Gefährliche Höhen!

  • Es dauerte nicht mehr lange und Ben wurde in seinem Bett zu seinem Vater ins Zimmer gebracht. „Hallo Papa!“ sagte er und mit einem breiten Lächeln drückte Konrad, als sie aneinander vorbei gefahren wurden, die Hand seines Sohnes. „Wie geht’s dir denn Junge?“ erkundigte er sich und sein Sohn hielt als Antwort einfach den Daumen nach oben. Nachdem das Bett arretiert war und auch das Nachtkästchen an seinem Platz stand, gingen die Pflegekräfte, die Ben gebracht hatten, zur Übergabe nach draußen und endlich hatten die beiden Zeit sich zu unterhalten.
    „Das war ja ein ganz schöner Schreck, als der Attentäter auf dich geschossen hat!“ erinnerte sich Konrad an ihre letzte Begegnung. „Ich hatte so Angst, dass er dich tödlich getroffen hätte, dass ich erst mal überhaupt nicht mitgekriegt habe, dass ich mich bei unserem Sturz ebenfalls verletzt hatte. Wenn du nicht so schnell reagiert hättest, wären wir vermutlich alle beide nicht mehr am Leben und natürlich Semir-wenn der nicht so ein Gespür gehabt hätte und zurück gekommen wäre, würden wir jetzt ebenfalls nicht hier liegen, denn dieser Winkler hätte uns alle beide kaltblütig umgebracht und wer weiss, wen noch!“ erinnerte sich Konrad mit Schaudern und Ben nickte. Ja da hatten sie alle beide großes Glück gehabt, wie schon so oft in ihrem Leben, er besonders, der schon mehrfach dem Tod gerade mal so von der Schippe gesprungen war.

    „Aber noch viel schlimmer wäre es gewesen, wenn Sarah und meine Kinder bei dem Bombenattentat ums Leben gekommen wären!“ erwiderte nun Ben. „Kinder sind das Wertvollste im Leben und ich hätte selber nicht mehr leben wollen, wenn ich die und meine Frau verloren hätte!“ und nun schwieg Konrad eine Weile still und sagte dann leise und nachdenklich: „Ja Ben-auch wenn ich es euch vermutlich viel zu selten sage oder zeige-auch Julia und du seid die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich bin nur nicht so der emotionale Typ und kann das manchmal nicht so richtig zeigen, aber glaub mir, es ist so!“ bekräftigte er dann noch und jetzt sah Ben seinen Vater gerührt an. Er konnte sich nicht erinnern, dass Konrad, der knallharte Geschäftsmann, der immer so wirkte, als wenn die Firma über alles ginge, schon einmal so emotional gewesen war und so offen mit ihm gesprochen hatte. Jetzt war er sich sicher, dass es doch eine gute Idee gewesen war, zu ihm ins Zimmer zu kommen, woran er erst einmal Zweifel gehabt hatte.
    Nun wurde auch gleich das Mittagessen serviert und Ben saß heute schon frei am Bettrand, dass er sich danach selber zurück legen konnte, denn sehr lange hielt er es aufrecht noch nicht aus und Konrad thronte sogar im Stuhl am Tisch. Ben musste man das Essen herrichten, weil er ja mit der Hand das Fleisch nicht schneiden konnte und als Konrad das sah, wie die Schwester das erledigte, sagte er: „Ach Mensch, das hätte doch ich für meinen Sohn machen können!“ und nun war Ben fast ein wenig erschüttert, was war denn in seinen Vater gefahren? So kannte er ihn ja gar nicht, allerdings hatte er da schon einen kleinen Verdacht, wer ihm da ins Gewissen geredet und ihn aufgefordert hatte, doch auch einmal über seine Gefühle zu sprechen-Hildegard, die gute Seele und langjährige Freundin der Jäger´s! Nach dem Essen schwiegen die beiden und schlossen die Augen für einen kleinen Mittagsschlaf, denn sie waren doch noch ziemlich erholungsbedürftig, aber Ben musste sagen-er fühlte sich wohl hier im Zimmer mit seinem Vater und das war ein gutes Gefühl!


    Estelle hatte derweil nicht geruht. Sie hatte einen Raum der Wohnung, in dem ein großes Bett stand, bereits gewissenhaft vorbereitet. Handschellen und Knebel lagen bereit, eine Peitsche, Gleitgel und anderes Spielzeug aus dem Sado-Maso-Bereich. Sie hatte mit dem Leiter des Etablissements gesprochen und der hatte ihr gegen eine großzügige Barzahlung wissend lächelnd ein paar Ampullen, Injektionsnadeln und Einmalspritzen gegeben. Um die Mädels einzureiten, die oft aus dem Osten kamen und zunächst dachten, sie hätten einen Job als Bedienung in einem Stripclub, griff man manchmal zu solchen Methoden, die die Frauen gefügig machten. Wenn sie dann eine Weile im Geschäft waren, war das meistens nicht mehr nötig, aber am Anfang erleichterte es Vieles. Man konnte das Medikament sowohl spritzen, als auch Getränken oder Nahrungsmitteln untermischen, es hatte keinen großen Eigengeschmack, aber die Wirkung war umso fataler. Die Opfer wehrten sich nicht, sondern wurden sozusagen zu willenlosen Marionetten, die sich unterordneten und ansonsten die meiste Zeit schliefen. Estelle rief dann noch mit verstellter Stimme im Krankenhaus an. Solange Ben auf der Intensivstation lag, würde sie sich gedulden, denn es war ausgesprochen schwierig, wenn auch nicht unmöglich jemanden von dort zu entführen, aber vielleicht wäre er ja bald auf der Normalstation und tatsächlich-das Glück war ihr hold. Nachdem sie die Station und die Zimmernummer erfahren hatte, wies sie die beiden Wrestler an, sich mit weißen Hosen und Poloshirts mit roten Westen darüber als Angehörige eines Ambulanzdienstes auszugeben. Sie sagte ihnen genau, wie viel sie Ben spritzen sollten und dann lehnte sie sich erwartungsvoll zurück-bald würde er ihr gehören und sie leckte sich voller Vorfreude die Lippen.


    Gleich nach dem Mittagsschlaf kam Sarah kurz mit einer kleinen Reisetasche vorbei. Darin hatte sie kurze und lange Sporthosen, Shirts, Waschzeug, Deo und viele andere Kleinigkeiten, die den Aufenthalt im Krankenhaus erträglich machten. Sie half Ben in eine Unterhose, Jogginghose und oben in ein Shirt-wozu sie den Gilchristverband kurz weg machte und dann erneut anzog, was Ben allerdings durchaus noch die Zähne zusammen beissen und aufstöhnen ließ. Der Bauch schmerzte kaum mehr und auch das Bein fühlte sich schon wieder ziemlich gut an, die Schulter allerdings machte trotz Schmerztabletten schon noch ordentlich Beschwerden und Sarah sagte: „Ich werde mal mit dem Stationsarzt sprechen-da muss man ziemlich schnell mit Krankengymnastik und gezielter Bewegung anfangen, damit das auch gut heilt und beweglich bleibt, nicht dass da Informationen verloren gehen!“ bestimmte sie und Ben dachte bei sich, dass das seinetwegen nicht sehr eilen würde-ihm war wohler, wenn man da nichts dran machte. „Ben-ich erledige das jetzt und fahre dann nochmals in unser Haus. Ich habe dort ne Maschine Wäsche angestellt und die Blumen gegossen. Die Wäsche werfe ich jetzt noch in den Trockner und wische derweil ein wenig Staub und lüfte durch. Die Kinder sind mit Hildegard spazieren und genießen die gute Winterluft, denen geht’s gut, ich bin so froh und Tim zeigt allen Leuten ganz stolz seinen Castverband!“ sagte sie, denn inzwischen waren sogar in Köln ein paar vereinzelte Flocken gefallen. „Ich komme später nochmals vorbei, brauchst du was von zuhause?“ fragte sie und Ben nickte und sie schrieb sich die Sachen-überwiegend Musik, Hörspiele und kleine Gymnastikgeräte, die man auch im Bett benutzen konnte-auf. „Ich muss doch schauen, dass ich bald wieder fit bin und zu euch nach Hause komme, ich vermisse euch doch jetzt schon und bin nur froh, dass ihr den Anschlag überlebt habt, sonst wäre ich meines Lebens nie mehr froh geworden!“ sagte Ben gerührt und verabschiedete sich fürs Erste mit einem innigen Kuss von seiner Frau und auch Konrad schüttelte Sarah die Hand zum Abschied.


    Dann wurde Konrad von einem Krankengymnasten abgeholt-er würde schon heute Gehschule in der physikalischen Abteilung an zwei Gymnastikstangen bekommen. „Herr Jäger-wir möchten doch, dass sie bald wieder fit sind und dann nächste Woche auf Reha können!“ erklärte der Physiotherapeut, aber Konrad schüttelte zweifelnd den Kopf: „Und was ist, wenn ich da gar nicht hin will-auf so ne Reha meine ich?“ fragte er, aber dazu zuckte der Physio nur mit den Schultern-ihm persönlich war das sowieso egal, er machte hier in der Klinik seine Arbeit und was die Patienten nachher anfingen war deren Problem. Ben nutzte die Gelegenheit alleine zu sein, um zum ersten Mal seit dem Katheterzug in diese blöde Flasche zu pinkeln und hätte beinahe laut gejodelt-also angenehm war etwas anderes und er bedauerte sich gerade beinahe ein wenig selber! Kaum war er fertig, öffnete sich die Tür und zwei Kästen von Männern fuhren mit einem speziellen Rollstuhl herein. Ben bemerkte den Blick, den sie sich zuwarfen, als sie ihn gemustert hatten und er hätte schwören können, dass sich der eine der beiden über die Lippen geleckt hatte und da schrillten plötzlich alle Alarmglocken bei ihm. Moment-diese Typen waren nicht sauber, die sahen nicht aus wie Pfleger oder Physiotherapeuten, aber bevor er noch nach der Glocke greifen oder laut um Hilfe rufen konnte, hatte sich der eine der beiden schon auf ihn gestürzt und hielt ihn wie einen Schraubstock fest. Er beugte sich auch so über ihn, dass sein Rufen gurgelnd erstarb und er für den Augenblick gar keine Luft bekam, wegen der Masse, die ihn schier erdrückte. Der andere packte, ohne dass er es sehen konnte seinen Arm mit dem Zugang und schon bemerkte Ben, wie etwas in das Schläuchlein gespritzt wurde und heiss seinen Arm hinauf lief, woraufhin ihm die Sinne schwanden. Die beiden Männer warteten, bis er erschlaffte, packten ihn dann und setzten ihn in den Spezialrollstuhl und schnallten ihn dort fest. Sogar der Kopf wurde von einem Riemen nach hinten gehalten, damit er nicht nach vorne kippte. Sie schlossen den Sitzsack, so dass von Ben kaum mehr was zu sehen war und fuhren dann in Windeseile zum Haupteingang hinaus. Niemand sah sie auf der Station und als sie den Rollstuhl mittels der automatischen Rampe in den ganz vorne bei den Behindertenparkplätzen geparkten Bus luden, lächelten sie Passanten sogar an-es war doch schön, wenn man auch körperbehinderte Mitmenschen überall mit hin nahm, oder vielleicht war der Mann auch zur Behandlung hier gewesen.
    Ben war immer noch im Land der Träume und sah die Welt gerade pink, als der Bus wenig später in den Hinterhof des Bordells einbog, wo sich Estelle nun voller Vorfreude aus ihrem Sessel schälte. Er war da-ihr Traummann gehörte ihr jetzt!

  • Als Konrad ins Zimmer zurück kam, wunderte er sich, dass Ben nicht da war-anscheinend hatte man den auch in die Physio im Untergeschoß geholt, dort waren einfach ganz andere Gerätschaften vorhanden als im Patientenzimmer und so dachte er sich zunächst nichts dabei und schlief nach der Anstrengung nochmals ein wenig ein, er war ja nicht mehr der Jüngste. Als eine Schwester ins Zimmer sah, ließ sie ihn schlafen und nachdem sie mitbekommen hatte, wie Sarah den Stationsarzt energisch aufgefordert hatte, dass Ben ausreichend Physiotherapie bekam, musste sie lächeln-ja als Krankenhausmitarbeiter wusste man wie der Hase lief und an wen man sich wenden musste, dass sofort etwas passierte-jetzt war er wohl schon unten in der „Folterkammer“ wie manche Patienten diese Abteilung nannten, aber es war nur zu seinem Besten! Erst als das Abendessen ausgeteilt wurde und Ben immer noch nicht da war, wurden Konrad und die Schwester unruhig. In der Physiotherapie war auch niemand mehr unten, die machten um halb fünf Feierabend und so stand um kurz nach fünf, gerade als Sarah wieder zur Tür herein schneite, fest, dass Ben verschwunden war. Man hatte zuvor das ganze Haus abtelefoniert und gerade den Sicherheitsdienst verständigt. Sarah wurde blass, als man ihr das händeringend mitteilte und griff nun kurzerhand zum Telefon und rief den Mann an, der wusste, was jetzt zu tun war: Semir!


    Semir hatte den halben Tag verschlafen und als er gegen drei am Nachmittag erwachte, fühlte er sich eindeutig besser. Als er nun ins Wohnzimmer ging, wo Andrea mit einem Buch auf der Couch saß und las-die Mädels waren bei zwei Freundinnen in der Nachbarschaft zum Spielen-setzte er sich neben sie. „Wie geht es dir?“ fragte sie liebevoll und er lächelte sie an: „Dank deiner Pflege schon viel besser-und weisst du was-ich habe einen Bärenhunger!“ sagte er und Andrea stand auf. „Dafür habe ich dir was Gutes-meine Mutter hat mir portionsweise selbst gekochte Hühnersuppe mit Gemüse und Gewürzen mitgegeben, da habe ich dir was aufgetaut. Mein Vater sagt immer, die weckt Tote auf!“ erklärte sie und schaltete den Topf auf dem Herd ein. Sie hatte dazu noch breite Nudeln gekocht und so genoss Semir das stärkende Mahl und merkte, wie der Dampf der Suppe ihm in die Nase stieg und die Schleimhäute frei machte. Danach flegelte er sich ebenfalls bequem aufs Sofa und zappte durchs Nachmittagsprogramm, wobei er dann sogar an einer Dokumentation hängen blieb. Andrea nahm ihr Buch wieder zur Hand und musterte ihn liebevoll: „Das solltest du öfters machen, mal so einen Couchtag!“ sagte sie und Semir, der gebannt auf den Seat-Autocup auf Sport Eins kuckte, murmelte zustimmend. Ben hatte im Krankenhaus ja sicher auch TV, wenn er denn inzwischen wie geplant auf der Normalstation war-sollte er ihn anrufen und ihm einen Tipp geben, der würde das sicher auch gerne sehen? Aber dann ließ er das doch bleiben, vielleicht war der einfach noch zu schwach zum Fernsehen!


    Estelle hatte sich inzwischen den jungen dunkelhaarigen Mann von den zwei Wrestlern auf das Bett legen lassen. Sie wusste nicht genau, wie lange und wie stark das Psychozeugs bei ihm wirkte und deshalb würde sie ihn vorsichtshalber anketten. Nach kurzer Überlegung zog sie ihm diesen blöden Verband um die Schulter aus, wie sah denn das aus-sie wollte sich an seinem Anblick ergötzen und da störte dieses Teil, genau, wie das Schläuchlein mit der blutgefüllten Flasche, das daran hing. Mit einem Ruck hatte sie es heraus gerissen und der eine Wrestler holte nun aus dem Bad Verbandszeug, weil das nun doch ein wenig blutete-sie wollten ja nicht das frisch bezogene Bett versauen! Estelle überlegte. Vielleicht war es gut, die beiden Helfer noch ein wenig am Leben zu lassen, bis sie wusste, wie sie ihrem Opfer Herr wurde, außerdem wusste sie auch nicht, wie sie die beiden nach ihrer Ermordung dann rausbringen sollte-die waren viel zu schwer für sie alleine! Sie musste sich eine List einfallen lassen, aber das hatte Zeit, jetzt würde sie Ben wach werden lassen und sich daran erfreuen, wie er die Zusammenhänge begriff und dann würde sie ihn heute Nacht heiss machen-vielleicht brauchte sie die Drogen gar nicht-sie waren doch füreinander bestimmt? So schlossen sich die Handschellen um Ben´s Arme und Beine, er lag zwar ausgestreckt auf dem Rücken, aber minimal konnte er sich schon bewegen. Sie hatte momentan eine leichte Decke über ihn gebreitet und er hatte auch die Klamotten noch an-die würde sie ihm zur Nacht ausziehen und das wie ein Fest zelebrieren. Weihnachten war doch erst kurz vorbei-sie würde ihn auspacken wie ein Geschenk-ihr Geschenk und die Vorfreude ließ sie ganz wuschig werden.


    So aber zogen die beiden Wrestler wieder ihre Alltagsklamotten an, sie holten am nächsten Dönerstand ein köstliches Mahl-auch für Ben lag ein Döner bereit, eine Flasche Wein krönte das Ganze und als Estelle mit ihren beiden Helfershelfern zu Abend aß, war sie ganz besonders guter Laune, während Ben immer noch tief und fest schlief. „Heute Nacht gehört er mir!“ sagte sie zu dem Pärchen, das ihr gegenüber saß, „Aber morgen kriegt ihr ihn für ein paar Stunden!“ offerierte sie ihnen großzügig, um sie bei Laune zu halten. Heute war heute und was morgen war, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, wichtig war, dass die beiden sich ruhig verhielten und ihr zu Diensten waren. Als sie sich zwei Stunden später ins Schlafzimmer zu Ben zurück zog, die Heizung höher drehte und beobachtete, wie er mit flatternden Augenlidern zu sich kam, hörte sie aus dem Nebenzimmer, das die beiden Wrestler zu ihrem Schlafzimmer erkoren hatte, eindeutige Geräusche und einen Augenblick stieg Ekel in ihr auf-sie wollte sich gar nicht vorstellen, was die beiden da gerade trieben, aber dann zog sie sich selber bis auf ihre Dessous aus und begann Ben dann mithilfe eines scharfen Messers aus seinen Kleidern zu schälen.

  • Ben kam langsam wieder zu sich. Die letzte bewusste Erinnerung, die er hatte, war der Typ, der ihn fast erstickt hätte und dann verlor sich sein Sein in einem lila Nebel, in dem er zwar Bewegung wahrnehmen konnte, auch Berührungen spürte, aber es war ihm völlig egal. Auch Schmerzen fühlte er keine, nur einmal, als es an seiner Schulter einen Ruck gab, aber dann schlief er einfach ein. Jetzt bekam er langsam wieder etwas mit. Mühsam öffnete er die Augen und versuchte heraus zu finden, wo er sich befand. Er lag in einem Bett, aber das war kein Krankenhausbett, sondern ein Größeres. Das Zimmer lag im Halbdunkel, eine matte Lampe erhellte es träge und als er nun langsam die Augen komplett aufbrachte, sah er, dass über dem Bett ein großer Spiegel angebracht war. Er musste schlucken, denn nun bemerkte er auch, dass er an Händen und Füßen mit Handschellen gefesselt war. Versuchsweise zog er daran-er hatte zwar eine gewisse Bewegungsfreiheit, so dass er sich leicht zur Seite rollen konnte, aber mehr ging nicht, außerdem ließ er das sofort wieder bleiben, denn nun zuckte ein unbändiger Schmerz durch seine operierte Schulter. Seine Zunge klebte am Gaumen und er hatte einen Durst, dass er einen ganzen See hätte austrinken können. Aus dem Nebenzimmer waren Geräusche zu hören, als ob da mehrere Personen-eine Frau und zwei Männer-wie er nach kurzem Zuhören vermutete-etwas aßen. Besteck klimperte, Gläser klirrten, als ob da jemand auf etwas anstoßen würde und dann hörte er undeutliche Gespräche, leises Gelächter und dann wurde anscheinend der Tisch abgeräumt.

    Inzwischen hatte sich sein zunächst etwas verschwommener Blick geklärt und er fragte sich, ob die Worte, die die Frau gerade gesagt hatte auf ihn gemünzt waren. „Heute Nacht gehört er mir, aber morgen bekommt ihr ihn für ein paar Stunden!“ hatte die Frau gesagt und er hatte im selben Augenblick die Stimme erkannt. Das war Estelle Winkler und nun wurde ihm Angst und bang. Diese Frau hatte nach dem vergeblichen Versuch ihres Mannes, ihn umzubringen, probiert seine Familie auszulöschen, die war zu allem fähig. Und seinem Gefühl nach waren die zwei Männer, mit denen sie sich unterhalten hatte, die beiden Typen, die ihn im Krankenhaus überwältigt und hierher verschleppt hatten. Da war klar, dass er da ohne Waffe keinerlei Chancen hatte, denen zu entkommen, das waren muskulöse Kampfmaschinen und fast keine richtigen Menschen gewesen-jeder Widerstand war da zwecklos! Nun wurde im Nebenzimmer der Fernseher eingeschaltet und den Geräuschen nach kamen zuerst Nachrichten und dann ein Actionfilm mit Silvester Stallone, den er auch schon gesehen hatte. Danach hörte er Badgeräusche, eine Toilettenspülung lief mehrmals und dann betrat Estelle das Schlafzimmer, während man aus dem daneben liegenden Schlafzimmer nun eindeutige Geräusche hörte, die Ben den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Er hatte so viel verstanden, dass Estelle ihn diese Nacht haben wollte, er aber am morgigen Tag für die beiden Typen reserviert war und das würde er vermutlich nicht überleben!


    Als er klarer gesehen hatte, hatte er auf einem Nachtkästchen neben dem Bett so allerlei Sexspielzeug entdeckt, unter anderem eine Peitsche, einen Dildo und Gleitgel, was ihn noch mehr beunruhigte. Was hatte Estelle mit ihm vor und was konnte er tun, damit sie ihn in Ruhe ließ? Sollte er sie abwehren, so tun als ob er immer noch schlafen würde, oder sollte er ihr die große Liebe vorspielen und sie hinhalten, vielleicht auch noch mit der Mitleidsmasche und hoffen, dass er so eine Gelegenheit zur Flucht bekam, oder Semir und seine Kollegen ihn finden würden? Die Frage war auch-hatten die irgendwelche Hinweise darauf, wo sie nach ihm suchen sollten, wo befand er sich überhaupt und wie lange war es her, dass man sein Verschwinden bemerkt hatte? Es musste jetzt dem Film nach so etwa 22.30 Uhr sein und jetzt musste er sich schnell entscheiden, was er tun wollte, denn gerade betrat Estelle den Raum und er hörte, wie sie an den Heizkörper ging und da etwas machte-vermutlich drehte sie die Heizung entweder aus oder höher! Fürs Erste hielt er erst einmal die Augen geschlossen und hoffte, dass sie ihm abnehmen würde, dass er noch schlief. Tatsächlich schien das zu funktionieren, denn jetzt hörte er, wie sie sich auszog. Vielleicht würde sie sich einfach brav neben ihn unter die Decke legen und schlafen, aber wenig später merkte er, dass er das leider verkehrt gehofft hatte, sie flüsterte nämlich: „Ben-ich weiss, dass du wach bist-die Wirkung des Betäubungsmittels ist längst vorbei!“ sagte sie mit rauchiger Stimme und während er so tat, als würde er mit flatternden Augenlidern gerade erst erwachen, nahm sie die Zudecke zur Seite und er fühlte, wie sie mit einem scharfen Messer begann, ihm die Kleider vom Leib zu schneiden.


    Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, dass sie heisse Dessous trug und sie hatte extra ein verführerisch riechendes Parfum aufgetragen, es war klar, nach was ihr der Sinn stand, aber es gab nichts, was ihn gerade weniger anturnen würde als dieses Weib! Sie hatte zwar einen perfekten Körper, wie er nun erkennen konnte, als er sie ansah, weil ihm nichts anders übrig blieb, da war kein Gramm Fett zu viel, alle Kurven saßen an den richtigen Stellen und man sah, dass da vermutlich so mancher Bodytrainer und Schönheitschirurg sich ausgetobt hatte, denn so einen perfekten Busen hatte keine normale Frau. Wenn er dagegen an seine geliebte Sarah dachte, die auch eine gute Figur hatte, aber wie jede Mama mit einem Baby eben ein paar Speckröllchen hier und da, die Brust abwechselnd ein wenig hing, oder von der Milch, mit der sie seine Kinder stillte, hart und prall war, dann war das natürliche Schönheit, die ihm auch ohne Make Up gefiel. Das hier war ein Kunstprodukt, keine wahrhaftige lebendige Frau und er konnte gerade überhaupt nicht verstehen, warum er sie bei ihrer ersten Begegnung so angestarrt hatte. Das war vielleicht einfach ein urmännlicher Trieb gewesen, diese exotische Schönheit hatte ihn wegen ihrer Andersartigkeit beim ersten Anblick beeindruckt, aber jetzt, als er sah, zu was diese Frau fähig war, erfüllte ihn nur noch tiefe Abscheu! Sie hatte seine Familie auslöschen wollen, seinen tapferen kleinen Tim, den er mehr liebte, als alles andere auf der Welt und der jetzt wegen dieser Tussi einen gebrochenen Arm und Schmerzen hatte und sein kleiner Engel Mia-Sophie, immer strampelnd und gut gelaunt, mit blauen Augen und blonden Löckchen, der er höchstpersönlich in einer dramatischen Aktion auf diese Welt geholfen hatte, seine Sarah, die einfach das perfekte Gegenstück zu ihm war, die er voller Überzeugung geheiratet hatte und die ihm Ehefrau, Kamerad und Geliebte, Freundin und vor allem eine gleichberechtigte Partnerin war-dies alles hatte sie ihm nehmen wollen und dachte, dass man ihn einfach so haben konnte, aber da war sie schief gewickelt! Als er nun allerdings das scharfe Messer spürte, mit dem sie ihm die Kleider vom Leib schnitt, bekam er eine Gänsehaut und die nackte Angst ergriff von ihm Besitz. Er musste jetzt klug agieren, denn sonst rutschte das Messer vielleicht ab und er musste sich keine Gedanken mehr über seine Zukunft machen, weil er einfach keine hatte.


    Inzwischen war er ganz nackt und die Reste seiner Kleidung lag neben ihm im Bett. Estelle´s Lippen liebkosten seine Brust, aber als sie langsam tiefer glitten, hätte er vor Ekel kotzen mögen. Er musste jetzt etwas sagen oder tun, sonst spie er sie vielleicht noch an und dann gnade ihm Gott. „Estelle!“ sagte er deshalb und versuchte seine Stimme so normal wie möglich, vielleicht sogar ein wenig verführerisch klingen zu lassen. „Aber es tut mir leid-ich muss jetzt erst mal pinkeln!“ sagte er und sie sah ihn jetzt empört an. Dieser Typ hatte mit dieser Bemerkung den Zauber des Augenblicks zerstört, aber was wollte sie machen-daran hatte sie überhaupt nicht gedacht!

  • Semir wurde momentan abwechselnd heiß und kalt, als er Sarah´s Anruf entgegen nahm. Andrea hatte fragend von ihrem Buch aufgesehen, als Semir die Fernsehreportage ausschaltete und gebannt den Worten lauschte, die aus dem Hörer drangen. Als er aufgelegt hatte und sie nur vernommen hatte wie er sagte: „Ich komme sofort!“ war ihr eigentlich klar, dass irgendetwas mit Ben geschehen sein musste. Sie dachte eigentlich eher an eine Komplikation, einen Rückfall, oder was auch immer, aber als Semir nun aufsprang und zielgerichtet die Treppe hinauf sauste, um sich anzuziehen und nebenbei rief: „Ben ist verschwunden, ich fahre ins Krankenhaus!“ musste sie sich die Worte erst einmal durch den Kopf gehen lassen, bevor sie sie richtig verstehen konnte. Wie-Ben war verschwunden? Sie hatte gedacht, der Fall sei gelöst, alle Übeltäter entweder tot, verhaftet, oder zumindest identifiziert, aber jetzt kam so eine Hiobsbotschaft? „Semir-du meinst er wurde entführt? Aber um Himmels Willen von wem denn?“ fragte sie entsetzt, aber genau diese Gedanken hatte sich ihr Mann ebenfalls durch den Kopf gehen lassen und es blieb nur eine Antwort-Estelle! Aber wie hatte eine einzelne Frau Ben so einfach aus dem Krankenhaus mitnehmen können und vor allem auch noch unbemerkt, denn so wie Sarah gesagt hatte, hatte niemand etwas mitbekommen. Sie musste Helfer gehabt haben, aber klar, sie hatten so getan, als ob Winkler der einzig Gefährliche in diesem Spiel gewesen war und ihn als Drahtzieher des üblen Spiels verurteilt. Dass seine Frau aber eigentlich der Auslöser und die Ursache für das Ganze gewesen war, hatten sie nicht wahrhaben wollen. Und so unschuldig sie aussah, sie hatte sich im Urlaub an Ben wie eine Klette geheftet und dem war das unangenehm gewesen, was sie aber nicht dazu gebracht hatte, das aufzuhören, so dass ihr Mann in seiner Verzweiflung dann zu anderen Methoden gegriffen hatte, um seine Ehefrau zu behalten, was ihm dann letztendlich aus seiner Hand den Tod beschert hatte, aber hier waren unheimlich starke Emotionen im Spiel-Liebe-Hass-Eifersucht, Dinge, die rational nicht immer erklärbar waren. Wie hatten sie nur so blauäugig sein können zu denken, Ben wäre nicht mehr in Gefahr, so lange Estelle nicht hinter Schloss und Riegel saß? Die hatte kaltblütig versucht Ben´s Familie auszulöschen, was ihr Gott sei Dank nicht gelungen war, aber auch nur mit sehr viel Glück. Aber eigentlich hatte die doch von Anfang an nur ein Ziel gehabt-Ben für sich zu gewinnen, ihn zu besitzen und wenn er sich ihr nicht freiwillig zuwandte, dann machte sie das eben gegen seinen Willen, wie hatten sie das nur übersehen können? Semir warf im Vorbeigehen noch zwei Aspirintabletten ein, schlüpfte in seine Straßenkleidung und während gerade die Kinder von ihren Freundinnen zurück kamen, sauste er nach einer kurzen Verabschiedung zu seinem BMW und war auch schon auf dem Weg in die Uniklinik. „Ich weiss nicht genau, ich vermute diese Winkler steckt hinter dem Ganzen!“ hatte er Andrea noch anvertraut, was die aber nicht beruhigte, sondern in höchste Aufregung versetzte, eine enttäuschte Frau war ein gefährlicher Gegner!


    Bereits auf dem Weg zum Krankenhaus rief er die Chefin auf ihrer privaten Handynummer an. Klar es war Sonntag und sie hatte vermutlich nicht einmal Bereitschaft, aber das hier war etwas, das verwischte die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben und sie benötigten jetzt nicht irgend einen Diensthabenden, der erst nachfragen musste, ob er Kompetenzen hatte, sondern brauchten jemanden als Einsatzleitung, der mit dem Fall vertraut war und notfalls schnell handelte, wenn es darum ging das SEK zuzuziehen, eine Telefonüberwachung einzurichten, einen Richter oder Staatsanwalt von etwas zu überzeugen oder einfach Personal für die Suche zu rekrutieren-dafür war Kim Krüger die Richtige und sie hörte auch aufmerksam zu, als er sie am Apparat hatte und versprach, sofort in die Klinik zu kommen.


    Dort trafen sie dann nacheinander alle ein und eigentlich waren dort nur hilflose, geschockte Schwestern, Pfleger und Ärzte. Eine Sarah, die mit den Nerven am Ende war und ein Konrad, der nur immer stammelte: „Oh Gott-oh Gott!“ ohne irgendeine Hilfe zu sein. Fest stand nach kurzer Zeit-niemand hatte etwas gesehen, im Zimmer waren keine Spuren eines Kampfes zu entdecken, das Bett sah aus, als hätte Ben es gerade erst verlassen, um kurz aufzustehen und zur Toilette zu gehen, was aber alleine für ihn noch nicht möglich war. Nur eine gefüllte Urinflasche, die an der Halterung am Bett hing deutete darauf hin, dass er überhaupt da gewesen war und ansonsten war er wie vom Erdboden verschluckt. Sarah gab nun genau an, was sie ihm mittags angezogen hatte, denn diese Kleidung fehlte, aber ansonsten hatte er sich sozusagen in Luft aufgelöst. „Nachdem er noch nicht laufen konnte, müssen entweder ein Bett, eine Trage oder ein Rollstuhl eingesetzt worden sein, um ihn zu entführen-wir müssen jetzt alle Leute versuchen, darauf aufmerksam zu machen-vielleicht hat ja doch irgendjemand etwas beobachtet, auch ohne dass ihm das bewusst ist!“ überlegte Semir und so waren Frau Krüger und er wenig später von Zimmer zu Zimmer unterwegs, um die Nachbarpatienten nach auffälligen Beobachtungen zu befragen und tatsächlich-einem älteren Mann fiel etwas ein und als er seine Beobachtung mitteilte, wechselten Semir und die Krüger einen Blick-zwei kräftige Sanitäter hatten einen Mann in einem Behindertenrollstuhl zum Fahrstuhl gebracht-das war es-sie hatten eine Spur, na zumindest den Hauch davon!


    Estelle überlegte einen Augenblick. Obwohl ihr schon klar war, dass das völlig normale Körperfunktionen waren, wollte sie irgendwie nicht daran denken, dass auch Ben nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war, der eben auch Bedürfnisse hatte. Sie wollte damit nichts zu tun haben und würde ihm mit Sicherheit jetzt nicht irgendeinen Eimer bringen, damit er sich erleichtern konnte-sowas würde den Zauber des Augenblicks zerstören und so warf sie sich mit einem Fluch in einer Sprache, die Ben nicht verstehen konnte, einen leichten Bademantel aus billigem Satin über-eigentlich nicht ihre Klasse, aber der hing eben da und deshalb nahm sie ihn. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer waren inzwischen verstummt und deshalb klopfte sie jetzt an die Tür der beiden Wrestler: „Hey-ich habe ein Problem-unser Gast muss mal zur Toilette!“ rief sie durch die Tür und wenig später rührte sich etwas und einer der Kolosse, Gott sei Dank in Jeans und T-Shirt-wofür sie Gott dankte stand vor ihr. „Na dann werde ich ihn dann mal dorthin bringen!“ grinste er und der Rauch einer Zigarette danach quoll hinter ihm aus der Zimmertür, was Estelle dazu brachte, empört die Nasenflügel zu heben, aber es war ja nicht ihre Wohnung, drum war das ja eigentlich egal. Der starke Typ folgte ihr und während Estelle nun mit dem Schlüssel, den sie in ihrem BH verborgen hatte die Handschellen löste, musterte er anerkennend Ben´s nackten Körper, der nun vor ihm lag. Ben stellte es die Nackenhaare auf, als der Typ ihn so ansah, oh Gott-wenn es so weit kam, dass er dem in die Hände fiel, würde er nichts zu Lachen haben, aber sogar Estelle fiel das auf und war ihr unangenehm. „Begleite ihn zur Toilette und danach bring ihn mir wieder-und achte darauf, dass er sich die Hände wäscht!“ sagte sie mit drohendem Gesichtsausdruck und zeigte dem Wrestler ganz beiläufig einen 100€-Schein. Das würde den momentan zur Ruhe bringen und wenn sie Ben gehabt hatte, konnte sie immer noch überlegen, was sie weiter unternahm, aber diese Nacht gehörte er ihr mit Haut und Haar und sie freute sich schon auf die Stunden die vor ihr lagen!

  • Der Wrestler zog Ben hoch, nachdem Estelle die Hand- und Fußschellen gelöst hatte, was dem einen Schmerzenslaut entlockte. Kurzerhand fasste der bullige Mann, dessen Muskelpakete überall zu sehen und zu fühlen waren, den dunkelhaarigen Polizisten unter und schleppte ihn zur Toilette. Ben war einen kurzen Augenblick schwindlig, aber als er dann die kühle Luft in dem Badezimmer einatmete, verflog die Übelkeit ganz schnell. Er brauchte jetzt sofort einen Plan, wie er sich aus den Händen von Estelle und ihren Helfershelfern befreien konnte, denn sonst war es um ihn geschehen. Und mit Körperkraft konnte er nicht punkten, nicht einmal gegen Estelle, denn auch die war durchtrainiert und ihr Personal Trainer hatte die straffe Muskulatur sicher nicht umsonst aufgebaut und er war gerade kein Ausbund von Stärke und Gesundheit. Gegen die anderen beiden Typen hatte er nicht den Hauch einer Chance und so blieb ihm nur eine List. Der Wrestler hatte ihn unsanft auf den Toilettensitz gesetzt und sah ihn auffordernd an: „Jetzt mach mal!“ sagte er, aber Ben erwiderte trotzig seinen Blick. „Ich kann nicht, wenn du mir zusiehst!“ erwiderte er und aufseufzend zog sich der Wrestler vor die Tür zurück.

    Ben hatte das Badezimmer mit ein paar Blicken abgescannt. Das Fenster war groß genug, dass er durch passte und anscheinend war die Wohnung auch im Erdgeschoß, denn das Licht einer Straßenlaterne schimmerte durch die Milchglasscheiben. Möglichst lautlos erleichterte er sich dennoch schnell und erhob sich dann, während der Schmerz durch seinen ganzen Körper zog, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Blitzschnell öffnete er dann das Fenster und schwang sich, splitterfasernackt wie er war, hinaus in die eiskalte Januarnacht. Bis zum Boden waren es so eineinhalb Meter, aber er ließ sich einfach fallen und achtete nur darauf, dass er nicht mit dem gebrochenen Bein aufkam, was ihm auch halbwegs gelang, obwohl er dennoch unsanft auf den Asphalt krachte. Er rappelte sich aber sofort wieder hoch und hinkte so schnell er konnte barfuß die Straße entlang. Es war eine Nebenstraße anscheinend in einem Kölner Vergnügungsviertel, wie er annahm. Er konnte die Beleuchtung eines „Vergnügungstempels“ wie Semir das immer so nett umschrieb, wahrnehmen, entschied sich aber dagegen, dort um Hilfe zu bitten. Stattdessen hüpfte er weiter und betete, dass doch bitte ein Auto, am besten ein Streifenwagen um die Ecke biegen möge, aber nichts geschah. Die Straße war lang, rechts und links waren höhere Wohnhäuser mit finsteren Eingängen, alles ein wenig schmuddelig. Nun konnte er auf einmal hinter sich empörtes Gebrüll hören-verdammt, seine Flucht war entdeckt worden!


    Der Wrestler hatte höflich eine Weile gewartet und dann gefragt: „Bist du jetzt endlich fertig?“ und als keine Antwort ertönte, hatte er die Tür geöffnet und Ben´s Flucht bemerkt. Mit einem Fluch alarmierte er Estelle und seinen Lebensgefährten und sprang dann hinter dem Flüchtigen her aus dem Fenster. Der zweite Wrestler hüpfte ebenfalls in seine Kleider und rannte durch die Türe, um seinem Freund zu helfen und als Ben seine Verfolger näher kommen hörte, stürzte er sich voller Verzweiflung in den nächsten Hauseingang und drückte auf alle Klingelknöpfe. „Hilfe Polizei!“ rief er dann laut, aber im selben Moment fiel ihm dann auch ein, dass das in dieser Gegend wohl keine so gute Idee gewesen war. Die Menschen die hier wohnten waren auf die Gesetzesmacht oft nicht so gut zu sprechen und er hätte sich vielleicht vorher überlegen sollen, wie er um Hilfe bat. So wurde er unsanft gepackt, ein Schlag gegen sein Kinn ließ seine Gegenwehr erlahmen und er bekam fast nicht mit, wie ihn die beiden bulligen Männer zurück in die Wohnung halb schleiften, halb trugen. „Besoffenes Miststück!“ rief der eine der beiden noch laut. „Hör halt auf zu trinken, wenn du nichts verträgst!“ bekräftigte der andere und bis er sich versah, war Ben wieder zurück in der Wohnung und unsanft im Streck auf das Bett gefesselt. Estelle war wie eine Furie über ihm und während er langsam wieder klar sah, was nach dem Schlag gegen sein Kinn jetzt ein paar Minuten nicht so gewesen war, zogen sich die beiden Wrestler auf das Geheiß ihrer Chefin, die noch schnell zwei Hunderter rüber wachsen ließ, aus dem Schlafzimmer zurück, schlossen das Badfenster und wenig später lag die Wohnung wieder in besinnlicher Stille da-auch weil Ben wegen des Knebels in seinem Mund jetzt nicht mehr schreien konnte.


    Die alte Frau, die schon viele Jahre in dem Wohnblock gegenüber des Bordells wohnte, weil dort die Miete erschwinglich war, sah aus dem Fenster. Sie hatte ihr Leben lang redlich mit Putzen ihr Geld verdient und eigentlich auch gelernt, dass es vernünftig war, manchmal nicht hin zu sehen und den Mund zu halten. Als es nun an ihrer Haustür läutete, sah sie erst einmal aus dem Fenster, denn sie hatte keine Familie und auch ihre wenigen Freunde würden sie wohl nicht mitten in der Nacht ohne Voranmeldung besuchen. Sie sah, wie zwei bullige Typen in ihren Hauseingang stürmten und dann einen nackten Mann erst niederschlugen und dann mit sich schleiften. Der hatte zuvor noch nach der Polizei gerufen und das verwunderte sie jetzt etwas. Dennoch ging sie wieder zu Bett, aber sie konnte lange nicht einschlafen, weil sie sich nicht sicher war, jetzt das Richtige zu tun, indem sie den Mund hielt, wie sie es ihr Leben lang getan hatte.


    In der Klinik hatten derweil mehrere Streifenbeamte und auch die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes Semir und die Chefin bei der Suche nach Ben und der Befragung der Mitarbeiter, Patienten und Besucher unterstützt, aber niemand konnte sich an den Rollstuhl und die beiden Männer, die den geschoben hatten, erinnern. So blieb nach einer Weile nichts anderes übrig, als die Suche momentan einzustellen. Konrad gab man ein leichtes Beruhigungsmittel, der sich große Vorwürfe machte, dass er nicht eher Alarm geschlagen hatte. Sarah fuhr völlig aufgelöst zu Hildegard, die voller Entsetzen ihrem Bericht lauschte und ihr ein Bett im Gästezimmer herrichtete, worin die junge Frau aber eine schlaflose Nacht voller Kummer und Sorgen verbrachte.
    Semir steuerte, nachdem die Chefin noch die Fahndung nach Ben und den beiden Männern heraus gegeben hatte, ebenfalls nach Hause und merkte erst jetzt, wie krank und erschöpft er ebenfalls noch war, aber er verging dennoch fast vor Sorge um seinen Freund und auch Kim Krüger suchte unverrichteter Dinge ihre Wohnung wieder auf. Die Streifen würden die Augen offen halten, man fahndete nach einem unbekannten Fahrzeug, das zum Transport eines Rollstuhls geeignet war, nach Ben und zwei Männern von denen sie nur über eine vage Beschreibung verfügten, aber mehr hatten sie nicht in der Hand. Wenn der Kommissar Zufall ihnen nicht zu Hilfe kam, sah es schlecht aus für Ben-niemand hatte eine Ahnung, wo der festgehalten wurde. So nahm die Nacht auf den Dreikönigstag ihren Lauf und für Ben wurde es eine lange Nacht, die er wohl so bald nicht vergessen würde.

  • Ben wurde von Estelle missbraucht, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte vorstellen wollen und als er endlich von ihr in Ruhe gelassen wurde, schloss er immer noch fest gebunden, voller Ganzkörperschmerzen und Ekel seine Augen und versuchte ein wenig zu schlafen, was ihm aber nicht gelingen wollte. Estelle hatte die Heizung herunter gedreht und eine große Zudecke über sie beide gebreitet, schmiegte sich an ihn und tat so als hätten sie einvernehmlichen Sex gehabt, was aber beileibe nicht stimmte. Ben war immer noch schlecht und irgendwann begann er erst zu frieren und dann zu schwitzen-anscheinend hatte er sich bei seinem leicht bekleideten Ausflug nun auch noch erkältet. In den frühen Morgenstunden war er anscheinend doch noch ein wenig eingedämmert, aber der fahle Morgen begann schon das Zimmer in ein unwirkliches Licht zu tauchen und Estelle atmete gleichmäßig neben ihm, da durchfuhr Ben plötzlich ein unbändiger Schmerz in der Flanke, der zu massiver Übelkeit führte. Er stöhnte auf und Estelle erwachte. „Was ist jetzt schon wieder?“ fragte sie ungnädig, denn sie war es normalerweise gewöhnt lange zu schlafen und zuhause hatten sie eine Haushälterin gehabt, die jeden Morgen gekommen war, zuerst ihrem Mann das Frühstück gerichtet hatte und ihr dann im Laufe des Vormittags eine Tasse schwarzen starken Kaffee und eine halbe Grapefruit ans Bett serviert hatte fürs erste wach werden, bevor sie unter die Dusche und in den Fitnessraum zum Morgensport gegangen war. Diesen Luxus hatte sie hier nicht, aber deswegen musste sie ihr neuer Partner nicht vor Tau und Tag aus den süßesten Träumen reißen, denn im Schlaf hatte sie wieder und wieder die letzten Stunden erlebt und gewusst-er war es, der Mann ihres Lebens! Aber dennoch musste er wohl erst noch erzogen werde, wie eine Dame zu behandeln war und die erste Lektion war, sie ausschlafen zu lassen.


    Ben allerdings konnte sich auf solche Dinge jetzt nicht konzentrieren, denn gerade schlug wieder eine Welle des Schmerzes und der Übelkeit über ihm zusammen. Er versuchte seine Beine an den Leib zu ziehen, um die furchtbaren Schmerzen erträglicher zu machen, aber durch die Fußfesseln war das nicht möglich und so erfüllte sein verzweifeltes Stöhnen den Raum, dass sogar die beiden Wrestler im Nebenzimmer erwachten. In der ersten Minute hatten sie gedacht, dass es bei Estelle und ihrem Gefangenen schon wieder zur Sache ging, aber dann hörten sie den gepeinigten Unterton in der Stimme des Mannes und Sorge erfüllte sie. Was wäre, wenn der heute Abend nicht fit war-sie wollten ihn ebenfalls haben und hatten sich schon unbändig auf die Stunden mit ihm gefreut! Deshalb standen sie auf, klopften an die Schlafzimmertür ihrer Chefin und die stieg murrend aus dem Bett, warf den Satinbademantel über ihre Blöße und öffnete die Tür. „Was hat er denn?“ fragte der eine der beiden Muskelpakete ratlos, aber Estelle zuckte mit den Schultern, sie hatte doch auch keine Ahnung. Weil die beiden Männer ihn jetzt bewachten, löste sie dann doch die Fußfesseln und Ben zog jetzt beide Beine eng an den Leib in dem die Schmerzen in Wellen tobten und ihn an nichts anderes denken ließen. „Hey was hast du-was soll das Gejammere?“ fuhr ihn der eine der beiden Typen an, aber Ben konnte nicht antworten, er wusste doch selber nicht was ihm fehlte, er konnte nur sagen, dass sein ganzes Sein nur mit Pein und Schmerz ausgefüllt war und er keine Ahnung hatte, wo da die Ursache war.

    Ach wäre jetzt nur seine Sarah bei ihm, die hätte vermutlich noch vor jedem Arzt die Diagnose gestellt und dafür gesorgt, dass er ordnungsgemäß behandelt wurde, aber diesen drei Typen fiel jetzt momentan nichts anderes ein, als ihn ganz los zu machen und erst einmal auf die Toilette zu zerren. Wie ein Häufchen Elend saß er da, diesmal ließen sie ihn aber nicht aus den Augen, wobei das absolut nicht notwendig gewesen wäre, denn in seinem Zustand hatte er keinen Gedanken an Flucht, sondern er verging nur vor Schmerz und er war käsebleich und der Schweiß rann in Strömen von seinem Körper. Irgendwie schaffte er es trotzdem sich zu entleeren und als ihn die beiden Wrestler dann wieder ins Bett zerrten, zog der eine zuvor ab und sah ein wenig Blut in der Schüssel-verdammt, was hatte Estelle denn dem armen Kerl wohl angetan? Aber so genau wollte er das gar nicht wissen, dass die wie ihr Mann über Leichen ging, wussten sie selber, aber auch er und sein Freund hatten schon viele Menschen, meist Flüchtlinge zu Abschreckungszwecken in den Rhein geworfen, nachdem Winkler sie vor allen Augen gefoltert hatte und sogar Videodokumente ihrer Grausamkeiten anfertigen hatte lassen, um eventuelle Verräter zu warnen! Manchmal war es in dieser Branche besser den Mund zu halten und zu tun, was die Geldgeber verlangten und eindeutig war Estelle hier diejenige, die das Ruder in der Hand hatte!


    Die hatte kurz nachgedacht und dann eine Schmerztablette aus ihrer Handtasche gekramt. Anscheinend hatte Ben wirklich starke Schmerzen und so flößte sie die ihm mit ein wenig Wasser ein, aber er erbrach sie sofort wieder. Voller Ekel hieß Estelle die beiden Wrestler ihn sauber zu machen und das Bett frisch zu überziehen. Verdammt noch mal-sie wollte jetzt noch ein paar Stündchen schlafen-er brauchte nicht meinen, dass sie wegen seinem Rumgetue auf ihren Schönheitsschlaf verzichten würde! Also zog sie wieder eine passende Menge des Schlafmittels, das man gestern zu seiner Entführung benutzt hatte auf und injizierte es in den immer noch liegenden Zugang. Ben fielen nun tatsächlich die Augen zu, wobei er durchaus noch Schmerzen hatte, aber jetzt verschwamm seine ganze Welt wieder in einem lila Nebel und langsam verstummte sein Stöhnen und er fiel in einen Zustand, der weit ab jeder Realität war. Estelle fesselte trotzdem seine Hände, kroch wieder neben ihn und schickte ihre Helfer aus dem Zimmer. „Ich brauche meinen Schönheitsschlaf-wir hatten eine anstrengende Nacht!“ bedeutete sie den beiden und die standen zwar jetzt endgültig auf, kochten Kaffee und frühstückten, aber ansonsten verhielten sie sich ruhig-eines war klar, sie mussten jetzt in der Wohnung bleiben, damit die Polizei sie nicht entdeckte und außerdem wuchs von Stunde zu Stunde die Vorfreude auf die kommende Nacht, wenn dann endlich sie beide Ben´s perfekten Körper besitzen würden!


    Sarah hatte kaum geschlafen und am Morgen reichte die Milch für Mia-Sophie nicht, so dass Hildegard ihr im Anschluss noch ein Fläschchen gab. Tim hatte verwundert die verweinten Augen seiner Mama gemustert und sich dann an sie gekuschelt-seine kleine Welt war ebenfalls in Unordnung, wenn die Mama so traurig war und sogar die beiden Hunde merkten die gedrückte Stimmung und schlichen mit hängenden Schwänzen durch Hildegards Haus, die sich nach Kräften bemühte, einen Anschein von Normalität zu verbreiten. Allerdings hatte auch sie kaum geschlafen und Sarah im Gästezimmer stundenlang weinen hören. Hoffentlich würde Ben bald gefunden werden, sonst ging seine Frau noch daran kaputt!


    Semir hatte zwar völlig erschöpft ein klein wenig geschlafen-die Grippe in seinen Gliedern raubte ihm die Kraft, aber kaum läutete am Morgen der Wecker, stand er gemeinsam mit Andrea auf, duschte, zog sich an und warf erst einmal ein paar Grippetabletten ein, bevor er einen starken Kaffee trank und sich zwang einen Toast hinunter zu würgen-der war wenigstens weich und kratzte nicht in seinem wunden Hals. Er hatte einfach keine Zeit zum krank sein, er musste Ben finden, zuvor würde er nicht zur Ruhe kommen. Als er wenig später in der PASt ankam, war auch die Chefin schon da. „Gibt es Neuigkeiten?“ fragte er hoffnungsvoll, aber die schüttelte den Kopf, sie hatten nach wie vor keinen blassen Schimmer, wo sie nach Ben suchen sollten. „Ich nehme mir nochmals die Liegenschaften Winklers vor-irgendwo müssen die sich ja versteckt haben!“ beschloss Semir und während draußen der erste Schultag nach den Weihnachtsferien begann und der Kölner Verkehr nach ein wenig Feiertagsruhe wie gewohnt brandete, suchte Susanne ihm die verschiedenen Adressen heraus und wenig später machte Semir sich auf, um sich draußen umzusehen-jetzt hätte ihn nichts mehr an seinem Schreibtisch gehalten!

  • Semir begann mit dem Haus der Winklers. Er hatte den Schlüssel geholt und durchsuchte nochmals das Büro und dann den Rest der Luxushütte nach Hinweisen, wo Ben stecken könnte. Allerdings stach auch ihm nicht auf den ersten Blick etwas ins Auge, was seine Kollegen noch nicht gesehen und nachgeprüft hätten und so ließ er die Atmosphäre des Hauses und die Einrichtung auf sich wirken. Obwohl die sicher vom Innenarchitekten durchgestylt war, konnte man gar nichts Persönliches finden. Nirgends war Kram, irgendwelche Familienfotos, Urlaubsmitbringsel oder private Sachen, wie man sie doch in fast jedem Haushalt fand, dem seine Bewohner eine persönliche Note aufdrückten-nein hier sah es aus wie in einem Werbewohnprospekt-alles war penibel sauber, neuwertig, aber irgendwie anonym. In der Garage standen die Statussymbole, unter anderem auch der gelbe Ferrari nebst einigen wertvollen anderen Fahrzeugen und wie sie ja schon festgestellt hatten, fehlte der Mini Cooper, der auf Estelle persönlich zugelassen war-das war das Fahrzeug in dem er sie nach dem Bombenattentat gesehen hatte. Ach hätte er damals doch Estelle verfolgt und festgenommen, anstatt wie in Trance zum Krankenhausparkplatz zu fahren, wo er ja doch nichts mehr hätte tun können, egal was geschehen war, dann wäre Estelle hinter Gittern und sein Freund läge sicher in seinem Krankenhausbett! Semir musste ihn finden, denn im Rückblick gesehen hatte er einen verhängnisvollen Fehler begangen, der jetzt vielleicht Ben das Leben kosten konnte!

    Langsam wanderte er durch die Räume und konnte im Schlafzimmer angekommen nicht an sich halten, sondern sah in die beiden Nachtkästchen. Oh-da war jetzt doch etwas Persönliches, nämlich ein Sortiment an Sexspielzeug das jedem Bordell zu Ehre gereicht hätte! Dazu auf der Seite Winklers, der ja auch nicht mehr der Jüngste gewesen und sicher von den Bedürfnissen seiner Frau manchmal überfordert gewesen war, eine Menge Viagratabletten und auch kleine Spritzen, die aussahen wie Thrombosespritzen, aber eine andere Aufschrift hatten. Semir steckte eine davon ein-da musste er Hartmut fragen, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Dann verschloss er sorgfältig das Haus und machte sich auf den Weg zur nächsten Adresse, Winkler´s Büro, wo die Angestellten der Immobilienfirma ebenfalls den ersten Tag nach dem Weihnachtsurlaub angetreten hatten und ganz entsetzt die Nachricht vom Tod ihres Chefs erhalten hatten. Sie wussten alle nicht wie es für sie weiter gehen würde und saßen geschockt an ihren Schreibtischen. Allerdings hatte die Steuerbehörden den ermittelnden Beamten schon die Zahlen der Firma übermittelt-das Immobiliengeschäft hatte vermutlich nur als Deckmantel gedient und wie Semir bei der Befragung der Mitarbeiter herausfinden konnte, liefen die Geschäfte schleppend, sie hatten aber immer ihre Gehälter bekommen und Winkler persönlich war nur äußerst selten anwesend gewesen.
    Semir vermutete, dass diese Menschen tatsächlich keine Ahnung vom Hauptgeschäft Winkler´s hatten, dem Schleusen von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten gegen Bezahlung, deren Unterbringung hier im Raum Köln, die Vermittlung illegaler Arbeitskräfte, gerade auch im horizontalen Gewerbe, der Veranstaltung von Wrestlingshows und noch so einiger andere Dinge, die man nicht so gerne auf der Visitenkarte stehen hatte. Die ganzen Hinweise darauf, auch die maroden Häuser die Winkler gehörten und in denen er gegen horrende Mieten die Flüchtlinge unterbrachte, die Beteiligungen an Stripclubs und Bordellen hatten die Kollegen in dem Büro im Haus gefunden-teils im doppelten Boden des Schreibtischs und dann auch bei den Unterlagen im Safe. Es liefen parallel Razzien, die Ausländerbehörde ermittelte, viele Menschen, die in Deutschland nicht registriert waren, die auch keinen Asylantrag gestellt hatten, sondern sich illegal hier aufhielten und auch arbeiteten-eingeschleust und vermittelt von Winkler, waren bereits festgenommen und würden in Kürze abgeschoben werden. Semir packte eine große Wut-diese Menschen, die vor dem Krieg in der Heimat geflohen waren, wie ja auch der Patriarch und seine Familie, waren dort von Terror und Ausbeutung bedroht und jetzt ging es hier in Deutschland, in dem für sie gelobten Land, genauso weiter wie in der Heimat und die meisten hatten ihre letzten Ersparnisse für die Flucht geopfert und standen jetzt vor dem Nichts mit keinerlei Besitz, außer dem, was sie am Leibe trugen. Diese Menschen waren ausgenutzt und betrogen worden, aber jetzt ging es ihnen eigentlich noch schlechter, denn sie würden gehen müssen in eine ungewisse Zukunft und der einzige der von diesem Leid profitiert hatte, war Winkler mit seinen Helfershelfern gewesen, die ein strenges Regiment geführt hatten, das auch vor Mord zur Abschreckung nicht zurück schreckte, wie die Videoaufnahmen bewiesen!


    Allerdings halfen diese Überlegungen leider in keinster Weise Ben zu finden, aber trotzdem machte Semir-auch weil er nicht wusste was er sonst tun sollte-einfach mit den polizeilichen Ermittlungen weiter und klapperte eine Adresse nach der anderen ab. Er ging in die Häuser, die Bordelle, die Wrestling-Trainingshallen, er befragte Mitarbeiter, Nutten-soweit die untertags schon im Dienst waren-Putzfrauen und Passanten. Er zeigte Ben´s Foto her, aber niemand hatte seinen Freund gesehen. Semir war ehrlich zu den Leuten-er teilte ihnen mit, soweit sie das noch nicht wussten, dass ihr Boss tot war und niemand sagen konnte, wie es weitergehen würde. Aber er versprach ihnen einen Bonus falls sie Hinweise auf Ben´s Aufenthaltsort geben konnten, aber niemand konnte ihm weiter helfen.
    Semir kaufte sich untertags in einer Apotheke extra ein Grippemittel und warf das gleich ein, damit er die Symptome nicht bemerkte, er trank Unmengen Kaffee und Tee an verschiedenen Imbissständen, um seine Halsschmerzen zu übertünchen und ihm war klar, dass er eigentlich ins Bett gehörte, aber er konnte jetzt nicht irgendwo rumliegen, während sein Freund vielleicht gerade von Estelle und ihren Helfershelfern gefoltert oder getötet wurde. Was wollte Estelle wohl von ihm? Das hatte er sich schon die ganze Zeit gefragt und der einzige Schluss, nachdem es nicht um Geld ging, war, dass sie seinen Körper wollte. Sie hatte mit ihm zu flirten versucht, aber Ben hatte sie im Urlaub abblitzen lassen, wie er sehr wohl bemerkt hatte. Estelle würde gemerkt haben, dass er sich ihr nicht freiwillig anschließen würde und hatte deshalb versucht seine Familie auszulöschen. Wenn sie danach dachte, dass Ben sich ihr freundlich zuwenden würde, dann war sie schief gewickelt und so hatte sie ihn vermutlich entführen lassen, um ihn zu besitzen. Aber dann musste er irgendwo gefangen gehalten werden-nur wo?


    Der Abend war schon herein gebrochen. Semir war mutlos und erschöpft und Andrea hatte schon mehrmals angerufen und ihn zu überreden versucht nach Hause zu kommen und sich ins Bett zu legen, aber diese eine Adresse würde er jetzt noch abklappern, bevor er Feierabend machte! Semir betrat das Bordell. Einige Damen näherten sich ihm mit aufreizenden Posen, aber als er seinen Polizeiausweis zückte, zogen sie sich schnell zurück. Allerdings sahen sich alle das Bild an, um kurz darauf den Kopf zu schütteln-nein diesen Mann hatten sie noch nie hier gesehen! Semir ließ sich zum Geschäftsführer bringen und zeigte auch dem das Bild. „Verdammt noch mal-wenn hier jetzt ständig die Polizei herum schnüffelt bleiben mir die Kunden weg-ihre Kollegen waren schließlich gestern auch schon da und haben sich umgesehen und die ganzen Leute durcheinander gebracht und nein diesen Typen kenne ich nicht!“ sagte er betont arrogant und irgendetwas ließ in Semir eine Alarmglocke läuten. Er konnte nicht sagen, was genau es war, aber das war eben sein berühmtes Bauchgefühl, das sich hier zu Wort meldete. Dieser Mann hatte etwas zu verbergen-fragte sich bloß was und ob das etwas mit Ben zu tun hatte! Allerdings konnte Semir alleine hier nichts ausrichten-es wimmelte nur so von kräftigen durchtrainierten Männern, die hinterm Tresen und in den Nebenräumen nach dem Rechten sahen. Entweder musste er jetzt die Kavallerie verständigen und sie mussten eine Razzia mit allem was dazu gehörte machen, oder er musste versuchen heimlich heraus zu finden, was dieser Typ so dringend verstecken wollte!
    Er verabschiedete sich deshalb pro forma und ging zu seinem Wagen, den er vor einem herunter gekommenen Mietshaus schräg gegenüber geparkt hatte. Er würde eine Querstraße weiter fahren und dann wiederkommen, nahm er sich fest vor, als plötzlich eine etwa siebzigjährige Frau in einer billigen Strickjacke über einer Kittelschürze vor ihm stand und unsicher fragte: „Sind sie von der Polizei?“ und Semir bejahte. „Ich habe heute Nacht eine merkwürdige Beobachtung gemacht und sehe es jetzt als Wink des Schicksals, dass sie gerade vor meiner Haustür geparkt haben. Den ganzen Tag überlege ich schon, ob das etwas zu bedeuten hat, aber wenn ich es ihnen jetzt erzählt habe, ist mein Gewissen beruhigt und ich kann wieder schlafen!“ sagte sie entschlossen und Semir bat sie auf den Beifahrersitz seines Fahrzeugs, denn es war immer noch bitter kalt und nun begann die alte Frau zu erzählen und Semir durchfuhr es wie einen elektrischen Stromstoß!


    Ben hatte den ganzen Tag in den Klauen des Beruhigungsmittels im Halbdämmer verbracht. Das Schlimme daran war, dass er sich zwar nicht wehren konnte und auch keinerlei Zeitgefühl hatte, er hatte auch keine Bedürfnisse, keinen Hunger und auch keinen Durst, aber der Schmerz war trotzdem da und tobte in Wellen in unverminderter Stärke in seinem Inneren. Die beiden Wrestler hatten, nachdem Estelle ausgeschlafen und Kaffee getrunken hatte, sogar versucht, ihm etwas zu essen und zu trinken einzuflößen, aber er hatte es wieder ausgespuckt-ihm war kotzübel und Hunger war sozusagen das Letzte was er verspürte. Estelle musterte ihn kritisch. Verdammt-der würde doch nicht schlapp machen? Sie hatte die vergangene Nacht sehr genossen und zwischen ihren Beinen kribbelte es schon nach der Wiederholung. Sie musste jetzt auch noch einen Entschluss fassen, was sie mit ihren Helfershelfern machen sollte, denn der Abend rückte näher. Einerseits hatte sie eigentlich nicht vor gehabt Ben zu teilen, andererseits waren das treue Helfer, die sich vielleicht auch ein paar nette Stunden verdient hatten. Wenn sie daran dachte mit wie vielen Männern und Frauen sie in ihrer Zeit im Bordell intim gewesen war, dann würde es vermutlich auch bei Ben nicht auf den einen oder anderen ankommen. Vielleicht sollte sie ihn doch ein paar Stunden abtreten, wenn er dann zu ihr zurück kam, würde er froh sein, wenn er nur ihr zu Diensten sein musste-ja genau so würde sie es machen. Allerdings sah der Gute gerade ziemlich unfit aus, aber eigentlich war ihr das egal-gut aussehen tat er trotzdem und sein perfekter Körper erregte sie und sie wollte ihn ja nicht lieben oder heiraten, sondern besitzen und quälen und so erhob sie sich, um den beiden Wrestlern die frohe Kunde mit zu teilen-sie konnten Ben haben-sie würde derweil ein Bad nehmen und sich der Schönheitspflege widmen und später-ja später war dann sie wieder dran und sie freute sich bereits wieder tierisch darauf!

  • Die alte Dame hatte Semir erzählt, wie sie vergangene Nacht durch ein Läuten an ihrer Wohnungstür erwacht war und dass sie beim anschließenden Blick aus dem Fenster einen nackten Mann in ihrem Hauseingang gesehen hatte, der wenig später von zwei bulligen Typen nieder geschlagen und weggeschleppt worden war. „Wissen sie-hier wird sicher viel gesoffen, aber warum sollte ein Betrunkener bei dieser Kälte nackt durch die Straßen rennen und noch dazu nach der Polizei rufen! Und dann hat es mich noch gestört, dass die beiden anderen Typen ihm erst eine verpasst haben, bevor sie ihn mitgenommen haben. Sowas macht man nicht mit einem Freund!“ erzählte sie empört und als Semir nun Ben´s Bild zückte und sie fragte, ob er der Nackte gewesen sein könnte, wiegte sie mit dem Kopf. „Ich kann es nicht genau sagen, weil ich in der Nacht natürlich das Gesicht nicht so genau gesehen habe, aber es wäre möglich. Es war auf jeden Fall ein schlanker Mann und er war wesentlich kleiner als die beiden anderen Typen!“ hatte sie zu berichten. Leider konnte sie nur sagen in welche Richtung die Männer mit Ben-denn inzwischen war Semir vollkommen überzeugt davon, dass es sein Freund gewesen war-verschwunden waren, aber nicht in welchen Hauseingang sie gegangen waren, oder ob sie ihn in ein Fahrzeug geladen hatten. Da hatte ein Lieferwagen gestanden, berichtete die Frau und daher hatte sie nicht sehen können, wo der Mann hingebracht wurde. „Sie haben uns sehr geholfen-dankeschön!“ sagte nun Semir und griff auch schon nach dem Funkgerät.
    „Cobra11 für Zentrale-ich brauche Verstärkung in die Bleriotstraße, ich habe eine Spur von Ben!“ sagte er in das Funkgerät und die alte Frau stieg nach erneuten Dankesbezeugungen seinerseits nun aus und ging langsam in ihre Wohnung zurück und nahm ihren Beobachtungsposten hinter dem Fenster wieder ein. Hier würde sich vermutlich bald was rühren und ihr langweiliges Leben ein wenig aufpeppen, außerdem war sie zutiefst mit sich zufrieden, dass sie nun ihrer Bürgerpflicht Genüge getan hatte.


    Semir stieg nun erneut aus und ging die Straße in die Richtung hinunter, die die alte Dame ihm gewiesen hatte. Tatsächlich stand da auch ein Behindertenbus mit allen Aufklebern und getönten Scheiben-das wäre ein treffliches Fahrzeug um damit einen Mann im Rollstuhl zu entführen-langsam passte alles zusammen und Semir hatte nun das Jagdfieber gepackt. Nur wo war sein Freund? Hier war ein Gebäude neben dem anderen, alle Eingänge und Hintereingänge waren verschlossen, wie er feststellte, als er von Haus zu Haus ging. Es war unwahrscheinlich dass Ben in seinem Zustand weit gekommen war, also musste sich der-wenn er denn nicht erneut weggebracht worden war- in nächster Nähe befinden, aber wo? Natürlich konnten sie jetzt mit einer Hundertschaft anrücken und systematisch alle Wohnungen im Umkreis durchsuchen, allerdings wären dann Estelle und ihre Helfershelfer gewarnt und diese Frau war unberechenbar. Semir traute ihr durchaus zu, dass sie Ben dann umbrachte, denn wenn sie ihn nicht haben konnte, dann sollte ihn keiner haben-so in etwa schätzte er ihre kranken Gedankengänge ein, denn wer würde sonst versuchen die Familie eines Menschen auszulöschen, in der Hoffnung ihn dann für sich zu gewinnen? So funktionierte das nicht, aber die eiskalte Winkler, die nicht besser war als ihr Mann, hegte da vermutlich andere Gedanken!


    Während Semir sich intensiv auf die Suche machte, hatte der Geschäftsführer des Clubs aus dem Fenster im ersten Stock gesehen und mit kurzen Worten seine Helfer alarmiert. „Da unten schnüffelt der kleine Bulle weiter herum-sorgt dafür, dass er nichts findet, oder zumindest so abgelenkt wird, dass Frau Winkler und ihre Freunde verschwinden können!“ gab er den Auftrag und wenig später schwärmte ein halbes Dutzend muskulöser und skrupelloser Männer aus, um sich um Semir zu kümmern, wovon der allerdings im Augenblick nichts mit bekam, zu angestrengt dachte er darüber nach, wo Ben wohl stecken könnte.


    Der dunkelhaarige Polizist war inzwischen wieder aus seinem Dämmerzustand erwacht. Er war schweissüberströmt und merkte, dass er Fieber hatte, aber aktuell waren die furchtbaren Flankenschmerzen etwas besser. Trotzdem fühlte er sich, als wäre sein Körper eine einzige große Wunde-irgendwie tat ihm fast jedes Körperteil weh, er hatte Hunger und Durst und große Sorgen, was die nächste Nacht bringen würde. „Na ist unser Lustknabe aus seinem Schönheitsschlaf erwacht und will mehr?“ fragte Estelle mit süffisantem Gesichtsausdruck, zog die Decke weg und musterte seinen Körper mit gierigen Blicken. Ben klemmte unwillkürlich die Beine zusammen, die ausnahmsweise nicht gefesselt waren-nur die Hände. Verdammt noch Mal-er befürchtete, die Geschehnisse des letzten Abends, die er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis streichen wollte, würden sich wiederholen! Aber es kam noch schlimmer, denn jetzt erhob Estelle ihre Stimme und rief: „Jungs-unser Gast ist erwacht-ich werde jetzt dann ein Bad nehmen und so lange gehört er euch-aber nichts kaputt machen, ich will auch noch meinen Spaß!“ und nun liefen über Ben´s Rücken die Schauer des Entsetzens. Das durfte nicht wahr sein-er würde doch hoffentlich jetzt sofort aus seinem Alptraum erwachen, aber stattdessen kamen nun mit breitem Grinsen die beiden Wrestler um die Ecke gebogen. Juhuu-es war so weit-der Augenblick, auf den sie sich seit dem Vortag freuten war nahe und so lösten sie die Handschellen und nahmen Ben mit in ihr Schlafzimmer und so sehr er auch um sich trat und sich zu wehren versuchte, gegen diese beiden Typen kam er nicht an!


    Semir war derweil sinnend vor einem der Häuser stehen geblieben. Winkler gehörte das Bordell-zumindest das Gebäude. Der Geschäftsführer hatte aufgeregt gewirkt, der wusste also etwas. Wenn die Verstärkung da war, würden sie ihn nochmals befragen, aber aktuell hatte Semir das Bauchgefühl, dass Ben erstens ganz in der Nähe war und zweitens ganz dringend seine Hilfe brauchte, er musste ihn nur noch finden! Die Typen hatten ihn nachts nicht in das Bordell geschleift, also war es unwahrscheinlich, dass er sich darin befand und der Geschäftsführer wusste sicher, dass sie ihm den Laden dicht machen würden, wenn er sich an der Entführung eines Polizisten beteiligte. Es musste also eines der umliegenden Gebäude sein und so griff er nochmals zum Handy und rief in der Zentrale an: „Susanne, auch wenn die Verstärkung schon unterwegs ist-versuche doch bitte heraus zu finden, ob Winkler außer dem Bordell noch weitere Wohnungen hier in der Nähe gehören!“ beauftragte er gerade die Sekretärin, da hörte er plötzlich direkt hinter sich ein verräterisches Geräusch und konnte sich in letzter Sekunde weg ducken. „Verdammt, ich werde angegriffen!“ rief er noch schnell, aber dann flog schon sein Handy davon und plötzlich war Semir von drei finster aussehenden Typen umringt, die ihn, die Hände zu Fäusten geballt, umstellten. „Na-Lust auf eine kleine Trainingseinheit?“ fragte der eine und holte auch schon aus, um Semir k.o. zu schlagen.

  • Susanne hatte atemlos am anderen Ende der Leitung gehört, wie Semir den Warnruf ausgestoßen hatte. Sofort ortete sie detailliert sein Handy und gab den Einsatzbefehl heraus: „An alle Einheiten, Beamter wird angegriffen bitte sofort zu Hilfe kommen!“ und alle Streifenwagen in der Nähe und auch Bonrath und Jenny, die gerade auf dem Weg zur Bleriotstraße waren, schalteten das Blaulicht zu und gingen aufs Gas. Semir allerdings hätte das nicht geholfen, wenn er nicht ein erfahrener Nahkämpfer gewesen wäre und auch immer im Training, so duckte er sich unter der Faust, die auf ihn eindrosch, durch und versuchte zwischen zwei der Muskelmänner durch zu schlüpfen. Damit hatten die allerdings gerechnet und schon packten ihn zwei Hände von hinten und versuchten ihn fest zu halten. Sie packten seine Arme und Semir blieb nun nichts anderes übrig, als sich mit den Beinen abzustoßen und die gegen zwei der Gegner als Waffen zu gebrauchen. Als er mit voller Wucht zu trat, hörte er bei einem seiner Widersacher den Kieferknochen splittern, das Blut schoss dem aus Mund und Nase und er ging zu Boden. Den anderen hatte er anscheinend nur gestreift, aber auch dennoch reichte sein Tritt, mit dem die Typen anscheinend nicht gerechnet hatten, aus, dass auch der einen Moment benommen zu wanken begann. Nun duckte sich Semir blitzschnell nach vorne und hebelte den wesentlich schwereren Mann, der ihn von hinten festhielt, mit einer Körpertäuschung aus und legte ihn mit einem klassischen Schulterwurf zu Boden. Dann zog er blitzschnell seine Waffe, legte die auf die drei Typen an und sagte drohend: „Keine Bewegung, wenn ihr nicht eine Kugel im Knie oder der Schulter haben wollt!“ und die drei sahen ihn hasserfüllt an, spuckten Blut oder hielten sich die Nase, aber keiner rührte sich.

    Semir sah aus den Augenwinkeln wie ein weiterer Mann zum nächsten Hauseingang lief und dort anscheinend nach einem bestimmten Muster auf eine Glocke drückte-da war sicher Ben versteckt und das Signal war als Warnung ausgemacht! Er musste jetzt sofort in den Gebäudekomplex und seinen Freund suchen, aber erstens wusste er nicht, wie viele Typen hier noch nur darauf warteten, ihn zu überwältigen und zweitens, wann endlich die Verstärkung eintraf. Ben schwebte in höchster Gefahr und er war der einzige, der ihn gerade retten konnte.
    Der andere Typ hatte inzwischen seine Warnung erledigt und sich dann wieder umgedreht, um nun langsam auf Semir zuzukommen und seinen Freunden zu Hilfe zu eilen. Semir sah dessen Hand zur Hüfte wandern-verdammt-der war bewaffnet und so blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn mit einem Schuss in die Schulter bewegungsunfähig zu machen. Die bereits gezückte Waffe flog ihm aus der Hand und er ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Semir überlegte verzweifelt, was er nun tun konnte, bis die Verstärkung anrückte-sein Bauchgefühl signalisierte ihm höchste Gefahr für Ben-Estelle war jetzt gewarnt und die skrupellose Frau würde sich an seinem Freund rächen, wenn er nichts unternahm! Er war mit zwei Schritten bei dem Typen, den er nieder geschossen hatte und brachte dessen Waffe an sich, als plötzlich aus dem einen Hauseingang die alte Dame von vorhin mit blitzenden Augen trat. „Junger Mann-ich glaube sie können meine Hilfe gebrauchen!“ rief sie und trat näher. Normalerweise würde Semir sicher keine Zivilisten einsetzen, um gefährliche Verbrecher in Schach zu halten, aber hier ging es um Ben und da musste man eben auf manche Regeln pfeifen! Er drückte ihr die Waffe des Angreifers in die Hand-die war schon entsichert und während er dem Unverletzten in Windeseile noch die Arme mit den Handschellen auf den Rücken band, sagte er: „Sie schickt der Himmel-meine Kollegen sind schon unterwegs-halten sie die Typen nur noch ein wenig in Schach und einfach abdrücken, wenn die Theater machen!“ und wie zum Beweis hörte man nun auch schon ein Martinshorn in der Ferne. Die alte Dame in Kittelschürze und Strickjacke hielt die Waffe mit beiden Händen fest und bedrohte damit die Verbrecher. Heute war der aufregendste Tag ihres Lebens und sie wollte den auf keinen Fall missen.
    Semir warf noch einen Blick über die Schulter zurück schnappte sich sein Handy, das immer noch auf dem Boden lag und wo am anderen Ende Susanne atemlos mitgehört hatte. „Susanne-ich habe hier eine tapfere Anwohnerin, die mir hilft Ben zu retten, die weiss, wo ich reingehe, schick mir bitte Verstärkung nach!“ bat er und schoss dann einfach den Nebeneingang auf, an dem der eine der Typen geläutet hatte.


    Als das Schloss barst, stand er in einem kleinen Innenhof und auf beiden Seiten waren Eingänge. Einen Moment überlegte er, welches der Gebäude wohl das Richtige war, aber dann rief er einfach laut: Ben-wo bist du?“ und hörte ihn dann nach einem Antwortruf schmerzerfüllt aufschreien und nun war klar, wo er hin musste. Die nächste Tür hielt seinem Angriff ebenfalls nicht stand und Sekunden später stand er in einer Wohnung und vor sich hatte er nun direkt Estelle, die in Windeseile aus der Badewanne gehüpft war, als das vereinbarte Klingelwarnsignal ertönt war, sich in ihre Alltagsklamotten geschmissen hatte und nun mit der Waffe losgezogen war, um Ben endgültig zu erledigen. Wenn sie ihn nicht haben konnte, dann sollte ihn niemand haben, vor allem nicht die blonde Frau mit den zwei Bälgern.
    Als sie angezogen war, hämmerte sie an die Schlafzimmertür der beiden Wrestler. „Wir müssen schnellstmöglich abhauen und unseren Gast erledige ich höchstpersönlich!“! rief sie und voller Bedauern ließ der eine der beiden, der sich gerade nackt in eindeutiger Absicht seinem ebenfalls unbekleideten Opfer genähert hatte, während der andere ihn festhielt, was Ben den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte, von ihm ab und die beiden fuhren fluchend in ihre Kleider. Ben lag zitternd auf dem Bett-er war gerade haarscharf einer Vergewaltigung entgangen und ihm war klar, dass Estelle keine Gnade kannte und ihn jetzt kaltblütig erschießen würde, wenn sie ihn in die Finger bekam. Von draußen ertönten Schüsse und er erkannte Semir´s Stimme, die seinen Namen rief. Er brüllte laut um Hilfe, aber bis er sich umsah, hatte der eine der beiden Wrestler ihm einen Faustschlag verpasst, der ihn die Englein singen hören ließ.


    Estelle wandte sich nun langsam um und da standen sie sich gegenüber-beide zum Äußersten entschlossen! Estelle, die vor Wut und Mordlust schäumte und Semir, der zwar immer noch schwer erkältet, aber voller Adrenalin, losgezogen war, seinen Freund zu retten. Dann ertönte ein Schuss und eine Gestalt sank zu Boden, während draußen die ersten Streifenwagen eintrafen und die Schlägertypen festnahmen.

  • Die beiden Wrestler sahen sich an. „Durchs Fenster!“ zischte der eine der beiden und schon machten sie sich am Fenstergriff zu schaffen. Estelle sollte jetzt sehen wo sie blieb, sie würden ihr Heil in der Flucht suchen und Ben lag völlig benommen auf dem Bett und würde ihnen nicht gefährlich werden. Der eine der beiden schwang sich hinaus und gerade wollte der zweite nachfolgen, da stürzte der kleine türkische Polizist in den Raum und hielt ihn von hinten fest. Allerdings hatte er seine Rechnung ohne den Profiwrestler gemacht, der Semir nun kalt lächelnd auf seinen Rücken nahm, dass seine Beine nur so zappelten. Mit lautem Brüllen begann sich der Koloss immer schneller zu drehen und Ben, der gerade wieder aus der kurzen Ohnmacht erwachte, die ihm der Schlag gegen sein Kinn beschert hatte, meinte einer leibhaftigen Wrestlingshow beizuwohnen, nur war das Alles leider bitterer Ernst und das kleine Männchen auf dem Rücken des riesigen Blonden war niemand anderer als sein Freund Semir, dem gerade begann schwindlig zu werden. Vor der offen stehenden Tür konnte er aus dem Augenwinkel ein Bündel Mensch am Boden sehen, das in einer Blutlache lag und befriedigt konstatierte er, dass Estelle anscheinend ihr Schicksal ereilt hatte.
    Oh Gott, was konnte er tun, um Semir zu helfen und mit fast übermenschlicher Anstrengung begann Ben sich hoch zu rappeln. Plötzlich nahm er erneut aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und voller Entsetzen sah er, dass Estelle beileibe nicht tot war, sondern anscheinend nur angeschossen und sich jetzt mit einer Waffe in der Hand aufgerichtet hatte und auf ihn zielte. „Ben pass auf!“ gellte nun auch Semir´s Schrei voller Panik und dann ertönte ein erneuter Schuss, der Semir´s Karussellfahrt ein plötzliches Ende bescherte, denn Ben hatte trotz seiner Verletzungen geistesgegenwärtig reagiert und sich zu Boden plumpsen lassen, so dass der Schuss statt dem vorgesehenen Ziel nun den Wrestler direkt ins Herz getroffen hatte, der nun noch einen Augenblick mit vor Erstaunen geweiteten Augen stehen blieb, Semir von seinem Rücken gleiten ließ und seine beiden Hände auf die Brust drückte, die sich mehr und mehr rot färbte, bevor er tot zusammen brach.


    Der zweite Wrestler war in genau dem Augenblick zurück gekommen, denn er würde nicht ohne die Liebe seines Lebens abhauen. Sie beide hatten sich ewige Treue bis in den Tod geschworen und so hatte er gerade wieder am Fenster einen Klimmzug gemacht, um zu sehen, wo sein Freund blieb. Estelle hatte sich inzwischen schwankend erhoben und schleppte sich nun Richtung Bett, nur getrieben von Hass und dem Plan, Ben zu töten. Semir tastete nach seiner Waffe, aber die war ihm bei der schnellen Drehung irgendwo aus der Hand gefallen und vermutlich unters Bett gerutscht, auf jeden Fall konnte er sie nicht entdecken. Der Wrestler sah seinen Lebensgefährten vor seinen Augen tot zusammen brechen und er war ab diesem Zeitpunkt nur noch eines-voller Wut auf die Mörderin seines Partners und so schwang er sich katzengleich-man hätte es ihm bei seiner Körpermasse nicht zugetraut-zurück ins Zimmer und war wie ein Schatten über Estelle. Die sah erstaunt hoch, denn gerade hatte sie unendlich langsam-immerhin war sie nach einem Schulterdurchschuss auch verletzt und hatte schon viel Blut verloren-ihre Waffe erneut durch geladen, da schlossen sich plötzlich zwei riesige Pranken um ihren Hals und drückten ihren Kehlkopf ein. Estelle ließ die Waffe fallen und während sie erst mühsam nach Luft ringend zu Boden sank, dann blau anlief und das Bewusstsein verlor, denn ihr konnte niemand mehr helfen, ließ der Wrestler von ihr ab, schloss seinen toten Freund in seine Arme und wiegte ihn wie ein Kind, während die Tränen wie Sturzbäche aus seinen Augen liefen.


    Semir hatte inzwischen Estelle´s Waffe an sich gebracht, aber von dem trauernden Koloss ging gerade keine Gefahr mehr aus und so robbte er jetzt seinerseits zu Ben, der zitternd und splitterfasernackt auf dem Boden kauerte und schloss den nun in seine Arme und so fanden sie wenig später Jenni und Bonrath, die von der alten Dame in die richtige Richtung gewiesen worden waren. Jenni reagierte sofort und zog eine Zudecke über Ben, aber der lag nun völlig fertig in Semir´s Armen und während die kalte Nachtluft durchs offene Fenster herein flutete, hörte man schon in der Ferne die Sirenen der Rettungswagen näher kommen.
    Mehrere Streifenwagen hatten inzwischen die Schlägertypen draußen fest genommen, die Chefin kam-sofort von Susanne alarmiert- gerade direkt von zu Hause zum Tatort und geistesgegenwärtig griff sie zum Telefon und rief Sarah an, die den gefühlt schrecklichsten Tag ihres Lebens voller Sorge hinter sich hatte. „Frau Jäger-Sarah-wir haben ihn-er lebt und wird nachher sicher vom Notarzt zurück in die Uniklinik gebracht!“ sprach sie ins Telefon und nun bekam Sarah am anderen Ende, die bei Hildegard auf der Couch gesessen hatte und vergeblich in den Fernseher geglotzt hatte, um sich abzulenken, erst einmal einen Weinkrampf und stammelte: „Ich komme sofort!“ bevor sie nun ihrerseits Hildegard in die Arme schloss und ihr die frohe Kunde berichtete.
    Als die Rettungskräfte eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Grauens mit zwei Toten und einem Verletzten in dem Zimmer, aber dann wurde das Fenster geschlossen, der Wrestler von mehreren stämmigen Polizisten abgeführt und man scheuchte alle außer Semir hinaus, um Ben erstversorgen zu können, der sich wie ein Ertrinkender an seinem besten Freund fest hielt.

  • Der Notarzt beugte sich freundlich über den jungen Polizisten, der zitternd in die Decke gehüllt in Semir´s Armen lag. „Ich bin Dr. Gollhofer und möchte sie gerne kurz untersuchen, bevor wir sie in die Klinik bringen, wie heißen sie denn?“ fragte er, denn das war die einfachste Möglichkeit, den Bewusstheitszustand eines Patienten festzustellen und ein gewisses Vertrauensverhältnis herzustellen, gerade wenn man keine Ahnung hatte wie schwer der Patient verletzt war. Dieses Zimmer hier war voller Blut und die Emotionen standen regelrecht in der Luft, außerdem lagen hier zwei Leichen herum, denen keiner mehr helfen konnte, wie der Notarzt bei einer kurzen Routineuntersuchung der Körper festgestellt hatte.


    Er wusste zunächst auch gar nicht, ob er einen oder zwei Patienten hatte, aber aus den Gesprächen der anderen Polizisten hatte er geschlossen, dass der kleinere Mann ein Freund und Kollege des zweiten war, der anscheinend entführt worden war. Statt einer Antwort wandte Ben den Kopf weg und sagte keinen Ton, dafür füllten sich seine Augen mit Tränen. Ihm war gerade alles zu viel, wenn er nur daran dachte, dass fremde Menschen ihn jetzt ansehen und anfassen würden, dann würde er am liebsten unters Bett kriechen und sich für alle Zeiten verbergen, denn er war schließlich gerade noch einer handfesten Vergewaltigung entgangen und die Angst davor schnürte ihm noch immer die Kehle zu, obwohl ihm seine Peiniger nun alle miteinander nicht mehr gefährlich werden konnten, wie sein Verstand ihm wohl sagte.
    Semir merkte, wie sich Ben´s Körper verkrampfte als der Notarzt die Hand ausstreckte und unendlich sanft sagte er zu seinem Freund: „Ben-du musst keine Angst mehr haben, dir geschieht nichts. Ich werde auf dich aufpassen und lass dich nicht alleine. Komm lass dich vom Arzt untersuchen und dann bringen wir dich in die Klinik, wo Sarah sicher schon auf dich wartet!“ erklärte er und nach einer Weile, in der es in Ben´s Kopf sichtlich arbeitete, währenddessen sich aber der Arzt und die beiden Sanitäter bewusst passiv verhielten, nickte er und ließ es zu, dass man ihn aufs Bett hob. Allerdings klammerte er sich an der Decke fest, als wäre sie das einzige Bannwerk gegen die schlimme Welt da draußen und rein gefühlsmäßig hätte der Notarzt gesagt, dass er hier ein Vergewaltigungsopfer vor sich hatte, was ihn noch doppelt einfühlsam und vorsichtig vorgehen ließ.
    Es war hier und jetzt nicht notwendig den Patienten eingehend zu untersuchen-den Rest konnte man in der Klinik machen, vielleicht auch unter dem Einfluss eines Beruhigungsmittels. Er musste sich lediglich einen groben Überblick verschaffen, etwaige lebensbedrohliche Situationen erkennen und behandeln, den Patienten mit Flüssigkeit und Schmerzmitteln wenn nötig versorgen und dann den schonenden Transport in die Klinik anstreben. So leuchtete er ihm in die Augen, betastete grob den Kopf und Hals, besah sich die Schulterwunde, die laienhaft verbunden war, was man aber für den Augenblick lassen konnte, er würde aber einen Stützverband anbringen, denn er sah, wie jede Bewegung des Arms dem jungen Mann die Tränen in die Augen trieb.

    Nachdem Ben nichts sagte, hatte Semir, der jetzt neben ihm auf dem Bett saß und ihn die ganze Zeit nicht los ließ, die Aufgabe des Wortführers ergriffen und dem Notarzt, dessen Augen sich bei den Erzählungen weiteten, erklärt, was für Operationen und Anschläge Ben in den letzten eineinhalb Wochen überstanden hatte. Man richtete Ben vorsichtig auf, legte den Schulterstützverband an und weil der liegende Zugang anscheinend noch ganz in Ordnung war, brauchte man Ben auch nicht von neuem pieken, sondern schloss die Infusion an das Schläuchlein an, denn der junge Mann war völlig ausgetrocknet und seine Hautfalten konnte man abheben, was ein Alarmsignal war. Der elastisch gewickelte Verband am rechten Bein war unten schmutzig, aber man beließ ihn und nach kurzem Abtasten stellte der Arzt fest, dass die Osteosynthese wohl noch in Ordnung war, obwohl man sehen konnte, auch an der schmutzigen zweiten Fußsohle, dass Ben durchaus draußen darauf gelaufen war. Auch Semir hatte das wahr genommen und ihn schauderte, wenn er daran dachte, wie verzweifelt Ben gewesen sein musste, als er am Vorabend splitterfasernackt zu fliehen versucht hatte.


    Inzwischen hatte einer der Sanitäter Überwachungselektroden angebracht und eine Blutdruckmanschette um den gesunden Oberarm geschlungen. Der Herzschlag war regelmäßig, aber viel zu schnell, Ben fühlte sich warm an und das Thermometer im Ohr zeigte 39°C an. Der Blutdruck war grenzwertig niedrig und deshalb hielt sich der Notarzt nun aktuell mit Schmerzmedikation doch zurück. „Wenn es gar nicht geht, sagen sie es, aber ich würde mit Schmerzmitteln gerne ein wenig warten, bis sich der Kreislauf stabilisiert hat!“ sagte er und Ben nickte leicht zum Zeichen dass er verstanden hatte.
    Bis zum Bauchnabel durfte der Notarzt Ben noch abtasten und stellte auch eine Abwehrspannung in der linken Flanke fest, aber dann hielt der junge Mann die Decke mit der Hand und den Knien dermaßen fest, dass der Arzt auf eine eingehendere Untersuchung verzichtete. Es liefen keine großen Blutmengen irgendwo heraus und jetzt würde man in die Klinik fahren und denen dann die weitere Versorgung übertragen. Man hob Ben also auf die Trage, legte über die Decke aus dem Zimmer noch eine weitere, denn die Dreikönigsnacht war eiskalt und als man ihn fest geschnallt hatte, fuhr und trug man die Trage hinaus zum Rettungswagen, aber Semir der inzwischen selber ganz wacklig auf den Beinen war und vom Notarzt unauffällig gestützt wurde, ließ seinen Freund nicht los. Eine ganze Menschentraube wartete draußen, auch Hartmut, den es bei den aktuellen Nachrichten nicht mehr zuhause gehalten hatte und der mit dem Taxi gekommen war, um seine Kollegen zu unterstützen.
    „Alles Gute Ben und werd schnell wieder gesund!“ sagte Hartmut sozusagen als Wortführer und alle waren entsetzt mit welch unendlicher Müdigkeit ihr Kollege den Blick erwiderte, bevor er erschöpft die Augen schloss.
    „Oh Gott-ich will gar nicht wissen, was dem alles zugestoßen ist!“ sagte Jenni leise und atmete dann tief durch, um jetzt den Tatort gemeinsam mit dem inzwischen eingetroffenen Gerichtsmediziner wieder zu betreten. Die Polizeiroutine lief an, die verletzten Schlägertypen wurden ebenfalls in eine Klinik zur Erstversorgung gebracht, bevor man sie in ein Gefängniskrankenhaus überführen würde und die Chefin hatte sich den Wrestler sozusagen zum Verhör reservieren lassen, das dann in Ossendorf im Untersuchungsgefängnis stattfinden würde, aber dieser Type würde sie persönlich auf den Zahn fühlen, immerhin ging es bei diesem Fall um einen ihrer Männer!


    Bonrath hatte inzwischen die alte Dame in ihre Wohnung zurück gebracht und war sehr froh gewesen, als er die entsicherte Waffe aus ihrer Hand geborgen hatte, ohne dass die los gegangen war. Puh, die war wirklich zu allem entschlossen gewesen, aber so wie es aussah, hatte sie mit dafür gesorgt, dass Ben gerettet werden konnte und so lobte er sie zunächst unendlich, bevor er ihre Aussage aufnahm. Die alte Dame zitterte zwar wegen der Kälte, aber ansonsten blitzten ihre Augen und sie hatte den Tag ihres Lebens erlebt. Hier im Viertel war sie sich des Respekts der Anwohner sicher und würde auch nicht weg ziehen, so viel war sicher!


    Hartmut war zwar noch gehandikapt, aber sein ebenfalls inzwischen eingetroffener Kollege der Spurensicherung, der Bereitschaft hatte, war sozusagen sein ausführendes Organ und nachdem sie Fotos vom Tatort gemacht hatten, überließen sie dem Pathologen das Terrain im einen Schlafzimmer und sahen sich in der restlichen Wohnung um, um zu rekonstruieren, wie der vergangene Tag abgelaufen war. Als Hartmut in Estelle´s Schlafzimmer das Tischchen mit dem eindeutig benutzten Sexspielzeug entdeckte, musste er schlucken-er befürchtete, dass er jetzt wusste, warum Ben so schlimm ausgesehen hatte. Mein Gott-hoffentlich würde er mit Hilfe seiner Familie und seiner Freunde darüber hinweg kommen!

  • Der Rettungswagen näherte sich der Uniklinik, ohne dass Ben auch nur ein Wort gesprochen hatte. Er lag mit geschlossenen Augen auf der Trage, Semir saß angeschnallt auf dem Sitz daneben und ließ immer seine Hand auf seinem Freund ruhen, um ihm Nähe und Beistand zu signalisieren. Der Notarzt beobachtete Ben´s Monitor und sagte dann freundlich zu Semir, der immer wieder hustete und nach einem Papiertaschentuch griff: „Sie sollten auch zusehen, dass sie ins Bett kommen-ich denke mit ihrer Erkältung gehören sie eigentlich nicht auf die Straße!“ und Semir nickte zwar, sagte dann aber leise. „Wie könnte ich mich da entspannt ausruhen, wenn ich weiss, dass mein bester Freund entführt wurde und wie man sieht, hat sich meine Suche ja auch rentiert!“ bemerkte er und Ben öffnete jetzt mühsam die Augen und sagte nur ein Wort: „Danke!“ bevor er sich wieder in sich selber zurück zog.


    Kaum war der RTW an der Uniklinik rückwärts an die Rampe gefahren und der Beifahrer hatte die hinteren Türen geöffnet, da stand Sarah auch schon im Fahrzeug. Hysterisch schluchzend fiel sie Ben um den Hals. „Schatz, weil du nur wieder da bist! Wie geht es dir und wo warst du versteckt!“ fragte sie, aber anstatt irgend eine Geste in ihre Richtung zu machen erschauerte Ben und lag stumm und steif da wie ein Brett. Semir hatte den taktilen Kontakt gelöst-er wollte kein Fremdkörper zwischen den Eheleuten sein, aber er merkte noch während er schon mal ausstieg, dass da irgendetwas in der Beziehung zwischen Sarah und seinem Freund nicht passte, aber was war das nur? Sarah, die das natürlich ebenfalls sofort spürte, sagte alarmiert: „Ben was hast du?“ aber von dem kam keine Antwort, sondern er hielt die Augen fest geschlossen und versteifte sich zusehends. Auch die Herzfrequenz am Monitor stieg an und er wandte den Kopf zur Seite, während seine Augen sich mit Tränen füllten. Sarah starrte ihn entsetzt an, bevor sie sich aufschluchzend umdrehte und aus der Parkgarage floh. Der Notarzt griff nun ein und sagte ruhig: „Wir bringen ihn jetzt in einen Behandlungsraum und momentan sind alle Besuche untersagt!“ und die Sanitäter erledigten den Auftrag.


    Sarah hatte im selben Moment, als sie so überreagierte schon ein schlechtes Gewissen, aber sie war so froh gewesen, als sie die gute Nachricht erhalten hatte, dass Ben befreit war, dass sie ohne viel nachzudenken in das Krankenhaus geeilt war, das sie seit Jahren als Arbeitsstätte hatte und dessen Lokalitäten und Abläufe sie deshalb kannte. Normalerweise wären Besucher nie in diesen Bereich der Notaufnahme gelangt, wo die Liegendkranken und echten Notfälle angeliefert wurden, aber Sarah legte als langjähriger Mitarbeiterin niemand einen Stein in den Weg. Umso mehr traf es sie, als sie nun weggeschickt wurde-und zwar doppelt! Einerseits vom Notarzt, aber dann eben auch von Ben-zumindest hatte es sich so angefühlt. Seitdem sie zusammen waren-und das waren inzwischen doch schon ein paar Jahre-war dieses tiefe Band der Liebe und der Vertrautheit zwischen ihnen noch nie gerissen, aber heute war Ben so anders-so komisch-so abweisend, obwohl er körperlich gar nicht so megaschlecht war, wie sie in den paar Sekunden im RTW am Monitor gesehen hatte. Klar war er noch krank, aber sie ging beruflich mit wesentlich kritischer kranken Menschen um. Sie war sich sicher, er würde auch das hier überstehen, wie so vieles, das er schon überstanden hatte, aber warum hatte er sich so steif gemacht und abgewandt, als sie ihn berührt hatte-sie hatte doch gar nichts verbrochen? Sarah zermarterte sich den Kopf, ob sie am Vortag etwas Unpassendes gesagt oder getan hatte, nachdem sie ihn angezogen und seine Sachen gebracht hatte, unmittelbar bevor er entführt worden war. War er da sauer gewesen, dass sie nicht bei ihm geblieben war, sondern wieder zurück ins Haus gefahren warum zu lüften und die Wäsche zu waschen? Fühlte er sich zurück gesetzt, weil sie die ganzen Alltagsdinge vor ihn gestellt hatte? Aber er hatte doch seinen Vater zum Unterhalten gehabt-das konnte ja sie nicht wissen, dass der den halben Nachmittag in der Physiotherapie verbringen würde! Einerseits war jetzt ihr Herz voller Kummer und andererseits war sie auch ein wenig pikiert. Was sollte dieses Theater?


    Semir, der Sarah regelrecht hatte fliehen sehen, hatte einen Ansatz gemacht, um Ben in das Behandlungszimmer zu folgen, aber der Sanitäter hatte sich ihm unmissverständlich in den Weg gestellt. „Arztanordnung ist Arztanordnung-warten sie draußen, wir holen sie herein, wenn die Erstversorgung abgeschlossen ist!“ sagte er und straffte seinen Rücken. Semir hätte normalerweise vielleicht protestiert, aber im Augenblick hatte er keine Kraft zum Kämpfen mehr, sondern wankte, mehr als er ging zu den Besucherstühlen vor der Notaufnahme, wo er niedersank, bevor es ihm von selber die Füße weg zog.

  • Ben wurde inzwischen vom Notarzt an den behandelnden Notaufnahmearzt übergeben. Zufällig war das derselbe, der ihn nach seiner Verlegung aus Innsbruck aufgenommen hatte, der hatte sich auch gleich die Akte auf den Monitor geholt und deswegen musste der Notarzt auch keine komplette Übergabe machen, sondern konnte sich auf die Maßnahmen beschränken, die er in der letzten Stunde ergriffen hatte. „Wir haben Herrn Jäger wach und ansprechbar in einer geheizten Wohnung auf dem Boden vor dem Bett liegend aufgefunden. In dem Zimmer sah es aus wie in einem Schlachtfeld und es lagen zwei Tote, ein Mann und eine Frau darin. Sein Freund und Kollege, Herr Gerkhan, der übrigens draußen sitzt, war bei ihm, er war bei unserem Eintreffen unbekleidet und nur mit einer Decke zugedeckt, die er jetzt nicht mehr hergeben will!“ sagte er und die beiden Ärzte wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
    „Ich habe ihn grob orientierend untersucht, er hat Fieber, ist ausgetrocknet und hat einen linksseitigen Flankenschmerz. Die operierte Schulter haben wir erst wieder in einen Stützverband gesteckt, der fehlte- und der Verband am rechten Bein ist schmutzig, genauso wie die linke Fußsohle, so dass man davon ausgehen muss, dass er auf die Osteosynthese aufgetreten ist, aber ansonsten habe ich keine schwereren Verletzungen feststellen können.“ referierte er. „Die Decke haben wir ihm gelassen, das konnte ich vertreten und er hat noch eine frische Prellung am Kinn, als wäre er da kurz zuvor bewusstlos geschlagen geworden, aber wie gesagt, er war bei unserem Eintreffen bereits wieder wach und soweit beurteilbar orientiert.“ beendete er die Übergabe und währenddessen hatte alle mit angefasst und Ben direkt in ein bereitstehendes Krankenhausbett gelegt. Die Decke der Sanitäter hatte man ihm abgenommen, aber immer noch klammerte er sich mit der rechten Hand verzweifelt an der großen Zudecke aus der Wohnung fest. Der Notarzt brauchte nicht näher darauf eingehen, denn der Aufnahmearzt hatte ihm bereits zugeflüstert: „Verdacht auf sexuellen Missbrauch?“ und der zuliefernde Doktor hatte kurz genickt. „Alles Gute und gute Besserung!“ wünschte nun der Notarzt seinem Patienten noch und verließ dann mit den beiden Sanitätern den Behandlungsraum, in dem jetzt nur der Aufnahmearzt und ein junger Pfleger bei Ben zurück blieben.

    „Herr Jäger, ich würde sie jetzt gerne komplett durch untersuchen, damit wir nichts übersehen. Wir werden Blut abnehmen und uns den Bauch im Ultraschall ansehen. Nachdem mein Kollege gemeint hat, sie wären auf das operierte Bein aufgetreten, möchte ich davon gerne eine Röntgenaufnahme!“ erklärte er und Ben nickte. Ihm war klar, dass er jetzt die Aufnahmeprozedur hinter sich bringen musste, aber dann wollte er nur noch seine Ruhe haben, in ein stilles Zimmer gebracht werden und sich die Decke über den Kopf ziehen, um den schrecklichen letzten Tag zu vergessen. „Wie geht’s denn gerade mit den Schmerzen?“ fragte der Arzt und Ben horchte in sich hinein. „Die Schulter tut weh!“ flüsterte er, aber ansonsten wurde er gerade von einem eher dumpfen Ganzkörperschmerz beherrscht, der allerdings erträglich war. Der erste Liter Infusion war inzwischen in ihn getropft und sein Durstgefühl hatte schon ein wenig nachgelassen und so streckte er bereitwillig den Arm aus, als er dort von dem Arzt gepiekt wurde und der erst Blut abnahm und bei der Gelegenheit gleich einen neuen Zugang legte. „Der andere ist bereits ein wenig gerötet, den machen wir raus!“ beschloss der Arzt und der Pfleger erledigte das auch gleich, nachdem er die Blutprobe ins Labor geschickt hatte. Er nahm zwei zusätzliche Röhrchen ab, weil er schon so seine Hintergedanken hatte.


    Die weitere Untersuchung begann mit dem Kopf, aber es bestand kein Verdacht auf eine Schädel- oder Halswirbelverletzung. Man zog Ben den Schulterverband vorübergehend wieder aus, was ihm nun doch einen scharfen Schmerzenslaut entlockte und entfernte alle Klebepflaster und den provisorischen Verband, den der Wrestler ihm angelegt hatte. „Sobald die ersten Laborwerte da sind bekommen sie etwas gegen die Schmerzen!“ tröstete ihn der Arzt und warf einen Blick auf den Monitor, an den man Ben gehängt hatte. Die Herzfrequenz begann langsam durch die Flüssigkeit zu sinken und der Blutdruck war zwar nur bei 100/70 mm/Hg, aber das genügte, um im Bett zu liegen und bedurfte keiner weiteren Maßnahmen. Auch der Beinverband wurde nun abgewickelt und der Arzt bewegte passiv das Bein und den Fuß durch und inspizierte nach dem Entfernen der Pflaster die Wunden, die aber gut aussahen. „Sind sie da voll aufgetreten?“ wollte er dann wissen, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich habe letzte Nacht versucht zu fliehen, aber ich bin mehr auf dem gesunden Bein gehüpft!“ gab er Auskunft und das erklärte auch die paar schmutzigen oberflächlichen Schürfungen an den Händen und am linken Knie.
    Bevor er nun weiter machte, trat der Arzt an den Monitor und tatsächlich-die ersten Laborwerte waren da und Ben war zwar ausgetrocknet, das Blut war noch dickflüssig und die Leber- und Nierenwerte leicht erhöht, aber er konnte trotzdem was gegen die Schmerzen haben. Man gab ihm Metamizol in die Infusion und stellte die wieder sehr schnell, um das Flüssigkeitsdefizit auszugleichen. Der junge Pfleger hatte rasch und geschickt die Operationswunden desinfiziert und mit neuen Klebepflastern versorgt. „An der Schulter müssen wir gut kühlen-da hatten sie bei ihrer Entführung noch eine Drainage liegen, die unsachgemäß entfernt wurde!“ erklärte der Arzt, denn da war ein lokaler Bluterguss und eine ziemliche Schwellung im Gewebe. Allerdings ließ nun der Schmerz durch die Wirkung des Novalgins bereits nach und Ben sagte leise: „Die haben mir was gespritzt, ich kann mich daran nicht mehr genau erinnern!“ und nun zog der Arzt das Ultraschallgerät näher und setzte sich einfach an den Bettrand. Das entsprach zwar nicht ganz den Hygienestandards, aber erstens waren das Bett und auch die Arzthose frisch und zweitens war jetzt ein einfühlsames Vorgehen wichtig.


    „Herr Jäger-ich denke ich weiss, warum sie diese Decke hier so verzweifelt fest halten. Glauben sie mir, ich habe-wie sie als Polizist vermutlich auch-schon öfters Opfer sexueller Gewalt erlebt und sie passen mir nur zu gut in dieses Schema. Drum frage ich sie jetzt: Wurde ihnen etwas angetan?“ fragte er und Ben wurde jetzt abwechselnd rot und blass, bevor er mit unendlich müdem Gesichtsausdruck langsam nickte. „Wollen sie mir davon erzählen?“ fragte der Arzt, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich will es nur vergessen!“ flüsterte er dann. Der Arzt behielt die Antwort, die ihm dazu einfiel für den Augenblick für sich-es würde so nicht funktionieren, aber das würde man später mit Hilfe eines Psychologen aufarbeiten-seine Aufgabe war es, die körperlichen Verletzungen und die Folgen einzuschätzen und zu behandeln. „Darf ich mir jetzt ihren Bauch und ihren Unterkörper kurz ansehen? Ich verspreche auch sehr vorsichtig zu sein?“ fragte er und schlüpfte möglichst unauffällig in Einmalhandschuhe. Der Pfleger kramte in einer Ecke des Behandlungszimmers herum. Dies hier war ein sehr intimer Moment zwischen Arzt und Patient, da musste er sich zurück halten und vor allem darauf achten, dass niemand zur Türe herein kam. Sehr langsam schob der Arzt nun zuerst die Decke ein wenig herunter, um zunächst mit geübten Griffen Ben´s Bauch abzutasten. Er erneuerte auch die Klebepflaster die von der Gefäßop noch auf ihm klebten. Der linksseitige Flankenschmerz war zwar noch da, aber im Augenblick nicht imponierend. Allerdings hielt Ben nun die Luft an, als der Arzt ruhig, aber bestimmt die Zudecke noch ein Stück weiter nach unten schob und seine Genitalien betrachtete. Die waren zwar geschwollen, aber auf den ersten Blick konnte der Arzt keine imponierenden schweren Verletzungen entdecken. „Wie lange ist der Missbrauch her?“ fragte er ruhig, ohne auf nähere Details einzugehen. „Letzte Nacht!“ flüsterte er tonlos. „Mann oder Frau, oder beide?“ fragte der Arzt, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte. „Frau!“ krächzte Ben hervor und kam sich in derselben Sekunde absolut minderwertig vor. Der Arzt würde sich vermutlich ausschütten vor Lachen, sowas hatte er sicher noch nie gehört, dass ein gestandenes Mannsbild von einer schwachen Frau vergewaltigt worden war und er konnte es sich aktuell auch fast selber nicht vorstellen, dass es ihm nicht gelungen war, sich zu wehren. „Kam es zur Penetration und wurde ein Kondom benutzt?“ fragte der Arzt, während er seine Tastuntersuchung beendete und rasch die Decke wieder nach oben schob, um daraufhin Ben´s Bauch mit Ultraschallgel dick einzukleistern. Er hatte eine kleine Einstichstelle entdeckt und konnte sich vorstellen, was geschehen war. „Kein Kondom und ja.“ antwortete Ben mit brüchiger Stimme und der Arzt nickte und besah sich das Innere des Bauchs jetzt auf dem Sonographiegerät. Er konnte ein wenig freie Flüssigkeit entdecken, was aber nach der vergangenen Operation erklärlich war und so wischte er Ben wieder sauber und deckte ihn komplett zu, was dem einen Seufzer der Erleichterung entlockte.


    „Herr Jäger-der Vollständigkeit halber möchten wir sie noch kurz umdrehen!“ sagt er und nickte dem Pfleger zu, der näher trat und mit anpackte. Kurz wurde die Decke wieder zur Seite geschoben, aber auch an Ben´s Po waren keine äußerlich erkennbaren schweren Verletzungen zu sehen, außer der Dammwunde und minimalen Schleimhauteinrissen, die aber nicht bluteten. „Haben sie nach dem Vorfall schon einmal Wasser gelassen?“ fragte nun der Arzt und Ben nickte. Die Blase war inzwischen wieder teilweise gefüllt, wie der Doktor am Ultraschall gesehen hatte. „Normalerweise würden wir jetzt die Kriminalpolizei zuziehen und eine Spurensicherung mit Abstrichen vornehmen lassen, damit die Täterin überführt werden kann, aber sie sind selber Polizist und müssen mir sagen, ob sie Anzeige erstatten wollen oder nicht, das ist ihre Entscheidung!“ sagte der Arzt und Ben schüttelte heftig den Kopf. „Die Täterin ist tot, ich möchte nicht, dass das irgendwer erfährt, auch oder vor allem meine Frau nicht!“ sagte er mit bereits wieder ein wenig festerer Stimme. Der Arzt nickte und erklärte zustimmend: „Das ist mir persönlich völlig egal, wem sie sich offenbaren, ich würde ihnen auf jeden Fall ein Gespräch mit einem spezialisierten Psychologen empfehlen, aber ich kümmere mich hier um die körperlichen Belange und falls das mit dem Wasser lassen klappt, brauchen wir auch keinen Katheter oder weitere invasive Eingriffe. Wir werden noch ein paar Röntgenaufnahmen machen, ich empfehle ihnen eine HIV-Prophylaxe in Tablettenform und die antibiotische Therapie, die sie bis gestern hatten, würden wir einfach weiter führen, dann müsste das Fieber auch wieder herunter gehen. Gegen Hepatitis B sind sie geimpft, wie ich den Unterlagen entnehmen kann, das ist schon mal sehr gut. Sie können von mir aus auf die Normalstation, Intensivüberwachung ist keine notwendig und wenn sie zunehmend Schmerzen bekommen, oder etwas auffällig ist, melden sie sich. Außerdem unterliege ich-wie übrigens jeder hier im Hause- der Schweigepflicht und wenn sie uns eine Auskunftssperre erteilen, dann erfährt niemand etwas von diesen Diagnosen!“ teilte er noch mit und Ben, dem langsam leichter ums Herz wurde, bedankte sich.
    „Ich möchte aber gerne in ein Einzelzimmer und können sie mir nicht etwas zum Schlafen geben, damit ich zur Ruhe kommen kann?“ fragte er und der Arzt sah ihn merkwürdig an. „Das lässt sich machen!“ gab er Bescheid und nachdem Ben mit einem Schluck Wasser noch die Tabletten eingenommen hatte, gab der Doktor die Röntgenanforderung ein und organisierte das Einzelzimmer. So hatte Ben, als er wenig später aus dem Behandlungsraum zum Röntgen gefahren wurde die Augen geschlossen und als Sarah und Semir, die voller Bangen gewartet hatten, sich regelrecht auf ihn stürzten, sagte der Arzt weisungsgemäß: „Er kommt jetzt noch zum Röntgen und dann auf die Normalstation in ein Einzelzimmer er hat von uns aber etwas zum Schlafen bekommen und braucht einfach nur seine Ruhe!“ und nun sahen sich Sarah und Semir unsicher an. Was hatte das alles zu bedeuten? Aber so folgten sie langsam dem Bett und waren beide etwas verwirrt.

  • Nachdem die Röntgenbilder angefertigt waren, sah sie sich der Röntgenologe kurz an und verglich sie am PC mit den Voraufnahmen. „Es ist soweit alles in Ordnung-die Belastung hat sich nicht nachteilig ausgewirkt!“ teilte er Sarah, Semir und Ben mit, den man nach dem Röntgen bereits wieder mit dem Rollbrett ins Bett gezogen hatte. Ben hielt die Augen fest geschlossen und tat so, als ob er schlafen würde. Er bemühte sich seinen Atem ruhig fließen zu lassen, um nicht aufzufallen, er wollte jetzt alles, nur nicht Rede und Antwort stehen, denn er wusste einfach nicht, wie er sich Sarah gegenüber verhalten sollte. Die merkte die Distanziertheit und konnte damit nichts anfangen und Semir fühlte zwar die Spannungen in der Luft, konnte sich aber nicht erklären, wie die zustande kamen und außerdem bemerkte er jetzt selber, dass bei ihm einfach die Luft raus war und die Grippe ihn an die Kante brachte. Es wurde ihm abwechselnd heiß und kalt und als er wie ein Dackel Ben´s Bett gefolgt war, das man nach dem Röntgen auf die chirurgische Normalstation brachte und in ein Einzelzimmer schob, musste er sich am Türrahmen festhalten, sonst wäre er umgefallen. Sarah bemerkte es und fasste ihn erschrocken unter: „Semir was ist mit dir?“ fragte sie und nun öffnete sogar Ben für einen kurzen Augenblick die Augen. Semir winkte ab, „Es geht schon wieder!“ krächzte er, aber sein Aussehen strafte die Aussage Lügen. Nun ergriff Ben mit müder Stimme das Wort. „Sarah-bitte bring Semir nach Hause und leg dich dann auch hin, entweder bei Hildegard oder daheim. Mir geht es schon so einigermaßen, ich will jetzt einfach nur schlafen, ich kann mich nicht mehr wach halten!“ sagte er und nach kurzem Zögern stimmte Sarah zu, denn sie machte sich jetzt wirklich Sorgen um Semir, der schon wieder zu Schwanken begann. „Soll ich nicht danach wieder kommen und mir ein Zustellbett reinstellen lassen?“ fragte sie, aber Ben schüttelte nur den Kopf, um dann die Augen wieder zu schließen und einen tief Schlafenden zu simulieren.

    Einerseits beruhigt, dass es Ben nicht allzu schlecht zu gehen schien, dann besorgt um Semir und doch wieder beunruhigt, weil eine greifbare Spannung in der Luft lag, machte Sarah als gute Krankenschwester dann doch das Naheliegende. Erst gab sie Ben zum Abschied einen zarten Kuss auf die Stirn, den der aber nicht erwiderte, sondern so tat, als wäre er bereits wieder weggetreten. „Gute Nacht und schlaf gut-ich komme morgen wieder!“ sagte sie leise, fasste dann entschlossen Semir unter, der jetzt nicht mehr lange durchhalten würde und zog ihn mit sich zum Wagen. Sie brachte ihn nach Hause und übergab ihn dort Andrea, die schon voller Sorge gewartet hatte. Dann fuhr sie-immer noch ein wenig unschlüssig- zurück zu Hildegard und als im Wohnzimmer noch Licht brannte, drückte sie kurz entschlossen auf die Klingel, woraufhin ihr die Vertraute überrascht öffnete. „Du bist schon wieder da, was ist mit Ben?“ fragte sie ein wenig ungläubig und sah auf die Uhr. Es war gerade zehn und Sarah war nur zwei Stunden weg gewesen. Die junge Frau trat ein und sagte ein wenig unglücklich: „Ben hat mich weg geschickt, er will seine Ruhe haben und jetzt weiss ich nicht, was ich machen soll!“ erzählte sie und Hildegard zog sie erst einmal herein und schenkte ihr eine Tasse Tee ein. „Weisst du was-du bist ja selber fix und fertig nach der schlaflosen vergangenen Nacht. Ben wird es genauso gehen, jetzt tu einfach, was er dir aufgetragen hat, leg dich ins Bett und versuche dich auszuruhen und zu schlafen. Er ist in Sicherheit und morgen ist ein neuer Tag!“ sagte sie und nach kurzem Zögern folgte Sarah Hildegards Vorschlag. Sie sah, nachdem sie ihre Zähne geputzt und den Schlafanzug angezogen hatte, noch nach ihren Kindern, die selig in Hildegards Spielzimmer schliefen. Wenigstens denen ging es gut und Tim hatte seinen dunkel gelockten Kopf auf dem schon etwas ramponierten Castverband gelegt und atmete gleichmäßig, während die kleine Mia-Sophie beide Hände nach oben, wie eine Blume, mit geballten Fäusten auf dem Rücken in dem Reisebettchen lag und immer wieder an ihrem Schnuller zog. Wenigstens mit den Kindern war alles in Ordnung und auch wenn sie es nicht für möglich gehalten hätte, kaum lag sie in dem bequemen Gästebett, war sie auch schon eingeschlafen. Die vorherige schlaflose Nacht und dann das Wissen, dass ihr geliebter Ben gerettet war, ließ sie dann doch den dringend benötigten Schlaf finden. Hildegard hatte Recht-morgen war ein neuer Tag und den würde sie mit frischer Kraft angehen!


    Die Nachtschwester war noch kurz bei Ben gewesen, hatte ihm etwas zu Trinken, einen Eisbeutel für die Schulter und eine Urinflasche gebracht, gebracht, das Antibiotikum angehängt und nach den Schmerzen gefragt. „Es geht schon!“ sagte er und sie forderte ihn auf, zu läuten, wenn er etwas benötigte. Das leichte Schlafmittel das er erhalten hatte war schon lange verpufft und als die Schwester wieder draußen war, erleichterte er sich unter Schmerzen in die Flasche und versuchte dann in den Schlaf zu finden, was ihm aber nicht gelang. Mehrmals meinte die Nachtschwester ein leises Weinen zu vernehmen, aber wenn sie bei ihren Durchgängen ins Zimmer sah, lag er immer fest in die Decke gekuschelt auf der Seite und atmete regelmäßig. Anscheinend hatte sie sich doch getäuscht! Sie ging zurück ins Stationszimmer, wo auf der Krankenakte Ben´s ein dicker Vermerk war: „Auskunftssperre, auch an die Ehefrau!“ und seufzend überlegte sie, wie man das wohl bewerkstelligen sollte. Aber gut-am PC hatte sie die Zugriffsdaten schon so geändert, dass nur die direkt behandelnden Ärzte und die Pflegekräfte dieser Station hier eine Zugriffsberechtigung hatten, da kam Sarah nicht ran. Es hatte sicher etwas mit der HIV-Prophylaxe zu tun, warum Herr Jäger nicht wollte, dass das seine Frau erfuhr, aber es ging sie schließlich nichts an-sie machte ihren Job, versorgte ihre Patienten, verabreichte die vom Arzt verordneten Medikamente und in der Früh würde sie nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Sie hatte noch knapp vierzig andere Patienten alleine zu versorgen, die ihre Aufmerksamkeit brauchten, da hatte man keine Zeit sich um jeden Einzelnen viele Gedanken zu machen.
    So ging die Nacht vorbei und Ben zählte voller Verzweiflung die Stunden bis zum Morgen und hatte kein Auge zugemacht.

  • Sarah hatte wider Erwarten eine gute Nacht verbracht und erwachte am Morgen voll neuer Energie. Hoffentlich ging es Ben gut, aber er hatte vermutlich Recht gehabt, sie alle hatten nach dem ganzen Stress einfach eine Mütze voll Schlaf gebraucht und heute ging es ihnen sicher besser. Sie duschte, machte gemeinsam mit Hildegard die Kinder fertig und hatte sogar wieder genügend Milch für Mia-Sophie, die nach dem Stillen ausgeruht und fröhlich strampelte und krähte. Tim schien auch keine Schmerzen zu haben und sauste schon vor dem Frühstück mit den beiden Hunden durch das Haus und sorgte dafür, dass der Castverband noch ein paar Schrammen mehr abbekam. „Kinder-die Mama fährt jetzt erst mal alleine zum Papa, aber am Nachmittag gehen wir ihn gemeinsam besuchen!“ erklärte Sarah und Hildegard lächelte. Ja die Nacht voller Schlaf hatte ihnen allen gut getan!


    Semir war am Abend von Andrea besorgt ins Bett gebracht worden. Er fühlte sich heiß an, verweigerte aber das Fieber messen und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Sie stellte ihm noch eine Flasche Wasser ans Bett, die er über Nacht austrank, aber er wälzte sich abwechselnd frierend und schwitzend im Bett herum und fühlte sich einfach schrecklich. Am nächsten Morgen hatte er solche Wackelknie und schlimmen Husten, dass Andrea, nachdem sie die Kinder in Schule und Kindergarten gebracht hatte, den Hausarzt anrief und einen Hausbesuch vereinbarte-es wäre für Semir ein Ding der Unmöglichkeit gewesen in die Praxis zu gehen. Sie selber hatte Gott sei Dank die ganze Woche noch frei-der Resturlaub des Vorjahrs musste genommen werden und gerade war sie froh darum, denn sie hätte es Semir zugetraut, dass er sich trotz seines schlimmen Zustands auf den Weg zu Ben machte, aber der war schließlich im Krankenhaus gut versorgt, um den mussten sich jetzt andere kümmern und Sarah würde sicher schon wieder an seinem Bett sitzen!
    Während sie noch auf den Hausarzt warteten, kamen Jenni und Dieter vorbei und brachten ihm den BMW. In der PASt waren ja die Ersatzschlüssel und so hatte die Chefin das angeordnet, denn das Fahrzeug war immer noch halb auf dem Gehsteig vor dem Bordell gestanden und der Geschäftsführer hatte sich schon beschwert, dass es geschäftsschädigend sei, wenn seine Kunden das zivile Polizeifahrzeug entdeckten. Die beiden Beamten kamen kurz herein und Andrea führte sie ins Schlafzimmer ans Bett ihres Mannes, weil er das so wünschte. „Jenni, Dieter, könntet ihr mir einen Gefallen tun?“ fragte er, denn ihm war noch etwas eingefallen. „Könntet ihr diese Spritze zu Hartmut in die KTU bringen, mich würde interessieren, was darin ist!“ bat er sie und holte aus seiner Jackentasche das Muster, das er im Haus der Winklers mitgenommen hatte. Dann legte er sich wieder zurück, bedankte sich für die Besserungswünsche. „Unkraut vergeht nicht, aber ich glaube heute werde ich mal im Bett bleiben!“ sagte er und Andrea war froh, dass er es wenigstens einsah. Als im Laufe des Vormittags der Hausarzt kam, verordnete er ein Antibiotikum, denn inzwischen brodelte Semir wie ein alter Kanonenofen vor sich hin und die schmerzhaften Hustenstösse die ihn erschütterten, trieben ihm den Schweiß auf die Stirn und der Auswurf schillerte in allen Farben. „Ja Herr Gerkhan, ich schreibe sie mal den Rest der Woche krank, sie kurieren sich richtig aus, bleiben im Bett und trinken viel. Das Antibiotikum müsste bald helfen, aber Ruhe ist die erste Bürgerpflicht und wie ich sehe, sind sie ja bei ihrer Frau in den besten Händen!“ sagte er, nachdem er ihn sorgfältig abgehört hatte. Semir ließ sich aufseufzend in die Kissen zurück fallen, allerdings sah er es selber ein-im Augenblick wäre er für niemanden eine Hilfe und Ben würde sich bedanken, wenn er ihn noch ansteckte, wenn das gestern nicht sowieso schon geschehen war!


    Hartmut hatte in der Nacht noch zusammen mit seinem Kollegen die Spuren in der Wohnung gesichert. Nachdem sie die ganzen Proben dann zum Auswerten in die KTU gebracht hatten, machten sie Feierabend, aber am nächsten Morgen erklärte Hartmut sich selber für arbeitsfähig, denn mit einer Ibuprofen konnte er seinen verletzten Arm schon wieder ganz gut bewegen. So saß er, als Jenni und Dieter noch die Spritze von Semir vorbei brachten, schon im Labor und machte-unterstützt von seinem Assistenten-die ersten Genanalysen. Er freute sich auf die Arbeit-nichts Schlimmeres als zuhause im Bett zu liegen und nichts tun zu können. Außerdem war er es Ben als Freund und guter Kollege schuldig, dass er sich persönlich um die Aufarbeitung dieser Entführung kümmerte und das nicht an irgendwelche Hilfskräfte delegierte!


    Ben war inzwischen vom Frühdienst aus dem Bett geholt worden. Sie brachten ihn mit einem fahrbaren Plastikstuhl in die Nasszelle, wo er sich am Waschbecken mühsam die Zähne putzte und das Gesicht erfrischte. Eine Schwester hatte in Konrad´s Zimmer seine Sachen zusammen gepackt und herüber geräumt. „Herr Jäger ich soll ihnen von ihrem Vater liebe Grüße ausrichten und sie fragen, ob sie nicht doch wieder bei ihm liegen wollen!“ richtete sie aus, aber Ben schüttelte den Kopf. „Soll ich ihnen beim Waschen helfen?“ fragte sie, allerdings kam von Ben nun die Antwort, die sie erhofft hatte, denn sie hatte noch sehr viel zu tun. „Vielen Dank, sie brauchen mir nicht zu helfen-meine Frau kommt sicher später zu Besuch und dann erledigt die das!“ sagte er und versprach zu läuten, wenn er ins Zimmer zurück gefahren werden wollte. Mühsam versuchte er sich nun selber ein wenig frisch zu machen, aber gerade als er an seinen Unterkörper kam, schossen ihm die Tränen in die Augen, so schmerzhaft geschwollen war das alles. Im Endeffekt lief es auf eine Katzenwäsche hinaus, aber das war momentan egal, obwohl er nichts lieber getan hätte als sich stundenlang unter die heiße Dusche zu stellen und sich mit viel Duschgel von Kopf bis Fuß zu schrubben, um auch die letzten Reste von Estelle´s Körperflüssigkeiten von sich abzuwaschen. Wenigstens funktionierte das mit dem Pinkeln und als er sich irgendwie mühsam in ein weites Shirt gezwängt hatte, das er einfach über den Gilchristverband zog und unten rum mit akrobatischen Verrenkungen in eine kurze Sporthose geschlüpft war, atmete er auf. In nächster Zeit würde ihn niemand mehr nackt zu sehen kriegen, das würde er zu verhindern wissen!


    Nachdem er geläutet hatte, wurde er zu seinem Bett zurück gefahren und kurz darauf kam auch schon das Frühstück. Allerdings trank er nur schwarzen Kaffee, er hatte überhaupt keinen Appetit und als man danach wieder erst das Antibiotikum und dann noch eine frische Infusion mit Schmerzmittel darin anhängte, legte er sich in die Kissen zurück und versuchte zu ruhen, denn nach dieser Nacht war er einfach hundemüde, aber er fand einfach nicht in den Schlaf. Als sich kurz darauf die Tür öffnete und Sarah mit einem strahlenden Lächeln eintrat, öffnete er nur kurz die Augen, murmelte, dass er müde sei und stellte sich dann wieder schlafend. Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich, ihm schien es einigermaßen gut zu gehen und sie würde einfach warten, bis er sein Morgennickerchen beendet hatte!

  • Hartmut war gerade dabei einige Genanalysen durchzuführen, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. Langsam hatte er anhand der Spuren in der Wohnung ziemlich genau rekonstruieren können, was diese Bestien mit Ben angestellt hatten. Sogar seine Flucht durchs Badfenster hatte er anhand von abgeschabter Haut am Fensterrahmen nachvollziehen können, aber was ihm am meisten Sorge machte, waren die Spuren im zweiten Schlafzimmer. Am Bett waren Hand-und Fußschellen und er hatte bei seinem kurzen Blick auf Ben die eindeutigen Spuren an dessen Handgelenk gesehen. Das ganze Sexspielzeug wies ebenfalls Körperzellen auf-teilweise von ihm und teilweise die von einer Frau oder beiden. Hartmut würde nachher in der Pathologie anrufen und sich Material von Estelle Winkler schicken lassen, denn er war sicher, dass es von der stammte. In der Küche hatte er den Inhalt des Mülleimers mitgenommen und dabei eine merkwürdige leere Spritze mit einer feinen Nadel entdeckt. Die sah aus wie so eine Thrombosespritze und hatte einen Aufdruck in kyrillischer Schrift darauf, worüber er in seiner Datenbank zunächst nichts fand. Als nun Jenni und Dieter dieselbe Spritze-diesmal voll-zu ihm brachten, die Semir ihm geschickt hatte, mit dem Zusatz, dass die aus Winkler´s Nachtkästchen stammte, begann es ihm zu dämmern, wozu die wohl verwendet werden konnte. Nachdem er weiter nachgeforscht hatte und schließlich den Inhalt chemisch aufgeschlüsselt hatte, was natürlich leichter war, wenn man wusste nach was man suchte, verbarg er seinen Kopf in den Händen. Um Himmels Willen-der arme Ben! Hartmut hatte zuvor noch nie davon gehört, dass man bei einem Mann sogar gegen seinen Willen eine Erektion provozieren konnte, aber genau dazu dienten diese Spritzen, die auf dem deutschen Markt Caverjekt hießen. Ihm lief es kalt den Rücken herunter. An der Nadel konnte er Spuren von Ben´s DNA feststellen, das bedeutete wohl, dass der zum Verkehr mit dieser Winkler gezwungen worden war. Wie schlecht musste es seinem Kollegen jetzt gehen-Hartmut war voll des Mitleids. Hoffentlich hatte Sarah die Sache gut aufgenommen und unterstützte ihn jetzt.
    Hartmut bat bei einem Anruf in der Gerichtsmedizin, doch bitte bei Estelle Winkler explizit nach sexuell übertragbaren Krankheiten zu forschen und Proben zu entnehmen. Wieder dachte Hartmut nach. Hoffentlich hatte Ben das im Krankenhaus auch gesagt und nicht aus Scham verschwiegen, was ihm angetan worden war, eigentlich sollte er das sofort mit Semir besprechen, aber das ging nicht am Telefon! So bat er einen Uniformierten, der gerade etwas in der KTU abgab, ihn doch zu Semir nach Hause zu fahren, denn Jenni und Dieter hatten ihm berichtet wie krank der zu Bett lag, aber Semir kannte einfach Ben am besten und sie mussten nun miteinander beratschlagen, wie man ihrem jungen Kollegen helfen konnte. Hartmut würde seine Erkenntnisse auch momentan als geheime Verschlusssache behandeln-das hatte niemanden zu interessieren, aktuell nicht einmal die Chefin!


    So sah Andrea um die Mittagszeit erstaunt auf, als ein Streifenwagen vor dem Haus hielt und Hartmut wenig später an ihrer Haustür läutete. „Mein Gott-ist Semir denn so wichtig, dass der nicht einmal einen Tag ungestört im Bett bleiben kann?“ fragte sie momentan ein wenig ungehalten, wie sollte ihr Mann denn gesund werden, wenn die Kollegen in seinem Schlafzimmer aus-und ein spazierten, aber als Hartmut dann ganz schuldbewusst und unglücklich sagte: „Andrea-es geht um Ben und es ist wichtig!“ wies sie ihm dann doch aufseufzend den Weg.


    Sarah saß derweil still neben Ben´s Bett und sah ihm beim Schlafen zu. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Sie sah auf die Infusion, die mit einem Schmerzmittel versehen, langsam in ihn tropfte und war einfach nur froh, dass sie ihn relativ unversehrt wieder hatte. Es war ein gutes Zeichen, dass er nicht auf Intensiv gemusst hatte, seine Entführer waren entweder tot oder im Gefängnis, wie Semir ihr gestern erzählt hatte und so konnte Ben jetzt einfach gesund werden und sie ihr normales Leben wieder aufnehmen.
    Es klopfte und gleich darauf öffnete sich die Tür. „Visite-würden sie bitte rausgehen?“ bat die Schwester, die mit dem Kartex in der Türe stand. Sarah kannte die Schwester nicht, bei einem Haus in der Größe der Uniklinik war es gar nicht möglich alle Mitarbeiter auch nur schon mal gesehen zu haben. „Ich bin die Ehefrau und außerdem Schwester hier im Haus auf der Intensivstation!“ sagte Sarah daraufhin und bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. „Ich muss trotzdem darauf bestehen!“ beharrte die Pflegekraft nun mit einem etwas strengeren Ton und gerade als Sarah aufgehen wollte, öffnete Ben die Augen und sagte: „Schatz-bitte tu was sie gesagt hat!“ und nun blieb Sarah das Wort im Halse stecken. Warum fiel ihr Ben jetzt in den Rücken? Sie hatten bisher Alles immer geteilt, sie kannte seinen Körper beinahe so gut wie ihren eigenen und genieren tat man sich ja auch nicht voreinander, es gab ja nichts am anderen, was sie nicht schon gesehen hatten. Ben hatte ihr bei Mia-Sophie´s Geburt geholfen und sie hatte ihn schon Dutzendmale von Kopf bis Fuß gewaschen, wenn er mal wieder schwer verletzt auf der Intensivstation gelegen hatte, Was sollte das also? Aber sie wollte jetzt doch keinen Streit provozieren und schlich deshalb wie ein geprügelter Hund vor die Tür und kam sich gedemütigt vor. Die drei Ärzte und die Schwester schlossen demonstrativ die Tür hinter sich und es dauerte eine ganze Weile bis sie wieder heraus kamen.

  • Als die Ärzte und die Schwester im Zimmer standen, stellten sie sich erst einmal vor. Die Stationsärzte waren Chirurgen, die Ben´s Verletzungen weiter behandeln würden, die Antibiose und Schmerztherapie gingen auch klar und so begutachtete man erst miteinander die Schulter, den Oberbauch und das Bein. „Das sieht soweit ja alles gut aus!“ sagte der Oberarzt. „Wir werden zusehen, dass sie bereits ab heute wieder Physiotherapie bekommen, vielleicht heute und morgen noch auf dem Zimmer, aber ab übermorgen dann in der Physioabteilung, damit sie bald wieder beweglich sind. Sie dürfen leichte Kost essen und frei trinken und bitte so viel wie möglich raus aus dem Bett.
    Jetzt haben wir da noch eine weitere Diagnose, die nicht unbedingt in unser Fachgebiet fällt und würden deswegen gerne einen Urologen zuziehen!“ sagte er und sah Ben prüfend an, der daraufhin heftig den Kopf schüttelte. „Keinen Urologen!“ sagte er und versuchte seiner Stimme, die beinahe zu zittern begonnen hatte, ein wenig Festigkeit zu geben. „Und wie wäre es mit einem Psychologen, der könnte ihnen –hmm- in Anbetracht ihrer besonderen Situation-vielleicht auch ein wenig helfen?“ forschte der Arzt nach, aber Ben schüttelte entschlossen wieder den Kopf. „Ich komme schon zurecht-kümmern sie sich darum, dass ich bald wieder laufen und mich bewegen kann, dann wird alles andere von selber!“ behauptete er.
    „Ich wünsche es ihnen ja, aber aus unserer Erfahrung heraus sollten sie lieber professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.“ sagte der Arzt weich, ohne Ben nur in irgendeiner Weise zu bedrängen, der sich wieder unter seiner Zudecke verkrochen hatte, aber dessen Entschluss stand fest. „Ich hätte jetzt nur noch eine Frage, die dient zu ihrer persönlichen Absicherung. Der Aufnahmearzt hat mehrere Blutproben entnommen, bevor man mit der HIV-Prophylaxe begonnen hat. Wir würden gerne damit eine HIV-Serologie machen, auch zu ihrer persönlichen Sicherheit und fraglicher Regressansprüche. Das dürfen wir aber nur mit ihrer Zustimmung. Wir würden ihnen auch empfehlen-auch wenn diese Probe jetzt negativ ist- in etwa drei Wochen beim Hausarzt eine weitere Testung vornehmen zu lassen und in einem halben Jahr erneut, dann sind sie auf der sicheren Seite. Die Prophylaxe in Tablettenform geht jetzt noch drei Tage weiter, dann hoffen wir wenigstens diese Problematik abgeschlossen zu haben und wenn sie es sich anders überlegen und doch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen wollen, wenden sie sich einfach an uns-wir leiten das dann in die Wege!“ erklärte er und Ben stimmte zu, dass die Blutprobe untersucht wurde, alles andere allerdings lehnte er kategorisch ab. So konnte er Sarah wenigstens beweisen, dass er vorher sauber gewesen war. Aber er konnte sich aktuell sowieso nicht vorstellen, dass er jemals wieder Sex haben wollte und das halbe Jahr bis der zweite negative Befund da war, würde er schon irgendwie rumbringen, da musste er sich eben was einfallen lassen, auf jeden Fall würde er seine Frau nicht dem Risiko einer Infektion aussetzen, auch wenn HIV ja inzwischen behandelbar war!


    „Gute Besserung Herr Jäger!“ sagte der Oberarzt und dann verließen die vier Personen das Zimmer und Sarah stürmte regelrecht hinein und stellte ihn zur Rede: „Kannst du mir vielleicht erklären was das sollte und warum ich jetzt plötzlich bei der Visite nicht mehr dabei sein darf?“ fragte sie zornig und Ben ging jedes ihrer Worte durch und durch wie ein Peitschenschlag. Verdammt-wie sollte er das denn nur erklären-er wollte den Vorfall mit Estelle nur zu gerne vergessen und diese schrecklichen 30 Stunden aus seinem Gedächtnis streichen. Sein Körper würde schon wieder heilen, aber aktuell brauchte er seine Ruhe und keine Vorwürfe! Nachdem Sarah´s Ton ziemlich aggressiv und vorwurfsvoll war, gab er jetzt im selben Stil zurück. „Und warum musst du überall dabei sein? Ich bin schließlich erwachsen und gehe ja auch nicht mit dir zum Arzt! Ein bisschen Privatsphäre kannst du mir schon zugestehen!“ polterte er los und nun sah Sarah ihn fassungslos an. Sie hatte eine Entschuldigung erwartet, irgendetwas, was seine Vorgehensweise erklärte, aber anstatt dessen griff er sie jetzt an, weil sie sich um ihn sorgte und kümmerte. Wusste er nicht, dass sie vor Sorge um ihn fast kaputt gegangen war, dass sie sich schier die Augen ausgeweint hatte, als er verschwunden gewesen war und ihm jetzt nur helfen wollte, so bald wie möglich wieder gesund zu werden? Er aber tat, als würde sie sich um Dinge kümmern, die sie nichts angingen und das warf sie ihm nun auch an den Kopf. „Es geht dich auch nichts an-das ist mein Körper und meine Gesundheit und ich weiss nur eines-ich brauche jetzt einfach meine Ruhe um gesund zu werden!“ entgegnete Ben und nachdem Sarah ihn daraufhin noch einen Moment beleidigt und fassungslos gemustert hatte, drehte sie sich auf dem Absatz um, griff nach ihrer Jacke und stürmte aus dem Zimmer. Als sie am Krankenhausparkplatz angelangt war und die kalte Winterluft ihr ins Gesicht blies, bemerkte sie erst, dass ihr Tränen der Wut und der Enttäuschung herunter liefen, aber sie schniefte kurz, sperrte den Wagen auf und schoss mit Vollgas vom Hof. Dieser Arsch-sie wollte ihn vorerst nicht mehr sehen-der fuhr hier einen Egotrip und merkte gar nicht, wie sehr er sie damit verletzte! Sie würde jetzt zu ihren Kindern fahren, die abholen und dann mit ihnen zu den Flüchtlingen gehen. Da konnte sie wenigstens etwas Nützliches machen, während ihr Mann ihre Fürsorge einfach schroff von sich wies und sie damit zutiefst getroffen hatte!


    Ben sah Sarah nach, als sie zur Tür hinaus schoss. Er wusste, dass er sie gerade sehr verletzt hatte, aber was sollte er nur tun. Ach irgendwie lief gerade alles schief was er anpackte, er war doch selber so verwirrt, durcheinander und gedemütigt. Konnten sie ihn nicht einfach alle in Ruhe lassen? Er drehte sich zur Seite, zog sich die Decke über den Kopf und als zwei Stunden später das Mittagessen ausgeteilt wurde, sah die Schwester die das machte, dass seine Schultern zuckten, aber als sie ihn freundlich fragte, ob sie ihm helfen könne, schüttelte er nur vehement den Kopf. Als man eine halbe Stunde später das Essenstablett abräumte war das unberührt, nur Wasser hatte er getrunken und seine Tabletten genommen. „Herr Jäger-es wäre gut, wenn sie ein bisschen was essen würden, die Tabletten sind auf nüchternen Magen ziemlich schwer verdaulich!“ sagte die Schwester, aber unter der Decke kam nur ein undeutliches Genuschel hervor: „Ich habe keinen Hunger, lassen sie mich bitte in Ruhe ich bin müde!“ und mit einem Schulterzucken räumte die Pflegekraft das Tablett ab. Ihr Patient war erwachsen und mehr als ihm Hilfe anzubieten, konnten sie von der Klinik her nicht machen, wenn er sie ausschlug war das sein Problem.

  • Semir hatte ein wenig geschlafen und fühlte sich schon ein bisschen besser, als plötzlich Hartmut vor seinem Bett stand. „Hartmut was gibt’s?“ fragte Semir besorgt, denn er wusste sofort, dass der Kriminaltechniker sicher nicht zu ihm nach Hause gekommen war, um einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. „Semir, ich muss was Wichtiges mit dir besprechen!“ erklärte der Rotschopf. „Wenn ich mir selber zu helfen wüsste, würde ich dich nicht stören, aber es ist besorgniserregend-und es geht um Ben!“ sagte er unglücklich und Semir war sofort in Habachtstellung. „Komm setz dich!“ sagte er auffordernd und wies auf einen Hocker an der Wand, den Hartmut nun näher zog, allerdings nicht ohne zuvor die Schlafzimmertüre geschlossen zu haben, die Andrea hatte offen stehen lassen.
    „Semir, ich habe heute früh begonnen die Spuren aus der Wohnung auszuwerten, aus der du Ben befreit hast.“ erklärte er und nun richtete Semir sich ein wenig im Bett auf und war ganz Ohr. „Ich weiss nicht, ob du in das zweite Schlafzimmer geschaut hast?“ begann er, aber Semir schüttelte den Kopf. „Dort war Ben anscheinend mit Hand-und Fußfesseln ans Bett gekettet. Was mir allerdings mehr Sorgen macht, sind die DNA-Spuren von ihm und einer Frau-vermutlich dieser Winkler. Da lagen massenweise Sextoys rum und zwar vorwiegend aus der Sado-Masoszene und die waren fast alle benutzt und du hast mir doch diese Spritze zur Auswertung bringen lassen, die du aus Winkler´s Nachtkästchen hattest!“ fuhr er fort und jetzt sah ihn Semir gespannt an und fragte: „Ja das hat mich interessiert, wozu man sowas braucht-der wird ja wohl Thrombosespritzen nicht im Schlafzimmer aufbewahren, wenn er im Bad nen riesigen Medizinschrank hat.“ Und nun nickte Hartmut unglücklich. „Leider habe ich heraus gefunden, wozu man solche Spritzen benutzt und habe den Inhalt auch zweifelsfrei analysiert. Ich hatte bis dato allerdings keine Ahnung davon, dass es sowas überhaupt gibt. Diese Spritzen benutzen Männer mit Erektionsstörungen die aus medizinischen Gründen, z.B. wegen Herzkrankheit oder Ähnlichem, kein Viagra nehmen dürfen. Das Medikament spritzt man direkt in den Penis und dann kommt es, ohne dass irgendwelche Gefühle im Spiel sein müssen, vom Anwender nicht kontrollierbar, zu einer etwa zwei Stunden andauernden Erektion und was das Schlimmste ist-ich habe im Müll in der Küche der Wohnung so eine benutzte Spritze gefunden, die wies an der Nadel Ben´s DNA auf!“ ließ er die Bombe platzen und nun wurde Semir ganz blass.


    „Ach du lieber Himmel!“ sagte er erschüttert und unglücklich. „Ich hatte mich eigentlich gefreut, dass es mir gelungen ist, Ben aus den Händen dieser Muskelprotze zu befreien und war der festen Überzeugung noch rechtzeitig gekommen zu sein, aber das lässt jetzt natürlich die Sache in einem anderen Licht erscheinen. Vermutlich hat sich Estelle an ihm vergangen, ohne dass er was dagegen tun konnte, oh Gott wie mag er sich fühlen und wie hat es wohl Sarah aufgenommen?“ fragte er laut in den Raum und Hartmut sagte leise: „Wenn sie es denn überhaupt schon weiss-ich habe keine Ahnung, ob ich in so einer Situation mit irgendjemandem darüber sprechen wollte und vielleicht am Allerwenigsten mit meiner Frau, aber wie gesagt, deshalb wollte ich jetzt unbedingt sofort, dass du Bescheid weisst. Du kennst Ben am Besten und wirst wissen was zu tun ist ach ja und außer uns beiden kennt meine Ergebnisse bisher niemand!“ sagte er und Semir nickte.
    „Ich muss auf jeden Fall zu ihm und mit ihm reden!“ sagte Semir voller Überzeugung, erhob sich schwungvoll aus dem Bett, um sich wenig später am Boden liegend wieder zu finden und wie aus weiter Ferne Hartmut´s und Andrea´s erschrockene Stimmen zu hören. „Semir wach auf, tief durchatmen!“ und er daraufhin mit Hilfe der beiden nur wieder zurück ins Bett krabbelte-verdammt, dass sein Kreislauf gleich so schwächelte, hätte er nicht gedacht. Als das Rauschen in seinem Kopf nachließ, sagte Andrea streng, die vor seinem Lager stehen geblieben war und ihn besorgt musterte: „Semir Gerkhan-wenn du heute nochmals einen Fluchtversuch aus diesem Schlafzimmer unternimmst, werde ich dich höchstpersönlich mit deinen eigenen Handschellen ans Bett fesseln!“ und nun wechselten Semir und Hartmut einen Blick-verdammt, was sollten sie tun?
    „Hartmut-ich denke du solltest nach Ben sehen und ihm versichern, dass wir alle für ihn da sind. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, werde ich ihn besuchen-richte ihm das bitte aus!“ bat Semir nun und Hartmut nickte. Er rief sich ein Taxi und war wenig später auf dem Weg zur Uniklinik.


    Ben war zutiefst unglücklich. Sein Leben ging gerade den Bach runter! Er konnte Sarah einfach nicht die Wahrheit sagen-das glaubte ihm doch niemand, dass er mit einer fremden Frau geschlafen hatte, ohne das zu wollen! Also war er definitiv fremd gegangen und Sarah durfte das nie erfahren, sonst würde sie ihn verlassen und was sollte er nur ohne sie und die Kinder tun? Ihm blieb nichts anderes übrig als sie auf Distanz zu halten, bis an seinem Körper keine Spuren mehr zu entdecken waren und danach vorsichtig zu versuchen, sich zu versöhnen. Er verkroch sich wieder unter seiner Decke und versuchte ein wenig zu schlafen, was aber nicht funktionierte. Immer wenn er gerade dabei war einzudämmern, erschien Estelle´s Gesicht zur Fratze verzogen über ihm und er fuhr wieder hoch. Er probierte sich wenigsten auszuruhen, aber als eine Krankengymnastin plötzlich vor seinem Bett stand und ihn sanft berührte, während sie sagte: „Herr Jäger-ich würde gerne mit ihnen im Bett ein paar Übungen machen!“ schreckte er vor ihr zurück, als wäre ihre Hand heiss wie glühende Lava.

  • Die Physiotherapeutin erschrak selber, als ihr Patient dermaßen zurück zuckte, aber Ben hatte sich schnell wieder gefangen und sagte: „Der Arzt hat das schon angekündigt, danke sehr!“, allerdings hörte sich seine Stimme ein wenig gepresst an. „Ich würde ihnen jetzt zunächst den Schulterverband ausziehen, könnten sie bitte ihr T-Shirt runter nehmen?“ bat sie und Ben krabbelte mühsam an den Bettrand. Es kostete ihn große Überwindung auch nur aus dem Shirt zu schlüpfen und als er mit nacktem Oberkörper vor ihr saß und sie behutsam seinen Arm aus dem Gilchristverband zog, brach ihm der Schweiß aus, aber nicht vor Schmerz. Verdammt-diese Frau interessierte sich doch überhaupt nicht für seinen Unterkörper, die wollte seine Schulter lockern, aber er konnte nichts dagegen machen, seine Muskeln waren hart wie Stahl, er spannte dagegen und jede Berührung war ihm unangenehm. „Haben sie starke Schmerzen?“ fragte die junge Frau mitfühlend und warf einen Blick auf die Infusion. Merkwürdig, da tropfte eigentlich ein starkes Schmerzmittel mit, er dürfte prinzipiell gar keine so schlimmen Schmerzen haben, aber das Schmerzempfinden war eben individuell und gerade Männer waren manchmal doch empfindlicher als Frauen, gerade die dunklen, eher südländischen Typen, zu denen er ja gehörte. Sie machte also unverdrossen weiter und Ben bekam sogar eine Gänsehaut, als sie nun an seinem Rücken manipulierte und versuchte die Muskulatur zu lockern. Plötzlich zog Ben die Decke über sich und sagte: „Tut mir leid-es geht nicht!“ und ihm wären beinahe die Tränen gekommen, allerdings beherrschte er sich mühsam, um nicht aufzufallen. Er konnte einfach die Berührung einer weiblichen Hand nicht ertragen-nicht einmal am Rücken, denn sofort kamen ihm da andere Berührungen in den Sinn, die nur ein Ziel gehabt hatten und das war furchtbar gewesen.


    Die junge Frau sah ihn erstaunt und brüskiert an. „Habe ich ihnen jetzt so weh getan, dass sie keine weitere Behandlung wünschen?“ fragte sie erstaunt, aber Ben schüttelte den Kopf. „Gerade nach Schulteroperationen ist Bewegung das A und O, wenn wir die ganzen Strukturen nicht weich halten, verkleben die miteinander und die Schulter versteift!“ versuchte sie noch zu erklären, aber Ben konnte gerade nur an eine andere Versteifung denken, die ihm so schrecklich gewesen war und ließ sich jetzt einfach ins Bett zurück fallen, rollte sich wie ein Igel zusammen und zog sich die Decke über den Kopf. „Herr Jäger-dann müssen wir wenigstens den Gilchristverband wieder anziehen, wenn sie mich jetzt nichts an sich machen lassen!“ sagte die Physiotherapeutin, die noch nicht so sehr lange in ihrem Beruf war, aber Ben ließ sie nicht mehr an sich ran. Verunsichert ging sie zurück in die Physioabteilung im Keller und berichtete ihrem Chef, der gerade einen anderen Patienten bearbeitete von ihrem Misserfolg. „Er hat sich nicht einmal den Verband wieder anlegen lassen, ich weiss nicht, was ich falsch gemacht habe!“ berichtete sie unglücklich und ihr Kollege versprach, nachher selber rauf zu gehen und sich darum zu kümmern.
    Kaum war Ben wieder alleine im Zimmer, konnte er die angehaltene Luft entweichen lassen, verdammt, ihm war schon klar, dass er sich gerade unmöglich benommen hatte, aber Fakt war, dass er die weibliche Berührung einfach nicht hatte ertragen können. Er schlüpfte unter Schmerzen in sein Shirt und versuchte dann vergeblich diesen blöden Verband irgendwie anzulegen, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Gerade hatte er sich ordentlich in die ganzen Strippen und Klettverschlüsse verwickelt, da kam der männliche Physiotherapeut herein und als der ihn nun behandelte, die Muskeln lockerte und seine Schulter durch bewegte, konnte er es aushalten und als der dann zunächst noch das Bein bis zum Knie bearbeitete und dann sogar ein paar Gehübungen mit einem Gehwagen mit ihm machte, war es gar kein Problem und als er wenig später mit seinem frisch angelegten Verband wieder im Bett lag, atmete er auf.

    Als wenig später das Essen serviert wurde, aß er zwei Löffel Suppe, aber obwohl er inzwischen bereits Magenschmerzen hatte von den ganzen Medikamenten, ging einfach nicht mehr, denn ihm war kotzübel und Estelle´s Geruch ging nicht aus seiner Nase und er meinte sie überall zu riechen, sogar in seinem Essen. So legte er sich aufseufzend wieder zurück und als es wenig später an seiner Zimmertür klopfte, sah er erstaunt auf, als nun Hartmut plötzlich vor ihm stand und ihn freundlich anlächelte, bevor er sich einen Stuhl heran zog. „Schöne Grüße von Semir!“ begann der das Gespräch und sah den jungen dunkelhaarigen Kollegen prüfend an. Verdammt-wie sollte er nur das Thema anschneiden und machte das überhaupt Sinn? So gut er sich mit Computern und Geräten auskannte, von Psychologie hatte Hartmut keine Ahnung, aber er gab sein Bestes!


    Sarah hatte sich inzwischen wieder ein wenig beruhigt. Auch wenn Hildegard sie merkwürdig ansah, der sofort klar war, dass da irgendetwas nicht optimal gelaufen war, half sie ihr dann doch die Kinder fertig zu machen und ein paar Sachen zusammen zu packen. „Ben geht es schon wieder soweit gut, ich werde ihn nachmittags vielleicht mit den Mäusen besuchen, aber ansonsten sind wir dann wieder in unserem Haus-vielen Dank für deine Hilfe!“ sagte Sarah und lud dann auch Lucky in die Hundebox im Kofferraum des Geländewagens. Verdammt-nach einem neuen Wagen müssten sie sich dann auch mal umschauen, aber sowas machte normalerweise Ben-sie hatte doch keine Ahnung von Autos, aber momentan tat der Geländewagen seinen Dienst, obwohl Sarah diese Fahrzeuge im vorwiegenden Stadtverkehr eigentlich ablehnte. SUV´s brauchten mehr Sprit, also war die Ökobilanz schlecht und wenn man keinen Wohnwagen oder Pferdehänger ziehen musste, nicht in unwegsamem Gelände, auf Baustellen oder im Gebirge unterwegs sein musste, dann machte so ein Fahrzeug keinen Sinn-sie war mit ihrem Kombi, der sehr sparsam gewesen war, immer sehr zufrieden gewesen. Ach Mann-bisher hatten sie immer alles gemeinsam gemacht und entschieden, aber jetzt fühlte sie sich aus Ben´s Leben ausgeschlossen und es hatte sie sehr getroffen, als er sie bei der Visite raus geschmissen hatte.

    Trotzdem fuhr sie jetzt erst einmal zu den Flüchtlingen in ihre Wohnung, erkundigte sich, was die so brauchten und genoss es, sich inmitten dieser freundlichen Menschen, die ihr sehr dankbar waren und das auch beteuerten, zu bewegen. Die Kinder spielten miteinander, das lachende Baby ging von Frau zu Frau, die die blonden Löckchen und die blauen Augen bewunderten und gleich die deutschen Worte dafür wissen wollten und Lucky sammelte alle Streicheleinheiten ein, die er kriegen konnte. Auf dem Tisch lagen aufgeschlagene Wörterbücher und eine Kinderfibel-die Menschen bemühten sich mit Kräften die Sprache zu lernen und Sarah würde ihnen dabei helfen und machte das wie bei ihren Nachbarn, indem sie die Worte und Redewendungen langsam vorsprach, mit Gesten untermalte und Bilder dazu herzeigte. Der Patriarch, der zwar noch sehr angeschlagen war, aber schon wieder stolz in einem Sessel thronte, strich Tim über den Kopf, als der mit einem Spielzeugauto an ihm vorbei sauste. „Ganz der Papa!“ sagte er auf Deutsch und lächelte und Sarah versetzte es einen Stich. Ja-nur dass der Papa gerade ein wenig neben der Spur war und herum zickte wie ein Teenager, aber das brauchten diese freundlichen Menschen, die ihm das Leben gerettet hatten, jetzt nicht zu wissen. Sie würde ihn jetzt eine Weile mit Verachtung strafen und nur Pflichtbesuche mit den Kindern machen, bis er sich wieder einkriegte, aber Strafe musste sein! So verging der Nachmittag und weil die Kinder dann müde und quenglig wurden, entschloss sich Sarah, nun direkt nach Hause zu fahren, ohne Umweg über die Uniklinik. Morgen war ein neuer Tag und wenn sie da gute Laune hatte, würde sie ihn besuchen, aber nur dann!

    Sie ließ Lucky in den Garten, der zur Not sein Gassi auch mal alleine erledigte, was sonst Ben´s Lieblingsbeschäftigung nach der Arbeit war-mit Lucky ne Runde joggen gehen, gab Tim ein Abendessen und stillte Mia-Sophie, bevor sie die beiden Kinder dann schlafen legte und sich selber den Fernseher anmachte. Ach Mensch-das Haus war irgendwie so einsam ohne Ben und ehrlich gesagt vermisste sie ihn schon wieder so, dass es fast weh tat. Morgen würden sie sich versöhnen, sie hielt so eine schlechte Stimmung bei ihrem Harmoniebedürfnis einfach schwer aus. Sinnend sah sie auf ihr Telefon. Sollte sie ihn anrufen? Aber dann machte sie sich eine Tüte Chips auf und starrte in die Glotze, wo eine uralte Schnulze lief, die sie ein wenig ablenkte. Trotzdem war das Bett neben ihr so leer und sie vermisste Ben mit allen Fasern, als sie endlich schlafen ging.

  • Hartmut war inzwischen in der Klinik eingetroffen und ging, nachdem er an der Pforte nach der Zimmernummer gefragt hatte, langsam auf die Station zu Ben. Je näher er seinem Ziel kam, desto zögernder wurden seine Schritte. Verdammt wie fing man so ein Gespräch an? „Hallo Ben-ich habe anhand der Spuren nachgewiesen, dass du vergewaltigt worden bist-kann ich dir irgendwie helfen?“ Ne das ging nicht! Er konnte doch nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen! Und wenn Ben jetzt gar kein Problem damit hatte? Oder einfach nicht darüber sprechen wollte? Eines war klar-die Täterin war tot, eine Strafverfolgung war also nicht notwendig. Der Wrestler hatte sich ja vermutlich nicht an seinem Kollegen vergangen-zumindest nicht körperlich, denn auch da hätte er Spuren davon gefunden-und weil er wegen Mordes an Estelle angeklagt werden würde und außerdem auf Dutzenden der Filme zu sehen war, die die Folterung und Hinrichtung der Flüchtlinge zeigte, waren die Entführung und die anderen Dinge eher Kleinigkeiten und mehr als Lebenslänglich konnte er schließlich nicht bekommen und das war ihm so gut wie sicher. Ben legte sicher keinen Wert darauf, dass irgendetwas von den Dingen, die in der Wohnung geschehen waren, an die Öffentlichkeit kam und wenn er das nicht wünschte, würde er das auch in keinem Bericht erwähnen. Er würde von den Fesselungseinrichtungen und dem Knebel berichten, von den Spuren von Ben´s nächtlicher Flucht, aber was sich in Estelle´s Schlafzimmer zwischen den beiden abgespielt hatte, das musste niemand wissen. Inzwischen war Hartmut vor dem Patientenzimmer angelangt, atmete tief durch und klopfte dann, worauf von drinnen ein „Ja bitte!“ ertönte. Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und begann das Gespräch mit etwas Unverfänglichem: „Schöne Grüße von Semir!“ sagte er und Ben bedankte sich.


    Hartmut musterte seinen jungen Kollegen aufmerksam. Er sah müde und ein wenig eingefallen aus. Kein Wunder nach dem, was er hinter sich hatte! Ben machte keine Anstalten auch nur irgendwas zu sagen, also fragte Hartmut und legte alles Mitleid und Freundlichkeit in seine Stimme, die er aufbringen konnte: „Mensch wie geht´s dir denn?“ und Ben zuckte mit den Schultern, was ihn im selben Augenblick das Gesicht verziehen ließ-verdammt er hatte vergessen, dass er da ja ziemlich ramponiert war. Hartmut blickte ihn erschrocken an: „Hast du Schmerzen? Soll ich eine Schwester holen?“ fragte er, aber Ben winkte ab. „Nein, nein-ich hatte nur einen Moment vergessen, dass ich nicht alle Bewegungen einfach so machen kann. Gerade war der Physiotherapeut da und hat mit mir Krankengymnastik gemacht und ich war sogar schon ein wenig mit dem Gehwagen unterwegs!“ berichtete er harmlos. Natürlich verschwieg er, dass das mit der KG erst beim zweiten Anlauf geklappt hatte, weil es ihm aktuell nicht möglich war, sich von einer Frau berühren zu lassen, aber das ging Hartmut nichts an. Das würde er mit sich selber ausmachen und wie sagte man immer so schön-die Zeit heilt alle Wunden-darauf vertraute er jetzt einfach.

    Hartmut startete einen neuen Anlauf: „Semir wäre zu gerne selber zu Besuch gekommen, aber ihn hat eine schwere Grippe echt flach gelegt. Ich war gerade bei ihm und da hat es ihm die Beine weg gezogen, als er aufstehen wollte. Jetzt hat ihm Andrea strengstens untersagt das Bett zu verlassen, sonst fesselt sie ihn höchstpersönlich mit seinen eigenen Handschellen an dasselbe, hat sie gedroht!“ berichtete er und sah Ben auffordernd an. Das wäre doch ein guter Einstieg-jetzt könnte Ben einfach weiter erzählen, aber der sagte nur: „Oh je-der arme Semir, ja da ist mit Andrea nicht zu spaßen, der soll nur im Bett bleiben bis es ihm besser geht-ich komme schon zurecht!“ und nun biss sich Hartmut auf die Lippen. „Du warst ja anscheinend auch mit Handschellen ans Bett gefesselt!“ begann er nochmals und wies auf Ben´s wundes Handgelenk-das andere war unter dem Verband nicht zu erkennen. „Ja, da haben sie mich fest gemacht. Allerdings haben sie mich ja einmal alleine zur Toilette gelassen und da habe ich dann versucht zu fliehen, bin aber nicht weit gekommen!“ berichtete er. Dann fuhr er fort: „Die meiste Zeit haben die mich allerdings mit einem Betäubungsmittel schachmatt gesetzt, ich kann mich an die restliche Zeit eigentlich nicht erinnern!“ flunkerte er, denn das war seiner Ansicht nach eine kluge Strategie, falls Hartmut irgendwelche Spuren gefunden hatte, wovon er fast ausging.


    Hartmut war plötzlich verunsichert. Das stimmte-er hatte mehrere Ampullen eines Medikaments gefunden, das sedierend wirkte und den Willen ausschaltete-und Spritzen dazu, das war ja sicher auch für die Entführung benutzt worden. Vielleicht hatte Ben ja von dem Missbrauch keine Ahnung und hatte dabei die ganze Zeit vor sich hin gepennt. Dann wollte er natürlich jetzt auch keine schlafenden Hunde wecken, er würde damit vielleicht erst ein Trauma hervor rufen, das bisher gar nicht bestanden hatte. Nein-jetzt war auf jeden Fall nicht der richtige Zeitpunkt dafür und vielleicht wäre es für Ben sogar besser, er würde das gar nie erfahren! Er würde jetzt dann sofort in der Gerichtsmedizin vorbei fahren und den Pathologen löchern, ob der nach sexuell übertragbaren Krankheiten bei Estelle nachgesehen hatte. Die Blutwerte müssten inzwischen auch schon da sein und wenn Estelle sauber war, brauchte Ben weder eine HIV-Prophylaxe noch sonst irgendetwas. Dann war es vielleicht sogar besser, um sein Eheleben und sein Seelenheil nicht zu gefährden, er würde nie erfahren, was mit ihm gemacht worden war.
    Hartmut war in einer schwierigen Situation, entschied aber, dass die absolute Wahrheitsfindung manchmal nicht so wichtig war. Außerdem wirkte Ben ja ziemlich normal, er hatte schon geturnt und nahm immer mal wieder einen Schluck Wasser aus dem Glas, das am Nachtkästchen stand. Ein wenig war Hartmut zwar verwundert, dass Sarah nicht bei ihrem Mann war, er hätte eigentlich erwartet, dass die ihm jetzt nicht von der Seite wich, aber die beiden hatten immerhin zwei kleine Kinder-die mussten auch versorgt werden, vielleicht brauchten die gerade die Mama notwendiger als Ben seine Ehefrau.
    Hartmut erhob sich also und sagte: „Ben-wenn du was brauchst oder einfach reden willst-ich bin für dich da-du hast ja meine Nummer und kannst mich jederzeit anrufen!“ versicherte er und Ben gab ihm die Hand: „Dank dir-und wenn du mir nicht das Leben gerettet hättest, wäre ich jetzt gar nicht mehr hier, ich weiss das zu schätzen!“ sagte er, woraufhin Hartmut abwehrte, dass das doch selbstverständlich gewesen sei. Ordentlich stellte er den Stuhl zurück und winkte seinem Kollegen zum Abschied noch einmal zu, bevor er ein wenig verwirrt das Zimmer verließ. Da kenne sich einer aus! Aber als er jetzt zum Taxistand ging, war er mit den Gedanken schon in der Gerichtsmedizin und dann zurück in der KTU, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm geläufig waren.


    Ben wartete bis sich die Tür hinter Hartmut geschlossen hatte und atmete dann laut und vernehmlich aus. Mann das war der reinste Spießrutenlauf gewesen, aber seine Strategie war aufgegangen-Hartmut glaubte, er könne sich an die Zeit in der Wohnung nur teilweise erinnern. So würde er es mit seiner Umwelt halten und sich bemühen zu vergessen und zum Tagesprogramm übergehen! Als ihn sein Vater wenig später mit Krücken besuchte, machte er auch mit dem ein wenig Smalltalk. Das Abendessen ließ er wieder unberührt zurück gehen-das schmeckte nach Estelle-vielleicht hatte irgendjemand in der Küche dasselbe Parfum wie sie oder so-und einerseits hätte er fast erwartet, dass Sarah nochmals auftauchte, ob mit oder ohne Kinder, aber die war anscheinend immer noch sauer und wenn er ehrlich war, war es auch besser so, dass er sich mit ihr jetzt nicht auseinander setzen musste. Vielleicht konnte er diese Nacht erholsam schlafen, müde genug wäre er, aber als die Dunkelheit herein brach, lag er wieder Stunde um Stunde wach in seinen Kissen und starrte die Decke an. Allerdings waren seine Tränen jetzt versiegt. Er war dabei einen Panzer um sein Herz zu errichten, damit ihm niemand mehr weh tun konnte und als endlich der Morgen zu dämmern begann, war er froh, dass er wieder eine Nacht hinter sich gebracht hatte.

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