Gefährliche Höhen!

  • Infolge des ausschwemmenden Medikaments verlor Ben ziemlich viel Flüssigkeit und die Infusionen tropften nur im Zeitlupentempo vor sich hin, so dass er binnen Kurzem einen fürchterlichen Durst bekam. Auch der Blutdruck sank wieder ab, was die zuständige Schwester dann mit der Erhöhung des Noradrenalins beantwortete. Sie musste bald den Urinbeutel ausleeren, der ansonsten geplatzt wäre, aber es kümmerte sie wenig, dass Ben´s Lippen inzwischen vor Trockenheit regelrecht in Fransen hingen. „Kann ich irgendwas zu trinken haben?“ fragte er leise, aber die Schwester schüttelte wortlos den Kopf und ging wieder aus dem Zimmer. „Semir-ich könnte einen ganzen See austrinken!“ stöhnte Ben und Semir erinnerte sich mit Sehnsucht an die Kölner Klinik. Dort hatte man zumindest den Mund ausgespült, Lippencreme und Mundpflegestäbchen oder künstlichen Speichel verwendet, um das Durstgefühl zu verringern, aber davon hatten die hier anscheinend noch nie etwas gehört.
    Auch Semir hätte sich nach wie vor gerne frisch gemacht und die Erlaubnis des Arztes, dass er ebenfalls trinken durfte, hallte auch noch in seinen Ohren-aber niemand brachte ihm etwas, wobei er das jetzt nicht allzu dramatisch empfand, denn er hatte immerhin ausreichend Infusionen, was man von Ben nicht sagen konnte, dessen Flüssigkeitshaushalt inzwischen wieder in die andere Richtung kippte. Seine ansonsten gesunde Niere produzierte auf das Diuretikum wie verrückt Urin und nachdem nichts nachgefahren wurde, ging der Kreislauf immer mehr in die Knie, was man aber nur mit einer ständigen Erhöhung des Noradrenalins beantwortete. Ben´s Herzschlag beschleunigte sich infolge des Flüssigkeitsmangels, aber auch dagegen bekam er nur einen Betablocker gespritzt und fühlte sich fürchterlich schwach, zittrig und eben durstig. Und dann kamen die Schmerzen! Nach etwa sechs Stunden ließ die Spinale nach und wie der Operateur gesagt hatte, meldete er sich. Die Nachtschwester, die inzwischen die Versorgung der beiden neuen Patienten übernommen hatte, aber genau so mufflig und gestresst wie ihre Vorgängerin wirkte, versprach ihm zwar, ein Schmerzmittel zu bringen, aber dann kam es zu einem Notfall im Nebenzimmer und während dort reanimiert wurde, dachte keiner mehr daran, die restlichen Patienten ordentlich zu versorgen-sie fuhren aber auch in der Nacht mit dem absoluten Minimum an Personal und die Arbeit war tatsächlich eigentlich nicht zu schaffen.


    So lag Ben, als das neue Jahr anbrach und sie aus dem Fenster den dunklen Nachthimmel sehen konnten, der von allerlei Feuerwerk erhellt wurde, meist mit geschlossenen Augen, die Hände vor Schmerz zu Fäusten geballt im Bett und obwohl er eigentlich hätte schwören können, dass er keinen Tropfen mehr in sich hatte, lief ihm dennoch der Schweiß in Strömen herunter. Semir lag voller Mitleid im Bett daneben, hatte die kleine Leselampe angeknipst und war schrecklich unglücklich und auch aufgebracht deswegen. Er hatte es versucht, ein Schmerzmittel für Ben zu organisieren, hatte geläutet und gerufen, aber niemand reagierte und als endlich gegen ein Uhr-das Feuerwerk war inzwischen beendet- die Schwester einen Perfusor mit Piritramid brachte und Ben eine Dosis zukommen ließ, war der soweit, dass er sich vor Qual am liebsten aus dem Fenster gestürzt hätte. Das Pflegepersonal hatte natürlich um Mitternacht auch erst einmal mit alkoholfreiem Sekt anstoßen müssen und dann hatte man zunächst die wichtigsten Routinearbeiten nachgeholt-so ein Notfall vor Mitternacht war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Endlich wurde es leichter mit den Schmerzen und als der zuständige Stationsarzt einen letzten Rundgang machte, ordnete er bei dem jungen Polizisten doch noch einen Liter Infusion an, um die Hämodynamik zu verbessern und so langsam wurde es auch leichter mit den Schmerzen, so dass Semir und Ben gegen drei endlich in einen unruhigen Schlaf fielen.


    Als die Frühschicht übernahm, wurden Semir und Ben von einem jungen Pfleger betreut, der zwar ein wenig netter war, als seine Vorgängerinnen, aber leider genauso überarbeitet. So bekam Ben zwar wieder ein Schmerzmittel, das ihn vor sich hindämmern ließ, aber ansonsten köchelte er sozusagen immer noch in seinem eigenen Saft vor sich hin. Semir wartete vergeblich darauf, dass jemand zu seinem Freund zum Waschen kam, statt dessen wurde ein dringendes Intensivbett für eine Alkoholleiche gebraucht, die völlig ohne Schutzreflexe und total unterkühlt in der Innsbrucker Altstadt aufgefunden worden war. So hörte der Stationsarzt Semir kurz ab, nickte zufrieden und sagte: „Wir können sie sofort entlassen, Herr Gerkhan. Sie können sich anziehen und ich schreibe nachher noch einen kurzen Entlassbrief. Warten sie bitte draußen in der Sitzecke, ich bringe ihnen den dann raus-alles Gute!“ und damit war Semir´s Intensivaufenthalt beendet. Zögernd schlüpfte er-schmutzig und hungrig wie er immer noch war- in seine verschwitzten Skiklamotten. Was sollte er nur machen-er konnte Ben doch nicht einfach alleine bei diesen Drachen lassen? Aber ihm blieb nichts anderes übrig als nach einer kurzen Verabschiedung zu gehen, denn man hatte sein Bett bereits weg gerissen, war nachlässig mit einem Desinfektionstuch über den Monitor und die Kabel gefahren und dann nötigte man ihn nach draußen. „Ben –alles Gute-ich hol dich hier raus und versuche zusammen mit Sarah deine Verlegung nach Köln zu organisieren!“ flüsterte er ihm zum Abschied ins Ohr und Ben nickte völlig erledigt kurz mit dem Kopf.

    So stand Semir morgens um sieben vor der Innsbrucker Uniklinik und versuchte Andrea´s Handynummer im Kopf zu rekonstruieren. Verdammt-die hatte erst eine Neue gekriegt, die konnte er sich einfach noch nicht merken und so bat er den Pförtner, ihn kurz zunächst nach Deutschland telefonieren zu lassen und hatte wenig später Susanne in der PASt am Telefon, die Neujahrsfrühdienst hatte. „Susanne-kannst du mir bitte Andrea´s neue Handynummer durchgeben?“ bat er und verwundert machte sie das. „Semir alles in Ordnung bei euch? Ich habe eure Handys gestern zu orten versucht, aber seitdem nichts mehr weiter gehört-ich freue mich deine Stimme zu hören, wie geht es Ben und warum wart ihr verschollen?“ fragte sie, allerdings fertigte Semir sie nun kurzerhand ab: „Susanne, das ist eine lange Geschichte-du erfährst sie in Kürze persönlich, aber ich blockiere hier anscheinend ne wichtige Telefonleitung-ciao, ciao!“ sagte er rasch, weil ihm der Pförtner bereits böse Blicke zuwarf und wählte dann Andrea´s Handynummer.
    „Schatz-ich bin soeben entlassen worden und stehe völlig mittellos vor dem Haupteingang der Uniklinik-kannst du mir bitte sagen, wo ich hinkommen soll?“ fragte er und Andrea schoss nun regelrecht in ihre Kleider und machte sich eilig auf den Weg zu ihrem Mann und holte den ab. Sie wollte ein Taxi nehmen, aber Semir winkte ab, als er erfuhr, dass es nur eine kurze Strecke zu laufen war. So stand er wenig später, erfreut begrüßt von seinen Töchtern, die gerade erst wach geworden waren, in der Dusche der Hotelsuite, wusch sich Ruß und Schweiß ab und als sie wenig später gemeinsam beim fürstlichen Frühstücksbuffet des Hotels saßen, erzählte er, was die letzten Tage geschehen war und vor allem wie es Ben ging.

  • Sarah lauschte während des Frühstücks mit offenem Mund, was den beiden Freunden bei der Schneeschuhwanderung und danach zugestoßen war. Semir hatte unter der Dusche getrickst-er hatte einfach eine große Plastiktüte um seinen Arm gewunden und die oben mit Gummiband festgezurrt-schließlich war das nicht die erste Verletzung am Arm, die nicht nass werden durfte-und jetzt war er sehr erfrischt. Als er dann allerdings-während die Kinder sich schon in der Spielecke beschäftigten- im Detail Ben´s Verletzungen und Behandlungen beschrieb, dazu noch, wie spärlich die pflegerische Versorgung war, von der Freundlichkeit mal ganz abgesehen, wie nachlässig die Schmerztherapie gehandhabt wurde und was bei Ben alles für offene Baustellen waren, da beschloss sie ebenfalls sofort, einen Transport nach Köln in die Uniklinik zu organisieren. So ein kleiner Ambulanzflieger war gleich gechartert und das mit der Arztbegleitung würde sie auch einfädeln-sie kannte schließlich genügend Notärzte, die das für sie-und natürlich gegen Bezahlung-machen würden. Eine Versicherung würde den Transport nicht übernehmen-erst wenn er von der Intensiv runter war und dann im Wagen, denn innerhalb der EU waren die medizinischen Standards ja genormt und Österreich bot dieselbe Basisversorgung wie Deutschland, also das war kein Verlegungsgrund für einen Intensivpatienten, aber das war egal-für diesen Zweck würden sie doch gerne ein wenig Geld ausgeben-es war ja nicht so, dass sie keines hätten!
    Wenn sie dann in Köln waren, konnte sie so oft sie wollte zu ihrem Mann, außerdem wäre da Hildegard in der Nähe, die die Kinder betreuen würde und so war dann Andrea entlastet und außerdem kannte man Ben in dieser Klinik sozusagen in-und auswendig und konnte ihm so sicher am besten helfen.


    So gingen sie nach dem Frühstück aufs Zimmer zurück und Sarah hängte sich mit Feuereifer ans Telefon. Wenn alles glatt ging, hatte sie Ben noch am selben Tag in Köln und sie würde mit dem Wagen nachkommen-auf die paar Stunden kam es dann auch nicht mehr an, dort wusste sie ihn gut versorgt. Sie dachte auch daran, den diensthabenden Oberarzt, der über den Neujahrstag die Stellung in Köln hielt und der auch einen Professorentitel vor seinem Namen trug, was in Österreich immer schon Eindruck gemacht hatte, anzurufen und erstens zu fragen, ob für Ben überhaupt ein Intensivbett frei war und zweitens, ob er sich schon mal mit den Kollegen aus Innsbruck kurz schließen könnte. Der versprach das schmunzelnd, konnte aber Sarah durchaus verstehen-er selber hätte seine Angehörigen auch so schnell wie möglich nach Hause geholt, natürlich nur, wenn es medizinisch vertretbar war, aber das konnte er ja erfragen, ob Herr Jäger transportfähig war. So läutete er wenig später durch und wurde auch auf die Intensivstation verbunden, wo er seinen diensthabenden Innsbrucker Kollegen zu sprechen verlangte. Der sei gerade beschäftigt, würde aber zurück rufen!“ bekam er Bescheid und dann hörte er erst einmal mehrere Stunden gar nichts.

    Sarah hatte inzwischen einen kleinen Ambulanzflieger gechartert-die Ausrüstung und das Personal stellte die Firma, die sich auf Patiententransporte innerhalb Europas spezialisiert hatte, den Notarzt dazu hatte Sarah engagiert, den kannte sie schon sehr lange und erfuhr auch noch von deren Mitarbeiter in der Zentrale, dass der Ambulanzflieger nur am Flughafen landen konnte und man für die drei Kilometer von der Klinik dorthin noch zusätzlich einen RTW brauchte, den man über die Österreichische Leitstelle dazu buchen musste. „Außerdem ist es sinnvoll, wenn der begleitende Notarzt den Patienten persönlich auf der Intensivstation übernimmt-das erspart viele Nachfragen!“ regten sie an-na klar, das war deren Geschäft und die machten den ganzen Tag auch nichts anderes. Sarah beschloss, den Arzt nach der Landung persönlich mit dem Wagen am Flughafen abzuholen und ihn zur Klinik zu bringen-vielleicht konnte sie dann Ben vor der Verlegung noch einmal kurz sehen.


    Wenigstens verging so die Zeit mit dem Organisieren-Andrea und Semir waren mit den Kindern ein wenig raus gegangen und Sarah war ganz überrascht, als es plötzlich fast Mittag war und sie Mia-Sophie zum Stillen bekam. Voller Ungeduld rief sie dann nochmals den Professor in Köln an-der hatte doch versprochen, ihr sofort Bescheid zu sagen, wenn er etwas von seinen Kollegen in Innsbruck erfahren hatte und eigentlich war das ein Mann, der sein Wort hielt. „Sarah-ich habe dort um Rückruf gebeten, aber der ist bisher noch nicht erfolgt!“ gab er ihr Bescheid, versprach aber, es gleich nochmals zu versuchen und sie dann sofort zu verständigen. Kaum hatte er aufgelegt, läutete Sarah´s Telefon. „Universitätsklinikum Innsbruck am Apparat-spreche ich mit Frau Jäger?“ hörte sie eine Stimme und sie bejahte. „Hier spricht Dr. Wenger, ich bin der behandelnde Arzt ihres Mannes auf der Intensivstation. Frau Jäger-ich muss ihnen leider mitteilen, ihrem Mann geht es sehr schlecht-wenn sie ihn noch sehen wollen, sollten sie sich beeilen und so schnell wie möglich herkommen!“ sagte er und Sarah wurde kalkweiss und hätte beinahe das Telefon fallen gelassen. „Was ist passiert?“ fragte sie tonlos, aber der Arzt hatte schon aufgelegt.

  • Der junge Pfleger war nach dem Spätdienst noch in einen Spielsalon, in dem er Stammgast war, zum Silvester feiern gegangen. Dort ging noch eine spontane Pokerrunde zusammen und als er gegen zwei nach Hause ging, hatte er 5000 € verloren und der Typ, der gewonnen hatte und der Innsbrucks Unterwelt angehörte, wollte bis spätestens nächste Woche sein Geld sehen, sonst würde er ihm alle Knochen brechen lassen. So wälzte er sich ein paar Stunden fast schlaflos in seinem Bett, um gegen neun wieder aufzustehen. Er hatte heute erneut Spätdienst, aber zuvor musste er diesen Jäger erledigen, sonst war sein Schicksal besiegelt, denn mit dem Innsbrucker Zuhälter war nicht zu spaßen-der hasste Ehrenschulden! Karsten hatte schon fieberhaft überlegt, wie er das anstellen sollte, aber ein richtiger Plan hatte nicht in ihm wachsen können-da gab es zu viele Unwägbarkeiten. Er würde sich auf den Zufall verlassen müssen und eigentlich hatte er schon oft Glück gehabt in seinem Leben-nur jetzt gerade hatte er eine Pechsträhne, aber die würde bald vorbei sein-immerhin hatte ein neues Jahr begonnen und wie hieß es immer so schön-neues Spiel, neues Glück!

    So machte er sich um zehn von seiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt auf ins Krankenhaus, zog sich um und ging dann schnurstracks auf die Intensivstation. Er durfte jetzt nur keinem von seinen Stationskollegen begegnen, die würden sich wundern, was er vormittags schon in Dienstkleidung im Krankenhaus machte, wenn er doch Spätdienst hatte, aber sogar dann würde ihm vermutlich eine Ausrede einfallen, er war da nicht auf den Mund gefallen. Auf der Intensiv angekommen, lief er erst wie zufällig am Zimmer, in dem dieser Jäger lag, vorbei und atmete dann auf. Der wache Patient neben dem war anscheinend verlegt, dafür schlief ein Beatmeter gut sediert vor sich hin. Der junge, blasse, gut aussehende Mann lag ebenfalls mit geschlossenen Augen in seinem Bett und schien zu schlafen-jetzt war die Bahn frei. Alle Intensivschwestern und Pfleger-klar die waren am Feiertag nochmals personell reduziert-waren in irgendwelchen Patientenzimmern und so öffnete der Pfleger einfach mal den Medikamentenkühlschrank. Gleich vorne dran bei A stand die Actilyse, ein Medikament, das die Blutgerinnung aufhob und das man normalerweise zum Auflösen von Blutgerinnseln verwendete, meist bei Schlaganfällen, Herzinfarkten oder Thrombosen und Embolien. Das wurde nach Körpergewicht dosiert und nun nahm Karsten schnell vier Packungen á 50 mg Alteplase, das waren die doppelten Einheiten, wie man sie therapeutisch bei einem Patienten von etwa 80kg, wie er diesen Jäger schätzte, mit Indikation einsetzen würde. Der Mann war frisch operiert-er würde sich verbluten, wenn er das Medikament erhielt und das Gute an der Sache war zudem noch, dass das ja zeitverzögert wirken würde-er wäre also schon lange wieder weg, bevor da irgendein Symptom einsetzte. Rasch nahm er noch mehrere große 20ml-Spritzen aus dem Spender und verschwand in einem Lagerraum, der selten betreten wurde. Er hatte während seiner Ausbildung, wo er zwei Monate auf Intensiv gewesen war, ein paarmal eine Lyse aufgelöst. Das Wasser und sogenannte Überleitungskanülen waren in der Packung. Man musste nur die Stöpsel der beiden Ampullen entfernen und dieses Überleitungsteil in der richtigen Reihenfolge einsetzen, dann schoss das sterile Wasser durch Unterdruck zum Wirkstoff und löste sich danach durch Schütteln auf. Normalerweise gab man nur eine kleine Menge als Bolus intravenös und der Rest lief als Perfusor über mindestens eine halbe Stunde, aber er würde natürlich die gesamte Überdosis dieses Medikaments, das gentechnisch hergestellt wurde, auf einmal injizieren. Als die vier Ampullen fertig aufgelöst waren, zog er das Medikament in die großen Spritzen auf, die er in seiner Kitteltasche verschwinden ließ. Die Ampullen wischte er gründlich ab, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen und versenkte sie in einem Glascontainer, der günstigerweise in diesem Vorraum stand. Nun trat er wieder auf den Flur und noch immer war keiner vom Personal zu sehen.

    So schlüpfte er in das Patientenzimmer und als Ben die Augen öffnete, beugte sich gerade ein junger Mann in weißer Pflegerkleidung und mit Einmalhandschuhen an den Händen über ihn, der ihn freundlich anlächelte. „Sie bekommen noch ein paar Vitamine von mir gespritzt, das hat der Arzt angeordnet, damit sie bald wieder auf die Beine kommen!“ erklärte er und hatte schon den Schraubstopfen vom ZVK gelöst und nacheinander mehrere Spritzen aufgesetzt und entleert. „Hören sie-kann ich nicht etwas zu trinken haben?“ fragte Ben, dem die Zunge vor Trockenheit am Gaumen klebte. „Soweit ich weiss nicht!“ sagte der junge Mann freundlich und steckte die nun leeren Spritzen wieder in seine Kitteltasche, was Ben verwundert konstatierte. „Aber warten sie-ich bringe ihnen etwas zur Mundpflege!“ sagte er diensteifrig und holte aus dem Pflegewagen im Zimmer Mundpflegestäbchen und drei Plastikeinmalbecher, davon einen mit Wasser gefüllt. „Sehen sie-da können sie ihren Mund befeuchten!“ zeigte er Ben und als nun der junge Pfleger, der für Ben und seinen unterkühlten Mitpatienten zuständig war, um die Ecke bog, bedankte er sich bei seinem Kollegen von Normalstation. „Mann-du machst gleich meine Arbeit, Karsten-Herr Jäger ich komme in Kürze zum Waschen und Betten zu ihnen- und du Karsten-was führt dich zu uns?“ fragte er und Karsten bat um einige unverfängliche Ampullen eines gängigen Medikaments, das angeblich auf seiner Station ausgegangen war und das ihm sein Kollege gleich aushändigte. „Dank dir nochmals für das Mundpflegeset bei meinem Patienten-Mann Karsten-willst du nicht bei uns anfangen? Du würdest dich doch wirklich eignen!“ fragte er noch und Karsten bekräftigte auch ihm gegenüber nochmals, sich das zu überlegen und verließ dann die Intensiv.
    Mann-das war knapp gewesen-wenn sein Kollege ein paar Minuten früher gekommen wäre, hätte er ihn auf frischer Tat ertappt, aber so konnte er sich rausreden, dass er nur Herrn Jäger auf seine Bitte hin den Mund ausgewischt hatte. Wenn er an dessen Laborwerte dachte, die er gestern natürlich im PC angesehen hatte, brauchte der nicht mehr viel Blut verlieren, um daran zu sterben-bis die das schnallten, war der schon bewusstlos und sonst gab es keine Zeugen. Und man konnte immer nach einer Operation eine Nachblutung erleiden, das lag in der Natur der Dinge!


    Ben hatte den Vormittag im Halbdämmerschlaf verbracht. Als Semir ihm zugeflüstert hatte, dass sie ihn nach Köln holen würden, war er froh gewesen, aber aktuell war er einfach nur müde und schwach. Kaum war Semir draußen, hatte man ein anderes Bett hereingefahren, in dem ein junger, völlig ausgekühlter, alkoholisierter junger Mann lag, der schwere Herzrhythmusstörungen wegen der Unterkühlung hatte. Er wurde vom Team der Intensiv fachmännisch versorgt, man intubierte ihn, er bekam- wie Ben- ebenfalls eine Arterie, einen ZVK und einen Blasenkatheter und als man ihn langsam erwärmte, bekämpfte man die Komplikationen, die vom Herzen ausgingen mit Medikamenten und dann sogar mehrmals mit einem Elektroschock, was Ben sehr beunruhigte, der das Ganze aus dem Augenwinkel verfolgte. Endlich so gegen neun war der Patient einigermaßen stabil und nun ließ man Ben und seinen Mitpatienten alleine im Raum. Ben hatte nicht gewagt, um etwas zu trinken zu bitten, obwohl er immer noch kurz vor dem Verdursten war, aber im Bett neben ihm ging es um Leben oder Tod-so viel war klar. Wenigstens hatte sein zuständiger Pfleger ihm immer wieder einen Opiatbolus aus dem Perfusor zukommen lassen, so dass er erstens keine Schmerzen hatte und zweitens ziemlich müde wurde. Er wurde erst wieder wach, als ein junger sympathisch aussehender Pfleger sich über ihn beugte, der allerdings weiße Kleidung und nicht blaue, wie die anderen Intensivmitarbeiter anhatte, aber das war Ben aktuell ziemlich egal. Der junge Mann spritzte ihm Vitamine und nachdem der nicht so gestresst wie die anderen wirkte, traute sich Ben, ihn um etwas zu trinken zu bitten. Das wurde ihm zwar nicht erlaubt, aber wenigstens konnte er jetzt mit der einen Hand, die nicht in einem Verband steckte, selber seinen Mund befeuchten und da war er sehr dankbar dafür.


    Sein zuständiger Pfleger hatte ihm zwar versprochen in Kürze zum Waschen und Betten zu ihm zu kommen, aber die nächste Stunde geschah mal wieder überhaupt nichts, nur eines war merkwürdig- Ben´s operiertes Bein begann zu spannen, ebenso wie seine Schulter und während er langsam schwächer wurde, begann seine Herzfrequenz allmählich anzusteigen und der Blutdruck zu sinken. Allerdings ging das so allmählich, dass man es kaum bemerkte und erst als gegen elf der Pfleger nun endlich mit einer Waschschüssel im Zimmer stand, fiel ihm die scheppernd aus der Hand und er starrte voller Entsetzen auf seinen Patienten, der blass in seinen Kissen lag- das Fußende des Bettes war ein einziger Blutfleck und auch im Katheterbeutel stand das pure Blut- und der anscheinend fast nicht mehr am Leben war.

  • „Notfall!“ gellte der Schrei des Pflegers und binnen Kurzem waren zwei Kollegen und der Stationsarzt, die sofort alles stehen und liegen gelassen hatten, im Zimmer, um heraus zu finden, was los war. „Schnell eine BGA und Notfalllabor!“ rief der Arzt, während der Pfleger Ben´s Bett derweil in Kopftieflage brachte und eine Kollegin losrannte, den Notfallwagen zu holen. Der öffnete jetzt müde die Augen und bemerkte erst, wie furchtbar schwindlig ihm war. Jemand riss ihm die Zudecke und das lose darüber gelegte Hemd weg, um sich einen Überblick über das Ausmaß der Blutungen zu machen und jetzt konnte man sehen, dass der komplette Kompressionsverband am Bein durchtränkt war und Ben´s Schulter-soweit man das innerhalb des Verbands erkennen konnte- blutunterlaufen und angeschwollen war. In den Katheterbeutel sprudelte es ebenfalls munter und jeder blaue Fleck, der an Ben´s Körper zu finden war, begann gerade auf das Doppelte seiner Größe anzuschwellen. Als man die Laborröhrchen gebracht hatte, nahm der Arzt eigenhändig das Blut aus der Arterie ab, denn jetzt durfte man nicht mehr zögern, jetzt brauchte Ben Blutkonserven und zwar sofort und die vier eingekreuzten, die in der Blutbank für ihn bereit lagen, würden nicht ausreichen, aber sie würden ihn zumindest ein wenig stabilisieren, falls das überhaupt noch möglich war. Jemand hatte die Infusion jetzt voll aufgedreht, denn im Augenblick war ein weiteres Lungenödem die kleinste Sorge-bevor es zu dem kam, wäre Ben an Kreislaufversagen verstorben. Man musste jetzt versuchen, heraus zu finden, warum er generalisiert blutete und dann versuchen seine Gerinnung, die anscheinend gerade völlig versagte, zu unterstützen und die Ursache zu behandeln.


    Obwohl Ben ja eh nicht mehr viel Blut im Leib hatte, nahm der Stationsarzt dennoch einige Röhrchen ab-das war vermutlich die letzte Möglichkeit an Material zur Diagnostik zu kommen, denn wenn jetzt die Therapien einsetzten, wären die Laborproben nicht mehr zu verwenden, weil sie dann von Fremdeiweißen verfälscht wurden, denn jetzt würde man wie bei einem Polytrauma zur Massentransfusion greifen und alles an Gerinnungsfaktoren, Blutplasmen und blutstillenden Medikamenten in den Patienten jagen, was die Schränke her gaben. Der Arzt hatte noch in Windeseile nach Ben´s Blutgruppe in dessen Akte geschaut, die am Fußende des Betts auf einem kleinen Tischchen lag und hatte weitere 8 Konserven in seiner Blutgruppe angefordert und das durch seine Unterschrift auf dem Zettel bestätigt, alle andere Diagnostik forderte derweil eine Schwester draußen am PC an, aber das musste händisch geschehen. „Bitte sofort 6 Gefrierplasmen seiner Blutgruppe in den Wärmer!“ ordnete er dann an, „ 20 mg Konakion in eine Kurzinfusion, Volumen, bis die EK´s da sind und bitte eine Blutsperre für den Oberschenkel bereit legen, falls wir die Blutung anders nicht zum Stehen bringen!“ Er wollte damit allerdings noch warten, denn das konnte bedeuten, dass der Patient sein Bein verlor und bisher hatten sie ja noch keine Ahnung, woher diese plötzliche Blutungsneigung kam. Eine Schwester sauste los, um im Labor, das eine ganze Ecke entfernt lag, die Blutproben abzugeben und die Konserven mit zu bringen-auch das kostete sie nochmals Zeit, denn am Wochenende gab es keinen Hol- und Bringedienst und von Rohrpostleitungen oder anderen derartigen Systemen hatte man leider in diesem Haus noch nie etwas gehört.


    Der Arzt zermarterte sich den Kopf, ein Mitarbeiter hatte derweil am intensiveigenen Blutgasgerät mit Kleinlabor das Gas bestimmt und man hatte einen ersten Anhaltspunkt, wie viel Blut Ben wohl verloren hatte. Der Hb-Wert lag nur noch bei 3.9 mg/dl und das war erstens mit der Versorgung der inneren Organe fast nicht vereinbar und zweitens hatte er das auch nur ohne Kollaps bisher kompensieren können, weil er sich die letzten Tage schon ein wenig an die niedrigen Werte hatte gewöhnen können und sein Kreislauf zusätzlich durch die Katecholamine gestützt wurde. Allerdings wusste bisher niemand, was die plötzliche Blutungsneigung ausgelöst hatte.
    Es standen zunächst einmal drei Verdachtsdiagnosen im Raum: Erstens eine sogenannte Verbrauchskoagulopathie, also ein Versagen der Gerinnung durch den starken Blutverlust, dann konnte man natürlich einen Behandlungsfehler nicht ausschließen und unauffällig hatte der Arzt schon nach einem eventuellen Heparinperfusor Ausschau gehalten, aber da hing definitiv keiner. Bei der Arbeitsüberlastung des Personals hätte es ihn aber nicht gewundert, wenn einmal eine Verwechslung von mündlichen Anordnungen vorkam, er hatte vorher z.B. für die junge Alkoholleiche im Nebenbett einen Heparinperfusor wegen der Rhythmusstörungen angeordnet und schon befürchtet, dass da jemand was verwechselt hatte, aber der hing beim richtigen Patienten und bei Herrn Jäger lief wirklich nur das Noradrenalin. Das musste man aktuell wieder erhöhen und man hatte Ben nun erneut eine Sauerstoffmaske mit 15 Litern aufs Gesicht gelegt, um die Versorgung des Gehirns und der wichtigsten Organe zu fördern, wobei der Sauerstoff ja ein Trägermedium brauchte, um dorthin zu kommen, wo er benötigt wurde und das war das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen und wenn die im Organismus fehlten, dann starb man, wenn da nichts dagegen unternommen wurde.
    Die dritte Möglichkeit war eine allergische Reaktion und mit Entsetzen dachte der Arzt daran, dass Herr Jäger am Vortag EPO bekommen hatte. Da hatte es schon einmal einen Skandal gegeben, weil einer der Hersteller-und da gab es viele-wegen einer Zulassungsänderung das Konservierungsmittel in den Fertigspritzen geändert hatte. Die Fertigspritzen waren bei EPO beliebt, weil wesentlich mehr auf dem Schwarzmarkt gehandelt und zum Doping eingesetzt, als im medizinischen Bereich verwendet wurde und man den Laien das mühsame Aufziehen ersparen wollte. So hatte damals das Konservierungsmittel die Weichmacher aus dem Gummi gelöst und es hatte Todesfälle und schwere Komplikationen durch Allergien, die zu einer Hämolyse geführt hatten, gegeben. Bitte nicht nochmal so einen Skandal-obwohl eine Klinik da ja nichts dazu konnte, warf das ein furchtbar schlechtes Licht auf jedes Krankenhaus.
    Aber vielleicht würden sie mehr wissen, sobald die Blutproben untersucht waren und jetzt kam auch schon die Schwester mit den ersten vier Konserven und einem Druckbeutel um die Ecke. Man hatte Ben wieder zugedeckt, um einer Auskühlung vor zu beugen, den Blutdruck hielt man medikamentös relativ niedrig so um die 80/40 mm/ Hg, damit man keine weiteren Blutungen provozierte, das Fläschchen mit dem Konakion hing und nun hatte man auch schon mehrere Gerinnungsfaktoren, die der Arzt angeordnet hatte, aufgelöst und gespritzt. Dennoch würde die nächste Stunde entscheiden, ob er das überlebte und der Arzt entschied sich, die Angehörigen zu verständigen und hatte so wenig später Sarah am Telefon, die vor Entsetzen beinahe zusammen klappte.

    Ben hatte derweil die Augen wieder zugemacht, denn die Welt fuhr inzwischen um ihn Karussell, aber er merkte durchaus, wie schlecht es um ihn stand-das musste ihm keiner sagen. Allerdings hatte er gehört, wie der Arzt anscheinend Sarah angerufen hatte und da war er froh darüber-wenn er schon sterben musste, wollte er wenigstens nicht alleine sein und er hoffte, dass Semir auch mitkommen würde, aber dann bemühte er sich wieder ruhig zu atmen, wie ihm befohlen wurde-vielleicht hatte er ja doch noch eine kleine Chance, denn eigentlich war er noch nicht bereit abzutreten, aber wer war das schon?

  • Semir hatte Sarah angesehen, die käsebleich war und nachdem sie die Worte des Arztes wiederholt hatte, sagte er sofort: „Ich komme mit!“ während er Andrea entschuldigend ansah, die aber sofort darauf einging und beteuerte: „Natürlich passe ich auf die Kinder auf!“ und ihr Mann ihr dankbar zunickte. Sarah hatte die kleine Mia-Sophie gerade vorher noch gestillt, aber sie sagte nun: „Andrea-ich weiss nicht, ob ich da sein kann, wenn sie wieder Hunger kriegt-jetzt geht Ben vor-ich habe hier für alle Fälle ein Fläschchen und Fertigmilch dabei!“ sagte sie und zeigte ihrer Freundin das kleine Paket. Bisher war das Baby zwar voll gestillt worden, aber ab und zu hatte Ben ihr schon mal ein wenig Tee aus der Flasche gefüttert, wenn sich Sarah verspätete oder auch abgepumpte Muttermilch, die sie zuhause eingefroren hatte. Hier bestand jetzt diese Möglichkeit nicht, aber immerhin kannte die Kleine eine Flasche und war an und für sich ein unkompliziertes Kind. „Keine Sorge Sarah-das kriegen wir-kümmert ihr euch um Ben!“ bestimmte Andrea und deutete auf Ayda, Lilly und Tim, die gerade kichernd Verstecken spielten, wobei der einzige, der die Sache ernst nahm, Tim war, aber die größeren Mädchen behandelten ihn wie einen kleineren Bruder und so konnten Sarah und Semir wenigstens diesbezüglich ohne Sorgen aufbrechen.
    Semir legte seine Jacke nur über den verbundenen Arm, schlüpfte in den anderen Ärmel und dann liefen sie gemeinsam los. Sarah schlug ein dermaßen flottes Tempo vor, dass Semir sie keuchend bitten musste, doch etwas langsamer zu gehen-an seine Rauchgasvergiftung hatte sie keinen Gedanken mehr verschwendet, so sehr war sie von Sorge um Ben erfüllt.


    Als sie wenig später draußen an der Intensiv läuteten, wurden sie ohne großes Federlesens herein gelassen, auch dass Semir dabei war, störte aktuell niemanden-zu schlecht ging es dem Patienten-da hatte man keine Zeit für Grabenkämpfe, außerdem war es dem Pfleger eigentlich schnurzpiepegal, ob da Angehörige da waren-er wollte nur nicht mehr Arbeit, als sowieso schon! Man hatte inzwischen einen Unfallchirurgen, einen Internisten und einen Urologen hinzu gezogen, um die Möglichkeiten einer lokalen Blutstillung zu prüfen. Die ersten Blutkonserven rauschten über den Druckbeutel gerade in Ben, der aber trotzdem kaum mehr bei Bewusstsein war. Man hatte kurz eine Intubation erwogen, aber da die damit verbundene Sedierung seinen Kreislauf nur noch mehr belasten würde und sowohl sein Atemantrieb, als auch die Schutzreflexe noch funktionierten, sah man aktuell davon ab. Allerdings stand der Notfallwagen vor der Tür und während Sarah nun einfach an das Kopfende von Ben´s Bett ging und sich über ihn beugte-gleichzeitig besorgte Ehefrau, aber eben auch coole Intensivschwester, die sich aktuell von ihren Gefühlen nicht übermannen ließ, blieb Semir abwartend ein wenig seitlich stehen-irgendwie waren da einfach gerade zu viele Menschen rund um seinen Freund, dem es augenscheinlich massiv schlecht ging.
    Eine wächserne, beinahe gelbliche Blässe hatte von ihm Besitz ergriffen, er reagierte langsam und irgendwie kam Semir die Situation gerade extrem unwirklich vor. Vor wenigen Stunden hatte er Ben verlassen und war der Überzeugung gewesen, dass das Schlimmste überstanden war und der jetzt in Kürze nach Köln verlegt, dort gesund gepflegt und bald wieder zuhause sein würde. Die letzten Tage hatte er mehrfach damit gerechnet ihn zu verlieren, aber irgendwie hatte der das Ganze gewuppt und er war nicht mehr in Alarmbereitschaft gewesen, aber jetzt sah es richtig miserabel aus, wie er aus den düsteren Mienen der umstehenden Ärzte ermessen konnte. Und obwohl Semir da vielleicht kein Fachmann war-Stimmungen erfassen und daraus Schlüsse ziehen konnte er-das war auch ein großer Teil seiner Polizeiarbeit-Intuition, schnelles Reagieren, eine innere Überzeugung, wer der Täter war einfach zulassen und dem entsprechend agieren, aber diese Ärzte wirkten allesamt furchtbar negativ auf ihn, als hätten sie seinen Freund schon aufgegeben.


    „Am Bein würde ich aktuell einen Druckverband anlegen-später muss man das vermutlich nochmals revidieren und die Hämatome ausräumen!“ erklärte der Unfallchirurg nach einem Blick auf Ben´s Bein, das auf das doppelte angeschwollen war und wo das Blut seitlich an den Nähten vorbei strömte und die Redonflaschen bereits prall gefüllt hatte und nach einem weiteren Blick auf die Schulter empfahl er dort Eiskompressen und einen Sandsack, bevor er sich wieder auf den Weg zu seiner anderen Arbeit machte, aber irgendwie wirkte das auf die Anwesenden als wäre er sich sicher, dass das sowieso nicht mehr notwendig sein würde. Der Internist hatte derweil intensiv die Laborergebnisse und die Krankengeschichte studiert, die allerdings nicht sonderlich ausführlich war, sondern nur Ben´s Aussagen in der Notaufnahme, als er noch unter dem Einfluss des Ketamins stand, beinhaltete. „Sie sind die Ehefrau?“ wollte der Internist wissen und als Sarah nicht nur nickte, sondern während sie Ben liebevoll und tröstend anlächelte und ihre warmen Hände auf seine schweißnasse Stirn legte, dem Arzt erklärte, dass sie Intensivschwester war, begann der ihr gleich Fragen zur Anamnese zu stellen und Sarah beantwortete die wahrheitsgemäß und besser als Ben das je gekonnt hätte.
    Der Urologe hatte einen prüfenden Blick auf den Katheterbeutel geworfen. „Wir können hier sicher lokal einige Gefäße kautern-kann man ihn in die Urologie bringen“ fragte er, aber der Intensivarzt schüttelte den Kopf und sagte leise: „Er ist nicht transportfähig-alle Maßnahmen hier vor Ort oder gar nicht!“ bemerkte er kurz und nach einer schnellen Überlegung kündigte der Urologe an, in Kürze mit seinem Instrumentarium wieder hier zu sein. Während der Intensivarzt die nächste Blutkonserve anhängte, sprang Semir hinzu und hielt mit seinem gesunden Arm Ben´s Bein, als der Pfleger nun einen dicken Druckverband darüber wickelte. „Ben-du packst das!“ sagte er eindringlich und hatte den Eindruck, dass das Blut jetzt doch ein wenig langsamer floss und sein Freund ein kleines bisschen mehr Farbe hatte.

  • Nachdem der Druckverband angelegt war, überall Eisbeutel, die die Gefäße zusammen ziehen sollten, auf Ben lagen, die ersten vier Konserven und zwei der Gefrierplasmen in ihm verschwunden waren, alle Gerinnungsfaktoren, die man griffbereit hatte und zudem noch ein blutstillendes Medikament in der Infusion war, schienen die Blutungen tatsächlich ein wenig nach zu lassen und sich Ben´s Kreislauf zumindest nicht weiter zu verschlechtern. Nur in den Urinbeutel lief das Blut immer noch wie ein Bächlein. Der Anästhesist prüfte Ben´s Pupillenreflexe, denn wenn solche generalisierten Blutungen auftraten, bestand auch immer die Gefahr einer Hirnblutung, aber die waren Gott sei Dank unauffällig.


    Nachdem der Internist mit Sarah noch die Möglichkeiten irgendwelcher Allergien durchgegangen war, was aber zu nichts geführt hatte, weil Ben ansonsten völlig gesund war, wenn er sich nicht gerade verletzt hatte, empfahl er dem Intensivarzt einfach so weiter zu machen mit der Therapie und verschwand dann wieder. Nun hatte Sarah endlich Zeit sich richtig um ihren Mann zu kümmern und nachdem gerade außer dem Anästhesisten, der gerade das nächste Gefrierplasma vorbereitete, niemand im Raum war, denn der Pfleger war unterwegs ins Labor, wo die nächsten Konserven eingekreuzt waren, trat Semir ebenfalls ganz nah an die Seite seines Freundes und legte die Hand auf ihn, während ihm Sarah ihre Liebe versicherte, seine Stirn mit Küssen bedeckte und ihn anspornte durch zu halten. „Sieh mal-es wird schon besser!“ sagte sie, allerdings merkte Ben davon überhaupt nichts. Im Gegenteil er hatte fürchterliche Schmerzen in Schulter und Bein und auch Bauchweh, alles spannte, aber man traute sich nur ihm eine Minimaldosis an Opiat zu geben, wegen dem Kreislauf und die anderen Schmerzmittel waren aktuell pausiert, weil durchaus die Möglichkeit einer schweren Reaktion auf eines von denen bestand. Sowas hatte es bei Metamizol schon gegeben, bei Paracetamol und auch bei fast allen anderen peripheren Schmerzmitteln. Es war möglich, dass Ben auf einen der Inhaltsstoffe, oder eben auch auf ein Lösungs-, Konservierungs-, oder Stabilisierungsmittel allergisch reagierte. Das war zwar eigentlich merkwürdig, weil er bei seinen vorherigen Krankenhausaufenthalten dieselben Medikamente ja auch schon gekriegt hatte, wie der Internist bei Sarah erfragt hatte, aber jedes Haus und vor allem jedes Land bezog die von anderen Herstellern und wenn auch der Wirkstoff derselbe war-die Zusatzstoffe und anderen Medien waren von Hersteller zu Hersteller verschieden. Inzwischen waren auch weitere Laboranalysen eingetroffen, die der Stationsarzt kopfschüttelnd betrachtete. Ben´s Blutgerinnung war völlig aufgehoben, wie als wenn er eine Lyse erhalten hätte, oder Schlangengift- er hatte nämlich mal in den Tropen gearbeitet, da sah man sowas häufiger, aber das war ja nicht geschehen und so würde man ihn jetzt einfach weiter symptomatisch behandeln und hoffen, dass seine Jugend und sein Wille stärker waren als der Tod-mehr konnten sie nicht tun.


    Bald hingen die nächsten Erythrozytenkonzentrate und dazu parallel ein Gefrierplasma, das-wie der Name schon sagte- sozusagen der flüssige Blutbestandteil aus den Blutspenden war. Nachdem man kein Vollblut transfundierte, wurde das Plasma nach der Blutspende abzentrifugiert. Man sortierte es zwar nach Blutgruppen, aber z.B. der Rhesusfaktor war völlig unwichtig, der bezog sich nur auf die Blutkörperchen. Aus der Mischung aus mehreren Blutkonserven füllte man dann etwas in Beutel ab, versah es mit einer Chargennummer und fror es ein. Bei einer durchgehenden Kühlkette von -42°C war das Plasma bis zu eineinhalb Jahre haltbar und konnte direkt auf der Intensivstation in einem speziellen Gefrierschrank vorrätig gehalten werden. Darin waren Gerinnungsfaktoren und noch viele andere wichtige Stoffe enthalten. Nachdem man wesentlich mehr EK´s wie FFP´s, wie der englische Ausdruck Fresh-Frozen-Plasma besagte, benötigte, wurden aus dem Rest dann andere Stoffe heraus zentrifugiert und die konnte man teilweise durch spezielle chemische und physikalische Verfahren in Kristallform bringen, in Ampullen abfüllen und dann ebenfalls bei schweren Blutungen oder angeborenen Mängeln in der Blutgerinnung, wie z.B. der bekannten Bluterkrankheit, einem Faktor fünf-Leiden, das beispielsweise in der russischen Zarenfamilie seit Hunderten von Jahren vererbt wurde, als Medikament verabreichen und den Menschen so ein normales Leben ermöglichen. Ohne detailliert zu wissen, wo genau der Mangel bei Ben lag, denn diese speziellen Untersuchungen waren zeitaufwendig und Zeit hatte Ben eben keine, hatte man ihm einfach alle vorrätigen Faktoren zugeführt und dazu noch die Vitamine K und C, die als Vorstufe bei der körpereigenen Herstellung der Gerinnungsfaktoren benötigt wurden. Jetzt blieb zu hoffen, dass die zugeführten Fremdfaktoren aus den Blutspenden ausreichen würden, um die Blutungen zum Stillstand zu bringen.


    Wenn das nicht geschah, würde er binnen Kurzem verbluten und als nun der Urologe mit einer Endoskopieschwester und einem transportablen Video-Endoskopie-Turm im Raum stand, war der Anästhesist erleichtert. Tatsächlich hatten nämlich die Blutungen in Bein und Schulter nachgelassen, vielleicht auch, weil die Hämatome, der Sandsack und der Kompressionsverband jetzt so viel Druck im Gewebe ausübten, dass die Blutgefäße einfach abgequetscht wurden, aber aus der Blase sprudelte es nach wie vor weiter-da war eine lokale Blutstillung unabdingbar.
    Der Urologe hatte schon die ganze Zeit überlegt, wie er das am besten machen sollte-normalerweise bevorzugte er die Steinschnittlage für die Untersuchung, aber jetzt musste es eben in Rückenlage gehen und wegen der Sterilität war es jetzt von Vorteil, dass Ben ein Mann war. Er wollte gerade die Besucher hinausschicken, da schüttelte Ben den Kopf: „Bitte-lassen sie sie dableiben-meine Frau ist Krankenschwester und mein Freund war gestern auch dabei!“ bat er und der Urologe und auch der Stationsarzt streckten die Waffen. Auch wenn es bei ihnen absolut nicht üblich war, Angehörige bei Eingriffen anwesend sein zu lassen, aber vielleicht konnten sie ihn ablenken und beruhigen, denn angenehm würde das mit Sicherheit nicht werden und so begannen die Vorbereitungen.


    Als es 15 Minuten später gelungen war, die Blutungen in der Harnblase zum Stehen zu bringen, bekam Ben einen neuen Blasenkatheter, diesmal einen Spülkatheter, aber nach dem was hinter ihm lag, war ihm das inzwischen egal. Fakt war aber-alle von außen erkennbaren Blutungen standen, der Hb war in den letzten 10 Minuten nicht mehr abgesunken, sondern dank Konserven sogar leicht gestiegen und jetzt konnte man wieder ein kleines bisschen Hoffnung schöpfen. Inzwischen war Schichtwechsel und während der jüngere Pfleger jetzt erleichtert nach Hause ging-seinen Neujahrsdienst hatte er sich nicht so anstrengend gewünscht-übernahm der Drachen wieder die Schicht und wollte als erstes Sarah und Semir der Intensivstation verweisen. „Nein-wir gehen nicht! Meinem Mann geht es immer noch sehr schlecht und wir werden bei ihm bleiben-wenn sie uns los haben wollen, müssen sie schon die Polizei her bemühen und uns abführen lassen und ich warne sie-wir haben gute Anwälte und außerdem sind mein Mann und auch sein bester Freund hier ebenfalls Polizisten!“ behauptete sich Sarah und nachdem der Stationsarzt müde abwinkte und der Schwester draußen erklärt hatte, dass man hier eben mal eine Ausnahme machen sollte, fügte sie sich zähneknirschend der Anordnung. „Aber wenn ich etwas am Nebenpatienten mache, gehen sie raus!“ sagte sie und das sicherten ihr nun Sarah und Semir zu-man musste ja nicht übertreiben und der Frau auch ein wenig entgegen kommen. Die beiden hatten inzwischen auf zwei Stühlen rechts und links des jungen dunkelhaarigen Polizisten Platz genommen, Sarah hielt seine Hand und auch Semir hatte seine eigene unverletzte Hand auf Ben´s geschundenem Körper liegen. Sie vermittelten ihm so Nähe, Schutz und Geborgenheit und so konnte Ben nach den ganzen Anstrengungen endlich die Augen schließen und sich ein wenig ausruhen-hoffentlich blieb es so und die nächste Katastrophe brach nicht in Kürze über sie herein!

  • Ben´s Zustand besserte sich im Laufe des Nachmittags. Irgendwann sagte Sarah, die aktuell zu platzen drohte: „Ich glaube ich schaue mal schnell ins Hotel. Erstens sollten wir Andrea Bescheid sagen und zweitens hoffe ich, dass Mia-Sophie noch nicht papp satt ist!“ und Semir und auch Ben, der im Halbdämmer vor sich hin schlief, hatten verstanden und nickten. Sarah gab Ben noch einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, versprach in Kürze wieder zu kommen und eilte dann hinaus. Der Notarzt der die Rückverlegung Ben´s nach Köln begleiten sollte, war inzwischen vom Stationsarzt verständigt worden, dass der eine akute Blutungskrise unklarer Genese erlitten hatte und aktuell nicht transportfähig war und das hatte er bedauernd akzeptieren müssen. Allerdings war er froh, dass das noch im Krankenhaus geschehen war und nicht auf dem Transport, denn das wäre dann das Todesurteil für den Patienten gewesen.


    Semir verließ auch kurz das Zimmer, wie mit dem Drachen abgesprochen, wenn die am Patienten im Nebenbett etwas machte, als sie sich dann allerdings Ben zuwandte, um den alleine zu betten, während er doch vor der Zimmertüre stand, was seinem Freund sehr weh tat und ihn aufschreien ließ, eilte er wieder zurück und fasste wortlos mit an-auch wenn er nur eine gesunde Hand zur Verfügung hatte, war das doch schonender für seinen Freund, wenn er ihn stützte, als wenn die Schwester da alleine herumzerrte. Sie warf ihm deshalb zwar einen vernichtenden Blick zu, aber Semir lächelte freundlich zurück und dachte sich insgeheim: „Du mich auch!“ und so brachten sie auch das gemeinsam hinter sich. Ben war heilfroh, dass er der ihm fürchterlich unsympathischen Frau nicht alleine ausgeliefert war und als das Leintuch unter ihm nun frisch und glatt war, war es auch für ihn eine Wohltat.
    Man hatte die Redonflaschen, die an seinem operierten Bein hingen, in der akuten Blutungsphase ohne Sog gelassen und auch mehrmals gewechselt. Jetzt war seit geraumer Zeit nichts mehr nachgelaufen, es wurde also besser. Der Urin, der zwar an sich noch spärlich floss, so ein akuter Blutungsschock musste auch von der Niere erst verkraftet werden, war allerdings nur noch schwach rosa und man hatte eine Blasenspülung mit angehängt, das bedeutete, dass durch den mehrlumigen Spülkatheter kontinuierlich Ringerlösung in Ben tropfte, die dann durch das andere Lumen wieder mit heraus lief, das hatte allerdings den Effekt, dass der Katheter nicht so leicht verstopfen konnte, wenn sich doch Koagel bilden sollten, was bei großen Wundflächen in der Blase eigentlich üblich war. Immer noch war völlig unklar was Ben eigentlich fehlte, aber wenigstens aktuell hatte ihre Behandlung angeschlagen. Der Stationsarzt der sich gerade mühsam bei seinen anderen Patienten wieder auf den Stand arbeitete, beschloss dann, dass Ben´s Mitpatient, der nun warm war und auch keine Herzrhythmusstörungen mehr geboten hatte und dessen Blutalkoholspiegel jetzt auch bei Null angekommen war, aufwachen durfte und extubiert werden konnte. Dessen Problem war die Unterkühlung gewesen und so schaltete man die Sedierung bei ihm aus und wartete was passierte.


    Als Sarah wiederkam, hatte sie zuvor Glück gehabt, denn Andrea war mit den Kindern draußen gewesen und ihre Tochter hatte im Kinderwagen selig lange geschlafen und Andrea war gerade erst dabei gewesen die Fertigmilch vorzubereiten, als sie in die Suite stürmte und gleich ihre inzwischen vor Hunger weinende Tochter zufrieden stellte. Sie erzählte ihrer Freundin in kurzen Worten, was geschehen war und wie es Ben aktuell ging, auch dass sie ihn nicht alleine lassen wollten und sozusagen eine Ausnahmegenehmigung erwirkt hatten und die nickte mit dem Kopf. Das war nur zu verständlich und sie war nur froh, dass Ben lebte. Mia-Sophie war nun wieder zufrieden und strampelte nach dem Wickeln auf ihrer Decke am Boden, während Tim, der nun langsam müde und knatschig wurde auf Mamas Schoß wollte und sehr weinte, als Sarah wieder gehen wollte. „Ach verdammt-ich kann dich doch jetzt nicht mit vier anstrengenden Kindern alleine lassen!“ machte Sarah sich Gedanken, aber dann war Tim plötzlich eingeschlafen-es war zwar eigentlich schon zu spät für einen Nachmittagsschlaf, aber heute war alles anders und so legten sie ihn vorsichtig hin und Ayda und Lilly spielten jetzt mit dem Baby, das glucksend lachte, wenn sie es kitzelten und ihm Spielzeug brachten. Mit schlechtem Gewissen verschwand Sarah wieder Richtung Krankenhaus und Andrea nahm ihre beiden Mädchen liebevoll in die Arme und drückte sie: „Meine Großen-wenn ich euch nicht hätte, wüsste ich nicht wie ich das schaffen sollte!“ sagte sie ehrlich und Ayda schmiegte sich eng an sie und sagte altklug: „Wir wollen auch, dass Ben wieder gesund wird und da braucht er Sarah und Papa dazu!“ und da musste Andrea ihr Recht geben-ihre Tochter hatte intuitiv erfasst, was jetzt wichtig war!


    Wieder in der Klinik angekommen, wartete Semir gerade wieder vor dem Zimmer. „Sie lassen den Mitpatienten jetzt aufwachen-ich befürchte, der Drachen wird uns jetzt öfters rausschmeißen!“ sagte er, denn ihm gefiel Ben´s Spitznamen für diese spezielle Schwester. Leider kam die gerade raus und sah ihn jetzt mit einem vernichtenden Blick an: „Ich habe das gehört!“ sagte sie spitz und verschwand dann stocksauer um die nächste Ecke und Semir zog den Kopf ein. Oh je-das war jetzt strategisch ungünstig, jetzt hatten sie die Schwester noch viel mehr gegen sich aufgebracht-hoffentlich musste Ben das nicht büßen! Der lag immer noch erschöpft in den Kissen, aber sein Kreislauf stabilisierte sich und gerade hatte ihm die Pflegekraft sogar ein wenig mehr Opiat zukommen lassen. Als kurz darauf der Stationsarzt nochmals zu ihm kam und ihn erneut untersuchte und seine neuesten Laborwerte aus dem intensiveigenen Kleinlabor studierte, sagte er: „Herr Jäger-ich wage es fast nicht zu sagen, aber ich denke sie sind überm Berg-allerdings müssen sich die Unfallchirurgen jetzt das Bein anschauen, ob man das momentan so lassen kann, oder gleich etwas unternehmen muss!“ denn die Fußpulse waren ein wenig schwach auf der operierten Seite. So kam der Unfallchirurg wenig später um die Ecke und man wickelte den Kompressionsverband ab. Das Bein sah schrecklich aus, es war dick und blutunterlaufen und er sagte: „Zumindest ein paar Nähte muss ich aufmachen-eine große Hämatomausräumung machen wir dann morgen im OP!“ und als er sich die Schulter noch besehen hatte, kündigte er auch dort für den morgigen Tag eine Entlastungs-OP an und als er das Zimmer wieder verlassen hatte, um seine benötigten Materialien und die Schwester zu holen, sagte Ben mit schon wieder erwachtem Galgenhumor: „Oh Mann wie schön, dass man immer etwas hat, worauf man sich freuen kann!“ und nun mussten Sarah und Semir trotz aller Sorge grinsen-das war wieder der alte Ben und inzwischen wagten auch sie beide zu hoffen, dass er das überstehen würde.


    Karsten hatte sich noch in der Krankenhauscafeteria ein Mittagessen gekauft und dann ganz regulär seinen Dienst angetreten. Als am späten Nachmittag ein Patient auf seiner Station verstarb und er ihn zwei Stunden später in den Leichenkeller bringen musste, musterte er anschließend die Namen an den Kühlfächern, aber ein Ben Jäger war noch nicht darunter. Wenn der nach Schichtende immer noch nicht tot war, musste er sich was einfallen lassen, aber aktuell würde er sich von der Intensiv fern halten-nicht dass er auffiel, er hatte nämlich keine Lust in den Knast zu wandern, aber das Geld seines Auftraggebers brauchte er unbedingt!

  • Der Unfallchirurg kam kurz darauf wieder und hatte die Schwester mit dem Eingriffswagen im Schlepp. Die wollte Sarah und Semir wieder hinausschicken, aber die weigerten sich standhaft und das war auch gut so, denn der Unfallchirurg zog sich steril an und begann dann jeden zweiten Faden an Ben´s Operationswunde am Bein zu entfernen und dann die Blutergüsse raus zu drücken, damit sich das Bein durch die massive Schwellung nicht selber die Blutversorgung abschnürte und damit der Operationserfolg in die Binsen ging. Ben stöhnte schmerzvoll auf, aber wieder bekam er nur minimal Opiat. Wenn seine Frau und sein Freund nicht dagewesen und ihn oben rum fest gehalten hätten-das zweite Bein hielt mit eisenhartem Griff der Drachen-hätte er wahrscheinlich nach dem Doktor geschlagen und getreten, so weh tat das. Endlich hatte der sein Werk beendet und sagte ungerührt: „So-bis morgen dürfte es gehen und dann werden wir mal sehen, ob wir ihnen dann eine Narkose machen können!“ und damit schlüpfte er aus dem blutigen Kittel und den Handschuhen, schmiss alles in den Müll und zog von dannen, während Ben erleichtert aufatmete. Die Schwester hätte die blutige Unterlage alleine heraus gezerrt, aber Sarah trat wortlos nach unten, hob vorsichtig Ben´s Bein an und half auch noch einen lockeren Verband darum zu befestigen.


    Nun begann sich der junge Patient im Nebenbett zu regen und sofort wurden Sarah und Semir hinaus geschickt, während die Schwester sich um ihn kümmerte, was sich allerdings darauf beschränkte, dass sie ihn anpfiff, er solle gefälligst liegen bleiben. Sie nahm bei beiden Patienten noch ein Blutgas ab und als Sarah und Semir dann wieder ins Zimmer traten, war der junge Mann völlig panisch, zerrte an seinen Handfixierungen und sah voller Angst um sich. Sarah überlegte einen Moment, machte dann das grelle Deckenlicht, das immer noch leuchtete, aus und statt dessen eine weiche indirekte Beleuchtung an, trat dann an das Bett des jungen fremden Mannes und sagte freundlich: „Sie müssen keine Angst haben-sie sind im Krankenhaus auf der Intensivstation. In ihrem Hals steckt ein Schlauch, der ihnen beim Atmen hilft, aber ich denke, den wird man in Kürze heraus ziehen. Der Mann bewegte die Lippen, aber Sarah legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter: „Das geht nicht mit dem Sprechen wenn man intubiert ist, aber seien sie noch ein wenig geduldig und versuchen zu schlafen!“ bat sie ihn ruhig und lächelte und tatsächlich-jetzt war der junge Mann beruhigt und schloss die Augen, während Sarah wieder zu ihrem Ben trat. „Das war jetzt nett von dir!“ bemerkte Semir und Ben, dessen Schmerzen inzwischen nachgelassen hatte, flüsterte erschöpft: „So ist eben meine Sarah!“ und dann schloss er die Augen und schlief tatsächlich ein wenig ein.


    Die Blutgase waren soweit in Ordnung, wie der Stationsarzt ihnen mitteilte, nur ein wenig Kalium musste man substituieren und nachdem Ben sich stabilisiert hatte und inzwischen der Abend herein gebrochen war, wollte man Sarah und Semir jetzt weg schicken. Sarah allerdings stellte sich: „Nein-ich werde nicht gehen-wer garantiert mir, dass nicht in wenigen Minuten das Blatt sich wieder wendet? Mein Mann ist aktuell auf niedrigem Level halbwegs stabil, aber nach dieser Episode noch nicht außer Lebensgefahr-außer sie geben mir das schriftlich.“ beharrte sie und ihr war klar, dass das der Arzt nicht tun konnte, solange man auch nicht die Ursache für die schweren Blutungen gefunden hatte. Dem Doktor war es eigentlich sowieso egal-er musste sich nur von der Schwester ständig nerven lassen, die auf Prinzipien herum ritt und der es einfach unangenehm war, wenn man ihr auf die Finger sah und sie hatte blitzschnell erkannt, dass Sarah eine versierte Fachfrau war, die ihr Tun durchaus beurteilen konnte und wollte sie los haben. „Hören sie!“ mischte sich nun Semir ein. „Sobald mein Freund transportfähig ist, wird er nach Köln verlegt und dann hören sie nie wieder etwas von uns-springen sie über ihren Schatten und machen sie weiterhin eine Ausnahme, dann sind wir alle zufrieden!“ bat er und nach kurzem Überlegen willigte der Arzt ein-allerdings unter einer Bedingung: „Über Nacht ist bitte nur einer im Zimmer-wechseln sie sich meinetwegen ab, aber zwei sind uns zu viel!“ und darauf ließen Semir und Sarah sich ein.

    Inzwischen waren wieder ein paar Stunden vergangen und Semir sagte jetzt zu Sarah: „Geh du jetzt ins Hotel und schau auch nach deinen Kindern. Leg dich ein paar Stündchen aufs Ohr und dann wechseln wir uns nach der halben Nacht ab-ist das ein Vorschlag?“ und Sarah stimmte Semir zu. Das Argument mit den Kindern zog und außerdem spannte ihr Busen schon wieder wie verrückt-hoffentlich hatte Mia-Sophie noch Hunger! Bevor sie das Krankenhaus völlig verließ, kaufte sie für sich und Semir, bevor der Kiosk schloss, noch ein paar belegte Brötchen und brachte ihm die auf die Intensiv, zusammen mit einer großen Flasche Cola. Nachdem sie vorher Ben schon schluckweise hatten Wasser trinken lassen und der das vertragen hatte, goss sie auch für ihn ein wenig Cola in den Schnabelbecher und das gefiel ihm sehr. „Na Gott sei Dank-du weisst, was ich brauche, um wieder gesund zu werden!“ sagte er, während er gierig trank und dann weiter vor sich hin schlummerte.


    Semir versuchte-nachdem Sarah sich nun endgültig verabschiedet hatte- eine halbwegs bequeme Sitzposition auf dem harten Stuhl zu finden und schreckte erst auf, als die Beatmungsmaschine am Nachbarbett nun beharrlich zu alarmieren begann. Die Schwester schmiss ihn wieder hinaus und holte den Stationsarzt und den Notfallwagen und wenig später war der junge Mann extubiert. Gefühlte Stunden später durfte Semir wieder ins Zimmer, die Nachtschwester hatte zuvor auch noch Übergabe gekriegt. Die war jetzt nicht ganz so abweisend wie ihre Vorgängerin-sie hatte zuvor in einem anderen Haus gearbeitet, wo man das mit den Besuchszeiten lockerer gesehen hatte und solange ihr die Besucher keine Arbeit machten, sollte es ihr Recht sein.


    Karsten hatte inzwischen auch seine Schicht beendet und sozusagen als letzten Akt auf seiner Station noch in den PC gesehen, aber Ben Jäger stand immer noch auf die Intensiv gebucht-wenn er tot wäre, wäre er aus dem System schon gelöscht worden, also war er wohl noch am Leben-verdammter Mist! So führte sein Weg, bevor er nach Hause ging, doch noch auf die Intensiv und gerade hatte man Semir wieder vor die Tür geschickt, weil man den Mitpatienten bettete und er war kurz auf die Besuchertoilette außerhalb der Intensivstation verschwunden. Bei Ben´s Lagerung hatte Semir zuvor helfen dürfen und es war sowohl für Ben, als auch für den Rücken der Schwester schonender, das zu zweit zu machen.
    Karsten trat nun ins Zimmer in dem die beiden frisch versorgten Patienten wieder bei Dämmerlicht vor sich hin schliefen, während die Nachtschwester im Nebenzimmer einen Systemwechsel machte. Sein musternder Blick fiel auf Ben und den Mann im Nebenbett. Gut-der war zwar extubiert, wirkte aber noch ziemlich belämmert und dämmerte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Außerdem war ein Vorhang zwischen den Betten, der einen direkten Blickkontakt vermied. Wenn er schnell und entschlossen handelte, konnte es sein, dass der Mitpatient überhaupt nichts mit bekam. Dieser Jäger war zwar leichenblass, eine Konserve tropfte noch langsam in ihn hinein, aber anscheinend hatte man ihn gerettet. Die Halbwertszeit des Lysemedikaments war auch nicht allzu lang-dass das noch Erfolg brachte, darauf durfte er nicht hoffen, aber jetzt fiel sein Blick auf den hängenden Kaliumperfusor. Wenn er den Inhalt diesem Jäger im Schuss spritzte, würde sein Herz zu schlagen aufhören und so näherte er sich katzengleich dem Perfusor und streckte die Hand aus…

  • Ben erwachte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass jemand neben ihm stand, aber das war nicht Semir und als er müde den Kopf zur Seite drehte, sah er den jungen Pfleger, der ihm am Vormittag die Vitamine gespritzt hatte und danach dafür gesorgt hatte, dass er den Mund feucht machen konnte, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Der hatte sich verstohlen umgesehen und war jetzt gerade dabei an den Geräten zu manipulieren. Ben kannte sich zwar damit nicht aus und hatte keine Ahnung, was da in ihn hinein floss, aber die Bewegungen des Mannes waren komisch und warum hatte der weiße Kleidung an und nicht blaue, wie alle anderen Intensivmitarbeiter, wenn er hier arbeitete? Außerdem-wohnte der hier im Krankenhaus? Oder warum war der vormittags da und auch nachts-das war doch ebenfalls nicht normal. Langsam dämmerte es Ben, dass trotz aller Freundlichkeit des Mannes am Vormittag die Blutungen erst eingesetzt hatten, nachdem der ihm die angeblichen Vitamine gespritzt hatte-und wenn das verabreichte Mittel nun die Ursache dafür war, dass er beinahe gestorben wäre?
    „Hey-was machen sie da?“ fragte er deshalb und der Pfleger, der inzwischen einen der Perfusoren so programmiert hatte, dass 40mval Kalium innerhalb einer Minute in Ben rauschen und damit sein Herz zu schlagen aufhören würde, drehte sich erschrocken um. Verdammt-der Patient war aufgewacht und ein wenig schockte es ihn schon, dass er seinem Opfer nun Auge in Auge gegenüber stand. Etwas zu verabreichen und dann zu verschwinden war etwas anderes, als jemanden sozusagen von Angesicht zu Angesicht zu töten und persönlich hatte er ja gar nichts gegen diesen Jäger. Allerdings wurde ihm in diesem Augenblick bewusst, dass der-wenn er diese Situation überlebte, weil er jetzt abhaute- wissen würde, wer ihn am Vormittag versucht hatte umzubringen und dann würde er festgenommen werden und viele Jahre im Knast sitzen. Das wollte er nicht und sogar wenn er irgendwie aus dieser Sache nochmals raus kam-dann würden die Schläger seines Pokergegners auf ihn warten und mit Schrecken fiel ihm ein, dass dessen Arm vermutlich auch in den Knast reichen würde-nein er brauchte das Geld und jetzt war keine Zeit für Skrupel! Beinahe hätte er sich umgedreht und wäre trotzdem geflohen, bevor er den Startknopf für den Bolus gedrückt hatte, aber dann überwand er sich, drückte auf „Bolus starten“ und dann wandte er sich um und rannte wie von Furien gehetzt aus dem Zimmer. In der Tür prallte er beinahe mit Semir zusammen, der gerade vom Toilettengang zurück kam und zur Seite sprang, als er an ihm vorbei raste.


    Inzwischen hatte das scharfe Kaliumchlorid, das auch bei einem Mangel nur langsam über Stunden infundiert werden durfte, weil es den Herzschlag bis zum Stillstand verlangsamte und so zum Tode führte-es wurde deshalb auch als Einschläferungsmittel bei Tieren verwendet- begonnen in Ben zu fließen. Der merkte ein scharfes Brennen in seinem Brustkorb und wie sein Herz zu stolpern begann, aber eines war ihm klar-was auch immer da gerade in ihn lief-es würde ihn töten, wenn er nicht sofort etwas unternahm und da konnte ihm auch Semir nicht helfen, denn bis er dem erklärt hatte, was geschehen war, wäre er vermutlich tot und auch Semir konnte diese Geräte nicht bedienen und bis der professionelle Hilfe geholt hatte und die kapiert hatten, was geschehen war, war es vorbei und deshalb packte Ben mit der gesunden Hand die ganzen Schläuche die zu seinem ZVK führten und riss den mit einem entschlossenen Ruck samt Annaht heraus. Das tat zwar furchtbar weh, aber er war sich sicher, dass das das einzige war, was ihn retten konnte und zugleich rief er Semir zu, der gerade überhaupt nicht wusste, was hier abging: „Schnapp ihn dir!“ und dann verdrehte er die Augen und kollabierte.

    Semir stand einen Augenblick wie vom Donner gerührt sozusagen zwischen Tür und Angel, aber im selben Augenblick ging bei Ben der Monitoralarm los, die Schwester und der Stationsarzt, die gerade im Nebenzimmer etwas besprochen hatten, rannten ins Zimmer und ein weiterer Pfleger kam schon mit dem Notfallwagen angesaust. Semir war einen Moment unschlüssig. Eigentlich wäre er am liebsten zu seinem Freund gegangen und hätte versucht dem beizustehen, aber er bezweifelte, dass das der Arzt und das Pflegepersonal das dulden würden, also würde er vermutlich nur dumm in der Tür stehen, bis man ihn vollends hinaus warf und eines war klar-fachlich war Ben hier in den besten Händen und wenn einer sein Leben retten konnte, dann waren das die Profis und nicht er. Also drehte er sich auf dem Absatz um und verfolgte den fliehenden Pfleger, denn Ben hatte mit Sicherheit einen Grund für seine Bitte gehabt-vermutlich hatte der etwas damit zu tun, dass es Ben so schlecht ging!


    Karsten hatte inzwischen ein wenig Vorsprung und die Intensivstation verlassen, allerdings war er zu aufgeregt, um klar zu denken und sein Kopf befahl ihm nur: „Weg hier!“ Wenn er vernünftig gewesen wäre und seine Ortskenntnis des Krankenhauses genutzt hätte, hätte er unbemerkt verschwinden können, aber so rannte er, so schnell er konnte, das Haupttreppenhaus hinunter und Semir, der kurz darauf oben stand, erspähte ihn, wie er bereits drei Stockwerke unter ihm um die Kurven raste. Um diese Zeit waren die Gänge des Krankenhauses fast menschenleer und nun nahm Semir, der das ja nicht zum ersten Mal machte, die Verfolgung auf. Auch wenn er durch seinen verletzten Arm ein wenig gehandikapt war, aber seine Beine waren in Ordnung, das Adrenalin schoss durch seine Adern und der Terrier trat in Aktion. Obwohl der Verfolgte sicher einige Jährchen jünger war als Semir, aber der war trainiert und sowieso auf der Kurzstrecke enorm schnell. So holte er fast mühelos auf-auch indem er manchmal die Treppe ein wenig abkürzte, indem er übers Geländer flankte. Das ging zwar nur auf eine Seite, weil er ja da einen gesunden Arm zum Abstützen brauchte, aber trotzdem machte er Strecke gut und als sie in der Eingangshalle, in der doch ein paar Patienten und Angehörige herumstanden, ankamen, war Semir bereits kurz hinter Karsten. Semir rief nun laut: „Polizei-haltet ihn!“ aber die Menschen starrten die Verfolgungsjagd nur fassungslos an, ohne einzugreifen. Dem jungen Pfleger war es nun nochmals heiß und kalt geworden, als er den Ruf „Polizei!“ vernahm und er legte an Tempo zu. Die beiden automatischen Eingangstüren öffneten sich-in seinen Augen fast zu langsam und kaum waren die einen Spalt auf, quetschte er sich durch und rannte in die kalte Nachtluft hinaus. Er musste versuchen seine Ortskenntnis von Innsbruck für sich zu verwenden und in der Dunkelheit seinen Verfolger abschütteln. Allerdings begann Karsten, der nicht sportlich war und sich außer im Beruf eigentlich überhaupt nicht bewegte-na ja in den Spielcasinos und rauchigen Hinterzimmern brauchte man schließlich keine Kondition-nun bereits laut zu atmen und seine Waden fühlten sich wie Wackelpudding an, während der ältere Mann hinter ihm anscheinend mühelos aufholte. Karsten hatte nun einen Plan wo er hinwollte-er musste runter zum Inn gelangen, dort gab es an den Brücken genügend Versteckmöglichkeiten, das war nicht weit. Allerdings musste er dazu die viel befahrene 171er überqueren.


    Der leicht angetrunkene Fabrikbesitzer in seinem fetten Geländewagen ging noch ein wenig aufs Gas. Er war mit Freunden zum Neujahrsdinner gewesen und jetzt zog es ihn nach Hause. Seine wesentlich jüngere Frau neben ihm hatte geschimpft: „Lass mich fahren, du hast getrunken!“ aber er hatte ihr gesagt: „Du kannst mit deinem kleinen Hobel rumfahren-das hier ist mein Schätzchen!“ und hatte dann das Lenkrad des schwarzen Porsche Cayenne getätschelt und so hatte sie die Lippen zusammen gekniffen und war auf den Beifahrersitz geklettert. Sie fuhren gerade auf der 171er kurz vor der Innbrücke, direkt nach der Haarnadelkurve, als plötzlich ein Schatten vor ihnen auf der Fahrbahn war. Sie schrie noch auf, aber die Reaktionen ihres Mannes, der mit einem Schlag wieder stocknüchtern war, oder sich zumindest so fühlte, waren zu langsam und so konnte er weder bremsen noch ausweichen, sondern erfasste die Person frontal, die wurde übers Auto geschleudert und blieb dann reglos auf dem Asphalt liegen.

  • Semir hatte den Wagen noch kommen sehen-der fuhr auch viel zu schnell-und gerufen: „Vorsicht!“ aber Karsten hatte nicht gehört und nun hatte ihn sein Schicksal ereilt. Semir hatte ihn durch die Luft fliegen sehen und den entsetzten Blick des Fahrers, eines etwa sechzigjährigen Mannes hinter dem Lenkrad erhascht. Dann lief er zu dem Pfleger, aber er konnte sofort, schon bevor er den Puls kontrolliert hatte, erkennen, dass da jede Hilfe zu spät kam. Der Kopf lag in einem ungewöhnlichen Winkel-der Mann hatte sich das Genick gebrochen!
    Es dauerte ein wenig, bis ein Mann und eine Frau aus dem Wagen ausstiegen. Allerdings kletterte der Mann aus der Beifahrertür und die leichenblasse Frau stieg auf der Fahrerseite aus. Semir sagte im Moment nichts, sondern schüttelte nur den Kopf. „Er ist tot!“ teilte er den beiden mit und die zierliche kleine Frau, die höchstens dreißig war, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Semir fragte: „Haben sie ein Handy?“ und der Mann nickte, ging mit schwankenden Schritten zum Wagen zurück, entsperrte sein Smartphone und reichte es Semir. Der Mann hier vor ihm, der nur mit Jeans und Shirt bekleidet war und auch noch ein wenig schneller atmete, schien die Situation im Griff zu haben. Er wusste nur eines-er musste seinen Führerschein behalten und wollte auf gar keinen Fall für einen Unfall mit Todesfolge unter Alkohol ins Gefängnis. Er hatte seiner Frau in den wenigen Sekunden nach dem Unfall das Blaue vom Himmel versprochen-die liebte Schmuck und edle Kleider und das Haus in Kitzbühel würde er ihr auch überschreiben- wenn sie nur die Schuld auf sich nahm und so hatten sie blitzschnell die Plätze getauscht. Semir fragte kurz: „Wie ist in Österreich die Polizeinotrufnummer?“ und bekam zur Antwort: „ 133“ und die wählte er jetzt. „Ich habe hier einen Unfall mit Todesfolge in Innsbruck kurz vor der Innbrücke nahe der Uniklinik!“ meldete er. „Ich schicke sofort einen Wagen, brauchen sie die Rettung ebenfalls, gibt es Verletzte?“ fragte der Mann in der Polizeizentrale weiter und bat Semir am Apparat zu bleiben. „Vielleicht wäre das nicht schlecht-hier ist eine Dame ziemlich geschockt!“ überlegte Semir und vermied es so Worte wie Fahrerin zu verwenden.

    Erst als kurz darauf die Kollegen eintrafen, machte er seine Aussage: „Ich bin ein deutscher Kollege-Semir Gerkhan mein Name. Ich habe das Opfer, dessen Namen ich nicht kenne-er ist vermutlich Pfleger in der Uniklinik-verfolgt und der ist diesem Herrn hier vor den Wagen gelaufen!“ sagte er fest und zwei entsetzte Augenpaare richteten sich nun auf ihn. „Das stimmt nicht-meine Frau ist gefahren!“ protestierte der Mann und musste sich an seinem Wagen festhalten, so schwankte er. „Nein das ist nicht korrekt-ich habe es gesehen, dass sie gefahren sind!“ beharrte Semir und die beiden österreichischen Polizisten wechselten einen Blick. „Dürfen wir nun aber erfahren, warum sie den Mann überhaupt verfolgt haben?“ fragte der eine, aber Semir dachte nicht daran, die Schuldfrage einfach so im Raum stehen zu lassen. Er würde nicht zulassen, dass da eine unschuldige Frau wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wurde und der besoffene Ehemann einfach so davon kam. „Das werden wir im Anschluss klären, aber ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt zum Fahrzeug und schauen nach der Sitzeinstellung!“ befahl Semir regelrecht und tatsächlich-als einer der beiden Gendarmen die Frau bat, doch hinter dem Fahrersitz Platz zu nehmen, hätte sie bei dieser Sitzeinstellung die Pedale auf gar keinen Fall erreichen können.
    „Das und meine Aussage machen wohl klar, wer gefahren ist, wobei der junge Mann vor mir in wilder Flucht davongerannt ist, nachdem er auf der Intensivstation einen Mordversuch an einem Kollegen von mir begangen hat und auch nicht aufgepasst hat!“ erklärte Semir und wieder wechselten die beiden Polizisten erneut einen Blick. Das wurde ja immer besser, jetzt war es an der Zeit die Kripo und die Spurensicherung anzufordern, denn das Opfer war tatsächlich mausetot, da hatten sie sich gerade vergewissert.
    Semir hatte zu zittern begonnen-in der kalten Neujahrsnacht ohne Jacke draußen war doch ein wenig frisch und es war gut, dass Sekunden später die Rettung eintraf, die untersuchten die Frau, die einen Schock erlitten hatte, gaben Semir eine warme Wolldecke und der Notarzt stellte offiziell den Tod des Pflegers fest, den Rest würde der Gerichtsmediziner machen. „Ich mache meine ausführliche Aussage später oder morgen auf dem Revier. Nehmen sie bitte meine Personalien auf und dann muss ich so schnell wie möglich wieder zurück auf die Intensivstation und nach meinem Freund sehen und schicken sie dorthin bitte auch ein paar Kollegen!“ erklärte Semir und während der Fabrikbesitzer nach seinem Anwalt verlangte, nahmen die Retter Semir und die geschockte Frau, die inzwischen nicht mehr aufhören konnte zu weinen und vom Notarzt ein Beruhigungsmittel gespritzt bekam, mit in die Klinik und Semir rannte dort regelrecht zum Aufzug und fuhr so schnell er konnte zur Intensivstation zurück.


    Er hielt sich nicht mit Läuten auf, sondern bediente einfach den Türöffner und stand wenig später in Ben´s Zimmer, in dem das große Licht brannte und heftig gearbeitet wurde. „Wie geht’s ihm?“ wollte er wissen, aber nach einem Blick auf den Monitor konnte er zumindest sehen, dass Ben´s Herz schlug, wenn auch langsam und der hatte zwar eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, war steril abgedeckt und ein Arzt bohrte gerade an seinem Hals herum und versuchte einen neuen ZVK zu legen, aber er war anscheinend bei Bewusstsein und ein Gefühl der Erleichterung durchfuhr Semir. Er pfiff nun einfach auf den Arzt und das Pflegepersonal, trat an Ben´s Seite, natürlich ohne irgendetwas unsteril zu machen und griff nach dessen Hand, die zu einer Faust geballt auf der Unterlage lag. „Ben ich bin da-und der dir das angetan hat ist tot!“ teilte er seinem Freund mit und der erwiderte als Antwort den Druck seiner Hand und jetzt merkte Semir erst, wie fertig er selber nach der ganzen Aufregung war.

  • Ben hatte den ZVK unter Schmerzen heraus gerissen, aber dann bekam er Angst, richtige Todesangst! Sein Herz stolperte weiter langsam und unregelmäßig vor sich hin, wie er fühlen konnte, ihm wurde schwindlig und wie man am Monitor erkennen konnte, rauschte nun auch sein Blutdruck ab, weil die kreislaufstützenden Medikamente ja ebenfalls nicht mehr an ihr Ziel gelangten. Aus dem Loch am Hals lief das Blut in beständigem Fluss und auch der Rest der Bluttransfusion tropfte einfach so ins Bett. So schwamm Ben bereits in dem Moment, als der Arzt und die Pflegekräfte ins Zimmer stürzten, in einem See von Blut. Allerdings hatte das Brennen sofort aufgehört, als er die Infusion sozusagen gewaltsam gestoppt hatte. Mit letzter Kraft hatte er Semir noch zugerufen, dass sich der den Kerl schnappen sollte, denn glasklar stand vor seinem inneren Auge, dass der schon am Vormittag versucht hatte, ihn umzubringen-was auch immer er ihm da gespritzt hatte. Ihm war es gleich so merkwürdig vorgekommen, dass er die leeren Spritzen in die Kitteltasche gesteckt hatte, anstatt sie im Mülleimer, der direkt daneben gestanden hatte, zu entsorgen, aber durch sein freundliches Verhalten hatte er dann seine Bedenken für den Augenblick zerstreut. Vorhin allerdings stand ihm die Schuld sozusagen ins Gesicht geschrieben und er konnte jetzt nur hoffen, dass Semir sich den Typen schnappte. Obwohl-wenn er überlebte, konnte er ihn identifizieren und der Pfleger, der am Vormittag Dienst gehabt hatte, hatte den Mann auch gekannt-er musste nur noch fähig sein, das mitzuteilen, aber gerade sah das nicht sonderlich gut aus. Er bekam nämlich massive Luftnot und seine Panik zu ersticken nahm zu.

    Allerdings wurde nun das große Deckenlicht angeschaltet und das grelle Licht schien auf ihn herunter. Der Arzt hatte die Decke weg gerissen, um sich einen Überblick zu verschaffen, was überhaupt passiert war. Der Patient war massiv bradyarhythmisch, also das Herz schlug langsam und unregelmäßig, der Blutdruck war nur noch bei 60/20 mm/Hg und anscheinend hatte er sich selbst den ZVK entfernt. Warum er das gemacht hatte, entzog sich allerdings seiner Kenntnis. Verdammt noch mal die Medikamente, die er darüber erhielt waren absolut lebensnotwendig und jetzt musste er schnellstmöglich versuchen, einen neuen Zugang in seinen Patienten zu kriegen, denn sonst würde er sterben. Die Herzrhythmusstörungen gaben ihm auch ein Rätsel auf, denn bisher war sein Patient infolge des Kaliummangels eher tachykard gewesen, also sein Herz hatte zu schnell geschlagen. Als sein Blick jetzt allerdings zufällig zum Perfusorbaum wanderte, auch um zu sehen, wie hoch die Katecholamine gerade liefen, stockte ihm der Atem! Gerade liefen die letzten Tropfen eines Kaliumbolus aus der Spitze des ZVK ins Bett. Um Himmels Willen? Wer machte denn sowas? Das war ja ein Mordversuch! Außerdem waren die Perfusoren gar nicht einfach zu programmieren, mit diesen Medizingeräten musste man sich auskennen, also musste das jemand vom medizinischen Fachpersonal getan haben. Jetzt dämmerte ihm auch, dass er noch gehört hatte, wie Herr Jäger seinem Freund sozusagen mit letzter Kraft zugerufen hatte: „Schnapp dir den Kerl!“ also war der Täter augenscheinlich ertappt worden und Herr Jäger hatte das einzig Richtige getan um sein Leben zu retten-er hatte den ZVK herausgezogen!


    Die zuständige Nachtschwester hatte derweil die Sauerstoffmaske auf Ben´s Gesicht gedrückt und das Bett in Kopftieflage gebracht. In Windeseile schnappte sich der Arzt vom Notfallwagen einen Stauschlauch und einen Zugang. Er hielt sich nicht mit Hautdesinfektionsmaßnahmen auf-hier ging es um Leben und Tod und er musste versuchen, da noch einen Zugang hinein zu kriegen, bevor der Blutdruck so im Keller war, dass das nicht mehr möglich war. Die Schwester stoppte derweil die Transfusion, die Infusionen und Perfusoren und lamentierte: „Verdammt noch mal, was sollte denn das-wenn er das überlebt, werde ich seine Hände fixieren!“ aber der Arzt schüttelte den Kopf-er wusste schließlich inzwischen, was geschehen war, aber erklären konnte man das später, jetzt war erst die Rettung ihres Patienten angesagt. Ben´s Augen waren inzwischen in Panik weit aufgerissen und der Stationsarzt gab, während er verzweifelt nach einer Vene in seinem Arm suchte, die noch nicht kollabiert war, die Anordnung: „Bitte Suprarenin aufziehen-eine Ampulle 1:10, dann eine Ampulle Calcium und die Schrittmacherpaddels am Defi befestigen“ da gab es nämlich Klebeelektroden mit Kabel daran, damit niemand die Paddels festhalten musste und so klebte der zuarbeitende Pfleger jetzt die Elektroden auf Ben´s Brustkorb. Er musste dazu zwar den Schulterverband aufschneiden, aber der war jetzt aktuell unwichtig.

    Das Blut rauschte in Ben´s Ohren er drehte sich immer schneller und beinahe hätte ihn der Strudel in die Tiefe gesogen und sein Herz machte nur noch ein paar wenige Aktionen, da hatte der Arzt eine Vene getroffen und bevor er daran irgendwas anschloss, oder den Zugang auch nur festklebte, spritzte er die Ampulle Suprarenin hinein. Eilig hatte die Schwester derweil den alten ZVK vom System entfernt und hängte nun eine Infusion an, verklebte den Zugang, den der Arzt derweil festhielt wie einen kostbaren Schatz und nun spritzte der Arzt sofort die Ampulle Calcium hinterher. Das war sozusagen durch einen komplizierten chemischen Prozess im Herzen der Gegenspieler bei den elektrischen Aktivitäten und man konnte so versuchen, den Kaliumgipfel ein wenig abzuschwächen. Zugleich stellte der Stationsarzt nun den Defi auf externes Pacing und wenig später schossen regelmäßige elektrische Stromstöße schmerzhaft durch Ben´s Körper, aber er kam langsam wieder zu sich. Nun ließ man das Noradrenalin dazu laufen und wenig später stabilisierte sich der Patient und stöhnte bei jedem Stromstoß schmerzvoll auf. „Einen Bolus Piritramid 2mg bitte und den Eingriffswagen-wir brauchen einen neuen ZVK!“ ordnete der Arzt an und ein klein wenig leichter wurde es für Ben, als das Opiat zu wirken begann. Durch das Suprarenin und die anderen Maßnahmen stieg der Blutdruck jetzt und man konnte das Bett ein wenig hoch stellen. Versuchsweise pausierte man nach etwa drei Minuten den Pacer-es waren lange drei Minuten für Ben gewesen-und tatsächlich war die Herzfrequenz nun wieder mit dem Leben vereinbar.

    „Wir haben ihn wieder!“ sagte der Arzt zufrieden und dann erklärte er den beiden Mitarbeitern erst die Sache mit dem Kalium. „Ich weiss nicht wer den Perfusor manipuliert hat, aber es wäre ein fast perfekter Mord gewesen, wenn das funktioniert hätte. Den Monitor für zwei Minuten pausiert und schnell um die Ecke verschwunden-bis wir draufkommen was eigentlich die Ursache ist, ein EKG geschrieben und völlig andere Maßnahmen ergriffen haben, als notwendig, ist der Täter über alle Berge und nachdem Herr Jäger ja Kalium substituiert bekommen hat, wäre es vermutlich nicht einmal bei der Obduktion aufgefallen.“ erklärte er, aber als er nun Ben´s erschrockenen Gesichtsausdruck sah, beeilte er sich zu erklären, dass nun wirklich keine Obduktion mehr notwendig sein würde. „Herr Jäger-sie werden wieder ganz gesund, aber ich denke, wir werden die Polizei verständigen und sie unter Polizeischutz stellen müssen, bis die Sache aufgeklärt ist. Ich werde jetzt versuchen einen neuen ZVK zu legen-viele Möglichkeiten haben wir ja nicht mehr!“ bemerkte er, denn die Schwester hatte inzwischen begonnen mit einer Kompresse fest auf die immer noch stark blutende Einstichstelle am Schlüsselbein zu drücken. Den Zugang am Hals, den er vom Hubschraubernotarzt bekommen hatte, hatte man entfernt, als der ZVK gelegen hatte und dort würde er versuchen nun die Vena carotis interna zu punktieren und nach dem Abdecken begann nun ein mühsamer Versuch, der Ben die Zähne zusammen beißen ließ und er eine gnädige vorübergehende Bewusstlosigkeit plötzlich für sehr erstrebenswert hielt.


    Plötzlich stand Semir unaufgefordert im Zimmer, aber gerade hatte der Anästhesist endlich getroffen und Ben wurde es jetzt leichter ums Herz und als Semir nun seine zu einer Faust geballte rechte Hand, die auf dem Bett lag, packte und ihm mitteilte, dass der Attentäter tot war, ergriff eine große Erleichterung von Ben Besitz und endlich konnte er sich ein wenig gehen lassen und seine angespannten Muskeln lockern.

  • Wenig später lag endlich der neue ZVK, der Arzt verschloss mit ein paar Nähten die immer noch blutende Stelle, wo Ben den alten ZVK heraus gerissen hatte und gerade als Semir einfiel, dass es nun vielleicht auch mal an der Zeit wäre, Sarah anzurufen, stand die auch schon vor der Tür um Semir abzulösen, gefolgt von zwei Kriminalbeamten der Innsbrucker Polizei. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie erfuhr, was geschehen war, aber inzwischen war Ben ja wieder leidlich stabil. Die Kripobeamten nahmen die Aussagen aller Beteiligten auf, auch der Stationsarzt erklärte seine Beobachtungen. Als Ben nun erzählte, dass der junge Mann ihm am Vormittag angeblich Vitamine gespritzt habe, kombinierte der Arzt und als sein Patient nun auch noch die Menge und die Größe der Spritzen beschrieb, ging er wortlos zum Medikamentenkühlschrank und kontrollierte die Anzahl der vorhandenen Lysemedikamente. „Hatten wir heute irgendeine Lysebehandlung?“ fragte er die anwesenden Schwestern, denn manchmal wussten die da mehr als er nach der Übergabe. Gerade wenn ein Patient nach erfolgter Behandlung doch verstorben war, erfuhr er als diensthabender Nachtdienstarzt manchmal gar nichts davon. Die Schwester sah vorsichtshalber noch im Stationsbuch nach, aber an den vergangenen drei Tagen war keine Lysebehandlung durchgeführt worden. Als man die verschiedenen Medikamente prüfte, fand man, dass mehrere Packungen der Actilyse fehlten. Karsten hatte die vorhandenen Schachteln raffiniert nach vorne gerückt, so dass das auf den ersten Blick gar nicht zu sehen war, dass da ein Fehlbestand war. "Das erklärt Alles!" bemerkte daraufhin der Arzt.

    Nachdem keine der Schwestern den Pfleger am Abend gesehen hatte, zeigte der Kripobeamte Fotos des Getöteten vor, die er kurz zuvor mit seinem Diensttablet geschossen hatte und nun wurde der junge Mann sofort erkannt. „Das ist Karsten Bigler, der arbeitet auf der Fünf-ein netter junger Pfleger, der sich bei uns sehr gut angestellt hat, als er während seiner Ausbildung bei uns war!“ erzählte eine der Schwestern. Ben, Semir und auch Sarah beteuerten, dass sie den Mann nicht kannten und der Kripobeamte war nun ein wenig ratlos. „Die Täterschaft ist anscheinend klar, aber wo liegt das Motiv?“ rätselte er, aber er hatte schon die Wohnadresse von Karsten heraus gefunden und nun würde die Wohnung durchsucht werden-vielleicht gab es da irgendwelche Hinweise.
    „Sein Handy wurde leider bei dem Unfall zerstört, vielleicht wäre da was drauf gewesen!“ erzählte er noch und Semir dachte bei sich, dass Hartmut da sicher noch irgendwelche Daten sichern könnte, aber er wollte den Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen. „Momentan ist nicht abzusehen, dass da ein persönliches Motiv hinter den Anschlägen lauert-vermutlich hat der junge Mann aus purer Mordlust gehandelt, immer wieder gibt es in den Pflegeberufen ja solche Todesengel!“ sagte der Kripobeamte, auch um einen Personenschutz für den jungen deutschen Polizisten zu umgehen-immerhin war Feiertag, das würde ihre Dienstpläne ordentlich durcheinander bringen und nachdem Semir nun darauf beharrte, ebenfalls da zu bleiben und auf gar keinen Fall ins Hotel gehen würde, schob man nun doch zwei bequemere Stühle herein und wenig später kehrte Ruhe ein und Semir und Sarah dösten abwechselnd ein wenig vor sich hin, während Ben vor Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf fiel, der leider von Alpträumen durchzogen war und ihn immer wieder hochschrecken ließ. Allerdings beruhigte er sich jedes Mal sofort wieder, als er Sarah und Semir wie die Wachsoldaten auf beiden Seiten seines Bettes sitzen sah und sicher sein konnte, dass jemand auf ihn aufpasste.


    So brach der Morgen herein und als das geschäftige Treiben auf der Intensivstation begann, traute sich Semir doch mal kurz ins Hotel zum Duschen und Frühstücken und außerdem musste er auch dringend Andrea informieren, der er in der Nacht nur eine kurze SMS geschrieben hatte, dass es ihm gut ginge, er aber trotzdem bei Ben bleiben würde, gemeinsam mit Sarah. Andrea war nach seinem Bericht völlig entsetzt und sagte: „Ich sags dir-ich möchte jetzt nur noch nach Hause, aber natürlich bleiben wir, solange uns Sarah und Ben brauchen!“ und ihr Mann pflichtete ihr bei. Semir informierte auch die Chefin und die war ebenfalls geschockt, fragte ob sie irgendwie helfen könne und bestätigte die Krankmeldung ihrer beiden Beamten, aber gedacht hatte sie sich das schon, als sie von der Handyortung Susanne´s erfahren hatte, dass die beiden da wieder mal irgendwo rein geraten waren. „Richten sie Herrn Jäger die besten Genesungswünsche von uns allen aus und ihnen natürlich auch alles Gute!“ sagte sie und Semir starrte nach dem Telefonat eine Weile gedankenverloren auf das Handy-so hart wie sie manchmal tat, war die Chefin gar nicht-wenn man sie brauchte, war sie da!


    Nach dem Frühstück löste er Sarah ab, die nochmals stillte, denn Mia-Sophie hatte die Flasche zwar genommen, aber der Widerwille war ihr ins Gesicht geschrieben-Mamas Busen schmeckte doch viel besser! „Ich habe vorhin mit dem Chefarzt gesprochen!“ hatte Sarah bei ihrem Wechsel erzählt. „Heute werden Ben´s Hämatome in Narkose ausgeräumt, aber er denkt, dass er-sofern es keine Komplikationen gibt-morgen transportfähig ist-wir werden die Verlegung also planen, ich mache das, während er operiert wird, pass du gut auf ihn auf, ich komme sobald ich fertig bin, wieder in die Klinik!“ berichtete sie und als Semir erneut an die Seite seines Freundes trat, war auffällig wie frisch gewaschen der aussah-da war mit Sicherheit Sarah tätig geworden. „Hey wie fühlst du dich?“ fragte er liebevoll und nun kam doch auch ein kleines Lächeln über Ben´s Lippen. „Geht schon, aber mir geht nicht aus dem Kopf, dass ich keine Ahnung habe, warum mich dieser Pfleger umbringen wollte, außerdem habe ich Schiss vor dem Aufschneiden der Blutergüsse, aber sonst ist alles im grünen Bereich!“ sagte er und wenig später wurde er schon in den OP abgerufen.

  • Der Bergführer war zu seinen Bekannten im Kleinwalsertal abgestiegen, die auch gleich seine Schulterwunde verbanden und ihm Schmerzmittel und Antibiotika gaben, die sich in ihrem Medizinschränkchen fanden. „Wie ist denn das passiert?“ wollte sein Freund wissen. „Bei der Jagd hat sich ein Schuss gelöst!“ log der Bergführer. „Aber jetzt ist doch Schonzeit!“ sagte der Freund tadelnd, aber als der Bergführer daraufhin sagte: „Drum wollte ich ja auch nicht ins Krankenhaus-ich weiss, dass das nicht ok ist!“ ließen sie es auf sich beruhen und stellten ihm ihr Gästezimmer zur Verfügung, kochten etwas Gutes und innerhalb weniger Tage war die Wunde schon ziemlich gut verheilt und er traute sich Winkler anzurufen. „Wegen dem Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Umstände konnte ich ihren letzten Auftrag nicht zur vollsten Zufriedenheit erfüllen!“ sagte er kleinlaut. „Ich wollte sie aber trotzdem fragen, ob ich weiterhin für sie tätig sein darf?“ wollte er wissen und der reiche Mann schnaubte ins Telefon. „Eigentlich wollte ich nie mehr mit ihnen zusammen arbeiten, aber sie haben noch eine Chance. Ich mag es nicht, wenn meine Wünsche nicht erfüllt werden und gerade hat schon wieder ein Mitarbeiter versagt-wenn sie diesen Jäger innerhalb der nächsten Woche töten, vergessen wir das Ganze und sie bekommen noch eine Bonuszahlung!“ sagte er und dann lauschte der Bergführer den neuesten Nachrichten aus Innsbruck. „Mir wurde allerdings mitgeteilt, dass dieser Jäger in Kürze nach Köln verlegt werden soll, vermutlich ist es dort einfacher, weil ja niemand mit einem Anschlag rechnet. Er steht in der Tiroler Klinik nicht unter Polizeischutz, allerdings sind angeblich ständig Angehörige bei ihm. Ich stelle es ihnen allerdings frei, wo sie ihren Auftrag vollenden-wichtig ist nur, dass dieser Typ von der Bildfläche verschwindet!“ sagte er, denn gerade vor einer halben Stunde hatte seine Frau ihn gebeten, doch Blumen und Genesungswünsche nach Innsbruck zu senden. „Schatz-dieser nette junge Mann war doch unser Miturlauber, ich finde das gehört sich!“ hatte Estelle geflötet und Winkler hätte sie daraufhin am liebsten gewürgt. Wenn dieser Jäger das überlebte, würde er nie seine Ruhe haben-die war in den gutaussehenden Typen verschossen und meinte, er wäre zu blöd, um das zu bemerken. Er würde das schaffen, den killen zu lassen, ohne dass an ihm etwas hängen blieb. Das Handy von dem aus er die Mitteilung an Karsten geschrieben hatte und dessen Nummer auch der Bergführer hatte, hatte er in Südamerika gekauft, das war zu ihm nicht zurück zu verfolgen. Er war sicher, aber er konnte auch erst wieder ruhig schlafen, wenn dieser Jäger, der anscheinend wie eine Katze neun Leben hatte, endlich tot und begraben war und seinetwegen konnte dann Estelle sogar auf die Beerdigung gehen, damit sie es auch glaubte-kein anderer Mann würde sie besitzen!


    Als Semir nun langsam in die Cafeteria ging, während Ben im OP war, traf er zu seiner Überraschung die Mutter des kleinen Murat. Er sprach sie auf Türkisch an und irgendwie konnten sie sich verständigen. Sie erzählte ihm, dass sowohl ihr Sohn, als auch ihr Schwiegervater auf dem Wege der Besserung waren und der Patriarch sogar schon extubiert war und morgen auf Normalstation kommen würde. „Unsere Gruppe wird von den Menschen im Lechtal wunderbar versorgt und die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass wir erneut nach Deutschland einreisen dürfen, denn das Biwak, wo sich die schrecklichen Dinge zugetragen haben, befindet sich auf deutschem Boden-wie mein Schwager mir telefonisch mitgeteilt hat. Hier im Krankenhaus bin ich in einem Mutter-Kind-Zimmer untergebracht und in Österreich ansässige Landsleute finanzieren das, damit ich bei meinem Sohn sein kann, wenn er aufgeweckt wird. Ich habe auch eine Dolmetscherin, die für uns übersetzt und unser Asylantrag soll in Deutschland zügig geprüft werden!“ erzählte sie und Semir freute sich sehr über die guten Nachrichten. Er drückte die Frau zum Abschied-dieses schreckliche Abenteuer, das sie miteinander erlebt hatten, würde sie für immer in Verbindung bleiben lassen, da war er sich ganz sicher! Er schrieb ihr auch noch seine Kölner Adresse und Festnetztelefonnummer auf und sie versprach sich in Kürze zu melden und ihn auf dem Laufenden zu halten.
    Semir holte sich einen Kaffee und sah auf die Uhr. Die Schwester hatte gemeint, der Eingriff würde etwa eine halbe bis eine Stunde dauern und so trank er sein Lieblingsgetränk und beobachtete gedankenverloren die Menschen, die geschäftig durch die Gänge wuselten. Diesbezüglich war ein Krankenhaus wie das andere, aber trotzdem freute er sich, wenn sie wieder zurück in Köln waren.


    Ben hatte ziemliche Angst, als er in den OP gefahren wurde. Das Einzige was ihn beruhigte war, dass er diesmal eine Narkose bekommen würde, denn die Rauchgasvergiftung war aktuell kein besonderes Thema mehr. So wurde er mit dem Schleusenband schonend auf den OP-Tisch gefahren und wenig später fielen ihm die Augen zu, als der Narkosearzt, der sehr nett zu ihm war, ihm das Propofol in den ZVK spritzte und er einschlief. Wegen der Kürze der beiden Eingriffe verzichtete man sogar auf eine Intubation, sondern setzte eine Larynxmaske-abgekürzt LAMA in seinen Hals ein und dann wurden die Blutergüsse an der Schulter und am Bein nach Desinfektion und Abdeckung großflächig eröffnet und mehrere Drainagen eingelegt. Die Blutungsneigung war zwar noch leicht verstärkt, aber nachdem man nun wusste, was die Ursache dafür gewesen war, konnte man gegensteuern und so war er nach einer guten halben Stunde wieder in seinem Bett und auf dem Rückweg zur Intensivstation. Er schlief noch ein wenig vor sich hin, gut abgedeckt mit Schmerzmitteln und das Erste was er bewusst sah, als er wieder wach wurde war Semir, der ihn anlächelte und so schloss er beruhigt wieder die Augen und schlief noch ein Ründchen weiter.

  • Der Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse, Sarah lehnte weitere urologische Untersuchungen bei Ben ab und bestimmte, dass das in Köln gemacht würde, wo Ben ja diesbezüglich schon bekannt war. Ben war ihr dafür sehr dankbar-er wollte nämlich am liebsten überhaupt nichts mehr von dieser Materie wissen und hoffte, dass sich diese blöden Steine einfach von selber in Wohlgefallen auflösen würden, was allerdings nicht mehr als ein frommer Wunsch war. Aber auch in der Blase hatte die Blutung aufgehört, der Hb war zwar immer nur noch bei acht, weil man dann aufgehört hatte zu transfundieren, als die Blutungen nachgelassen hatten, aber das würde ein gesunder junger Mann innerhalb weniger Tage bis Wochen mithilfe von Eisenpräparaten selber wieder aufholen können. Der Urologe hatte einige Bilder ausgedruckt und die Befunde wurden kopiert, genauso wie die ganzen Röntgenbilder und OP-Dokumentationen.
    Semir bestand darauf, in der Nacht vor der Verlegung komplett bei Ben zu bleiben, denn Sarah und Andrea mussten am nächsten Tag die ganze Strecke fahren, denn er war mit der Verletzung am Arm einfach noch gehandikapt. Sie würden wegen der Kinder viele Pausen machen müssen und allen graute schon ein wenig vor der Heimfahrt. Wenn es nicht ging, würden sie unterwegs irgendwo über Nacht bleiben, aber Sarah hatte schon ausgiebig mit ihren Kollegen telefoniert und ihnen alles Wissenswerte mitgeteilt-es stand nämlich schon fest, dass Ben auf die Station kommen würde, auf der sie zwischen den Kindern gearbeitet hatte, da war er nach seinem Starkstromunfall vor wenigen Monaten auch gelegen und da wusste sie ihn in besten Händen. Wenn sie nach Hause kommen würden, stünde auch Hildegard schon bereit und würde die beiden Kleinen übernehmen und mit Ayda und Lilly war das sowieso kein Problem, denn deren Freundinnen in der Nachbarschaft waren in den Ferien überwiegend zuhause und da konnte man die ohne Probleme ein paar Stunden unterbringen, falls sie bei Tag eintrafen.

    So landete dann der Ambulanzflieger, wie schon zwei Tage vorher geplant, holte Sarah den Notarzt am Innsbrucker Flughafen ab, der bekam gründliche Übergabe seiner Kollegen und eine große Mappe mit Befunden und Berichten und dann wurde Ben vorsichtig erst auf die Liege des RTW umgelagert und am Flughafen dann in den Flieger gebracht. Ben brauchte zwar noch Katecholamine und war auch schwach, aber ansonsten ging es schon wieder aufwärts bei ihm. Mit einem liebevollen Kuss verabschiedete sich Sarah von ihm. „Bis morgen mein Schatz-wir fahren jetzt zwar bald los, aber wegen der Kinder werden wir nicht so schnell zuhause sein!“ sagte sie und Ben lächelte. „Fahrt vorsichtig und kommt mir sicher an, das ist das Wichtigste, du weisst doch-ich bin in der Uniklinik gut versorgt und ich bin auch schon groß, ich komme auch mal ein paar Tage ohne Babysitter zurecht!“ spöttelte er ein wenig und Sarah kniff ihn dafür in den gesunden Oberarm. „Wenn du frech bist, komme ich erst wieder, wenn man dich abholen kann, also sei vorsichtig mit dem, was du sagst!“ gab sie zurück und unter dem Schmunzeln des Notarztes und der Flugbegleiter stieg Sarah wieder aus und beobachtete wehmütig, wie der Flieger abhob.


    Semir war derweil noch zur Wundkontrolle und zum Verbandwechsel in der Krankenhausambulanz gewesen und auch er bekam einen Arztbrief für die Kölner Kollegen mit. Nachdem Sarah ja sicher noch ein wenig brauchen würde, bis sie am Flughafen ihren Mann verabschiedet hatte, ging er kurz entschlossen auf die Station, um den Patriarchen zu besuchen. Die Zimmernummer hatte er an der Rezeption erfragt und als er klopfte und eintrat, überzog ein breites Lächeln das Gesicht des immer noch schwer angeschlagenen Mannes, der aber ebenfalls über dem Berg war. Auf Türkisch verständigten sie sich, aber eigentlich war die Sprache unwichtig, denn beide hatten eigentlich nur ein wichtiges Wort für den anderen und das war „Danke!“ Semir war dankbar, dass der Patriarch und seine Familie Ben gerettet hatten, denn er hätte schon in der Lawine nicht gewusst, wo er nach ihm suchen sollte und die medizinische Versorgung war ebenfalls lebensnotwendig gewesen und Semir seinerseits hatte allen Menschen in der Höhle durch sein entschlossenes Eingreifen das Leben gerettet. So hielten sie eine ganze Weile gerührt ihre Hände gedrückt und Semir bekräftigte dann nochmals die Bitte, dass sie sich melden sollten, wenn man wusste, wie es weiter ging, oder sie Hilfe brauchten.

    Andrea war mit den Kindern den ganzen Vormittag draußen gewesen, die hatten im Schnee getobt und waren an einem kleinen Rodelberg direkt hinter dem Hotel mit Plastiktüten den Hang hinunter gerutscht, hatten einen wunderschönen Schneemann gebaut-nur Tim hatte man davon abhalten müssen, den wieder zu zerstören und in die Karotte, die als Nase dienen sollte, hatte er zunächst einmal herzhaft hinein gebissen- aber so waren die alle gut müde und begannen schon beim Mittagessen zu gähnen. Semir würde bei Sarah mitfahren, weil die beiden Kleinen sicher schwerer zu beschäftigen waren als Ayda und Lilly und so machten sie sich direkt nach dem Mittagessen auf den Weg nach Hause. Sie waren kaum auf die Inntalautobahn aufgefahren, da schliefen die Kinder schon und sie kamen gut voran. „Jetzt hoffen wir, dass wir gut durchkommen und keinen Stau haben!“ hoffte Semir und Sarah, die vorne weg fuhr, nickte. Im Rückspiegel sahen sie Andrea, die ebenfalls konzentriert und zügig den schweren Geländewagen über die Autobahn lenkte. Nun ging es nach Hause und sie konnten hoffen, dass ihr Winterabenteuer ein gutes Ende nehmen würde.


    Der Bergführer hatte sich ebenfalls noch einen Tag erholt und sich dann von seinen Freunden den Zweitwagen, einen kleinen Polo geliehen. „Ich habe in Deutschland noch etwas zu erledigen, aber ihr kriegt das Auto spätestens nächste Woche zurück!“ versprach er und war dann ebenfalls-allerdings viele Stunden früher als Sarah, Andrea und Semir- auf dem Weg nach Köln, denn Winkler hatte seine Kontakte spielen lassen und war bestens informiert, wohin dieser Jäger verlegt werden würde und hatte das dem Bergführer mitgeteilt. Der würde seinen Auftrag diesmal ordnungsgemäß erledigen und drückte das Gaspedal durch!

  • Knappe acht Stunden später war er in Köln eingetroffen und stellte den Polo auf dem Parkplatz der Uniklinik ab. Logischerweise musste ein Patient mit Verletzungen auf einer anästhesiologischen Intensivstation liegen und nicht auf einer Inneren, allerdings gab es da auch in Köln, wie auch in anderen großen Kliniken, so einige. In Zivil würde er auffallen, aber als er so durchs Krankenhaus streifte und die Augen offen hielt, sah er plötzlich eine Fensterputzfirma an der Arbeit. Es waren mehrere Putztrupps damit beschäftigt, die riesigen Fronten zu reinigen und die hatten ihre Jacken mit dem aufgedruckten Firmenlogo teilweise abgelegt, weil ihnen drinnen natürlich warm wurde, während sie beim Putzen draußen schon eine Jacke brauchten. In Köln war es auch nicht so kalt wie in den Bergen und bei trübem Wetter mit Temperaturen über fünf Grad konnte man diese Reinigungsarbeiten durchaus vornehmen. Dem Bergführer gelang es unauffällig eine Jacke und ein Käppi an sich zu nehmen. Bei einem anderen Trupp staubte er einen Wischer und einen speziellen Eimer mit Inhalt ab und wenig später marschierte er frech über die Intensivstationen und spähte in die Patientenzimmer, auf der Suche nach Ben Jäger. Die eine oder andere Schwester sprach ihn an: „Sie müssen es uns sagen, wenn sie in einem Zimmer putzen wollen und bitte für jeden Raum frisches Wasser, wegen der Keimverschleppung!“ wurde er ermahnt und nickte artig. Auf der zweiten Intensivstation wurde er fündig. Sein Opfer lag mit geschlossenen Augen, blass und erschöpft in einem Bett und schien zu schlafen.
    Gerade wollte er das Zimmer betreten, die Tür hinter sich schließen und sein Werk vollenden-das Butterflymesser lag schon in seiner Hosentasche bereit-da kam eine Schwester und ging ins Zimmer: „Na Ben-wie gehts dir-brauchst du ein Schmerzmittel?“ fragte sie freundlich, aber der dunkelhaarige junge Mann schüttelte den Kopf. „Für dich ist Besuch draußen, ein Kollege, soll ich den rein lassen?“ fragte sie dann, denn beim Mann ihrer Freundin machte man schon mal Ausnahmen und als er nickte, betrat wenig später ein etwa vierzigjähriger Mann mit auffallend rotem Haarschopf das Zimmer und zog sich einen Stuhl neben das Bett. Der Bergführer, der währenddessen so getan hatte, als würde er eine gläserne Zwischentüre reinigen und das Ganze beobachtete, fluchte verhalten auf. So ein Mist-jetzt musste er warten, bis der Typ verschwunden war, aber dann tat er so, als würde er ganz in seiner Arbeit aufgehen und stellte überrascht fest, dass das Glas tatsächlich mit dem speziellen Reiniger und dem Wischer ziemlich sauber wurde, obwohl er ja eigentlich gar keine Ahnung vom Putzen hatte.


    Ben hatte den Flug so ziemlich verschlafen. Der Notarzt hatte ihm nach seiner Verabschiedung von Sarah etwas gegeben, was in ihm ein richtiges Ach-ist-doch-alles-egal-Gefühl hervorrief und ihn die Augen schließen ließ. Die Schmerzen waren gut erträglich und als sie knappe zwei Stunden später in Köln-Bonn landeten, wurde er in einen RTW umgeladen und dann in die Uniklinik gefahren. In der Notaufnahme wurde er von einem Intensivarzt, den er von seinem letzten Aufenthalt noch kannte, übernommen und der und der Notaufnahmearzt ließen sich mündliche ärztliche Übergabe machen und studierten dann noch die Unterlagen, während man ihn vorsichtig mit dem Rollbrett in ein frisches Bett zog. Das tat kurz weh und ließ ihn aufstöhnen, aber bis er sich versah, hatte er schon wieder ein Schmerzmittel intus und überließ sich dann dem wohltuenden Gefühl der Schwerelosigkeit, während sich der Notarzt verabschiedete und man ihn kurz äußerlich durch untersuchte. Die Katecholamine und die Trägerlösung hatte man vorsichtig in die hauseigenen Perfusoren umgebaut. Die frei tropfende Infusion wurde verworfen und auch ein anderes Arteriensystem, wie es in Köln verwendet wurde, angeschlossen, aber soweit war er von den Österreichern medizinisch gut versorgt worden und nachdem man noch die Verbände aufgemacht und die Schulter- und Beinwunden mit den ganzen Drainagen besichtigt hatte, erneuerte man die Kompressen und nahm gleich noch Blut aus der Arterie ab.

    „So-jetzt geht’s auf die Intensivstation, wir haben ein nettes Einzelzimmer für sie reserviert!“ sagte der Intensivarzt und kontrollierte nochmals die Werte auf dem Monitor, den man natürlich auch umgebaut hatte. Eine Schwester der Notaufnahme packte mit an und schon schob man das Bett in den Aufzug, der sich auf den Weg nach oben machte. Auf der Intensiv wurde Ben freundlich von den Pflegekräften, die er größtenteils noch kannte, begrüßt und eine Freundin Sarah´s, die auch auf ihrer Hochzeit gewesen war, übernahm ihn. Ben seufzte innerlich zwar ein wenig auf-er hatte da immer ein wenig Hemmungen, wenn die bei ihnen zu Besuch war, denn die kannte ja wirklich sein Eingemachtes, aber da ließ sich wohl nichts daran ändern und die Freundlichkeit aller war wohltuend und ein großer Kontrast zu der Stimmung auf der Innsbrucker Intensiv. Hier gab es auch keinen einzigen Drachen und als man seinen Körper nun nochmals pflegerisch von Kopf bis Fuß inspiziert, ihn bequem gelagert, seine Lippen gecremt und ihm auch schluckweise etwas zu trinken angeboten hatte, konnte er sich endlich entspannen und ein wenig vor sich hin schlafen. Er erwachte erst wieder, als Sarah´s Freundin vor ihm stand und ihm Besuch ankündigte. Ein wenig war er nun doch neugierig, wer zu ihm kam, aber als nun Hartmut mit einem breiten Grinsen um die Ecke bog und ihn mit den Worten begrüßte: „Ich bin von Semir vorgeschickt worden, um dich ein wenig zu unterhalten!“ musste er doch lächeln. Ja die PASt-Familie hielt zusammen-es war schön, wieder zuhause zu sein!

  • Sarah und Andrea hatten beide die Freisprechfunktion ihrer Handys aktiviert, so dass sie sich unterwegs auch während der Fahrt kurz schließen konnten. Gott sei Dank schliefen die Kinder erst einmal eine ganze Weile und sie kamen gut voran. Auf deutschem Boden erst über die A9 und dann die A3 näherten sie sich der Heimat. Auf Höhe Nürnberg gerieten sie dann in einen Feierabendstau und die Kinder erwachten. Gott sei Dank gelang es ihnen die Autobahn an der nächsten Ausfahrt zu verlassen und sie steuerten einen Landgasthof an. Dort konnte Sarah stillen, alle anderen benutzten die Toiletten, Tim und Mia-Sophie wurden gewickelt und Gott sei Dank war das Lokal auf Kinder eingerichtet und bot ein Bällebad und andere Spielmöglichkeiten, so dass sich die Kinder dann, nachdem sie etwas gegessen hatten, nochmals bewegen konnten.

    Die Dunkelheit war herein gebrochen und gerade wollten sie weiterfahren, da läutete Andrea´s Handy. Susanne war am Apparat und sagte: „Andrea-kann ich Semir sprechen?“ und die gab wortlos ihr Telefon weiter, hatte aber bereits an der Stimme ihrer Freundin gemerkt, dass da irgendetwas ober faul war. Semir meldete sich, hörte zu und wurde blass. „Um Himmels Willen!“ flüsterte er dann. „Auf Ben wurde ein erneuter Anschlag verübt-er ist gerade im OP und wird operiert, aber sie wissen nicht, ob er es schafft!“ informierte er dann die beiden Frauen und Sarah schlug entsetzt die Hände vor den Mund und begann zu schluchzen. „Hartmut wurde ebenfalls verletzt, allerdings nicht allzu schwer!“ gab er noch weiter. „Aber so wie es aussieht, hat er dennoch Ben das Leben gerettet, falls der die OP übersteht.“


    Nun sprach er in den Hörer: „Susanne, wir kommen so schnell wir können, aber wir brauchen auch ohne Verkehr noch etwa vier Stunden, halt uns bitte auf dem Laufenden!“ bat er und weil er sah, dass Sarah unmöglich in der Lage war, jetzt noch zu fahren, sondern blass und zitternd in Andrea´s Armen lag und auch die Kinder, die sie gerade angeschnallt hatten, schon unruhig wurden, setzte er sich wortlos hinters Steuer. Seine Frau fragte besorgt: „Semir geht das?“ aber er antwortete nur: „Und wie das geht-du weisst-zum Fahren brauche ich nur eine Hand!“ und so nahm Sarah auf dem Beifahrersitz Platz und Semir fuhr vorneweg und bereits nach kurzer Zeit war klar, dass sie keine vier Stunden bis Köln brauchen würden. „Wenn wir geblitzt oder aufgehalten werden-das mache ich dann schon mit den Kollegen!“ sagte er noch zu Sarah, die das an Andrea telefonisch weiter gab. Gott sei Dank schliefen die Kinder bald wieder ein und so kamen sie gut voran, aber die Angst ließ ihre Herzen bis zum Hals schlagen-du lieber Himmel, was war bloß passiert?

  • Hartmut war von Semir gebeten worden nach Ben zu schauen. „Hallo Einstein!“ hatte er ins Telefon gerufen. „Ich weiss ja nicht wie viele Überstunden du hast, aber ich vermute, wenns nach dem ginge, könntest du ein ganzes Jahr zuhause bleiben!“ hatte er ins Telefon geflachst und nach kurzer Überlegung hatte der Rotschopf ihm zugestimmt. „Hör mal-Ben wird vermutlich mit dem Flieger ein wenig schneller in Köln sein als wir, obwohl ich mir ja alle Mühe geben würde, diese Zeiten zu unterbieten, aber wir fahren im Konvoi, ich sitze nicht am Steuer und außerdem haben wir Kinder an Bord. Jetzt wollte ich dich bitten, ob du nach Ben schauen könntest, ihn fragen, ob er gut untergebracht ist oder etwas braucht. Wir kommen so schnell wie möglich nach!“ hatte er den Kriminaltechniker gebeten und der hatte natürlich sofort zugestimmt. Semir hatte auch überlegt, ob für Ben wohl eine akute Gefährdung bestand, aber nach wie vor war es völlig nebulös, warum der Bergführer ihnen allen nach dem Leben getrachtet hatte und schließlich konnte der Anschlag durchaus auch Knut gegolten haben, der ja ihren Ausflug mit dem Leben bezahlt hatte. Vielleicht hatte der Bergführer im Anschluss nur die Zeugen ausschalten wollen und das war das Motiv für den Überfall auf das Biwak gewesen?


    Gut der Mordversuch in der Uniklinik hatte eindeutig Ben gegolten und da war kein Bergführer weit und breit gewesen, aber vielleicht war das wirklich der pure Zufall gewesen und ein mordlustiger Pfleger hatte Todesengel spielen wollen, wie die österreichische Polizei schon vermutet hatte? Auf jeden Fall rechtfertigten die Fakten keinen Polizeischutz und außerdem-wer wusste denn schon, dass Ben wieder in Köln war? Und ab morgen würden entweder Sarah oder er wieder am Bett des dunkelhaarigen Polizisten sitzen und bis dahin würde schon nichts sein, obwohl Semir sich im Nachhinein hätte selber prügeln können, weil er nicht auf sein Bauchgefühl gehört hatte, das ihm im Unterbewussten da schon akute Gefahr signalisiert hatte.


    So kam es, dass Ben am späten Nachmittag, allerdings noch bei Tageslicht, Besuch von Hartmut bekam, der ihm vergnügt den neuesten Klatsch und Tratsch aus der PASt erzählte, ihn aufmunterte und die Gewissheit in ihm reifen ließ, dass er bald wieder am Steuer seines Mercedes sitzen würde-so ein paar Knochenbrüche warfen doch einen Jäger nicht aus der Bahn und das mit den Blasensteinen verdrängte er sowieso gerade erfolgreich.

    Der Bergführer hatte derweil hingebungsvoll eine Zwischenwand nach der anderen geputzt. Mann wann haute dieser Typ denn endlich ab, damit er seinen Auftrag erledigen konnte? Aber der hatte ein gutes Sitzfleisch und der Bergführer war dazwischen sogar mehrfach von der Intensivstation verschwunden, damit das nicht so auffiel, denn ein paar Schwestern hatten schon begonnen, ihm merkwürdige Blicke zuzuwerfen. Als er kurz nach fünf wieder zur Station zurück kehrte, war sein großer Augenblick gekommen. Der Platz neben dem Bett des dunkelhaarigen Mannes war verwaist. Der war anscheinend gerade frisch gebettet worden, denn er lag jetzt ganz anders da als vorhin, die Zudecke war sichtlich frisch aufgeschüttelt, die frisch gecremten Lippen glänzten und er hatte die Augen geschlossen und erholte sich gerade von seinem Besuch. Wie ein Schatten war der Bergführer über ihm und bevor Ben, der zwar im Unterbewusstsein bemerkt hatte, dass da jemand das Zimmer betreten hatte, aber gedacht hatte, das wäre Hartmut, reagieren konnte, wurde ihm die Zudecke vom Leib gerissen und ein Messer bohrte sich in seinen Bauch.
    Der Bergführer fluchte verhalten. Verdammt noch Mal-er hatte vorgehabt zielsicher zwischen den Rippen seines Opfers durch zu stechen und zwar auf der linken Seite. Er wusste wo das Herz lag, denn er war im Lechtal in einer kleinen bäuerlichen Landwirtschaft aufgewachsen und da hatte man jedes Jahr zwei Schweine gefüttert und heran gezogen und im Herbst geschlachtet. Nachdem die menschliche Anatomie sich nicht so sehr von der schweinischen unterschied, wie er schon mehrfach gelesen hatte, wollte er mit seinem frisch geschliffenen Butterflymesser links zwischen den Rippen eingehen und das Herz treffen, aber als er die Decke mit einem Ruck zur Seite gezogen hatte, war da ein komischer Verband gewesen, mit dem der Arm seines Opfers genau über dem Bezirk fixiert war, wo er den tödlichen Stich hatte ansetzen wollen. Im Reflex stach der Bergführer trotzdem zu, aber nun sozusagen ein Stockwerk tiefer. Ben riss überrascht und erschrocken die Augen auf und noch bevor der Schmerz von ihm Besitz ergriff, kam ein gurgelnder Schrei über seine Lippen. Der Österreicher riss das scharfe Mordwerkzeug wieder aus seinem Opfer und wollte ihm gerade die Kehle durchschneiden, wie er soeben umdisponiert hatte, da wurde sein Arm, der im Augenblick Schwung holen wollte, plötzlich von hinten fest gehalten und in seinem Augenwinkel erschien ein roter Schopf. Mit einem tierischen Aufbrüllen versuchte der Attentäter seinen Arm wieder frei zu bekommen, was ihm teilweise auch gelang, aber zugleich hatte Hartmut ihn zu sich herum gezerrt und als er das nächste Mal zustach, erwischte er anstatt seinem wehrlosen Opfer, das nun mit weit aufgerissenen Augen die gesunde Hand auf den Bauch presste und nach Luft japste, den Kriminaltechniker, der zeitgleich laut um Hilfe rief. Obwohl er ihn sicher schmerzhaft am Arm erwischte, ließ der das Handgelenk des Mörders nicht los, sondern hielt es krampfhaft fest. Mit diabolischem Grinsen begann der durchtrainierte Bergführer gerade das Messer wieder frei zu bekommen, um seine böse Tat zu vollenden, da traf ihn das Knie des Technikers zwischen den Beinen, ließ ihn schmerzvoll nach Luft japsen und sich zusammen krümmen. Nachdem nun gerade das Rufen des Rothaarigen und auch das Alarmieren des Monitors die halbe Station auf den Plan rief, beschloss er zu flüchten-dieser Anschlag hatte nicht so funktioniert, wie er sich vorgestellt hatte, aber er würde jetzt abhauen und dann wiederkommen-denn seine Ehre war getroffen!

  • Hartmut war von den Schwestern freundlich gebeten worden, doch kurz draußen zu warten: „Wir machen Herrn Jäger jetzt ein wenig frisch, kontrollieren die Blutwerte und danach dürfen sie gleich wieder herein!“ hatte man ihm versprochen und Hartmut hatte die Zeit genutzt, mal schnell zur Besuchertoilette zu gehen, die außerhalb der Intensivstation lag. Als er zurück gekommen war, hatte er voller Entsetzen gesehen, dass der Fensterputzer, der schon den ganzen Nachmittag die Station geschrubbt hatte, über seinen Freund und Kollegen gebeugt war und mit einem Messer auf ihn ein stach. Verdammt noch Mal-er hatte sich schon gewundert, warum Semir so Wert darauf gelegt hatte, dass Ben nicht alleine war, aber eine konkrete Gefahr hatte er nicht erwähnt. Ben hatte auch nichts Näheres erzählt, nur dass er von einer vermutlich absichtlich ausgelösten Lawine verschüttet worden war, von Semir und einigen syrischen Flüchtlingen in einer dramatischen Aktion gerettet und danach knapp einem Mordanschlag im Innsbrucker Klinikum entgangen war. Der Täter-ein Pfleger- war allerdings auf der Flucht überfahren worden und so war man davon ausgegangen, dass aktuell keine Gefahr bestand. Wie sich nun zeigte, war das eine falsche Annahme gewesen.


    Ohne groß nachzudenken, hatte sich Hartmut auf den Fensterputzer gestürzt und seine Hand umklammert, damit er nicht ein zweites Mal zustechen und seine Tat vollenden konnte. Er hatte um Hilfe gerufen und aus dem Augenwinkel Ben´s vor Schmerz verzerrtes Gesicht gesehen und das Blut, das zwischen dessen Fingern hervor quoll, die er auf seinen Bauch gedrückt hatte. Ein scharfer Schmerz an seinem Arm hätte ihn beinahe dazu gebracht, die Hand des drahtigen Mannes, der ihm sicherlich körperlich überlegen war, los zu lassen, aber das hätte vermutlich den Tod Ben´s und vielleicht auch seinen eigenen bedeutet. So erinnerte er sich an die Nahkampfausbildung, die er in der weit zurück liegenden Polizeischule gelernt und danach nie mehr gebraucht hatte, nachdem ein Einsatz an Semir´s Seite nicht zu dessen Zufriedenheit ausgefallen war und er statt im aktiven Polizeidienst nun in der KTU gelandet war, wo er seine intellektuellen Fähigkeiten wesentlich besser ausleben konnte. Aber sein Lehrer hatte ihm immer eingeprägt einen überlegenen Gegner zu überraschen und ihm dort weh zu tun, wo er es am wenigsten erwartete und so hatte er sein Knie angezogen und mit aller Kraft in dessen Weichteile gerammt und zugleich hatte er laut um Hilfe gebrüllt.

    Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und während aus allen Richtungen Schwestern, Pfleger und Ärzte herbei eilten, wichen sie allerdings vor dem Täter zurück, als er drohend mit dem blutigen Messer herum fuchtelte und so gelang es ihm in den Aufzug zu springen, der Gott sei Dank leer war und er fuhr auch nicht direkt ins Erdgeschoss, sondern erst einmal in den Keller, zog derweil die Fensterputzerjacke und das Käppi aus, schmiss das in die nächste Ecke, wischte zuvor daran noch sein Messer sauber und steckte es ein und ging dann, zwar unter Schmerzen und mit immer noch leichter Übelkeit, aber doch gemächlichen Schrittes, in unauffälligen Jeans und Sweatshirt erst die Treppe hinauf und dann aus der Eingangshalle und zum Polo, während nun Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes hektisch begannen alle Fensterputzer aufzuhalten und zu befragen. Während er vom Parkplatz fuhr kamen ihm schon Polizeiautos mit Blaulicht entgegen, aber seine Flucht gelang ohne Probleme und wenig später war er im abendlichen Kölner Feierabendverkehr verschwunden.


    Als auf der Intensiv der erste Schock gewichen war, beugten sich mehrere Schwestern und der Stationsarzt über Ben. Ein Pfleger hatte Hartmut zur Seite gezogen und dessen kombinierte Stich- und Schnittverletzung begutachtet, aber die war nicht lebensbedrohlich und so hatte er ihn auf einen Stuhl gesetzt, einige Kompressen aus dem Pflegewagen genommen, die auf die Wunde gelegt und ihn gebeten, da fest drauf zu drücken. Sobald Herr Jäger versorgt war, würde man sich weiter um ihn kümmern, aber bei dem sah es wesentlich ernster aus.
    Das Blut sprudelte nur so aus der Wunde am Bauch, denn inzwischen hatten die Medizinprofis alle Handschuhe angezogen, Ben´s Hand zur Seite gezogen und die Verletzung begutachtet. „Verdammter Mist-er scheint ein großes Gefäß, ich vermute die Bauchaorta- getroffen zu haben!“ fluchte der Intensivarzt und ließ sofort den OP verständigen. „Wir brauchen einen Gefäßchirurgen und sofort mindestens vier Blutkonserven seiner Blutgruppe!“ ordnete er an und war wütend auf sich selber, dass er versäumt hatte, Blut für seinen neuen Patienten einkreuzen zu lassen. Allerdings waren dessen Werte soweit stabil gewesen, der hatte nicht mehr akut geblutet und nachdem man ja als Ursache für dessen vorherige starke Blutungen die Actilysegabe ausgemacht hatte, war man nicht davon ausgegangen, dass er noch Konserven brauchte. Jetzt allerdings ging dessen Kreislauf trotz Katecholaminen in die Knie, er war schockig, sein Herz raste und nur eine Notoperation konnte ihn retten. Man brachte das Bett in Kopftieflage, eine Schwester drückte nun fest mit einem Stapel Kompressen auf den Bauch in der Hoffnung durch die Kompression den Blutfluss ein wenig einzudämmen, man drehte eine Infusion voll auf und bereitete ihn auf den Transport vor, was mit den Katecholaminen und Überwachungsgeräten nicht so ganz einfach war und seine Zeit benötigte.
    Ben hatte zu zittern begonnen, seine Augen waren dunkel vor Schmerz, aber aktuell konnte man ihm wegen der Kreislaufproblematik kein Opiat geben, bevor er nicht im OP war. Man steigerte das Noradrenalin nur ein wenig, damit zwar sein Gehirn noch versorgt wurde, aber die Blutungen nicht noch stärker wurden. Sarah´s Freundin, die diejenige war, die fest auf seinen Bauch drückte, was ihm natürlich noch zusätzliche Schmerzen bereitete, redete ihm gut zu und versuchte ihn zu beruhigen, aber noch viel mehr achtete sie darauf, ja den Druck nicht zu verringern und so war nach wenigen Minuten Ben auf dem Weg in den OP, wo man ihn in Windeseile aufs Schleusenband hievte und nun ein Arzt von drinnen die Kompression übernahm.


    Ben hatte einmal geflüstert: „Es war der Bergführer!“ aber die Schwester hatte dem momentan keine Bedeutung beigemessen. Jetzt war es wichtig, dass ihr Patient gerettet wurde und um den Täter kümmerten sich die Polizei und der hauseigene Sicherheitsdienst. Kaum lag Ben auf dem Tisch, fuhr man ihn ohne Zwischenhalt in der Einleitung in den Saal, spritze ihm ein Narkosemittel und sobald seine Augen zufielen hatte er schon einen Tubus im Hals und man schüttete einfach Desinfektionsmittel über seinen Bauch und schnitt den Gilchristverband auf. Die OP-Schwester, ein Assistenzarzt und der Gefäßchirurg hatten die Zeit ab der Voranmeldung genutzt, sich steril gewaschen und die Instrumente vorbereitet. Man schmiss ein steriles Abdecktuch über Ben und nun wurde in Windeseile seine Bauchdecke eröffnet, während der Narkosearzt und die Anästhesieschwester alle Hände voll zu tun hatte, seinen Kreislauf einigermaßen zu stabilisieren und die erste Konserve , die inzwischen aus der hauseigenen Blutbank eingetroffen war, nach dem Bedsidetest zu transfundieren.


    Hartmut hatte derweil nach einem Telefon verlangt und bevor man ihn mit dem Rollstuhl in die Notaufnahme zur Wundversorgung fuhr, hatte er Susanne und die Chefin verständigt, die sofort versprach in die Klinik zu kommen. Susanne rief Andrea an und Kim Krüger machte sich in Windeseile auf den Weg zur Uniklinik-die Sorge um ihre besten Männer ließ nicht nach-das neue Jahr begann schon mal nicht gut!

  • Im OP hatte man derweil in Windeseile Ben´s Bauchraum eröffnet und einen sogenannten Rahmen eingesetzt, ein Hilfsmittel, das selbsttätig den Bauch weit offen hielt und so den Chirurgen einen guten Überblick bot und nebenbei auch einen Assistenten sparte, der sonst nur damit beschäftigt gewesen wäre, die Haken zu halten und die Bauchwand auseinander zu ziehen. Das hellrote Blut sprudelte nur so und man setzte den Sauger an, um freie Sicht zu bekommen. Erst hatte man überlegt, evtl. einen Cellsaver einzusetzen, also das austretende Blut durch eine Maschine laufen zu lassen, die es reinigte und es dem Patienten danach zu retransfundieren, aber da hatte der Gefäßchirurg schon etwas entdeckt, was dagegen sprach-der Dickdarm war ebenfalls verletzt und der austretende Darminhalt hatte das Blut kontaminiert, dass man dem Patienten so eine hausgemachte Sepsis verpassen würde, also musste man auf Fremdblut zurück greifen.
    Man legte über die Darmverletzung nur schnell ein grünes Bauchtuch-darum würde man sich später in Ruhe kümmern-wechselte die Handschuhe und eröffnete dann schon das Retroperitoneum auf der Suche nach der Blutungsquelle. Das war aber eigentlich nicht schwer, denn in pulsierendem Strahl schoss mit jedem Herzschlag eine hellrote Fontäne aus der linken Bauchaorta, kurz unterhalb der Bifurkation, also der Aufspaltung in zwei Hälften, wodurch die Beckenorgane und die Beine versorgt wurden. Der Assistent hielt vorsichtig mit langen, weichen gepolsterten Spateln den Darm beiseite und weil die Verletzung direkt nach der Abzweigung war, entschloss man sich, die komplette Aorta vorübergehend abzuklemmen.

    Das war auch dringend nötig, denn trotz der Bemühungen des Anästhesisten, der mit Konserven, Infusionen und Medikamenten versuchte den Blutdruck einigermaßen stabil bei 80 systolisch zu halten, war der aktuell ziemlich abgerauscht. Als man die Aorta abklemmte, sackte als Zeichen der Blutumverteilung im Organismus der Blutdruck zunächst nochmals ab, um sich dann zügig zu erholen. Trotzdem ging es jetzt um Zeit, denn während der Abklemmphase wurden viele Organe und die unteren Extremitäten nicht ausreichend versorgt, obwohl natürlich schon einige Nebenkreisläufe der Blutgefäße bestanden, ganz vom Netz war sozusagen der untere Teil des Körpers nicht, aber mit jeder Minute Abklemmzeit wurde das Coming out-also das folgenlose Überstehen der Operation- schlechter und gerade der sowieso verletzte Dickdarm hatte mit einer Mangeldurchblutung besonders zu kämpfen. Also beeilte sich der Gefäßchirurg mit einer Lupenbrille auf dem Kopf in die Gefäßwand unter den etwa einen Zentimeter langen Schnitt einen Patch einzubringen und den mit speziellen, nicht auflösenden haarfeinen Nähten innerhalb der Aorta zu fixieren. Zuletzt wurde noch eine Längsnaht gemacht und dann löste man nach 16 Minuten vorsichtig die gepolsterte Gefäßklemme, jederzeit bereit, die wieder zu schließen, wenn die Naht nicht dicht war. Aber sie hatten Glück-kein Tröpfchen Blut trat mehr aus, auch nicht, als Ben´s Blutdruck, der beim Öffnen der Blutzirkulation erneut abgerauscht war-es war ja ein sehr belastender Umverteilungsprozess-sich durch Volumen- und Katecholamingabe wieder stabilisiert hatte.

    Man legte noch das Retroperitoneum über die Flickstelle und dann widmete sich der zweite Chirurg, der Viszeralchirurg und somit für den Darm zuständig war, dem verletzten Dickdarm. Nun assistierte der Gefäßchirurg und der zweite Assistent war ein junger Assistenzarzt der Chirurgie, der so beim Zusehen, Absaugen und auch durch die Erklärungen der beiden Fachärzte viel lernte. „Sehen sie-jetzt werden die Bauchorgane die zuvor mangelversorgt waren, wieder rosig!“ wies ihn der Gefäßchirurg darauf hin. „Wenn sie während der Abklemmphase die Fußpulse gesucht hätten, hätten sie keine gefunden und deshalb war es wichtig, die Abklemmzeit so kurz wie möglich zu halten. Jetzt für den Darm kann sich der Kollege länger Zeit lassen-das eilt nicht so!“ sagte er mit breitem Grinsen, was dem Viszeralchirurgen ein unwilliges Brummen entlockte. Jeder dieser Götter in Weiß war von der Wichtigkeit seiner Arbeit überzeugt und fand die Arbeit der anderen Fakultäten nicht so berauschend, aber letztendlich war jeder Einzelne wichtig, aber kein Arzt konnte in der heutigen Zeit mit den ganzen Spezialisierungen das komplette Spektrum abdecken. Der Bauchchirurg übernähte nun die Schnittverletzung am Darm, Gott sei Dank war auch hier keine Resektion, also eine Entfernung eines Darmabschnitts nötig, weil die Wundränder glatt und nicht zerfetzt waren. Man spülte mit viel Ringerlösung, insgesamt fast zehn Litern den gesamten Bauchraum aus, in der Hoffnung so eine Peritonitis zu verhindern. Ben war ja schon antibiotisch abgedeckt und man beschloss, erst einmal das Antibiotikum das er bereits hatte, nach Schema weiter laufen zu lassen und es nur zu wechseln, wenn er Fieber bekam, oder die Entzündungswerte anstiegen. Ben war noch jung, man wollte nicht schon jetzt Resistenzen züchten und so verschloss man jetzt den Bauch komplett.


    „Wie geht’s ihm?“ fragte der Gefäßchirurg mit einem Blick über das grüne Tuch zum Narkosearzt, der nun endlich auch einmal auf seinem Stuhl saß-bisher hatten er und die Anästhesieschwester Schwerstarbeit geleistet. Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Aktuell ist er auf niedrigem Level stabil. Ich werde ihn aber nachbeatmet lassen, denn ich möchte keine Aufregung und damit eine Hochdruckkrise provozieren-nicht dass es den Patch wieder weg sprengt!“ sagte er und der Gefäßchirurg nickte zufrieden. „Ich wäre ihnen sehr verbunden!“ sagt er ein wenig sarkastisch, aber nun waren auch schon mehrere Drainagen in den Bauch eingelegt und ein dicker Verband zierte die Mitte des jungen Polizisten. Obwohl er sich nun wieder stabilisiert hatte und durch die erneute Massentransfusion auch die Blutwerte so halbwegs in Ordnung waren, war er von einem kalten Schweißfilm überzogen, seine Augen lagen in tiefen Höhlen und man sah ihm schon rein optisch an, dass er immer noch nicht völlig außer Gefahr war-zu viele Komplikationen konnten jetzt noch drohen. Trotzdem wurde die Intensivstation zur Abholung angerufen und als die wenig später mit dem Transportbeatmungsturm in die Schleuse fuhren und ihren Patienten abholten, waren sie froh, dass er noch lebte und auch Chancen hatte, das folgenlos zu überstehen. Man würde ihn aber trotzdem scharf überwachen und gerade die ersten 24 Stunden wie ein rohes Ei behandeln.


    Kim Krüger war vor der OP-Abteilung wie eine ruhelose Raubkatze im Käfig hin- und her-getigert. Sie hatte schon eine Bewachung für ihren jungen Beamten organisiert, aber noch war völlig unklar, ob er den OP überhaupt lebend verlassen würde. Nach einer Weile war Hartmut zu ihr gestoßen, dessen Arm genäht und auf eine dicke Schiene gewickelt war, die auch über den Ellenbogen reichte. Auch er war blass, denn das Nähen in mehreren Schichten in örtlicher Betäubung war kein Zuckerlecken gewesen, aber jetzt hatte er es überstanden und zusammen mit einigen Schmerztabletten und einer Antibiose, weil er ja mit einem kontaminierten Messer geschnitten worden war, hatte man ihn nach Hause entlassen. Er gab der Chefin gleich mal die Krankmeldung, die die in ihrer Handtasche verstaute. Wie Unwichtig schienen solche Kleinigkeiten, wenn man um das Leben eines guten Freundes bangte!
    Endlich öffnete sich die Schiebetür der OP-Abteilung und Ben wurde heraus gefahren, immerhin-er lebte, auch wenn immer noch ein Tubus in seinem Mund steckte und er einfach schrecklich aussah. „Wie sieht´s aus?“ fragte sie den abholenden Intensivarzt, aber der zuckte mit den Schultern. „Wir müssen die ersten 24 Stunden abwarten, dann können wir mehr sagen!“ teilte er ihr mit und umriss kurz die Schwere der Verletzungen. Die Chefin und auch Hartmut quetschten sich mit in den Aufzug: „Wir müssen ihn bewachen, weil wir nicht wissen, ob der Attentäter nicht erneut zuschlägt, er ist uns nämlich entkommen!“ teilte sie dem Arzt mit und der nickte. „Ihnen würde ich aber raten nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen-ich denke nicht, dass sie bei einem eventuellen weiteren Angriff eine große Hilfe wären!“ sagte er dann allerdings zu Hartmut gewandt und die Chefin beeilte sich zu versichern, dass das schon organisiert wäre. Tatsächlich standen zwei uniformierte Polizisten vor der Intensiv bereit und blieben vor der Zimmertür sitzen, während Ben drinnen versorgt wurde. „Kommen sie Herr Freund-ich fahre sie nach Hause und dann informieren wir noch seine Frau und Semir!“ sagte sie und nun trottete Hartmut hinter ihr her zu ihrem kleinen Mercedes und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, während Kim Krüger Sarah´s Nummer wählte.

  • Semir fuhr rasch und konzentriert und Andrea folgte ihm einfach. Sarah starrte die ganze Zeit auf ihr Handy und hielt es wie einen Talisman in der Hand, denn sie hatten ausgemacht, dass Susanne, oder wer auch immer, ihnen auf dieser Nummer Bescheid geben würden, sobald man Näheres wusste. Als auf Höhe Aschaffenburg das Handy läutete, ging Sarah sofort ran und fragte bang: „Ja-was gibt’s Neues?“ denn ihr Display verriet ihr, dass Ben´s Chefin am Apparat war. „Frau Jäger-ich komme gerade von ihrem Mann!“ begann sie zu sprechen und Sarah hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt, egal ob die Kinder davon aufwachten, aber das war ihr gerade egal-Semir sollte auch hören können, was los war. „Also zunächst einmal er lebt und ist nach der Operation wieder auf der Intensivstation, allerdings beatmet und in kritischem Zustand. Der behandelnde Arzt hat mir erklärt, dass seine Bauchaorta und der Dickdarm verletzt wurden, sie konnten die Blutungen aber stillen und jetzt kann man nur abwarten. Ich habe zwei Bewacher vor seinem Zimmer postiert, von daher dürften jetzt keine Bedrohungen mehr kommen, denn der Täter konnte leider noch nicht gefunden werden. Ich bringe jetzt Herrn Freund nach Hause, der bei seinem heldenhaften und erfolgreichen Rettungsversuch verletzt wurde, aber Gott sei Dank nicht lebensbedrohlich. Ich denke ja, sie werden gleich nach ihrer Ankunft noch ins Krankenhaus fahren-wenn sie etwas brauchen, ich bin jederzeit erreichbar!“ sagte sie und Sarah bedankte sich für die Auskunft und legte auf.

    Semir sagte: „Gott sei Dank-er lebt!“ und Sarah gab dann gleich noch Andrea Bescheid. „In etwa zwei Stunden sind wir an der Uniklinik!“ erklärte Semir und nun rief Sarah Hildegard an, die aus allen Wolken fiel, als sie hörte, was geschehen war. „Sarah-ich komme natürlich zur Klinik, wenn ihr eintrefft und übernehme die Kinder. Die können bei mir bleiben und ich habe auch Fläschchen für die Kleine hier-wir kriegen das gemeinsam und Ben wird wieder gesund-ich weiss das!“ prophezeite sie und Sarah kamen beinahe die Tränen-ja auf Hildegard konnte man sich verlassen! Sie rief dann noch ihre Kolleginnen an, aber die konnten ihr auch nicht mehr sagen wie die Chefin-gut ein paar medizinische Details schon noch, aber sonst konzentrierte sich Sarah nun auf die nächtliche Autobahn auf der der Verkehr schon ein wenig nachgelassen hatte, immerhin ging es schon auf neun und sie kamen gut voran.


    Andrea bog in Köln angekommen Richtung zuhause ab, denn wie sie telefonisch besprochen hatten, musste ja jemand bei Ayda und Lilly bleiben und sie konnte im Krankenhaus auch nichts machen. Man würde sie auf dem Laufenden halten und die Betreuung der beiden Kleinen war ja nun organisiert. Als sie zuhause ankam, erwartete sie ein dunkles, ein wenig muffig riechendes Haus, aber als sie die Heizungen auf gedreht und gelüftet hatte, ging es und die Kinder waren nun leider aktuell überhaupt nicht mehr müde, aber sie legte ihnen eine DVD ein und parkte sie bei einem Kinderfilm vor dem Fernseher und öffnete ihnen eine Packung Kekse und Limo. „Wie geht es Ben?“ fragte Ayda leise und Andrea bemerkte nun, dass ihre große Tochter wohl nicht so viel geschlafen hatte, wie sie gedacht hatte. „Er wird im Krankenhaus versorgt und weisst du was-wir zünden jetzt eine Kerze an und denken ganz fest an ihn und wünschen ihm, dass er wieder gesund wird!“ sagte sie und fast andächtig machten sie das und dachten ganz fest an ihren Freund und Paten.


    Am Krankenhausparkplatz angekommen, wartete Hildegard schon. Sie hatte Kindersitze in ihrem Caddy und so konnte man Tim schlafend in das andere Fahrzeug setzen. Sarah stillte die kleine Mia-Sophie im Wagen, die gerade munter wurde und nachdem Semir noch den Koffer für die beiden Kinder umgeladen hatte, verschwand Hildegard und sagte: „Lucky wird sich freuen, wenn wenigstens ein Teil seiner Familie wieder da ist!“ aber Sarah antwortete mit düsterer Miene: „Aber den Menschen, an dem er am meisten hängt, nämlich sein Herrchen, bringst du nicht mit-ich hoffe er kann jemals wieder mit ihm über die Felder streifen!“ und darauf antwortete Hildegard nun nichts, denn Sarah´s Sorgen und Ängste waren fast greifbar. Als nun der Caddy vom Krankenhausparkplatz fuhr, fasste Semir nach Sarah´s Hand, die eiskalt war und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Intensivstation.


    Hartmut war auf dem Heimweg noch eingefallen: „Frau Krüger-war denn die Spusi schon da?“ aber die Chefin musste sagen, dass sie völlig vergessen hatte, die zu verständigen. „Die sollen nach dem Fensterputzzeug sehen, da müssten Fingerabdrücke drauf sein und ich zeichne daheim an meinem PC noch ein Phantombild und jage das durchs System, damit wir wissen, nach wem genau wir suchen müssen!“ sagte Hartmut und die Chefin bedankte sich und ließ ihn wenig später vor seiner Wohnung aussteigen. „Wenn sie Hilfe brauchen, rufen sie mich an!“ versicherte sie ihm und Hartmut bedankte sich mit einem Nicken. Tatsächlich konnte man auf den Sachen Fingerabdrücke feststellen, die aber nicht im System waren. Auch Hartmut´s Phantombild ergab keinen Treffer und so konnte man da nur noch die Beschreibung zu Größe und etwaigem Gewicht hinzufügen und die Fahndung ging an alle Streifen in Köln und Umgebung heraus.


    Susanne hatte inzwischen Feierabend und als sie hörte, dass Andrea zu Hause war, fuhr sie sofort zu ihr und schloss sie einfach in ihre Arme, als die ihr die Tür öffnete. „Ich bleibe hier und dann warten wir erst einmal, was für Neuigkeiten aus dem Krankenhaus kommen!“ sagte sie liebevoll und kochte zunächst einmal einen schönen Tee. Andrea ließ sich nun neben ihrer Freundin aufs Sofa fallen und hätte beinahe zu schluchzen begonnen-zu viel war die letzten Tage geschehen und sie fühlte sich wie ausgehöhlt, aber der Tee, die Wärme und Freundschaft halfen ihr und als die beiden Kinder dann Susanne aufgeregt von ihrem Schneeurlaub erzählten und was sie in dem Hotel alles erlebt hatten, schloss Andrea einfach die Augen und ließ die Geräusche an sich vorbei ziehen-sie war jetzt nur noch fertig.
    Etwa zwei Stunden später-langsam wurden die Kinder nun wieder müde und man konnte sie ins Bad und dann ins Bett schicken- fuhr ein Auto in die Einfahrt und wenig später drehte sich ein Schlüssel im Schloss. „Und?“ fragten Andrea und Susanne gespannt, aber Semir sah ebenfalls wahnsinnig fertig aus und ließ sich erst einmal neben die beiden Frauen aufs Sofa fallen. „Er lebt, aber gut geht es ihm nicht. Sarah bleibt die ganze Nacht bei ihm, die haben ihr ein Bett ins Zimmer gestellt. Zwei Bewacher passen auf und wir haben jetzt ausgemacht, dass ich Sarah morgen früh ablöse!“ erzählte er und berichtete noch ein paar Details.


    Susanne verabschiedete sich dann, um nach Hause zu fahren und wenig später gingen Andrea und Semir ebenfalls zu Bett, wo sie sich aneinander fest hielten wie zwei Ertrinkende. „Er wird es schaffen-er hat es schon so oft geschafft, du weisst er ist ein Kämpfer!“ flüsterte Andrea beschwörend und Semir antwortete grenzenlos erschöpft und ausgelaugt: „Ich hoffe es, Andrea, ich hoffe es!“

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