mit seinem eigenen, wohlriechenden Duschgel abseifte, war das ein Gefühl wie Weihnachten und als er dann neue Pflasterverbände, ein frisches Shirt und eine Unterhose angezogen bekam, was Semir ihm inzwischen hergerichtet hatte, fühlte er sich gleich einmal besser und wenigstens am Körper hatte er gerade das Gefühl, dass er Estelle´s Geruch schon nicht mehr so stark wahrnehmen konnte.


    Als nun das Frühstück für sie beide gebracht wurde, wandte er sich allerdings angeekelt ab, Schleimsuppe, labbriges Toastbrot ohne Belag und Kamillentee-pfui Teufel. „Gibt’s nicht wenigstens Kaffee?“ fragte er hoffnungsvoll, aber der Pfleger schüttelte den Kopf: „Nicht bei Magengeschwüren, die müssen erst ein wenig abheilen, aber dazu sollten sie was essen!“ erklärte er, woraufhin Ben stumm den Kopf schüttelte. Semir saß derweil komplett angezogen und hungrig am Tisch und hatte fast ein schlechtes Gewissen weil er sich Kaffe mit Brötchen, Wurst und Marmelade schmecken ließ, aber er konnte ja auch nichts für Ben´s Magenprobleme. Auch er versuchte noch seinen Freund mit gutem Zureden davon zu überzeugen, wenigstens ein paar Löffel Suppe oder einen Bissen Toast zu sich zu nehmen, aber er stieß ebenfalls auf Granit.
    Nachdem das Frühstück abgeräumt war, bekam Ben erst einmal wieder eine Kurzinfusion mit Pantozol gegen die Geschwüre, dann ein Antibiotikum und zum Schluss schloss man wieder eine Glukoseinfusion mit Schmerzmittel darin an. Semir erhielt ebenfalls sein Antibiotikum und stellte fest, dass es ihm jeden Tag besser ging. Die Visite der Unfallchirurgen kam zu Ben, war aber ganz zufrieden, allerdings würde heute intensive Krankengymnastik notwendig sein, der nette Urologe von gestern sah danach kurz nach seinem Patienten, aber auch er hatte keinen Grund zur Beanstandung, nur der Gastroenterologe, der wenig später auch noch vorbei kam war unzufrieden: „Herr Jäger-warum essen sie denn nichts? Ihr Magen sieht aus wie eine Mondlandschaft. Die scharfe Magensäure, deren Bildung wir jetzt zwar medikamentös hemmen, würde dringend ein wenig Pufferung durch Schleime und milde Nahrung brauchen, dann könnten die Geschwüre und die Entzündung der Schleimhaut viel besser abheilen!“ versuche er ihm zu erklären, aber Ben sagte nur matt: „Ich kann nichts essen, mir wird sofort schlecht, wenn ich nur daran denke!“ behauptete er und daraufhin verließ der Internist schulterzuckend das Patientenzimmer. Semir sah seinen Freund stirnrunzelnd an. „Normalerweise bist du doch so verfressen und verträgst so ziemlich alles, warum bist du jetzt plötzlich so empfindlich?“ fragte er, aber Ben schwieg darauf. Wie sollte er das nur jemandem erklären, dass er dann Estelle schmeckte, deren Körpersäfte er leider gegen seinen Willen hatte ertragen müssen und es ihm jedes Mal hoch kam, er wusste doch selber wie irreal das war. Estelle war tot und keine Spur von ihr noch auf seinem Körper und trotzdem bekam er sie nicht los.


    „Semir-ich habe gestern den ganzen Tag nichts von Sarah gehört. Ich weiss-wir hatten vorgestern einen kleinen Disput, aber ich vermisse sie und die Kinder und mache mir Sorgen!“ fasste Ben sein nächstes Problem in Worte und Semir, der ja darüber ein wenig mehr wusste, setzte sich kurz an seine Bettkante. „Ben-wenn du damit einverstanden bist werde ich sie anrufen, allerdings weisst du glaube ich selber, dass du für deine heftige körperliche Reaktion auf Frauen, die vermutlich auch Sarah getroffen hat, vielleicht nichts kannst, aber da muss ein Fachmann ran, das vergeht denke ich nicht von alleine!“ sagte er leise und griff nach Ben´s Hand, dessen Augen sich nun mit Tränen füllten. „Aber Semir, ich will das doch gar nicht!“ versuchte er zu erklären und gerade kippte seine Stimmung wieder und eine tiefe Depression versuchte von ihm Besitz zu ergreifen. Semir allerdings drückte nun fest und tröstlich seine Hand und sagte: „Wir werden dir alle miteinander helfen und du wirst das schaffen, ich weiss das-so und jetzt kümmere ich mich um einen fähigen Psychologen und rufe Sarah an!“ sagte er entschlossen und mit viel Elan in der Stimme und ging dann aus dem Zimmer, um zu erledigen, was er sich vorgenommen hatte.

  • Bei Sarah war die Nacht dank der Hilfe der Hebamme ruhig gewesen und sie hatte sogar ein paar Stunden schlafen können. Die hatte sich zu Tim ins Zimmer gelegt, wo sie neben Tim´s Rennfahrerbett natürlich noch ein zweites Bett darin stehen hatten und wenn er wach geworden war, hatte sie ihm zu trinken gegeben, seine Beine wieder eingerieben und ihm in der Sprache ihrer Heimat Geschichten in einem beruhigenden Singsang erzählt und obwohl Tim sicher kein Wort davon verstand, war er immer sofort ruhig geworden und hatte einfach der Stimme gelauscht bis er wieder eingeschlafen war. Mia-Sophie war zwar ebenfalls ein paarmal aufgewacht, aber sie hatte dann immer Durst gehabt und war nach ein paar Zügen an der Brust ebenfalls wieder eingenickt. Die Ghanaerin war einmal wie ein Schatten ins Schlafzimmer gekommen, hatte das Baby, das unruhig zu wimmern begonnen hatte, ins Bad mitgenommen und gewickelt, es beruhigend massiert und ebenfalls die Beinchen mit der fiebersenkenden Tinktur eingerieben und es dann der Mama wieder gebracht, die nur froh war, dass sie nicht aufstehen musste, denn langsam kam die ganze Erschöpfung, der Kummer und die Sorge um Ben und das Gefühl der Hilflosigkeit heraus.
    Sie liebte ihn nach wie vor, aber wenn er sich gegen sie entschieden hatte, dann konnte sie vermutlich nichts machen, dann ging es ihr wie tausenden anderer Frauen, die verlassen wurden. Sie musste bei Gelegenheit mit Hildegard reden, ob die sich vorstellen konnte, die Kinder länger zu betreuen, damit sie zumindest dreißig Stunden die Woche, das waren vier Tage, arbeiten konnte. Sie würde nämlich zwar Unterhaltszahlungen für die Kinder akzeptieren, aber für sich konnte sie selber sorgen. Mit viel Nachtdienst würde sie über die Runden kommen und falls Hildegard nicht bereit war, die Kinder mehr Stunden zu betreuen, musste sie sich eben nach einem Krippenplatz für Mia-Sophie und einem Kindergartenplatz für Tim umsehen. Vielleicht war in der klinikeigenen Einrichtung, deren Öffnungszeiten sich nach den Schichten richteten, was sehr praktisch war, noch etwas frei-ja sie hatte viel vor die nächsten Tage! Vielleicht würde Ben ihr die Stadtwohnung gegen Miete überlassen-wenn allerdings nicht, würde sie schon irgendwo in Köln eine Wohnung finden, sie hatte sehr viele Bekannte, die ihr dabei helfen würden!
    Obwohl die praktischen Überlegungen sie beschäftigten, überkam sie eine Welle des Kummers, denn eigentlich wollte sie ihren Mann nicht verlieren, aber sie fand einfach keine andere Erklärung als eine andere Frau für sein abweisendes Verhalten, dass er sie nicht mehr küssen wollte und auch die Auskunftssperre. Er hatte genau gewusst, wie er sie damit verletzen würde und daher war für sie in ihrem Inneren die Sache klar, obwohl es fürchterlich weh tat. Als sie leise zu weinen begann saß plötzlich die dunkelhäutige Frau neben ihr und streichelte sie tröstend-allerdings gab es für Sarah´s Kummer keinen richtigen Trost-sie war gerade dabei die Liebe ihres Lebens zu verlieren und das tat weh, furchtbar weh!


    Am nächsten Morgen ging es den Kindern zwar besser, aber sie hatten immer noch Fieber und waren matt. Sie würde mit denen das Haus auf gar keinen Fall verlassen, sondern versuchen, einen Hausbesuch eines Arztes zu organisieren. Tim brüllte inzwischen schon wie am Spieß als er das nächste Zäpfchen bekommen sollte und so war Sarah heftig froh, als sie über die Rettungsleitstelle, bei der sich die Lage inzwischen auch beruhigt hatte, weil es nicht mehr weiter schneite, die Zusicherung bekam, dass ein Kinderarzt bei ihr im Laufe des Vormittags vorbei kommen würde. Obwohl sie keinen Appetit hatte, bemühte sie sich zu frühstücken und auch Tim konnte überredet werden, wenigstens einen Kakao zu trinken, allerdings bestand er auf eine Flasche als Gefäß, was aber kein Problem darstellte, Hauptsache er nahm etwas zu sich. Auch das Baby trank, also war die akute Lebensgefahr gebannt.
    Sarah hatte geduscht und als dann das Telefon läutete und Semir´s Nummer auf dem Display erschien, wusste sie im Augenblick überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte. Hatte der eine Ahnung von ihrer verfahrenen Situation? Wollte er jetzt von ihr wissen, wie es Ben ging, oder ging es ihm selber schon besser und er hatte ihn bereits besucht? Hatte Ben ihm die Wahrheit erzählt, oder machte er auch seinem besten Freund, der ihn gerettet hatte, was vor? Eines war Sarah klar-auch wenn sich mit den Jahren eine gute Freundschaft zwischen den Familien Gerkhan und Jäger entwickelt hatte-Semir würde primär zu Ben halten und wenn es zur Trennung kam, würde er sich klar für Ben entscheiden, so war das ja meistens bei ner Scheidung-auch die Freunde mussten Farbe bekennen, zu welcher Seite sie hielten. Also war Sarah ein wenig reserviert als sie ranging und sagte: „Ja Semir, was gibt’s?“ und lauschte dann mit sehr gemischten Gefühlen den Worten, die da aus dem Hörer sprudelten.


    „Sarah guten Morgen. Ich bin gerade bei Ben im Krankenhaus, aber da gibt es eine Sache, die kann man nicht am Telefon besprechen. Könntest du vielleicht einen Babysitter für die Kinder organisieren und dann her kommen?“ bat er sie und Sarah hätte beinahe höhnisch aufgelacht. Da hatte er vermutlich Recht-das war wirklich keine Sache, die man am Telefon besprach, wenn ein Mann seine Familie einfach so aufgab wegen einer anderen Frau. Aber das war ja klar gewesen, dass Semir zu Ben half und aus seinen Worten meinte sie zu schließen, dass er ihm auch nicht ins Gewissen reden würde, sondern ihm im Gegenteil helfen würde, die Trennung so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Vermutlich würde der Scheidungsanwalt schon mit einbestellt sein, wenn sie in der Klinik eintraf, aber da hatten sich die Herren geschnitten-die Kinder gingen vor, die würde sie keiner Fremden, nicht einmal Hildegard anvertrauen, solange die so krank waren! Ein krankes Kind brauchte seine Mama und mit Hilfe der unheimlich hilfsbereiten Flüchtlinge würde sie schon solange durchkommen, bis die beiden wieder genesen waren. „Semir, die Kinder sind schwer krank und ich warte hier gerade auf den Hausbesuch des Kinderarztes. Bevor die nicht wieder gesund sind, werde ich das Haus nicht verlassen und wie lange das dauert steht in den Sternen. Richte Ben bitte aus, dass die Welt sich nicht ausschließlich um ihn dreht und ich mich melden werde, sobald sich die Lage hier beruhigt hat!“ sagte sie äußerlich ruhig, obwohl sie innerlich zitterte bis ins Mark und legte dann schnell den Hörer auf. Als das Telefon erneut schellte und Semir´s Name auf dem Display erschien ging sie nicht mehr ran, sondern kümmerte sich liebevoll um ihre Zwerge, während Semir ein wenig fassungslos auf sein Handy starrte. Du liebe Güte-Sarah war wirklich sehr verletzt und irgendwie war er nicht dazu gekommen, etwas zu sagen oder zu erklären, sie hatte ihn gar nicht zu Wort kommen lassen und dass die Kinder schwer krank waren war ebenfalls eine beunruhigende Information. Konnte man das Ben mitteilen, oder würde er dann völlig zusammen brechen? Verdammt, jetzt brauchte er selber Unterstützung und darum war die nächste Aktion die Organisation eines Psychologen für Ben!


    Zunächst einmal ging er zur Stationszentrale und traf da auch zufällig auf den Stationsarzt. „Mein Freund ist ja schwer traumatisiert und ich denke, er bräuchte dringend einen männlichen Psychologen, könnte man da etwas anleiern?“ bat er und der Stationsarzt sah ihn ein wenig unglücklich an. „Ich bin da ganz ihrer Meinung Herr Gerkhan, allerdings haben wir ein kleines Problem. Die drei an unserer Klinik beschäftigten Psychologen sind alles Frauen und ich denke, die werden an Herrn Jäger nicht rankommen!“ sagte er und nun überlegte Semir und sagte dann: „Ich werde mal in unserer Dienststelle anrufen, vielleicht haben die eine passende Adresse!“ und der Arzt stimmte zu. „Allerdings wird das ein Problem geben mit der Kostenübernahme!“ warnte er-„die Klinikleitung wird nicht bereit sein ein externes Honorar zu entrichten, wenn wir doch drei Fachkräfte im Haus angestellt haben-und die Argumente die wir haben werden die nicht gelten lassen!“ sagte er, aber Semir winkte ab. „Ich glaube die finanzielle Frage ist das geringste Problem!“ antwortete er dem Stationsarzt und suchte sich dann erneut ein ruhiges Plätzchen um Susanne zu kontaktieren.

  • Susanne war tatsächlich im Dienst und als Semir ihre Stimme hörte, atmete er laut und vernehmlich auf. „Susanne, ich habe einen Sonderauftrag für dich. Ben ist schwer traumatisiert, die Gründe dafür kann ich dir und den anderen leider nicht sagen-vielleicht tut er es später einmal selber, aber das soll er alleine entscheiden, wenn es ihm wieder besser geht. Allerdings hat er aktuell deswegen ein Problem, sich auf einen weiblichen Therapeuten ein zu lassen, aber in der Klinik arbeiten in diesem Metier leider nur Frauen. Wir bräuchten also einen guten männlichen Psychotherapeuten, Psychologen oder sowas ähnliches, der zu ihm in die Klinik kommt und ihn dort behandelt!“ erklärte er und Susanne sagte ohne Umschweife zu, sich darum zu kümmern.
    Semir atmete auf. Das war das Schöne in der PASt - wenn man in ihrem Team ein Problem hatte, konnte man sich mit Sicherheit darauf verlassen, dass alle zusammen halfen Und das besonders Angenehme daran war auch, dass Susanne jetzt keine Fragen stellte, die er aktuell nicht beantworten konnte und wollte. Und wenn es keinen geeigneten Polizeipsychologen gab, dann war es ein Unterschied, ob er als Privatperson da anrief, oder ob Susanne in ihrer offiziellen Funktion um eine Konsultation bat. Semir wusste-sobald sie etwas erreicht hatte, würde sie ihn informieren und das war gut so!


    So eilte er jetzt zu Ben zurück und überlegte die ganze Zeit, ob er ihm von der Erkrankung seiner Kinder, über die er ja nichts Näheres wusste, erzählen sollte. Eines war klar-Ben würde sich furchtbar aufregen und sofort eingehendere Informationen verlangen, die er ihm aber nicht geben konnte, weil er selber nichts wusste. Er hatte nicht gedacht, dass Sarah dermaßen sauer sein würde, da konnte man nicht mehr nur von einer kleinen Störung zwischen den Ehepartnern sprechen, aber das Fatale daran war, dass er ja keine Chance gehabt hatte, Sarah etwas zu erklären, weil sie ihn gar nicht zu Wort kommen ließ. Eigentlich sollte er selber hinfahren und mit ihr sprechen, aber zuerst musste er herausfinden, ob Ben überhaupt wollte, dass seine Frau erfuhr, warum es ihm aktuell so schlecht ging-das war eine sehr schwierige Situation. Wie gerne wollte er jetzt selber von einem Fachmann hören, was man machen konnte und durfte, ohne Ben bloß zu stellen und ihr Vertrauensverhältnis zu gefährden, aber bislang waren Hartmut und er die einzigen außer Ben selber, die über das Ausmaß der Vergewaltigung durch Estelle im Bilde waren-und nicht einmal Ben hatte eine Ahnung davon, wie detailliert sie Bescheid wussten. Susanne würde sich sicher auch ihren Teil denken, aber er vertraute auf die Diskretion der Sekretärin, nicht umsonst war sie Andrea´s beste Freundin!
    Vielleicht sollte er Andrea einbinden und zu Sarah schicken, aber die war jetzt wieder in der Arbeit und die Schule hatte begonnen, die war eigentlich ausgelastet und wenn er nicht auf die Kinder aufpasste, müsste man für die wieder eine Betreuung suchen, solange sie weg war-und außerdem wusste er auch nicht, was Tim und Mia-Sophie hatten-vielleicht war das eine ansteckende Kinderkrankheit wie Masern- und die wollten sie beileibe nicht haben, darum konnte seine Frau Ayda und Lilly auch nicht mitnehmen. Allerdings war es ja ein gutes Zeichen, dass Ben´s und Sarah´s Kinder zuhause und nicht in der Klinik waren, also waren sie zumindest nicht lebensbedrohlich erkrankt. Außerdem-wie sollte er Andrea erklären, warum sie als Vermittler auftreten sollte, wenn sie über die Hintergründe nichts erfahren durfte-nein diese Option fiel schon mal weg. Er setzte also seine ganze Hoffnung auf den Psychologen, ein Fachmann würde wissen, was zu tun war und so lange würde er erst einmal schweigen!


    Als er nun zurück ins Krankenzimmer trat und immer noch überlegte, wie viel Ben erfahren durfte, erschrak er erst einmal. Er hatte erwartet seinen Freund niedergeschlagen und mutlos im Bett liegend vor zu finden, so wie er ihn verlassen hatte, aber der saß nun schweissgebadet auf dem Boden vor dem Bett, die Infusionsnadel war heraus gerutscht, so dass sich herauslaufendes Blut und Infusionslösung zu einer wässrig-blutigen Pfütze vermischten, Ben hatte seinen gesunden Arm auf den Bauch gepresst und jammerte leise vor sich hin. „Ben was ist los!“ fragte Semir entsetzt und drückte auf den Klingelknopf, den Ben allerdings vom Boden aus nicht erreichen konnte. Kurz darauf stand der Pfleger, der für seinen Freund zuständig war, im Raum und Semir hatte derweil vergeblich versucht, dem dunkelhaarigen Polizisten hoch zu helfen, aber dem knickten einfach die Beine weg und außerdem war es verdammt rutschig in der Pfütze. „Ich wollte doch nur aufs Klo gehen!“ flüsterte Ben. „Aber kaum war ich aus dem Bett, haben meine Beine nachgegeben, dabei habe ich doch so Bauchschmerzen!“ klagte er und der Pfleger holte nun kurzerhand einen Toilettenstuhl und gemeinsam hievten sie Ben da hinein und er fuhr ihn hinaus, schloss die Tür hinter ihm, damit er in Ruhe zur Toilette konnte und machte sich dann daran die Schweinerei aufzuwischen. Man hörte ein Stöhnen aus dem Bad und als der Pfleger fragte: „Geht’s ihnen gut Herr Jäger?“ kam nur eine undeutliche Stimme heraus: „Bitte nicht reinkommen!“ denn Ben meinte gerade ein Kind zu kriegen, so quälte er sich auf der Toilette. Krämpfe und Koliken überliefen ihn, er schwitzte immer noch und als er sich endlich entleert und die Spülung betätigt hatte, kam der Pfleger einfach herein und zog ihm kurzerhand die nassen und blutigen Sachen aus, wusch ihn kurz ab und holte dann noch schnell ein frisches Shirt und eine Unterhose. „Das nächste Mal nicht alleine probieren, sondern nach mir läuten!“ ermahnte er seinen Patienten, der vor Scham einen roten Kopf hatte. Verdammt er hatte das alleine erledigen wollen, aber jetzt hatte er dem freundlichen älteren Pfleger noch Extraarbeit verschafft und außerdem genierte er sich wegen dem extrem unangenehmen Gestank. Allerdings bemerkte der Pfleger nun: „Das ist das Blut von den Magengeschwüren, welches sie runter geschluckt hatten, das sie so geplagt hat, kein Wunder dass sie da so Schwierigkeiten hatten!“ und nun war Ben auch klar, warum der Stuhl so schwarz gewesen war und ihn ekelte noch mehr vor sich selber. Als er dann endlich wieder im Bett lag, stand auch schon der Arzt vor ihm und legte ihm einen neuen Zugang und nun schloss Ben erst einmal die Augen und ruhte sich von den Strapazen aus und niemand war froher darüber als Semir-er hatte wieder ein wenig Zeit gewonnen!


    Susanne war derweil systematisch vorgegangen. Erst hatte sie alle männlichen Polizeipsychologen Kölns und seiner Umgebung angerufen-ganze zwei an der Zahl, aber der eine war in Winterurlaub und der andere total überlastet und konnte erst in einigen Wochen wieder neue Patienten nehmen und dann hatte sie begonnen aus dem Branchenbuch die entsprechenden Namen heraus zu suchen. Wenn da jetzt jemand sofort Zeit hatte war das aber auch kein gutes Zeichen, denn dann war er vermutlich nicht gut und so zog sie, bevor sie anrief, immer die Bewertungen im Internet zu Rate. Als Jenny und Bonrath sie um einen Gefallen baten, sah sie für die beiden etwas nach, um sich danach sofort wieder ihren Studien zu widmen. „Na da hast du ja eine wichtige Recherche!“ bemerkte Dieter und versuchte ihr über die Schulter zu sehen. „Kann man wohl sagen, aber das ist nichts für euch!“ entgegnete sie freundlich und schaltete sofort den Bildschirmschoner ein. „Na dann eben nicht!“ sagte Dieter schulterzuckend und verkrümelte sich in die Teeküche, um sich eine Tasse heißen Kaffee zu holen. Nachdem die Luft wieder rein war, griff Susanne zum wiederholten Male zum Telefon und jetzt war sie erfolgreich. Eine freundliche Stimme am anderen Ende beschied ihr zwar erst, dass der Therapeut eigentlich keine Zeit habe, aber als sie ihre Position betonte und um Hilfe für einen traumatisierten Beamten bat, der leider aktuell keine Frauen um sich herum ertragen konnte, sagte der Diplompsychologe zu, auch aus beruflichem Interesse. Da war sicher ein sexueller Hintergrund bei so einer Störung und das war seine Spezialität, er war nämlich unter anderem Sexualtherapeut und es war vermutlich immer gut, wenn man bei der Polizei einen Stein im Brett hatte. Also ließ er sich den Namen und den Aufenthaltsort seines neuen Patienten geben und sagte zu, dass er ihn am Nachmittag im Krankenhaus besuchen würde. Eigentlich hatte er sich die Zeit zum Joggen frei halten wollen, denn die Weihnachtspfunde mussten wieder herunter, aber so würde er einfach die Treppen benutzen und am Abend laufen gehen, er war schon gespannt, was diesem Ben Jäger widerfahren war!

  • Als das Mittagessen gebracht wurde, erwachte Ben wieder, aber nur um mit dem Ausdruck des Ekels kurz unter die Deckel der beiden Töpfchen zu schauen, die auf seinem Nachttisch standen. Semir war aufgestanden-auch er hatte sein Mittagessen schon inspiziert-Rindergulasch mit Nudeln, davor ne leckere Suppe und als Nachtisch stand ein Buttermilchdessert auf dem Tablett, das war auf jeden Fall besser als Ben´s Schleimsuppe und Breichen. „Ben-du musst was essen, sieh mal du hast doch gehört, was der Internist gesagt hat!“ bat er, aber Ben schüttelte den Kopf: „Es geht nicht, Semir, mir wird schon übel, wenn ich das Essen nur rieche!“ vertraute er seinem Freund an, was er allerdings verschwieg war die Tatsache, dass er meinte überall Estelle und ihr widerwärtiges und dabei sicher teures Parfum zu riechen und zu schmecken. Nur Wasser ging-und Kaffee, aber den gaben sie ihm ja nicht. Der Kamillentee der mit auf dem Tablett stand, erweckte sowieso Ekelgefühle. Tim trank den ganz gerne und er konnte das überhaupt nicht verstehen-ach ja sein Tim!


    „Semir-hast du Sarah erreicht? Kommt sie mit den Kindern?“ fragte er und hoffte, dass Semir, ohne seiner Frau den Grund für sein Verhalten zu sagen, die aufgeworfenen Gräben gekittet hatte. Semir hatte die ganze Zeit, während er Ben beim Schlafen zusah und er sich selber auf seinem Bett ausgestreckt, ausgeruht hatte, darüber nachgedacht, was er zu seinem Freund sagen sollte. Nun beschloss er spontan, zu einer Halbwahrheit zu greifen. „Ben-ja ich habe Sarah erreicht, aber hast du schon aus dem Fenster gesehen? Da draußen liegt ziemlich viel Schnee und du kennst ja die Kölner-die kommen damit schlecht zurecht. Bei euch draußen liegt noch viel mehr und die Räumdienste kommen nicht hinterher. Sarah ist mit den Kindern, die zudem auch noch ein bisschen erkältet sind, sozusagen momentan ein wenig von der Außenwelt abgeschnitten!“ erklärte er und wusste gar nicht, wie nahe er damit der Wahrheit kam. Ben nickte mit dem Kopf, trank einen Schluck Wasser und schloss die Augen wieder ein wenig. „Ja da hast du recht-wenn in Köln mal so viel Schnee fallen würde, wie in unserem Urlaubsort im Lechtal-die würden monatelang nicht aus den Häusern kommen, aber dort ist das normal, jeder ist darauf eingerichtet und verhält sich entsprechend-ich möchte nicht wissen, wie viele Unfälle hier passiert sind wegen fehlender Winterreifen, sowas würde in den Bergen niemandem einfallen-egal wie alt die Schrottkarre auch ist-die Reifen haben Profil!“ überlegte er und sagte dann leise: „Ach Semir-wie gerne würde ich jetzt mit dir über die Autobahnen schlittern, Unfälle aufnehmen, Strafzettel verteilen, ach egal, jede Arbeit wäre mir Recht-sogar Berichte schreiben, wenn nur diese Scheisse hier einfach vorbei wäre!“ sehnte er sich und in diesem Moment läutete Semir´s Telefon-Susanne war dran: „Semir-ich habe einen Psychologen aufgetan. Er klang am Telefon sehr sympathisch und hat auch gute Bewertungen im Internet. Er kommt heute im Laufe des Nachmittags in die Klinik zu Ben, ich hoffe er kann ihm helfen!“ verkündete sie und Semir bedankte sich: „Danke Susanne-du bist einfach toll!“ sagte er voller Wärme und nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich Ben zu und verkündete ihm die Neuigkeit. „Ja das muss wohl sein, wobei es mir lieber wäre, wir könnten die letzten Tage einfach vergessen und neu anfangen!“ philosophierte der, forderte dann aber seinen Freund auf, endlich zu essen: „Glaub mir, ich habe wirklich keinen Hunger, aber das trifft ja deswegen auf dich nicht zu, lass es dir schmecken!“ wünschte er ihm und nach kurzer Überlegung vertilgte Semir sein Mittagessen-es brachte ja niemandem etwas, wenn er jetzt auch noch auf Diät ging, schlimm genug, wenn Ben vom Fleisch fiel!


    Ben dachte derweil sehnsuchtsvoll an Sarah und seine Kinder-ach wie er sie vermisste, aber gleich nach dem Essen wurde er in die physiotherapeutische Abteilung abgeholt und Semir half ihm zuerst eine Jogginghose über den Beinverband zu ziehen, der Pfleger stöpselte die Infusion ab und Semir lief einfach mit dem Mann vom Fahrdienst, der den Rollstuhl schob mit-er hoffte, die in der Abteilung wussten darüber Bescheid, dass er von nem Man behandelt werden musste. Aber das war kein Problem-der Therapeut, der Ben schon kannte, bewegte die Schulter durch, massierte die Beinmuskeln und den Rücken und zeigte Ben mehrere Übungen, die er selber ausführen konnte. „Herr Jäger-ich finde allerdings sie werden jeden Tag dünner, essen sie auch genug? Sie wissen doch sicher, dass der Körper Eiweissbaustoffe braucht, um Muskulatur aufzubauen!“ fragte er, aber als Ben die Antwort schuldig blieb, antwortete Semir, der sich bisher zurück gehalten hatte, für ihn: „Er isst gerade überhaupt nichts, kein Wunder dass er jeden Tag schwächer wird!“ erklärte er und tatsächlich war es heute fast nicht möglich, dass Ben mit dem Gehwagen auch nur ein paar Meter lief, sofort gingen ihm die Knie weg. Der Physio lief allerdings direkt hinter ihm und stützte ihn mit seinem Körper, so dass wenigsten nichts passierte, aber als Hausaufgabe bekam Ben nun zusätzlich zu seinen Übungen, seinem Körper wieder Nahrung zukommen zu lassen, aber er versprach nichts!


    Als er wenig später wieder in seinem Bett lag, schloss er erschöpft die Augen und Semir ging kurz vor die Tür um ihn nicht zu stören-er musste dringend Andrea anrufen und sie bitten, ihm Wechselwäsche und das Antibiotikum zu bringen, denn eines war klar-Ben brauchte seine Hilfe und Nähe, den konnte er im Krankenhaus aktuell nicht alleine lassen! Andrea versprach, sobald Ayda die Hausaufgaben fertig hatte, zusammen mit den Kindern vorbei zu schauen, fragte aber verwundert: „Warum kann nicht Sarah im Wechsel mit dir bei ihrem Mann bleiben!“ woraufhin Semir nur traurig sagte: „Das ist eine lange Geschichte, Andrea-vielleicht erzählen Ben oder ich die dir einmal, aber momentan kann ich dazu leider keinen Kommentar abgeben!“ und jetzt schwieg Andrea still-da war irgendetwas absolut nicht in Ordnung und es betraf Sarah und Ben, soviel war klar.
    Semir war derweil den Flur ein Stück vorgelaufen und hatte sich zum Telefonieren in eine Sitzecke verkrümelt, wo er seine Ruhe hatte. Als er jetzt zum Zimmer zurück ging, näherte sich gerade ein attraktiver blonder, etwa vierzigjähriger Mann in Jeans, Pulli und Bomberjacke dem Raum und musterte aufmerksam die Zimmernummern. Semir hatte ihn aus dem Stationszimmer kommen sehen, aber erst jetzt kam ihm ein Verdacht, wer das wohl sein könnte. Bevor der seine Hand zum Anklopfen heben konnte, fiel Semir ihm in den Arm. „Sind sie der Psychologe, den meine Kollegin organisiert hat?“ fragte er verdutzt, mit so einem lockeren Typen hatte er nicht gerechnet. Der Mann verharrte in seiner Bewegung, zog eine Augenbraue hoch und musterte Semir mit Augen die in einem intensiven Blau leuchteten. „Sie haben Recht, Philip Schneider mein Name, ich bin Diplompsychologe und wurde von der Polizei gebeten, mir hier einen Ben Jäger anzuschauen-und wer sind sie, wenn ich fragen darf?“ antwortete er und Semir beeilte sich nun, sich vorzustellen und den Mann am Ärmel mit sich in die Sitzecke zu ziehen. „Ich muss ihnen dazu vorher noch etwas mitteilen!“ sagte er und der Psychologe nickte, setzte sich und hörte aufmerksam zu, was Semir ihm zu berichten hatte.

  • Semir hatte kurz überlegt, was und wie viel er dem Psychologen erzählen sollte, aber als er erst einmal begonnen hatte, sprudelte es nur so aus ihm heraus. „Dort drinnen liegt mein bester Freund!“ wies er mit einer Kopfbewegung Richtung Zimmer. „Ich möchte unbedingt, dass er wieder gesund wird, aber ich habe keine Ahnung was ich sagen kann oder soll, um ihm zu helfen. Um ihn besser verstehen zu können, sollten sie die Hintergrundstory kennen, denn ich weiss nicht, in wie weit er die erzählen wird-ich glaube da ist einfach viel zu viel passiert in den letzten Wochen und das Schlimmste ist, ich glaube er fühlt sich teilweise schuldig an den ganzen Dingen und das setzt ihm am Allermeisten zu.


    Begonnen hat es schon vor einigen Wochen, als wir auf einer Streifenfahrt eine junge, sehr attraktive Frau in einem Ferrari aufgehalten haben, die gerast ist. Ben hat die damals mit Blicken schier ausgezogen, wir haben dann noch kurz ihren Background recherchiert, aber sie dann vergessen. Parallel dazu wurde Köln von einer Mordserie an Flüchtlingen erschüttert-sie haben sicher auch davon gehört, den armen Menschen wurde, bevor man sie ertränkt hat, immer mit beispielloser Brutalität die Zunge heraus geschnitten!“ erzählte Semir und den Psychologen überlief ein kalter Schauer-oh je, er befürchtete jetzt schon, dass dieser Fall so einige Dimensionen sprengen würde-normalerweise arbeitete er eher mit fremd gehenden Partnern, sexueller Frustration und manchmal auch Angststörungen, aber das hier klang aufregend und interessant.


    „Mein Freund, dessen und meine Familie und ich haben kurz nach Weihnachten in den Bergen einen Skiurlaub angetreten-sein Weihnachtsgeschenk an mich und ja sie dürfen sich über so ein großzügiges Geschenk wundern, aber Ben ist sehr vermögend und hätte es eigentlich gar nicht nötig als Polizist zu arbeiten-er macht das aus Berufung!“ erklärte Semir weiter. „Dort sind wir zu allem Unglück auf Estelle Winkler, die Ferrarifahrerin, und ihren wesentlich älteren Ehemann getroffen. Die Frau hat um Ben gebuhlt, der sich aber meines Wissens“ -und dieses Detail fiel dem Psychologen durchaus auf- „nicht für sie interessiert hat. Er war ein paarmal mit ihr auf der Piste, aber anscheinend hat das genügt, ihren Mann rasend vor Eifersucht zu machen. Er hat uns beide von einem korrupten Bergführer auf eine Tour führen lassen, dabei hat der Einheimische ein Schneebrett ausgelöst, das Ben schon damals beinahe getötet hätte und einen anderen unschuldigen Tourengeher in den Tod gerissen hat. Durch einen glücklichen Zufall wurden wir von ein paar Flüchtlingen gerettet, wobei ein Arzt aus deren Reihen Ben unter primitivsten Bedingungen medizinisch versorgt und sogar urologisch ohne Betäubung notoperiert hat. In letzter Sekunde wurden wir unter dramatischen Umständen gerettet, wobei der Bergführer da bereits das zweite Attentat auf Ben verübt hat, das ich gerade noch so vereiteln konnte. Später hat sich heraus gestellt, dass der Auftraggeber der Schleuser, Winkler war, der auch die Morde in Köln zu verantworten hatte und den armen Menschen die Zungen immer höchstpersönlich heraus geschnitten hat.

    Im Krankenhaus in Innsbruck, wohin man Ben geflogen hatte, erfolgte der nächste Anschlag auf sein Leben, durch einen korrupten Pfleger, der ihn im Auftrag Winkler´s mit Blutverdünnungsmittel versucht hat zu töten. Nach der Verlegung nach Köln gab es noch zwei weitere Anschläge auf sein Leben-erst nochmals durch den schon erwähnten Bergführer, der danach von Winkler und seinen Helfershelfern grausam hingerichtet wurde und dann von Winkler selber, den ich dann allerdings erschossen habe!“ erzählte Semir lapidar und der Psychologe musterte den türkischen Polizisten mit einem fast ungläubigen Blick aus den großen blauen Augen-wo verdammt war er hier rein geraten? Das klang ja wie ein Thriller im Fernsehen mit Matt Damon, aber dass sowas im wahren Leben vorkam, hätte er beinahe nicht für möglich gehalten. Wenn er nicht Ausschnitte aus den Erklärungen des Polizisten aus der Tagespresse gekannt hätte, hätte er dem vermutlich nicht geglaubt, aber so befürchtete er leider, dass das alles der Wahrheit entsprach.


    „Aber damit nicht genug-kaum war der Ehemann tot, hat Estelle probiert, sich meinen Freund unter den Nagel zu reißen. Erst hat sie versucht seine Familie-seine Frau Sarah und seine beiden Kinder-durch ein Bombenattentat hier auf dem Parkplatz auszulöschen und dann hat sie ihn von zwei Helfershelfern aus der Klinik entführen lassen. Er war etwa 30 Stunden in ihrer Gewalt, bevor wir ihn in letzter Sekunde befreien konnten, wobei seine Peinigerin durch die Hand eines Helfershelfers grausam ums Leben gekommen ist, und wie wir von der Polizei anhand der Spuren feststellen konnten, wurde er zuvor schwer sexuell missbraucht, wie ich es zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Zunächst hat er uns versucht weis zu machen, dass er den Missbrauch verschlafen habe, es war nämlich auch ein Betäubungsmittel im Spiel, aber inzwischen weiss ich, dass das leider nicht der Fall war. Es haben sich wohl so unglaubliche Szenen in dieser Wohnung abgespielt, dass er sich seitdem von keiner Frau mehr berühren lassen kann, nicht einmal von der Ehefrau, die deshalb tödlich beleidigt ist und weder mit ihm noch mit mir sprechen will. Wir haben in der Wohnung neben allerhand Sexspielzeug solche speziellen Spritzen gefunden, die eine Erektion auch ohne Willen des Mannes bewirken und anscheinend kamen die zum Einsatz, allerdings will Ben da verständlicherweise nicht darüber sprechen!“ kam er nun zum Schluss seines Berichts und der Psychologe schwieg nun eine Weile still und versuchte das Gehörte zu verarbeiten.


    Nach einer Weile probierte er in Worte zu fassen, was ihm durch den Kopf ging: „Herr Gerkhan, ich danke ihnen für ihre Offenheit und den Bericht, allerdings werde ich jetzt erst einmal versuchen zu Herrn Jäger ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und werde dann sehen, ob er sich mir öffnen kann. Das wird mit Sicherheit keine Sache sein, die man in drei Therapiesitzungen abhandeln kann und es ist für mich zwar interessant die Hintergründe zu kennen, aber es wäre keine Voraussetzung für eine Therapie. Mich interessiert eher wie Herr Jäger sich fühlt und gefühlt hat, was seine Psyche von diesen ganzen schrecklichen Dingen bewahrt und was sie aus Selbstschutz ausgeblendet hat. Ich möchte ihm helfen, wieder mit seinem Leben zurecht zu kommen, mit, oder sagen wir einmal lieber trotz dieser schlimmen Erlebnisse, die einen Menschen durchaus zerstören können, wieder Freude zu empfinden. Allerdings ist das eine sehr intime Sache zwischen Therapeut und Patient und sie können uns am besten helfen, wenn sie von hier draußen dafür sorgen, dass uns niemand stört. Außerdem gibt es noch eine sehr wichtige Sache. Bisher kenne ich Herrn Jäger ja nur aus ihren Erzählungen. Wenn allerdings die Chemie zwischen uns beiden nicht stimmt und er mich unbewusst ablehnt, macht eine Behandlung durch mich keinen Sinn. Das müssen wir jetzt als Allererstes heraus finden!“ erklärte er und Semir war zunächst einmal kurz fast ein wenig eingeschnappt. Wie-er sollte von den Therapiegesprächen ausgeschlossen werden? Allerdings konnte er die Intention des Psychologen schon verstehen und jetzt erst einmal ein Schritt nach dem anderen-er würde Ben diesen Philip Schneider zunächst vorstellen und dann abwarten, was sein Freund dazu sagte und ob er ihn dabei haben wollte.


    So standen die beiden sehr ungleichen Männer-groß, gutaussehend und blond der eine, klein, drahtig und mit bereits leicht ergrauten, kurz geschorenen Haaren, dabei für sein Alter durchaus ebenfalls attraktiv der andere-wenig später erneut vor Ben´s Zimmertüre und nach einem kurzen Klopfen traten sie beide ein und der fremde Mann, der sich auch gleich mit kräftigem Handschlag und einem Lächeln vorstellte, wurde nun von Ben eingehend gemustert.

  • Bevor Semir etwas sagen konnte, war auch schon der Psychologe dran. „Hallo Herr Jäger-ich bin Philip Schneider, von Beruf Diplompsychologe und wurde gebeten, sie ein wenig zu unterstützen. Wie mir ihr Freund Herr Gerkhan gerade draußen kurz umrissen hat, haben sie ja in letzter Zeit so einiges mitgemacht und ich würde mich freuen, wenn ich sie bei der Verarbeitung dieser ganzen Dinge ein wenig unterstützen dürfte!“ sagte er und Ben warf nun zuerst einmal Semir einen wütenden Blick zu. Was hatte der denn nun schon alles ausgeplaudert und hätte man das nicht in seinem Beisein machen können? Vielleicht wollte er ja gar nichts von sich erzählen und ihm war ja noch gar nicht klar, was und wie viel Semir überhaupt wusste. Klar hatte der Kenntnis davon, dass er missbraucht worden war, aber in welchem Ausmaß, davon hatte er dann doch keine Ahnung und das jetzt einem wildfremden Menschen einfach so auf die Nase zu binden, das war wohl die Höhe.
    Semir verstand den Blick und fragte sich im selben Augenblick, ob das richtig gewesen war, was er getan hatte, aber da eilte ihm nun sozusagen schon der Psychologe zu Hilfe. „Herr Jäger-ich war auch schon im Stationszimmer und habe mich dort vorgestellt, weil ich ja nicht dem Klinikpersonal angehöre, die dürfen mir ohne ihr Einverständnis überhaupt nichts sagen, aber ich wollte das Personal nicht übergehen, die sollen wissen mit wem sie es zu tun haben und wenn wir beide uns aufeinander einlassen, werde ich in nächster Zeit öfters hier sein. Ihr Freund trägt gemeinsam mit ihnen schwer an den ganzen Erlebnissen der letzten Wochen und ich bin ihm sehr dankbar, dass er kurz umrissen hat, was ihnen zugestoßen ist und bin ehrlich gesagt erschüttert, wie die ganzen Dinge, die ich am Rande aus der Tagespresse, Fernsehen und Radio mitbekommen habe, mit ihnen zusammen hängen. Das kann eigentlich fast niemand einfach so weg stecken und wenn sie einverstanden sind, möchte ich ihnen gerne zuhören und versuchen gemeinsam mit ihnen die Dinge wieder an ihren Platz zu rücken-zumindest emotional, denn an den Geschehnissen die passiert sind, können wir eh nichts verändern, höchstens an der Art sie zu sehen und mit diesen Erlebnissen umzugehen. Darf ich bleiben und wollen wir ihren Freund mal für ein Stündchen an die frische Luft oder Kaffee trinken schicken?“ fragte er Ben und der nickte momentan stumm.
    In den wenigen Sätzen waren ziemlich viele Informationen enthalten gewesen, aber eigentlich war alles stichhaltig gewesen und so fand sich Semir wenig später vor der Türe wieder und wurde noch freundlich aber bestimmt verabschiedet: „Bis später Herr Gerkhan und vielen Dank nochmals, dass sie mir so einen guten Überblick gegeben haben!“ sagte Philip Schneider und Semir wusste im Augenblick nicht, ob er sich jetzt für Ben freuen, oder auf den Typen sauer sein sollte.


    Der Psychologe trat nun wieder ins Zimmer zurück, holte sich einen Stuhl und setzte sich bequem in ein wenig Abstand von Ben´s Bett, so dass der ihn gut sehen konnte, aber die Individualdistanz, die jeder Mensch einem Fremden gegenüber hatte, noch gut gewahrt war. Nachdem Ben auch nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte, stellte sich der Psychologe nun erst einmal näher vor, erzählte dass er eine Praxis habe und sich eigentlich als Sexualtherapeut spezialisiert hatte, was Ben ein Seufzen entlockte-oh nein, klar war das vermutlich wichtig, aber er wollte über die Zeit in Estelle´s Fängen am liebsten überhaupt nicht reden, sondern das einfach vergessen, das würde mit der Zeit schon werden. Wenn der Typ nun sofort darauf einging-und jetzt war es wieder gemein von Semir, dass der da sozusagen über seinen Kopf hinweg etwas ausgeplaudert hatte und vor allem wusste er ja überhaupt nicht was genau-dann würde er ihn rauswerfen, obwohl er ihm ehrlich gesagt so auf den ersten Blick nicht ganz unsympathisch war.


    Als könne er seine Gedanken lesen, sagte der Blonde nun: „Herr Jäger, sie werden sich gewundert haben, dass ich ihnen sozusagen brühwarm weitererzählt habe, dass mich ihr Freund bereits informiert hat, aber das ist eine meiner eisernen Regeln in der Therapie, ich spiele nicht mit gezinkten Karten. Sie sollen wissen, welche Informationen ich habe und von Berufs wegen interessieren mich die eigentlichen Tatsachen recht wenig, sondern ich möchte eher wissen, was sie bei den ganzen Dingen, die ihnen angetan wurden, gefühlt haben und mit diesem Ansatz versuchen ihre Psyche zu therapieren. Allerdings haben sie da einen ganz tollen Freund und ich hatte das Gefühl, dass der sehr mit ihnen mitleidet und es ihm ausgesprochen wichtig war, sich das von der Seele zu reden und mich zu informieren, damit ich ihnen besser helfen kann!“ erklärte er und nun konnte Ben keinem der beiden böse sein-weder dem, wie er bereits fest gestellt hatte, gut aussehenden und offenen Blonden, noch Semir-nein vor allem nicht Semir und dass auch der sein Päckchen an der ganzen Sache zu tragen hatte, daran hatte er noch keinen Gedanken verschwendet. „Wollen wir es zunächst einmal miteinander versuchen?“ fragte nun der Psychologe und jetzt kam das erste Wort über Ben´s Lippen und er sagte „Ja!“ denn so viel hatte er schon begriffen, so ganz alleine würde er aus diesem ganzen Durcheinander in seinem Kopf nicht mehr herausfinden.


    Nun lächelte der Seelenklempner, lehnte sich zurück und sagte: „Wollen sie mir nicht erst einmal ein wenig von sich, von ihrer Familie und ihrem Beruf erzählen, damit wir uns besser kennenlernen?“ und nun nickte Ben und begann leise zu sprechen. Als die Stunde, die wie im Flug vergangen war, vorbei war, war Ben fast ein wenig heiser und auch ziemlich müde, aber es war überhaupt nichts über die letzte traumatische Zeit geredet worden, sondern vielmehr über seine Familie, die Kinder, Hunde-der Psychologe hatte nämlich auch einen-die Autobahnpolizei und seine tiefe Freundschaft zu Semir, der eben nicht nur ein Kollege war, über Autos, Muckibuden, Hobbys, Motorräder-auf jeden Fall fühlte Ben sich zunehmend wohler in der Gegenwart des Mannes. Er drängte ihn zu nichts und die Worte flossen immer selbstverständlicher aus dem Mund des jungen Polizisten. Er nahm immer wieder einen Schluck Wasser, sogar übers Essen an sich unterhielten sie sich und stellten fest, dass sie beide ungefähr genauso verfressen waren und dann immer verzweifelt Sport trieben, damit sich die Pfunde nicht ansetzten. Beinahe bekam Ben gerade fast ein wenig Hunger, aber wenn er dann an die Schleimsuppen und Breichen dachte, dann verging es ihm wieder, sogar wenn er Estelle jetzt einmal ausblendete. Als Schneider sich mit einem Blick auf die Uhr dann erhob, sich herzlich verabschiedete und fragte, ob es für Ben ok wäre, wenn er morgen wieder käme, nickte der heftig, denn es hatte ihm einfach gut getan, sich normal mit jemandem zu unterhalten, der auf seiner Wellenlänge lag. Er unterschrieb deshalb auch ohne zu Murren den Behandlungsvertrag, den der Blonde umständlich und ein wenig zerknittert aus seiner Bomberjacke kramte und dazu sagte: „Ich hasse Papierkram, aber manches muss einfach sein!“ und da konnte Ben ihm nur aus vollem Herzen zustimmen.


    Semir hatte derweil, immer wieder auf die Uhr blickend, vor der Zimmertür Patrouille geschoben und darauf geachtet, dass da niemand reinplatzte. Was wurde da drinnen wohl gesprochen? Ein wenig ausgestoßen kam er sich vor, aber dann packte er sich sozusagen selbst an der Nase. Was hatte er erwartet? Dass Ben ihn dabei haben wollte und der Psychodoc dann auch noch damit einverstanden war? Ben´s Hemmungen und seelischen Verletzungen waren so groß, dass er nicht einmal im Schutze der Dunkelheit in seinen Armen über das sprechen konnte, was Estelle ihm angetan hatte, das würde sicher nicht einfach werden und er war froh, dass jetzt wenigstens etwas voran ging und sich ein Profi der Sache annahm. Als nach ziemlich genau einer Stunde der Blonde das Zimmer verließ, bedankte er sich noch bei Semir, dass der ihm den Rücken frei gehalten hatte. Er lächelte so gewinnend und der Händedruck zum Abschied war so herzlich, dass Semir ihm schon nicht mehr böse sein konnte. Als er nun in den Raum trat, lag Ben zwar mit geschlossenen Augen auf dem Rücken im Bett und wirkte ein wenig erschöpft, aber seine Wangen waren gerötet und als er nun die Augen aufmachte und seinen Freund ansah, umspielte sogar ein leichtes Lächeln seine Lippen. „Ich glaube der ist ok!“ sagte er und nun fiel Semir regelrecht ein Stein vom Herzen.

  • Wenig später kam Andrea mit Ayda und Lilly. Sie begrüßten erst den Papa, aber dann rannten sie sofort alle beide an Ben´s Bett und überreichten ihm lachend selbst gemalte Bilder. Einerseits freute sich der junge Polizist, aber andererseits durchfuhr es ihn wieder wie Messerstiche-er vermisste seine eigene Familie, wie mochte es Sarah, Tim und Mia-Sophie nur gehen? Stimmte es, dass sie wirklich nur leicht erkältet waren? Dann hätte aber sicher Hildegard auf sie mal ein Stündchen aufpassen können. Wenn die Straßenverhältnisse so schlimm waren, wie Semir behauptet hatte, warum war es dann Andrea und dem Psychologen gelungen, zu ihm zu kommen? Auch bei ihnen draußen gab es einen Winterdienst, es hatte schon eine Weile zu schneien aufgehört, so langsam müsste die Lage wieder im Griff sein! Was verheimlichte ihm Semir? War vielleicht sogar etwas Schlimmes mit Sarah und man wollte es ihm nicht sagen, um ihn nicht zu belasten?
    Also lächelte er zwar erst die Mädchen an, aber dann schloss er erschöpft die Augen und hing seinen Gedanken nach, so dass Andrea ihre Kinder zu sich rief, damit sie ihn nicht störten und besorgt ihren jungen Freund betrachtete. Der sah aus wie ausgekotzt. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen waren eingefallen, soweit man das unter dem Dreitagebart erkennen konnte und auch am Körper hatte er stark abgenommen. Als sie sich wenig später verabschiedeten, trat sie zu ihm und wollte ihm in einer fürsorglichen Geste mit dem Handrücken über die Wange streichen, aber er drehte sich weg und ließ eine verdutzte Andrea zurück, die Semir nun schon an der Hand mit sich zog.
    Semir begleitete seine Familie, nachdem er sich für die mitgebrachte Tasche bedankt hatte, mit zum Ausgang. „Andrea-denk dir nichts dabei-Ben ist gerade nicht er selber!“ versuchte er seine Frau zu besänftigen, die durch Ben´s Verhalten schon ein wenig brüskiert war, aber er konnte sie nicht einweihen, das wäre ein Vertrauensbruch an seinem Freund. Allerdings war der türkische Polizist regelrecht ein wenig erleichtert gewesen, dass sich die Abneigung seines jungen Kollegen wenigstens nicht auf die Kinder erstreckte, denen hatte er die Hand gegeben und deren Berührungen waren ihm anscheinend nicht unangenehm gewesen, obwohl das ja unbestritten auch weibliche Wesen waren, aber eben Kinder! So ging Semir nachdenklich zum Zimmer zurück-ja er konnte sich vorstellen, dass Sarah beleidigt gewesen war, wenn Ben vor ihr genauso zurück gezuckt war, wie gerade eben vor Andrea! Er holte sein Handy nochmals heraus und versuchte Sarah anzurufen, aber auf sein Klingeln rührte sich einfach nichts, weder am Festnetztelefon, noch am Handy-verdammt, der Karren steckte ordentlich im Dreck!


    Als das Abendessen kam, wiederholte sich die Szenerie vom Mittag. Ben sah unter die Deckel, verzog angewidert das Gesicht und drehte sich weg. „Ben-du musst endlich mal was essen!“ versuchte Semir ihn zu überreden, aber er schüttelte den Kopf. Als der Pfleger der Nachmittagsschicht, der jetzt für ihn zuständig war, lange nachdem das Tablett abgeräumt war, wieder herein kam und fragte, wie das Essen geschmeckt hätte, erzählte Semir ihm, dass Ben seit Tagen nichts aß, woraufhin ihm Ben wütende Blicke zu warf. „Ich werde das mit dem Stationsarzt besprechen, vielleicht fällt dem eine Lösung ein!“ versprach der junge Pfleger, der noch nicht sehr lange in der Uniklinik arbeitete, aber als er das Zimmer verlassen hatte und den suchte, hatte der bereits Feierabend gemacht. Ben bekam weiterhin seine Infusionen, aber das bisschen Zucker das sich in dieser fünfprozentigen Glukoselösung befand war einfach zu wenig. Allerdings konnte man keine höherprozentigen Nährlösungen über einen peripheren Venenzugang geben, weil dabei die Venen kaputt gingen, um jemanden länger parenteral zu ernähren, müsste man einen zentralen Venenkatheter legen, was in einer Klinik ja auch kein Problem war. Etwas in der Art schwebte dem Pfleger vor, als er den diensthabenden Chirurgen anrief, der im Bereitschaftsdienst für diese Station und noch drei weitere zuständig war. Der hatte freilich kurze Übergaben von seinen drei Kollegen bekommen, aber auf die Details konnte man ihm Dienst nicht eingehen-immerhin musste er sich die nächsten Stunden um über hundert stationäre Patienten kümmern, Neuzugänge aufnehmen und eventuell auch mit in den OP zum Assistieren, wenn eine Notoperation anstand. Meistens verschaffte er sich anhand der Akten einen kurzen Überblick, bevor er seine Anordnungen traf, Medikamente verordnete, Zugänge legte oder entschied, dass die Patienten operiert werden mussten. Der Arzt war ein wenig eigenwillig und ließ sich auch vom Pflegepersonal nicht gerne etwas sagen-immerhin war er Arzt und die waren nur Hilfskräfte, die seine Autorität gefälligst nicht durch eigenständiges Denken in Frage stellen sollten! So versprach er am Telefon kurz angebunden, dass er sich in Kürze darum kümmern würde und ordnete zuvor noch eine Kontrolle des Blutzuckerspiegels an. Der Pfleger nahm sein Blutzuckerstixgerät und ein Hämostilett mit ins Zimmer, piekte Ben damit in die Fingerkuppe, nachdem er ihm erklärt hatte, wozu das gut war und tatsächlich-wie er erwartet hatte, der Blutzuckerspiegel war ziemlich niedrig, so konnte sein Patient ja nicht genesen!


    Der Pfleger dokumentierte das und als kurz darauf der diensthabende Doktor auf die Station kam, überflog er schnell die Akten. „Soll ich gleich alles zum ZVK-Legen vorbereiten?“ fragte der junge Pfleger diensteifrig-das hätte man in der Klinik, in der er zuvor gearbeitet hatte, so gelöst, aber damit hatte er schon das Verkehrte gesagt. Der Diensthabende ging auf: „Was ich für Maßnahmen ergreife ist immer noch meine Sache! Wenn der Patient nicht freiwillig isst, obwohl das der Gastroenterologe sogar empfiehlt, dann bekommt er eine Magensonde und wird darüber eben zwangsernährt. Das Risiko eines ZVK´s ist in seinem Fall wesentlich höher als das einer Ernährungssonde, außerdem heilen so die Geschwüre besser ab!“ fuhr er den jungen Mann an. „Aber der Patient ist schwer traumatisiert!“ versuchte nun der Pfleger diese Maßnahme zu vermeiden, allerdings stieß er damit bei dem Arzt auf Granit. „Sie richten alles her und in fünf Minuten, wenn ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, lege ich die Ernährungssonde!“ bestimmte der Arzt und unglücklich bereitete der Pfleger die benötigten Materialien vor.
    Als er wenig später ins Zimmer trat und gerade Ben, der nach den Anstrengungen des Nachmittags ein wenig eingenickt war, erklären wollte, was nun auf ihn zukam, stand auch schon der bullige Arzt im weißen Mantel hinter ihm. „Herr Jäger, ich lege ihnen jetzt eine Magensonde!“ war das einzige was er sagte und fuhr das Bett in halb sitzende Stellung hoch. Ben sah voller Entsetzen von einem zum anderen. Er wollte um Hilfe rufen, aber nicht einmal Semir bekam etwas mit, denn der hatte die Gunst der Stunde und seine frischen Sachen genutzt, um gerade mal eben unter die Dusche zu springen, während Ben ein Nickerchen machte. Nur ein Gurgeln kam aus seinem Hals, als der Arzt sehr routiniert die Sonde mit Gleitgel versah und dann durch das Nasenloch einging. „Schlucken!“ war das einzige Kommando und während Ben würgte und die Tränen in seine Augen schossen, ergriff der Pfleger, der völlig unglücklich war, wie die Sache gerade lief, aber aus dieser Nummer nun auch nicht mehr rauskam, ohne seinen Job zu gefährden-immerhin war er noch in der Probezeit und die Verweigerung einer Arztanordnung war ein fristloser Kündigungsgrund-seine Hand und hielt die fest. Die andere Hand steckte ja in dem Gilchristverband und so schob sich die Sonde ohne jegliche Betäubung durch die wunde Speiseröhre in den Magen vor. Der Arzt hatte zuvor kurz abgemessen, wie weit bei Ben´s Größe die Sonde hinein musste, um auch im Magen zu liegen und nicht im Zwölffingerdarm und als er an Ort und Stelle war, zog er den Mandrin heraus und prüfte mit dem Stethoskop auf den Bauch des Patienten, ob die Lage korrekt war. Der junge Pfleger hatte dazu Ben´s Hand losgelassen und blies nun mit einer großen 100ml-Spritze Luft in ihn und tatsächlich verriet das eindeutige Blubbern dem Arzt die korrekte Lage.


    Ben`s Augen schwammen vor Tränen und er gab nun keinen Ton mehr von sich. Soeben war er sozusagen aufs Neue vergewaltigt worden. Man hatte ohne sein Einverständnis gewaltsam und schmerzhaft etwas in ihn hinein geschoben-er war doch nur noch eine Sache, die man nach Belieben gebrauchte, aber als Mensch besaß er keinen Wert mehr. Während der Arzt nun aus dem Zimmer ging, ohne ein anerkennendes freundliches Wort, eine Erklärung oder sonst etwas, verklebte der unglückliche Pfleger, von dem Ben sich nun ebenfalls abwandte, noch die Sonde-er musste dazu sogar ein Stück Bart abrasieren- hängte dann erst einen Ablaufbeutel hin, der leicht blutigen Magensaft mit Wasser vermischt zutage brachte und ging dann hinaus, um die Sondennahrung und eine Sondenpumpe zu holen.

    Semir hatte im Bad kurz gelauscht-hatte Ben gerade gewürgt und zuvor jemand gesprochen? Aber als er nichts weiter hörte, seifte er sich ein und beendete in aller Ruhe die Dusche. Als er nun mit einem Duschtuch um die Hüften leise aus dem Bad trat, um Ben nicht zu wecken, traf ihn fast der Schlag. Sein Freund lag völlig fertig und tränenüberströmt im Bett und aus seiner Nase ragte etwas, was Semir nur zu gut kannte-eine Magensonde!

  • „Um Himmels Willen, Ben!“ rief Semir und wollte sofort zu seinem Freund eilen, der sichtlich am Ende seiner Kräfte und völlig mit den Nerven runter im Bett lag, aber auch von ihm wandte sich Ben ab. „Das ist alles nur passiert, weil du deinen Mund nicht halten konntest!“ klagte er und Semir wurde in derselben Sekunde von riesigen Schuldgefühlen heim gesucht. Verdammt-wenn er nur nichts zu dem Pfleger gesagt hätte, aber er konnte es immer noch nicht glauben, dass er überhaupt nichts von dieser Aktion mitbekommen hatte, oder diese verhindern konnte! Aber leider war es so und als nun der Pfleger wieder zur Tür herein kam, versteifte Ben sich noch mehr und Semir eilte kurz zu seinem Schrank, wo er die frische Wäsche eingeräumt hatte und holte sich ein Schlafshirt und eine weiche Schlafanzughose heraus, die er dann schnell im Bad anzog. Nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet zu sein, war nicht so passend und er musste jetzt dringend versuchen, wieder einen Zugang zu seinem Partner zu finden, der sich anscheinend von der ganzen Welt verraten fühlte.


    Auch der junge Pfleger, dem die Schuldgefühle regelrecht aus allen Poren sprachen, trat nun an das Bett seines Patienten und legte ein paar Sachen auf dem Nachtkästchen ab. „Herr Jäger-es tut mir leid, wie das Ganze abgelaufen ist!“ entschuldigte er sich. „Ich wollte doch nur ihr Bestes und habe dem diensthabenden Arzt gesagt, dass sie nichts essen können. Ich dachte er ordnet vielleicht andere Infusionen oder etwas in der Art an, aber der hat auf der Magensonde bestanden. Ich denke aus medizinischer Sicht ist das auch in Ordnung, denn so kann man ihnen jetzt Nahrung zukommen lassen, die sie absolut dringend brauchen, denn ihr Blutzuckerspiegel ist ziemlich niedrig und sie werden auch nicht auf die Beine kommen, wenn sie ihrem Körper keine Kalorien geben, aber die Art und Weise, wie das gemacht wurde, war schlimm und entwürdigend für sie. Ich wollte ihnen so gerne erklären was wir tun, oder eigentlich wäre das ja die Aufgabe des Arztes gewesen, aber der hat mich auch so eingeschüchtert, dass ich mich nicht getraut habe und jetzt tut es mir leid!“ versuchte er in Worte zu fassen, was ihn beschäftigte. Er kannte zwar nicht die genaue Vorgeschichte des Patienten, aber dass dem erst wenige Tage zuvor bereits Gewalt angetan wurde, genügte schon, um dieses Vorgehen noch viel unakzeptabler zu machen, als es sowieso schon war. Auch wenn das Legen einer Magensonde in einem Krankenhaus Routine war und der Arzt das technisch auch gut gemacht hatte-die Aufklärung des Patienten und die Menschlichkeit hatten gefehlt und dass Herr Jäger an dieser Sache schwer zu knabbern hatte, konnte man ihm ansehen.
    Oh verdammt-was hatte er da nur angestoßen-allerdings war es Tatsache, sein Patient brauchte dringend Nahrung und die Geschwüre würden auch besser abheilen, wenn der Magen kontinuierlich mit ein wenig Sondenkost gefüllt war. Er würde jetzt erst ein wenig Wasser mit der Spritze eingeben und wenn Ben dann nicht husten musste, weil die Sondenlage inkorrekt war, würde man kontinuierlich mit der Sondenpumpe Nahrung in ihn hineinlaufen lassen und die Förderrate allmählich steigern, solange ihm nicht übel wurde.


    Erst montierte nun der junge Mann die Sondenpumpe an den Infusionsständer, der sowieso neben dem Bett stand und an dem die Infusionsflasche hing, dann verband er die Plastikflasche mit der bräunlichen Sondenkost mit dem System und entlüftete das. Bei dieser Tätigkeit war er seinem Patienten noch nicht nahe gekommen, aber als er jetzt die Magensondenspritze mit Wasser aus einem mitgebrachten Becher füllte und sich unter vielen Erklärungen seinem Patienten näherte, begann der ihn anzuschauen wie die Maus die Schlange, sein Atem beschleunigte sich, der Körper verkrampfte sich und Ben zog sich sozusagen als letzten Akt einfach die Decke über den Kopf und ließ niemanden mehr an sich heran. Als der Pfleger nun begütigend an seine Schulter unter der Decke fasste, schnellte Ben´s gesunde Hand heraus und schlug heftig nach ihm und nur mit einer raschen Ausweichbewegung vermied der Pfleger eine Verletzung. Bei dieser Gelegenheit riss Ben erneut gleich mal den Zugang heraus, jetzt fehlte auch die Möglichkeit, ihn einfach aus der Entfernung zu sedieren und nun war guter Rat teuer!


    „Herr Jäger, ich will ihnen doch nichts Schlimmes!“ versuchte der Pfleger mäßigend auf ihn einzuwirken und war Ben auch nicht wirklich böse. Dieser Mann da vor ihm war psychisch dermaßen an der Kante, der war für die ganzen Taten, die er jetzt machte, eigentlich nicht verantwortlich.
    Nun mischte Semir sich ein. „Vielleicht können diese ganzen Dinge“ und damit wies er auf die Sondennahrung und die ganzen Sachen „noch ein bisschen warten und sie lassen uns einfach alleine. Ich denke mein Freund braucht ein wenig Zeit, um sich mit der Situation zu arrangieren!“ sagte er und der Pfleger nickte mit dem Kopf und ging Richtung Zimmertür. Er würde seinem Patienten Zeit geben und seinen Kolleginnen auch nichts davon erzählen, dass Herr Jäger gerade nach ihm gehauen hatte-ansonsten würden die ihm raten, nochmals den Arzt und den Sicherheitsdienst zu rufen. Herr Jäger würde von starken Männern festgehalten und fixiert werden, der Arzt würde ihm gewaltsam einen neuen Zugang legen und dann würde er so sediert werden, dass er nur noch vor sich hindämmerte. Man würde ihm einen Katheter legen und eine Windel anziehen, ein Fax an das Vormundschaftsgericht senden, dem aber wegen Fremdgefährung fast sicher eine Fixierungsanordnung folgen würde und wie sich das auf die Psyche eines missbrauchten Patienten auswirken würde, konnte man sich denken-der Weg in die Psychiatrie war sozusagen vorprogrammiert.


    Nein-ihm war nichts passiert und er schätzte Herrn Jäger auch nicht allgemeingefährlich ein, der stand gerade nur völlig außer sich und brauchte Hilfe und keine Gewaltmaßnahmen, allerdings musste die Situation geklärt sein bis der Nachtdienst kam, denn da war eine einzelne Frau alleine auf der Station und die konnte man nicht mit einem aggressiven Patienten zurück lassen. Allerdings war der Freund seines Patienten ja auch Polizist-sie würden das um Himmels Willen doch so hinbekommen, dass der ihn beaufsichtigen konnte, damit sich weder Herr Jäger selber Leid zufügte, noch jemand anderem etwas antat! So bat er Semir mit einer kurzen Handbewegung vor die Tür und erklärte ihm die ganzen Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf gegangen waren. Semir wurde blass, um Himmels Willen-das Ganze durfte auf gar keinen Fall geschehen, denn sonst würde Ben sich bei der nächsten sich bietenden Möglichkeit umbringen-noch eine weitere „Vergewaltigung“ würde er nicht überstehen können. „Wie viel Zeit hab ich?“ fragte er den jungen Pfleger, der ihm sehr sympathisch war und fügte auch gleich hinzu: „Normalerweise ist mein Freund nicht so, aber der hat in den letzten Tagen und Wochen verdammt viel mitgemacht!“ und sein Gegenüber nickte. „Wenn er sich beruhigt hat, muss niemand etwas davon erfahren, dass er nach mir geschlagen hat, allerdings muss er bis in zwei Stunden, da kommt die Ablösung, ruhig sein und keine Gefahr für andere darstellen. Außerdem braucht er wieder einen Zugang, denn sein Antibiotikum und das Pantozol müssen wir ihm ja irgendwie verabreichen, also muss er den Arzt noch kurz an sich ranlassen. Auch täte es ihm sicher gut, wenn wir endlich mit der Ernährung beginnen könnten, damit seine Geschwüre abheilen und auch sein Blutzuckerspiegel sich normalisiert. Eigentlich müsste er Heißhunger haben-und da bin ich auch immer schlecht gelaunt, wenn ich hungrig bin!“ fügte der nette junge Mann noch hinzu und jetzt nickte Semir. Ja das war normalerweise auch Ben´s Problem, der war auch völlig unleidig wenn er Hunger hatte und gerade deshalb verwunderte es ihn so, dass sich sein Freund dermaßen vehement weigerte zu essen.


    „Ich gehe jetzt wieder rein und versuche mein Möglichstes!“ machte er mit dem Pfleger aus. Wenn ich etwas erreicht habe, läute ich und ich hoffe nur, dass wir ihm jegliche weitere Zwangsmaßnahme ersparen können!“ sagte er und der Pfleger nickte und entfernte sich dann, um seiner anderen Arbeit nach zu gehen. Semir atmete tief durch und ging wieder ins Zimmer, wo Ben sich immer noch wie eine Mumie unter der Decke verbarg. Er zog sich einen Stuhl neben das Bett und nachdem auf seine ersten Worte: „Ben , ich bin jetzt bei dir, passe auf dich auf und weiche nicht mehr von deiner Seite!“ keine Reaktion kam, begann er einfach ruhig zu sprechen und sagte seinem Freund, was ihm gerade durch den Kopf ging und langsam senkte sich die Decke und ein paar verheulte Augen sahen darunter hervor.

  • Semir begann zu reden und anstatt sich irgendein Konstrukt von Worten auszudenken und damit seinen Freund zu beeindrucken, sagte er einfach was ihm durch den Kopf ging: „Ben-du bist mein bester Freund und es tut mir selber weh, dich so daliegen zu sehen. Die letzten Wochen waren glaube ich, beinahe die Härtesten deines Lebens. Du hast Dinge aushalten müssen, die manch anderen Menschen zerbrechen lassen würden, aber du bist trotz alledem stark und wirst das überstehen, auch um Winkler und Estelle nicht gewinnen zu lassen. Die wollten dich demütigen, besitzen und töten, aber es ist ihnen nicht gelungen und deshalb musst du jetzt gesund werden und zwar aus dem einen Grund-um ihnen die Stirn zu zeigen, auch wenn die jetzt in der Pathologie im Kühlfach liegen. Aber du, dem dieses Los zugedacht war, der lebt und wird wieder ganz gesund werden, ich weiss es, denn du bist ein Kämpfer und außerdem mein Freund. Zusammen sind wir stark und auch wenn die Mediziner gerade Dinge mit dir tun, die du schrecklich empfindest-sie tun das alle miteinander nicht, um dir zu schaden, sondern um dich zu heilen, damit du wieder nach Hause kannst und dein altes Leben aufnehmen-mit deinen Kindern spielen, mit dem Hund gehen und nicht zuletzt mit mir über die Autobahn düsen und dir Anschisse von Frau Krüger abholen, wenn wir mal wieder ein Auto geschrottet haben.“ redete er, was ihm durch den Kopf ging und nun erschien langsam Ben´s Kopf über der Bettdecke, der jedes Wort gehört hatte und darüber nachdachte.


    „Und was ist mit Sarah? Hast du die erreicht und ihr gesagt, dass ich Sehnsucht nach ihr habe?“ fragte er und schniefte, woraufhin ihm Semir ein Papiertaschentuch reichte und Ben vorsichtig an der Magensonde vorbei schnäuzte, aber das war jetzt genau die Frage die Semir lieber umgangen hätte. Allerdings fiel ihm wieder die Taktik des Psychologen ein-wenn man vertrauenswürdig sein wollte, durfte man nicht lügen und deshalb sagte er wahrheitsgemäß: „Ben-ich habe sie seit meinem Anruf, wo sie mir gesagt hat, dass die Kinder krank sind, nicht mehr erreicht, obwohl ich es erst vorhin nochmals versucht habe!“ und jetzt richtete sich Ben auf: „Semir-da muss etwas passiert sein-du musst hin fahren und nachsehen!“ Semir dachte kurz nach und nickte. „Ja Ben-wenn du das möchtest, werde ich das nachher gleich tun, allerdings gibt es zuvor noch ein paar Dinge hier bei dir zu erledigen, die Vorrang haben. Als du vorhin nach dem Pfleger gehauen hast, war das eine saublöde Reaktion. Klar-ich kann dich ja verstehen, du wolltest einfach in Ruhe gelassen werden, nach all dem, was du mitgemacht hast und außerdem war der ja auch daran beteiligt, als sie dir diese Sonde gelegt haben!“ erklärte er und Ben, dessen Tränenstrom versiegt war und der sich jetzt wieder begann wegen Sarah und den Kindern Sorgen zu machen, nickte.

    Er hatte niemanden verletzen wollen, aber er war schwer enttäuscht von dem Mann gewesen und so nett der gesprochen hatte-der hatte ihn schließlich fest gehalten als der Doktor mit der Magensonde über ihn her gefallen war und er hatte da nicht mehr logisch denken können, sondern den nur auf Abstand halten wollen, er hatte auch dessen Erklärungen nicht zugehört, sondern sich ausschließlich bedroht gefühlt als der nach ihm gegriffen hatte.
    Semir sprach jetzt weiter: „Ich weiss nicht, ob du das überhaupt gemerkt hast, so aufgeregt, wie du vorher warst, aber du hast dir auch noch den Zugang raus gerissen und jetzt können sie dir gerade keine Infusionen geben, du brauchst aber dringend deine Medikamente!“ erläuterte Semir dann und nun sah Ben überrascht auf seine Hand-tatsächlich, da steckte kein Plastikschläuchlein mehr darin, dafür war ein großer Blutfleck in seinem Bett, allerdings hatte das schon lange aufgehört zu bluten und der Pfleger hatte die Infusion auch abgedreht und weg geworfen-die war kontaminiert, da würde man eine frische brauchen, aber die würde man richten, wenn man die neue Nadel legte. „Ben-ich bitte dich jetzt, lass dir einen neuen Zugang vom Arzt legen und den Pfleger die Nahrung anhängen. Jetzt hast du die Sonde schon in dir und wie mir der junge Mann erklärt hat, wird es dir vermutlich bald besser gehen, wenn du ein bisschen was im Bauch hast.“ flehte Semir regelrecht und verschwieg seinem Freund natürlich was andernfalls die Konsequenzen waren. Semir sah unauffällig auf die Uhr-er hatte noch eine gute Stunde, hoffentlich war Ben vernünftig!

    Der schloss erst einmal die Augen und überlegte. Sein Tränenstrom war versiegt und die Anwesenheit und die ruhigen Erklärungen seines Freundes hatten ihm gut getan und ihn wieder zu sich kommen lassen. Allerdings hatte er in letzter Zeit ja bereits mehrere Panikattacken erlitten, gegen die er einfach machtlos war. Immer wenn eine Frau ihn berührte, setzte bei ihm im Hirn irgendetwas aus und dasselbe Gefühl hatte er vorhin auch gehabt, als der Pfleger ihn angefasst hatte. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass weder einer der Pflegekräfte, ob männlich oder weiblich ihm etwas Böses wollte und der Doktor ihn auch nicht aus Spaß gequält hatte, traute er sich gerade selber nicht über den Weg. Auch mit Sarah war ihm genau das passiert-er hatte sie ja küssen wollen, er liebte sie auch von ganzem Herzen, aber als sie versucht hatte, ihn mit ihren Lippen zu berühren, war regelrecht eine Sicherung bei ihm durchgebrannt und er hatte sich unwillkürlich steif gemacht und abgewendet-klar musste die sich dazu ihren Teil denken und zu Erklärungen war es leider nicht mehr gekommen. Darum musste Semir jetzt nach dem Rechten sehen, aber er verstand schon-der würde nicht losfahren, bevor er keinen neuen Zugang hatte und etwas durch die Magensonde lief. Gerade begannen sein Magen und alle übrigen Verletzungen sowieso wieder zu schmerzen-die neue Pantozoldosis war überfällig, er hatte kein Schmerzmittel mehr, weil das ja in der Infusion gewesen war und auch sonst fühlte er sich nicht gerade wohl-jawohl er würde sich behandeln lassen, aber er wusste nicht, ob er das von den Personen aushalten konnte, die ihm gerade vorher Gewalt angetan hatten.


    „Semir ich werde das machen lassen, wenn du im Gegenzug dafür nach meiner Familie siehst!“ beschloss er und fügte danach mit leiser Stimme dazu: „Aber ich traue mir selber gerade nicht über den Weg-ich weiss nicht, ob ich nicht ausraste, wenn der Pfleger und der Arzt von gerade eben sich an mir zu schaffen machen!“ sagte er unglücklich und Semir konnte das verstehen. Er überlegte kurz. Wie würde Sarah so eine Situation wohl lösen? Die würde vermutlich auf die Intensiv gehen und da das Problem schildern-und genau das würde jetzt er, Semir, auch tun! „Ben-bleib jetzt einfach ruhig liegen, ich gehe mal schnell auf die Intensivstation-die kennen dich und mich, vielleicht kann uns da jemand helfen!“ sagte er aufgeregt und wenig später läutete er dort an der Glocke. „Hallo Herr Gerkhan, kommen sie uns besuchen?“ fragte eine vertraute Stimme aus der Sprechanlage und er wurde zum Eintreten aufgefordert. Es war ruhig auf der Station, die Patienten waren alle stabil und bereits für die Nacht vorbereitet, immerhin war es jetzt auch schon 21.00 Uhr. Mit Erleichterung stellte Semir fest, dass sogar zwei Männer in der Schicht waren und in kurzen Worten schilderte er sein Anliegen und erzählte auch, wie mies es Ben gerade ging, ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen. „Fakt ist-mein Freund braucht einen neuen Zugang und man müsste die Nährlösung an die Magensonde anhängen, er hat aber Angst davor, dass er überreagiert, wenn das der Arzt und der Pfleger machen, die ihm vorhin gewaltsam die Magensonde gelegt haben!“ sagte er und sofort erklärte sich einer der Pfleger mit ihm zu gehen und das zu erledigen.

    Der stopfte sich noch kurz ein paar steril verpackte Zugänge in die Kitteltasche, einen Stauschlauch hatte er sowieso immer dabei und alles Weitere würde er im Patientenzimmer finden und so hatte Ben wenig später erstens einen neuen Zugang, die Magensonde war erst mit Wasser befeuert worden und derweil hatte der Pfleger gleich noch mit viel Routine das Bett frisch gemacht und nun lief, mit einer niedrigen Förderrate von 20 ml in der Stunde, die bräunliche Flüssigkeit in ihn hinein und Ben hatte das alles aushalten können-der vertraute, sehr ruhige und sichere Pfleger wusste, was er tat und als sich der mit einem Lächeln verabschiedete, fielen sowohl Ben als auch Semir ein Stein vom Herzen. Auch der diensthabende Pfleger lächelte-das war ein kluger Schachzug gewesen-er wäre da nicht im Traum drauf gekommen, sich an eine andere Station und dann sogar noch die Intensiv zu wenden, aber diese Pflegekräfte durften selber Zugänge legen und auch Medikamente intravenös spritzen, was auf Normalstation Arztsache war. Immerhin war sein Patient der Ehemann einer Intensivschwester und sein Freund und Kollege war wirklich einfallsreich-das musste er ihm zugestehen!

  • Nachdem Ben versorgt war, machte sich Semir auf dessen Geheiß hin auf, um zu Sarah zu fahren. „Ben-dir ist aber schon klar, dass wir jetzt mitten in der Nacht haben? Bis ich bei euch zuhause angekommen bin, ist es sicher weit nach zehn-um diese Uhrzeit läutet man normalerweise nicht mehr an fremden Türen!“ erinnerte ihn Semir, aber sein Freund schüttelte den Kopf. „Erstens ist das für dich keine fremde Tür, zweitens geht Sarah normalerweise auch nicht so sehr früh ins Bett-die legt sich mittags meistens mit den Kindern ein Stündchen hin und genießt am Abend ein wenig freie Zeit ohne unseren Nachwuchs. Ich habe irgendwie ein ganz unruhiges Gefühl und werde ansonsten heute Nacht sicher kein Auge zutun, solange ich nicht weiss, wie es meiner Familie geht.“ erklärte er und Semir, der sich schon lange wieder in Jeans und Shirt geworfen hatte, griff nach seiner Winterjacke und dem Autoschlüssel und war wenig später durchs winterliche Köln unterwegs in den Vorort, wo Sarah und Ben seit einigen Monaten lebten.

    Auf der Fahrt dahin gingen ihm viele Dinge durch den Kopf. Was und wie sollte er Sarah sagen, wenn sie überhaupt bereit war, mit ihm zu sprechen? Eigentlich musste sie, um Ben und sein merkwürdiges Verhalten zu verstehen, erfahren, was Estelle ihrem Mann angetan hatte. Allerdings hatte der nicht einmal ihm gegenüber bisher irgendwelche Details erwähnt, obwohl er ihm ja bereits gesagt hatte, dass er Bescheid wusste. Wie detailliert Hartmut allerdings die Spuren ausgewertet hatte und welche eindeutigen Rückschlüsse sich daraus ziehen ließen, war Ben bisher nicht bekannt. Er hatte ihm ja nur allgemein mitgeteilt, dass er vom Missbrauch wusste, aber dass er darüber im Klaren war, wie schwer der tatsächlich gewesen war, entzog sich bislang Ben´s Kenntnis. Was durfte er Sarah sagen, ohne seinem Freund in den Rücken zu fallen? Ach verdammt-warum hatte dieses Gespräch nicht so lange warten können, bis er mit dem Psychologen besprochen hatte, wie man die Sache anging? Jetzt saß er wieder zwischen allen Stühlen und wenn er einen Fehler machte, verlor er vielleicht endgültig das Vertrauen seines Freundes-und zerstörte so ganz nebenbei vielleicht sogar dessen Ehe-oder er rettete sie, das konnte man sich jetzt aussuchen!
    Je näher er dem Vorort kam, desto mehr kristallisierte sich in seinem Kopf heraus, was er zu Sarah sagen würde. Er würde dem Rat des Psychologen folgen und nicht lügen, aber er würde auch nicht ins Detail gehen, denn das konnte Ben dann entweder selber machen, oder den Seelenklempner zu einem Gespräch mit Sarah dazu holen, was sowieso eine gute Idee war. Semir ging eh nicht davon aus, dass Sarah sofort mit ihm ins Krankenhaus kommen würde-sie konnte doch die Kinder nicht alleine lassen! Er vermutete, dass sie sich anhören würde-hoffentlich-was er zu sagen hatte und dann am nächsten Tag die Kinder von Hildegard betreuen lassen würde und dann zu Ben kommen, aber alleine diese Aussicht würde seinem Freund vermutlich eine ruhige Nacht bescheren!


    Es war gegen Mittag losgegangen. Sarah war zur Toilette gegangen und plötzlich hatten ihre Knie zu zittern begonnen. Sie war gerade noch so zurück ins Schlafzimmer gelangt, wo Mia-Sophie gerade ihren Mittagsschlaf machte und dann mit Schüttelfrost und fürchterlichen Kopfschmerzen zusammen gebrochen. Binnen Kurzem stieg das Fieber und sie fühlte sich schwer krank. Die afrikanische Hebamme und deren Sohn, den sie dazu holte, betrachteten sie besorgt, allerdings war bei einem Erwachsenen so ein Infekt ja meist nicht so dramatisch wie bei kleinen Kindern. Also kam noch eine weitere Frau aus der Flüchtlingsunterkunft dazu, die die Kinder zu betreuen half, die bereits wieder auf dem Wege der Besserung waren und ihr Antibiotikum nach dem Besuch des Kinderarztes jetzt als Saft bekamen. Sarah konnte nicht mehr aufstehen und fieberte vor sich hin und man ließ sie jetzt einfach in Ruhe, bot ihr zu trinken an und kümmerte sich um die Kinder. Wenn es bis morgen nicht besser war, würden sie einen deutschen Arzt dazu holen, aber aktuell wartete man ab. Binnen Kurzem stieg Sarah´s Fieber so hoch, dass sie völlig das Zeitgefühl verlor. Sie wusste nicht einmal mehr, ob jetzt Tag oder Nacht war, wie viele Stunden vergangen waren und was von den wilden Träumen, die sie plagten, Realität und was Fieberphantasien waren.


    Als Semir um 22.15 Uhr endlich in den mit Schnee bedeckten Hof des Gutshauses fuhr, atmete er erleichtert auf-es brannte noch Licht! Er stieg aus, holte tief Luft und drückte dann auf den Klingelknopf. Wenig später rührte sich drinnen etwas und als die Tür einen Spalt geöffnet wurde, war er erst einmal überrascht, als eine ältere, dunkelhäutige Frau in farbenfroher, traditionell afrikanischer Kleidung heraus lugte. „Kann ich bitte Sarah sprechen?“ bat er und bemerkte auch gleich, dass die Frau seine Worte nicht verstand. Allerdings hatte sie den Namen „Sarah“ gehört und man konnte erkennen, dass es nun in ihrem Kopf arbeitete. Jetzt machte sie sich Sorgen-da stand mitten in der Nacht ein wildfremder Mann vor der Tür-was hatte der wohl im Sinn? Semir überlegte kurz und versuchte dann mit ein paar englischen Brocken die Frau dazu zu bringen, ihn herein zu lassen. Er konnte ja nicht einfach eindringen und Sarah schlief vielleicht doch schon, aber vielleicht war sie ja auch gar nicht zu Hause? Oh verdammt, was sollte er tun? Und wie ging es den Kindern? Plötzlich durchfuhr Semir ein Geistesblitz. Er holte seinen Dienstausweis hervor, zeigte ihn der Frau, deutete auf sich und sagte: „Polizei, Polizia, Police, Gendarmerie!“ er probierte in allen Sprachen, die ihm einfielen, der Frau mit zu teilen, dass er ein Guter war und nun nickte sie mit einem erleichterten Lächeln-sie hatte verstanden- und öffnete die Tür komplett. Semir trat ein und zog dann in dem geräumigen Eingangsbereich sofort die Schuhe aus, wie er es immer machte, wenn er bei seinen Freunden zu Besuch kam. Fast wunderte er sich, dass Sarah, wenn sie zuhause war, nicht schon gehört hatte, dass da jemand gekommen war und jetzt nachsehen kam und so war es auch.
    Sarah hatte Semir´s Stimme gehört und war sich erst nicht sicher gewesen, ob das Fiebertraum oder Realität war. Als die Stimme aber nicht aufhörte etwas zu sagen, wuchtete sie sich mit Gliedern, schwer wie Blei, aus dem Bett hoch und wankte im durchgeschwitzten Schlafanzug aus dem Schlafzimmer, wo Mia-Sophie schon im Babybettchen neben ihr schlief. Semir, der im unteren Flur gerade seine Schuhe abgestellt hatte und überlegte, was er jetzt als Nächstes zu der Afrikanerin sagen sollte, nahm eine Bewegung oben an der Treppe wahr und als er hinauf blickte, konnte er gerade noch erkennen, wie Sarah, die aussah wie der Tod persönlich, soeben zusammen brach.

  • Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, rannte er, gefolgt von der Afrikanerin, nach oben, wo Sarah sich aber schon wieder versuchte aufzurappeln. Er half ihr, auch die dunkelhäutige Frau fasste mit an und wenig später hatten sie Sarah wieder ins Bett gebracht. „Du kannst mich erschrecken!“ sagte Semir aufatmend und war froh, als Sarah einen Schluck Tee nahm, der auf dem Nachtkästchen neben dem Bett stand. Mia –Sophie begann sich zu regen und kurz darauf zu weinen, woraufhin die ältere Frau sie aus dem Bettchen nahm, liebevoll an sich drückte und sie zu beruhigen versuchte. Allerdings verfärbte sich nun schon der Schlafanzug der kleinen Maus am Bein-jetzt war klar, warum sie geweint hatte und die Frau nahm das Baby mit ins Bad, um es dort zu wickeln und umzuziehen. Danach gab sie ihr noch eine Flasche, denn Sarah in ihrem Zustand hatte keine Kraft zu stillen und durch das hohe Fieber war die Milch sowieso gerade beinahe versiegt.


    „Na-habe ich es doch geschafft, dich anzustecken!“ sagte Semir zu seiner Freundin und die verzog das Gesicht zu einer kleinen Grimasse. „Ja leider Gottes-es war gerade alles ein wenig viel für mich und dieser Infekt ist wirklich übel, die Kinder kriegen schon seit zwei Tagen Antibiotika, kein Wunder, dass es mich auch erwischt hat.“ antwortete sie, um ihn kurz darauf mit ernstem Gesichtsausdruck anzusehen. „Und du? Was führt dich zu mir? Schickt dich mein feiner Mann, um mir einen Termin beim Scheidungsanwalt mitzuteilen? Konnte er das nicht selber machen und bin ich ihm nach all den gemeinsamen Jahren nicht einmal einen persönlichen Telefonanruf wert!“ brach es aus ihr heraus, die ersten Tränen kullerten ihre Wangen hinunter und jetzt sah Semir sie erstaunt und erschüttert an. Er musste sich jetzt erst einmal sammeln-was ging denn in Sarah´s Kopf vor? Klar sauer und beleidigt zu sein-das konnte er vielleicht noch verstehen, denn Ben´s Verhalten hatte ja konfuse Ideen provoziert, wenn man nicht wusste, auf was das zurück zu führen war, aber gleich Gedanken an Scheidung-also jetzt übertrieb Sarah maßlos und machte ihn fast ein wenig wütend!


    Die hatte inzwischen haltlos zu weinen begonnen und verbarg ihren Kopf voller Kummer in ihrem Kissen. „Sarah-es ist völlig anders als du meinst-Ben denkt nicht im Traum daran, sich von dir scheiden zu lassen, sondern hat mich im Gegenteil jetzt, mitten in der Nacht, zu dir gejagt, weil er sich furchtbare Sorgen um dich und die Kinder macht!“ erklärte er und nun war es an Sarah, ihn mit offenem Mund erstaunt anzusehen. Aber es hatte doch alles so gut gepasst, wie er sich von ihr abgewendet hatte und sie seine fast greifbare Abneigung gespürt hatte, als sie ihn küssen wollte, wie er sie bei der Visite aus dem Zimmer geschickt hatte, weil er sie nicht mehr an seiner Seite haben wollte und wie sie dann, sozusagen als Krönung, am nächsten Tag noch erfahren hatte, dass er eine Auskunftssperre erlassen hatte, die sich auch auf sie erstreckte. Das war sozusagen das deutlichste Zeichen gewesen, dass er sie nicht mehr in seinem Leben haben wollte, denn bis dahin hatten sie noch nie größere Heimlichkeiten voreinander gehabt-na ja, außer, als er in Tim´s Schwangerschaft mit Drogen in Berührung gekommen war und das vor ihr und Semir zu verheimlichen versucht hatte. Aber damals hatten sie sich geschworen, nie mehr Geheimnisse voreinander zu haben und deshalb hatte es sie jetzt umso ärger getroffen, was geschehen war.


    „Sarah-ich kann dir nicht genau erklären, was Ben zugestoßen ist-das muss er bei Gelegenheit selber tun und er ist seit heute deshalb auch in psychologischer Behandlung, aber glaub mir-es hat nichts mit dir zu tun, er vermisst dich ganz schrecklich und ist voller Kummer, weil du nicht bei ihm bist. Klar geht das gerade nicht, ich weiss gut genug wie einen dieser blöde Infekt umhaut, aber ich habe ja auch ein Antibiotikum gekriegt und da war das Schlimmste innerhalb von zwei Tagen vorbei. Glaub mir auf jeden Fall, dass Ben dich verzweifelt liebt, aber dass es Gründe gibt, die, so schlimm es ist, sein Verhalten erklären. Er hatte nichts weniger vor, als dich aus seinem Leben auszuschließen, aber glaub mir-auch bei ihm ist so einiges zusammen gekommen und hat ihn regelrecht zusammenbrechen lassen, körperlich, aber eben auch seelisch, deshalb auch der Psychologe, der uns allen hoffentlich dabei helfen wird, wieder alles ins Lot zu bringen!“ versuchte er Worte zu finden, die Sarah momentan beruhigten, ohne Ben´s Geheimnis zu verraten.


    „Oh Gott-und ich habe ihn im Stich gelassen und mir dumme Sachen eingebildet, ich muss zu ihm!“ stöhnte Sarah nun auf und wollte sich erheben, was ihr eine erneute Schwindelattacke einbrachte. „Sarah-das hat doch keinen Wert! Du kannst dich doch kaum auf den Beinen halten und außerdem braucht Ben jetzt diesen blöden Infekt nicht auch noch dazu!“ bat Semir sie, „Wer ist überhaupt diese Frau?“ fragte er und wies mit dem Kopf Richtung Erdgeschoß, wo die Fremde gerade das Baby fütterte. „Das sind Flüchtlinge aus dem Dorf, die mir geholfen haben, als durch den Schnee der Verkehr und auch der Notruf zusammen gebrochen sind. Ben hat diese liebenswürdigen Menschen vor Weihnachten auch kennen gelernt, als wir dort Geschenke vorbei gebracht haben. Diese kluge Frau bei mir ist Hebamme und der Sohn Arzt, sie unterstützen mich auf der ganzen Linie und versorgen die Kinder, wenn ich es nicht kann!“ erklärte Sarah. „Soll ich dir einen Arzt rufen, oder Hildegard verständigen?“ fragte Semir nun, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Das hat jetzt auch noch Zeit bis morgen früh und telefonieren kann ich ja-nur mein Kreislauf macht gerade ein wenig schlapp. Fahr du zu Ben zurück, erzähl ihm, dass es den Kindern bereits besser geht und ich würde am liebsten sofort noch mit ihm sprechen, damit wir beide schlafen können!“ überlegte Sarah und Semir versprach nun, genau das zu tun.
    Die afrikanische Frau, aus derem sicheren Umgang mit Mia-Sophie man eine große Erfahrung erkennen konnte, war inzwischen leise ins Zimmer getreten und hatte eine satte und saubere kleine Maus, die in ihrem Arm eingenickt war, wieder in ihr Bettchen gelegt, wo sie weiter schlief. Im Flüsterton und mit einem Lächeln verabschiedete sich Semir und Sarah wies auf ihr Handy, das auf ihrem Nachtkästchen lag. „Sobald ich in der Klinik bin, bekommt Ben mein Telefon-und diesmal gehst du bitte ran, wenn meine Nummer auf deinem Display erscheint!“ konnte Semir nicht umhin, Sarah jetzt ein wenig zu rügen. Mit vor Scham rotem Kopf nickte die und legte sich dann in ihre Kissen zurück. Sie würde sich jetzt ein wenig ausruhen, bis Semir anrief und sie dann endlich mit ihrem Mann sprechen konnte. Oh Gott-wie sie sich schämte! Sie hatte sich etwas völlig Falsches zusammen gereimt, freilich konnte sie immer noch nicht ermessen, was denn mit Ben eigentlich passiert war, aber Semir´s Wort, dass er sie immer noch liebte und sich Sorgen um sie machte, genügte ihr.


    Der türkische Polizist ging langsam Richtung Treppe, passierte das Treppenschutzgitter und warf dabei noch einen Blick in Tim´s Zimmer, wo der dunkel gelockte Junge bei geöffneter Türe in seinem Rennfahrerbett lag und friedlich schlief. Auf dem Gästebett daneben waren ein paar Decken-ah, da hatte die Afrikanerin anscheinend ihr Lager aufgeschlagen! Auf jeden Fall konnte Semir seinem Freund berichten, dass es den Kindern besser ging und die auch versorgt waren, während Sarah gerade den Infekt durchmachte, der auch ihn dahin gerafft hatte. Vielleicht verschaffte das Ben auch ein wenig Zeit, um sein Verhalten wieder in den Griff zu kriegen oder sich zumindest der Hilfe des Psychologen für ein erstes Zusammentreffen mit Sarah zu versichern. Semir streichelte Lucky, der ihm wie ein Schatten schwanzwedelnd zur Tür gefolgt war, über den Kopf und sagte: „Na klar alter Junge, wenn Herrchen gesund ist, geht er wieder mit dir spazieren!“ und Lucky sah ihn mit schief geneigtem Kopf an, als hätte er jedes Wort verstanden. Die Afrikanerin war ihm freundlich lächelnd ebenfalls zur Tür gefolgt und nachdem Semir hinaus gegangen war, hörte er, wie das Schloss verriegelt wurde-sehr gut, Ben´s Familie war in Sicherheit! So stieg er in seinen BMW und obwohl der Hecktriebler bei Schnee eine hohe Geschwindigkeit unmöglich machte, wenn er nicht ins Schleudern kommen wollte, war Semir bald an der Uniklinik angekommen, wo er so rasch wie möglich zu seinem Freund eilte.


    Ben hatte voller Ungeduld die Rückkehr seines Freundes erwartet und der begann auch gleich zu erzählen, was er im Gutshaus vorgefunden hatte. Dass Sarah gedacht hatte, er wolle sich scheiden lassen, sagte er nicht explizit, sondern nur dass sie traurig und enttäuscht über sein Verhalten gewesen war und auch nochmals hier gewesen war, um mit ihm zu sprechen und dann mit der Auskunftssperre konfrontiert worden war. „Ben-ich will sie jetzt nicht in Schutz nehmen, aber sie hatte schon einen Grund, sauer auf dich zu sein, denn du hast ihr ja nichts davon gesagt, warum es dir so schlecht geht und so hat sie sich eben dumme Sachen zusammen gereimt-mir ist klar, dass da so einiges schief gelaufen ist! Aber jetzt liegt sie selber flach, das wird vermutlich derselbe Keim sein, der auch mich und deine Kinder erwischt hatte, die aber schon wieder auf dem Wege der Besserung sind. In zwei bis drei Tagen ist das Schlimmste vorbei, aber so lange kann sie fast mit Sicherheit nicht zu Besuch kommen!“ erklärte er. „Ich bin mit keinem Ton auf die Gründe eingegangen, warum du sie nicht berühren konntest, das musst du bei Gelegenheit selber zur Sprache bringen, aber sie will jetzt dringend kurz mit dir sprechen, damit ihr beide ruhig schlafen könnt-und sie dachte, du willst keinen Kontakt mehr, weil du dich nicht gerührt hast und wegen der Auskunftssperre!“ sagte er und holte sein Handy raus. „Soll ich wählen-und möchtest du, dass ich raus gehe?“ fragte und Ben, dem es durch die Ernährung und das Schmerzmittel schon ein wenig besser ging, antwortete mit vor Aufregung kloßiger Stimme: „Wählen ja-rausgehen nein!“ und nun suchte Semir im Speicher Sarah´s Nummer, drückte auf das Wählsymbol und gab dann seinem Freund das Handy in die gesunde Hand.

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