Gefährliche Höhen!

  • Semir hatte es sich nicht so schwierig vorgestellt. Was immer bei den anderen Skifahrern-auch bei Ben-so leicht aussah, bedeutete für ihn höchste Konzentration und Kraftanstrengung. Mehr als einmal fiel er hin, immer wieder wurde er ziemlich schnell, obwohl er das mit dem Schneepflug probierte, wie sie es im Skikurs gelernt hatten und einmal kam er gerade noch so vor einem Abgrund zu stehen, indem er sich auf die Seite in den Schnee schmiss. Er würde mit Sicherheit mehr als einen blauen Fleck am Po und an den Hüften haben, wenn er unten ankam, aber immerhin kam er voran-getrieben von der unsäglichen Angst um seinen Freund. Er würde es sich nie verzeihen, wenn der sterben würde, weil es zu lange gedauert hatte und so fuhr er unverdrossen weiter unter höchster Konzentration, so als wenn er mit 200 über die Autobahn düsen würde-aber das hätte er ehrlich gesagt wesentlich besser in Griff, als dieses Himmelfahrtskommando. Eines schwor er sich-das wäre das letzte Mal in seinem Leben, dass er auf so blöden Skiern stand-Winterurlaub in allen Ehren, aber er fand da nichts dran und konnte Sarah und Ben, die elegant über die Piste schwangen da nicht verstehen. Aber vermutlich musste man Skifahren wirklich lernen, solange man jung war, dann machte es Spaß! Dabei war die Schneeschuhwanderung zunächst schön gewesen, aber mit der Lawine war plötzlich alles anders! Die Gefahren im Hochgebirge waren nicht zu unterschätzen, wie sie schmerzhaft am eigenen Leib gespürt hatten!
    Inzwischen war es ganz hell geworden und ein wundervoller, eisiger Wintertag brach heran-es wäre alles schön gewesen, wenn nicht da oben eine Leiche liegen würde und sein Freund lebensgefährlich verletzt mit dem Tode rang.


    Der Patriarch hatte nach dem Morgengebet zunächst nach seinem Enkelsohn gesehen, der inzwischen nicht mehr bei Bewusstsein war. Wenn da nicht bald Hilfe kam, dann war er verloren und die Mutter des Kleinen wiegte ihn verzweifelt und mit Tränen in den Augen in ihren Armen. Der heilkundige Syrer versuchte ihm ein wenig Tee einzuflößen, aber auch der Kleine konnte nicht mehr schlucken und so ging der alte Syrer nun mit schleppenden Schritten, das Herz volle Kummer, zu seinem nächsten Patienten.
    Gerade beugte er sich über ihn und hob die Decken, um zu kontrollieren ob die Blutung stand, da wurde plötzlich die Tür aufgestoßen, ein Schuss ertönte und lautlos sank einer der Söhne des Patriarchen tot zu Boden. Die Frauen und Kinder begannen zu schreien und duckten sich voller Panik, während der Bergführer seine Waffe kalt lächelnd durchlud, um mit der Exekution fort zu fahren. Der türkische Schlepper sah ihn fassungslos an-freilich galt in ihrer Branche ein Menschenleben nicht viel, aber einfach so hilflose Menschen abzuknallen, das ging überhaupt nicht! Außerdem fürchtete er gerade um sein eigenes Leben und überlegte fieberhaft, wie er sich schnellstmöglich aus dem Staub machen und in Sicherheit bringen konnte.


    Der Patriarch hatte sich fassungslos umgedreht und die Decken wieder fallen lassen. Er sah seinen Sohn tot zu Boden sinken und ein Laut des Schmerzes kam über seine Lippen. Vor wenigen Wochen erst hatte er seine Frau verloren, sein Enkel lag im Sterben und nun wurde sozusagen vor seinen Augen seine Familie ausgelöscht. Er brauchte eine Weile, um sich zu fangen und zu überlegen, was er tun konnte, aber dann griff er in seinen Hosenbund, wo in einer Art Holster aus Stoff seine altertümliche Pistole steckte. Er hätte es sich nie träumen lassen, dass er sie einmal gegen einen Menschen einsetzen musste und da er so gläubig war, konnte er mit Sicherheit niemanden kaltblütig erschießen, aber vielleicht gelang es ihm den Bergführer einzuschüchtern, wenn der sah, dass er bewaffnet war!


    Der Bergführer hatte inzwischen seine Blicke durch die Höhle schweifen lassen und ausgerechnet, ob er auch genügend Munition dabei hatte. Wobei-die Kinder konnte er notfalls mit der Schaufel erschlagen, das ginge auch, er musste nur zuerst die Männer erledigen, die ihm vielleicht gefährlich werden konnten. Im Augenblick allerdings starrten die fassungslos auf den Bruder und Cousin, um den sich nun ein großer Blutfleck auszubreiten begann und dachten an Alles, außer sich zu verteidigen und nun sah der Bergführer etwas, oder vielmehr jemanden, den er nicht erwartet hätte. Unter einem Haufen Decken lag dieser Ben Jäger und starrte ihn aus großen dunklen Augen entsetzt an. Er war zwar käsebleich und vermutlich verletzt, aber er lebte und das brachte den Bergführer nun doch ganz schön aus dem Konzept. Vielleicht waren die anderen beiden auch noch am Leben und dieser Jäger und der kleine Türke waren Polizisten, das hatten sie auf der gestrigen Tour erzählt und die würden sich nicht so einfach abknallen lassen! Suchend ließ er seinen Blick durch die Höhle schweifen, ob er die anderen Schneeschuhwanderer entdecken konnte und plötzlich sah er eine Waffe auf sich gerichtet.

    Der Patriarch hatte mit zitternden Händen endlich seine Pistole heraus gewunden und bedrohte nun den Bergführer seinerseits. Mit drohender, aber dennoch ein wenig unsicherer Stimme-Gewalt war einfach nicht Seines-forderte er den Bergführer auf Aramäisch auf, die Waffe fallen zu lassen, der allerdings lachte einmal verächtlich auf-dieser Mann würde nicht schießen, das sah er sofort- und dann bellte ein erneuter Schuss durch die Höhle und der Patriarch sah unendlich erstaunt auf seine Brust, auf der sich ein roter Fleck rasend schnell begann auszubreiten und brach dann über Ben zusammen.


    Der war zwar immer noch fürchterlich schwach, aber nun schoss das Adrenalin durch seine Adern, denn gerade hörte er, wie die Waffe des Bergführers erneut durchgeladen wurde. Die Pistole war dem Patriarchen aus der Hand gefallen und lag jetzt so, dass Ben sie mit der rechten Hand, seiner unverletzten Schusshand, greifen konnte und das tat er auch mit dem Mut der Verzweiflung. Der Bergführer hatte anscheinend vor, hier ein Massaker anzurichten und Ben hatte in dessen Augen gesehen, dass der nicht aufhören würde zu töten, wenn man ihm nicht Einhalt gebot und so nahm er nun seine ganze Kraft zusammen-entsichert war die Pistole, das hatte er gehört-und legte auf den Bergführer an. Er kannte die Waffe nicht und durch seine körperliche Schwäche war er im Zielen nicht so gut wie sonst, aber dennoch bellten nun fast gleichzeitig zwei Schüsse, der eine sauste als Querschläger durch die Höhle und der zweite traf den Bergführer in die Schulter, obwohl Ben eigentlich auf sein Herz angelegt hatte, aber die Umstände ließen den Schuss danebengehen. Allerdings ließ nun der Bergführer die Waffe fallen und griff mit einem Schmerzenslaut nach seiner verletzten Schulter, wo das Blut begann heraus zu strömen. „Schnell-nehmt die Waffe weg!“ rief Ben und Gott sei Dank löste sich nun der zweite Sohn des Patriarchen aus seiner Schockstarre und nahm die Waffe an sich, so dass der Bergführer jetzt unbewaffnet war. Der biss die Zähne zusammen, drehte sich auf dem Absatz um, nicht ohne dabei den türkischen Schlepper, der inzwischen fast an der Tür angekommen war, am Arm zu packen und mit zu zerren. „Du kommst mit und hilfst mir!“ rief er gebieterisch und wenig später waren die beiden Männer verschwunden und Ben rang schwer atmend nach Luft, denn der Patriarch lehnte nun mit seinem halben Körpergewicht auf ihm. Nun war die Anstrengung allerdings zu viel gewesen und als das Adrenalin in seinen Adern ein wenig abflaute, verdrehte Ben die Augen und verlor erneut das Bewusstsein.

  • Semir hatte schon wieder anhalten und die Skier schultern müssen, denn gerade kam erneut ein Steilstück, das er sich nicht runterfahren traute, denn nur ein kleines Stück vom Weg abgekommen und er würde abstürzen und damit wäre niemandem geholfen. Er war inzwischen schon fast eine Stunde unterwegs, aber er hatte trotzdem Strecke gemacht und kam nun immer näher Richtung Lechtal, wenn ihn seine Orientierung nicht trog. Ohne Skier hätte er für diese Strecke sicher die vierfache Zeit gebraucht, aber langsam kam er fast ein wenig an seine Kante und seine Knie begannen zu zittern-es war einfach eine total ungewohnte Bewegung. Auch fand er erstaunlicherweise bergab beinahe anstrengender als bergauf-was er sich vorher so nicht hatte vorstellen können! Er verfluchte sich, dass er nicht in der Höhle noch Schnee geschmolzen und mitgenommen hatte-inzwischen quälte ihn nämlich ein ziemlicher Durst und der Schnee, den er dann zu essen versuchte, löschte den nur unzureichend, außerdem sprangen seine Lippen auf und das gleißende Sonnenlicht, das sich auf dem Schnee spiegelte, verblitzte seine Augen. Natürlich hatten sie Sonnenbrillen dabei gehabt, im Rucksack hatte sich auch Sonnenmilch und Lippensalbe befunden, aber diese Utensilien waren alle beim Absturz in der Lawine verloren gegangen. Aber er durfte jetzt nicht jammern, sondern musste an Ben denken und versuchen so schnell wie möglich ins Tal zu kommen und Hilfe zu holen!


    Als er um einen weiteren Felsvorsprung bog, meinte er erst seinen malträtierten Augen nicht zu trauen. Waren da nicht am gegenüberliegenden Berghang Menschen gerade dabei aufzusteigen? Er schloss seine Augen und öffnete sie gleich wieder. Die hatten alle dieselben roten Jacken an, trugen große Rucksäcke und Seile und bewegten sich routiniert in der weißen gefährlichen Wildnis. Semir versuchte auf sich aufmerksam zu machen und als die Gruppe anhielt und mit Feldstechern den Berg musterte, den sie gerade dabei waren zu besteigen, wedelte Semir mit den Armen und versuchte zu rufen, obwohl die dafür eigentlich viel zu weit weg waren. Zufällig drehte sich einer der Bergsteiger gerade ein wenig um und hatte plötzlich das Gefühl aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr genommen zu haben. Klar gab es hier oben auch Hirsche und Steinböcke, aber die zogen sich normalerweise in die ein wenig tiefer gelegenen Wälder zurück, wo es auch Wildfütterungen gab. So musterte er nun zuerst mit bloßem Auge und dann nochmals intensiver mit dem Feldstecher die Umgebung und hielt dann seine Kameraden von der Bergwacht, die gerade mit ihren Tourenskiern weitergehen wollten, auf. „Seht mal da drüben-habe ich jetzt Halluzinationen, oder winkt uns da wer?“ sagte er und wenig später hatte die Gruppe Semir entdeckt. „Das muss einer der Vermissten sein, denn sonst lagen uns keine Meldungen vor und um diese Uhrzeit ist mit Sicherheit nach diesem Sturm noch niemand außer uns aufgestiegen-wo kommt denn der her-wir haben die doch wo völlig anders vermutet?“ fragte der Gruppenführer der Bergwacht laut, aber dann drehten sie gemeinsam um und wedelten mit ihren Tourenskiern, die mit Steigfellen bewehrt waren elegant Richtung Hochtal und begannen dann zu Semir auf zu steigen, der nun, als die Rettung nahte, erst bemerkte, wie erschöpft er war und sich nun einfach in den Schnee setzte und wartete, bis die Retter bei ihm eingetroffen waren.


    Der Bergführer und der Schlepper waren inzwischen ein gutes Stück von der Höhle entfernt. Nachdem ihnen keiner nach kam, wagte der Einheimische es, seine Wunde, die höllisch schmerzte, zu begutachten. Er schob den Anorak ein wenig nach unten, sah dann aber, dass es sich schlimmer anfühlte als es war-er hatte einen glatten Durchschuss an der Schulter. Sie würden jetzt zu dem Biwak zurück kehren, in dem er die Nacht verbracht hatte und sie verbinden. Dann würde er eine Schmerztablette-oder besser noch zwei- einwerfen und dann überlegen, wie er die restlichen Flüchtlinge und vor allem diesen Jäger eliminieren konnte. Winkler würde ihn köpfen, wenn er erfuhr, dass der, dem der Anschlag eigentlich gegolten hatte, noch am Leben war. Die anderen beiden waren anscheinend bei dem Lawinenabgang gestorben-sonst wären sie mit Sicherheit auch in der Höhle gewesen, aber es war sonnenklar, niemand in dem Biwak durfte nach dem, was geschehen war, überleben, ansonsten wurde die Luft für den Bergführer verdammt dünn!


    Sarah, Andrea, Knut´s Frau und die Kinder saßen beim Frühstück. Jeder versuchte für die Kids ein Stück Normalität vor zu spielen, aber dennoch hing bei allen-soweit sie schon sprechen konnten-die bange Frage in der Luft: „Wo ist der Papa?“

  • In der Höhle hatten sich inzwischen die ersten Flüchtlinge ein wenig beruhigt. Der einzige überlebende Sohn des Patriarchen eilte mit einer seiner Schwestern zum Vater und gemeinsam zogen sie ihn vom immer noch ohnmächtigen Ben herunter und legten ihn flach auf den Boden daneben. „Er atmet noch!“ rief der Sohn und drückte dann fest mit dem ersten Lumpen den er erwischen konnte, auf die Brustwunde, aus der das Blut wie ein Wasserfall floss. Wenig später begannen die Augenlider des Syrers zu flattern und als er wieder langsam zu sich kam, sah er sich zunächst gehetzt in der Höhle um, um den Attentäter zu erspähen, aber der war weg. Nur seine Familie scharte sich nun besorgt um ihn, ein Stimmengewirr erhob sich, jeder wollte helfen und als er nun an sich herunter sah, wusste er auch warum. Das Blut floss aus seiner Brust und als er auf den jungen Verletzten neben sich sah, erschrak er nochmals, denn der lag regungslos mit geschlossenen Augen da und war vorne ebenfalls voller Blut, aber nun dämmerte es dem Syrer, das war wohl sein Blut. In der Hand hielt Ben allerdings immer noch die abgefeuerte Pistole, obwohl ihm deren heftiger Rückschlag schier die andere Schulter auch noch ausgekugelt hätte.
    „Was ist passiert-und wo ist der Mörder meines Sohnes!“ rief der Patriarch und wollte sich erheben, um nach seinem anderen Kind zu sehen, das regungslos ein Stück entfernt am Boden lag, aber nun drückten ihn viele Hände zurück und sein zweiter Sohn sagte voller Kummer: „Vater-Jesaia ist wirklich tot, dem kann niemand mehr helfen!“ und nun liefen die Tränen der Verzweiflung aus den Augen des Patriarchen. Dann erzählte der Sohn, wie ihr Patient sich die Pistole gegriffen und damit den Bergführer und den Schlepper in die Flucht geschlagen hatte und voller Dankbarkeit drehte der Heiler sich nun zu Ben, der soeben ebenfalls langsam die Augen wieder aufschlug. Als der Patriarch nun aber den stetigen Strom aus seiner eigenen Brust fließen sah, sagte er voller Kummer: „Joshua-ich werde ebenfalls sterben, kümmere dich bitte um unsere Familie, du bist das neue Oberhaupt!“ und nun liefen die Tränen der Verzweiflung aus den Augen des zweiten Sohnes, der leise flüsterte: „Vater-du darfst nicht sterben!“ aber der Patriarch schloss nun einfach seine Augen und erwartete sein Schicksal.


    Ben hatte den Kopf gedreht und voller Kummer die ergreifende Szene neben sich beobachtet. Sie konnten jetzt nur hoffen, dass es Semir bald gelang Hilfe zu holen, denn vielleicht konnte die westliche Medizin dem Patriarchen doch noch zu Gute kommen. Wenn er daran dachte wie schwer verletzt er schon einige Male gewesen war und wie gut ihn die Ärzte jedes Mal wieder hingekriegt hatten, dann gab er die Hoffnung noch nicht auf. „Deckt ihn gut zu und fest auf die Wunde drücken!“ ermunterte er den Sohn, der zwar kein Deutsch verstand, aber trotzdem intuitiv wusste, was Ben gesagt hatte. Der legte nun vorsichtig die Pistole ab und schob einen Teil seiner Decken zum Patriarchen hinüber, was ihm zwar vor Anstrengung den Schweiß auf die Stirn trieb, aber die Umstehenden hatten verstanden und deckten nun den Verletzten zu. Der Sohn drückte weiter auf die Brustwunde, der Blutstrom wurde jetzt auch ein wenig langsamer und jetzt konnten sie nur hoffen, dass bald Rettung von außen kam.


    Endlich waren die ersten Retter bei Semir angelangt. Diese Männer waren in den Bergen aufgewachsen, sie hatten eine Megakondition und so bewältigten sie den Aufstieg fast mühelos. Semir war nun wieder zu Atem gekommen und hatte beschlossen, dass er auf keinen Fall ins Tal ab-, sondern mit den Bergrettern wieder zu dem Biwak aufsteigen würde-vielleicht fanden sie das sonst gar nicht und außerdem könnte er Sarah nicht entgegen treten und sagen: „Ich habe mich nun erst mal in Sicherheit bringen lassen-vielleicht können sie für Ben noch was tun, falls sie ihn rechtzeitig finden, aber egal-Hauptsache ich lebe!“ und deshalb setzte er sich jetzt in den Schnee und nutzte die Zeit zur Regeneration.
    Im unverwechselbaren Vorarlberger Dialekt mit den harten Konsonanten, sprach der erste Bergretter Semir an. „Guten Tag, ich bin von der Bergrettung und ich vermute, sie sind Semir Gerkhan-was ist denn passiert?“ fragte er, denn natürlich hatten sie Bilder der Vermissten gesehen. Wenn nun einer alleine aufgefunden wurde, dann war das normalerweise ein schlechtes Zeichen und bedeutete vor allem, dass der Rest der Truppe entweder tot oder schwer verletzt war. Außerdem waren die mit einheimischem Bergführer unterwegs gewesen, wenn der als Ortskundiger nicht zurück kam, dann war er vermutlich unter den Opfern, aber sie waren für solche Fälle geschult, würden den in Bergnot Geratenen jetzt beruhigen, medizinisch grundversorgen und falls nötig den Heli anfordern, der ihn sicher ins Tal brachte. Der müsste jetzt sowieso langsam auftauchen, denn inzwischen war es völlig hell und es war Routine, dass der Hubschrauber von oben suchte, während sie vom Boden aus nachsahen, aber vielleicht war der sogar schon unterwegs und überprüfte derweil ein anders Tal. Erstaunt konstantierte der Helfer noch, dass der kleine Türke Carvingskier trug, dabei war ihnen gemeldet worden, dass die Vermissten mit Schneeschuhen zu einer Wanderung aufgebrochen und nicht zurück gekehrt waren.


    „Wir wurden gestern von einer Lawine verschüttet, die vermutlich der Bergführer losgetreten hat. Einer der Tourengeher-Knut Hansen-ist tot und mein Freund Ben Jäger wurde schwer verletzt, aber gemeinsam mit einer Gruppe Flüchtlinge aus Syrien, insgesamt 17 Personen, die ebenfalls dort oben unterwegs waren, konnte ich ihn ausgraben. Er wurde von einem der Syrer medizinisch basisversorgt, der hat sogar eine Operation an ihm durchgeführt und jetzt wartet die Gruppe in einem hoch gelegenen Biwak in einer Höhle darauf, dass sie gerettet werden, denn von da oben kommt man ohne passende Ausrüstung nicht weg. Es befindet sich auch noch ein schwer krankes Kind bei der Gruppe, ich denke jetzt zählt jede Minute!“ fasste Semir kurz die Ereignisse des gestrigen Tages zusammen.
    Der Bergretter sah ihn geschockt an. Erstens hatte Semir ihm gerade in bester Polizistenmanier eine kurze Zusammenfassung gegeben, die aber alles Wichtige enthielt, aber am meisten berührte ihn die Unterstellung, dass der Bergführer, den er flüchtig persönlich kannte, angeblich die Lawine verursacht habe. Das konnte er sich fast nicht vorstellen-wer sollte so etwas tun und warum und wo war der Übeltäter jetzt? Aber egal-jetzt mussten sie von Gerkhan genau wissen, wo das Biwak lag und dann sofort den Heli hinschicken und zusätzlich dorthin aufsteigen. „Meinen sie, sie können mir auf der Karte zeigen, wo das Biwak liegt? Zwei von uns werden sie dann ins Tal begleiten und wir anderen steigen zu den Verletzen auf und sorgen dafür, dass die ins Krankenhaus und die anderen Menschen sicher ins Tal kommen!“ erklärte er Semir seinen Plan und zog die Karte hervor. Semir musterte die ein wenig ratlos. Verdammt-er konnte da zwar persönlich hingehen, aber momentan fand er auf dieser Landkarte mit den eingezeichneten Geländemarkierungen nicht, wo das Biwak lag. „Mir geht es gut, ich bin auch nicht verletzt und werde sie dorthin bringen, aber wo sich genau das Biwak befindet, kann ich anhand dieser Karte nicht sagen!“ erklärte er. „Ich habe den Flüchtlingen aufgetragen draußen bunte Tücher auszulegen, damit der Helikopter sie sehen kann, aber mehr kann ich ihnen jetzt nicht mitteilen!“ sagte Semir. Der Bergretter holte zunächst seine Kollegen zusammen und fragte alle, ob ihnen in diesem Gebiet ein Höhlenbiwak bekannt wäre, aber alle schüttelten ratlos den Kopf. Über Funk, denn die Handyverbindung hier oben funktionierte nicht, informierte er die Zentrale im Tal, die sich im Rathaus der Gemeinde Warth einquartiert hatte, dass sie einen der Vermissten nach eigener Aussage unverletzt gefunden hatten. Knut Hansen war tot und Ben Jäger schwer verletzt. Über den Verbleib des Bergführers war nichts bekannt, aber er gab die Vermutung Semir´s, dass der die Lawine ausgelöst hätte, nicht weiter-was verstand so ein Flachlandtiroler wie dieser Türke aus Köln schon von den Verhältnissen im Gebirge, das war sicher ein unbegründeter Verdacht!


    Man gab Semir heißen Tee, einen Isodrink und einen Müsliriegel, eine Sonnencreme, eine Skibrille und Lippenschutz wurden angelegt und aufgetragen und einer der Bergretter, der Kleinste, damit die Bindung auch passte, trat seine Tourenskier an Semir ab und übernahm dessen Abfahrtsski. Er würde damit ins Tal fahren und dort weiter koordinieren, denn wenn dort oben so viele Personen mit unzureichender Winterausrüstung waren, musste man da drauf eingehen, passende Kleidung beschaffen und vor Ort dann überlegen wie man die heil ins Tal brachte. Während die Gruppe nun wieder bergauf lief, wurde von der Einsatzleitung der Hubschrauber, der bisher in einer völlig verkehrten Ecke gesucht hatte, umdisponiert und machte sich auf die Suche nach dem Biwak und den ausgelegten bunten Tüchern.


    Der Bergführer und der Schlepper waren am zweiten Biwak. Wie geplant warf der Verletzte zwei Schmerztabletten ein, verband sich mit Hilfe des Schleppers und nahm dann die Signalpistole und die Leuchtmunition aus diesem Biwak mit und dazu ein langes, spitzes und scharfes Messer. Damit würde er die Gruppe probieren auszuräuchern und wenn sie, falls sie das überlebten, geblendet ins Freie zu gelangen versuchten, konnte er sie mit dem Messer einen nach dem anderen erledigen, den er war Beidhänder, die Klinge führte er auch mit links!

  • Der Hubschrauber begann nun systematisch in der Nähe von Semir´s vermuteter Abstiegsroute nach den Vermissten zu suchen-und tatsächlich! Ziemlich weit oben in einem Seitental, allerdings auf der deutschen Seite des Allgäuer Alpenhauptkamms sah die Besatzung des Helikopters plötzlich eine Markierung im Schnee. „Oh-da hätte ich jetzt nicht so bald gesucht!“ gab der Hems zu-das war ein ausgebildeter Rettungsassistent, der eine Zusatzausbildung zur Einweisung des Hubbis hatte, so dass man sich einen Copiloten sparen konnte. Die Problematik in großen Höhen war nämlich, dass da wegen dem Luftdruck und den Witterungsverhältnissen auf dem Berg jedes Gramm zählte und man auch als Ausrüstung nur das Allernotwendigste mitnahm, weil der Hubbi sonst nicht wegkam. Der Hubschrauberpilot schaute nach einer Möglichkeit zum Landen, aber da gab es erst ein ganzes Stück weit entfernt eine flache Stelle-zu Fuß in diesem Gelände unmöglich zu überwinden. „Ich werde mich mit Equipement abseilen-du bedienst die Winde und dann sehen wir, dass wir den Verletzten und das Kind hochheben und mitnehmen können, bis zu dem Plateau, dort landen, einladen und dann schnellstmöglich nach Innsbruck in die Klinik!“ beschloss der Notarzt, denn natürlich hatte ihnen die Einsatzzentrale Semir´s Beschreibung der Lage mitgeteilt.


    Wenig später schwebte der Hubschrauber in der Luft, direkt über den bunten Tüchern und noch während der Notarzt mitsamt einer Trage in einem Tandem- Rettungsgeschirr nach unten schwebte, öffnete sich die Tür der Höhle und viele hoffnungsvolle Gesichter blickten nach oben. Der Notarzt öffnete geschickt die Schnellverschlüsse und das Seil wurde mit der Winde von seinem Assistenten schnell nach oben gezogen, während er mit dem Notfallrucksack und der Trage zurück blieb. Der Hubbi landete auf dem Plateau und die beiden Besatzungsmitglieder warteten dort auf weitere Anweisungen per Funk.


    Viele Hände griffen nach dem Arzt und zogen ihn in die Höhle und ein fremdartiges Stimmengewirr durchzog sie. Der Raum war nur spärlich von einem Gasbrenner erhellt, der auf niedrigster Stufe vor sich hin flackerte, denn man musste Gas sparen, solange man nicht wusste, wann Rettung eintraf. Der Notarzt, der mit einem Verletzten und einem kranken Kind gerechnet hatte, erschrak, denn hier lagen eindeutig zwei schwerst verletzte Erwachsene vor ihm, alles war voll Blut und eigentlich wusste er zunächst nicht, um wen er sich zuerst kümmern sollte, denn die geisterhafte Blässe die die beiden Gesichter überzog bedeutete, dass keiner der beiden mehr viel Zeit hatte. Eine Mutter mit einem sichtlich bereits bewusstlosen, etwa vierjährigen Kind kam jetzt auch näher und nun hob der Notarzt kurz die Hand-er musste, bevor er seine Arbeit begann, sofort einen weiteren Helikopter anfordern, denn er konnte nur maximal einen Erwachsenen und das Kind mitnehmen und der Anflug des nächsten Hubschraubers würde, egal von welcher Seite der kam, mindestens eine halbe Stunde dauern. Nachdem in der Höhle der Funk nicht funktionierte, ging er nochmals kurz hinaus und die Menschen , die ja seine Erklärungen nicht verstanden, wollten ihn beinahe nicht mehr ins Freie lassen-vermutlich dachten sie, er würde nichts machen und sofort wieder verschwinden, aber irgendwann konnte er seinen weiteren Notruf absetzen und eilte dann so schnell er konnte, zurück in die Höhle.
    Das war jetzt doppelt blöd-normalerweise würde er jetzt gemeinsam mit seinem Assistenten einen Patienten professionell versorgen, dann den mitnehmen und die Sache wäre geritzt. So aber stand er alleine mit drei Schwerstkranken da, darunter einem Kind und musste sehen, wie er die Ressourcen richtig verteilte.


    Daher begann er zunächst mit der Sichtung der Verletzten, dazu holte er auch eine helle LED-Stirnlampe aus seiner Tasche, also war es jetzt hell genug. Es gab auch eine Art ungeschriebenen Kodex und der hieß: Kinder zuerst! Und daher besah er sich den kleinen Murat. Der war zwar tief bewusstlos und hoch fiebrig, dazu massiv ausgetrocknet, aber wenn er dem Sauerstoff gab und eine Infusion legte, konnte er ihn schon ein wenig stabilisieren. Später würde er ihn sicher beatmen, weil er auch keine Schutzreflexe mehr aufwies, aber aktuell funktionierte wenigstes der Atemantrieb noch und er hoffte jetzt einfach, dass die nicht aussetzte oder der kleine Junge aspirierte, denn sonst konnte er sich wirklich ausschließlich um den kümmern und was geschah dann mit den anderen beiden? Also holte er die Sauerstoffmaske heraus –die kleine transportable Flasche drehte er nur auf, die blieb im Rucksack- und setzte die Maske dann Murat auf. Dann bereitete er eine Infusion vor, legte ihm mühsam eine Nadel, denn durch die Austrocknung ging das extrem schwer, aber dann saß die Mutter wieder mit ihrem Kind im Arm daneben und ein anderer hielt die Infusion.


    Ben hatte schweigend das Tun des Notarztes beobachtet und es fand seine Zustimmung. Immer noch hatte der Sohn des Patriarchen das Tuch fest auf die Brust des Heilers gedrückt und anscheinend war die Blutung weniger geworden. Allerdings gab der alte Syrer nun nicht mehr an-er hatte das Bewusstsein verloren. Der Notarzt wollte sich nun dem jüngeren seiner beiden anderen Patienten zuwenden, denn auch das war ein Kriterium-der eine hatte vermutlich ein gelebtes Leben hinter sich, während der andere noch viele gute Jahre vor sich hätte, denn er war ein Mann in den besten Jahren, aber jetzt meldete Ben sich zu Wort, der wegen der Schwäche bisher mit Worten gegeizt hatte. „Nein-versorgen sie bitte erst meinen Arzt. Er hat mir das Leben gerettet und so wahnsinnig schlecht geht’s mir gar nicht, ich kann warten!“ schwindelte er, denn eigentlich war er ebenfalls nur noch mühsam bei Bewusstsein, war kurzatmig und schwindlig, sein Puls raste und die Schmerzen waren ebenfalls fürchterlich.
    Der Notarzt stutze-oh der andere Verletzte war sogar ein Kollege! Nachdem ihm der Patient selber die Entscheidung abgenommen hatte, bedeutete er nun dem jungen Mann, der mit Kraft die ganze Zeit ein Tuch auf die Brust des Bewusstlosen drückte, kurz zur Seite zu gehen, damit er die Wunde inspizieren konnte. Sofort schoss wieder das Blut in stetigem Strom heraus, allerdings war das dunkel, also war das eine venöse Verletzung-sie hatten eine Chance! Er bedeutete nun dem jungen Mann wieder zu drücken, bereitete derweil alles vor, klebte die Elektroden des Überwachungsmonitors auf den Brustkorb des Patriarchen und legte die Blutdruckmanschette und den Sauerstoffsensor an. Die Herzfrequenz war bei 140, der Blutdruck bei 60/30 mm/ Hg und die Sauerstoffsättigung nur bei 80. Das war zwar schlecht, aber wenn man den Zustand rasch änderte, konnte man ihn vielleicht noch retten und so suchte der Notarzt zunächst einmal eine lange stumpfe Klemme aus seinem Instrumentarium. Er hatte in der Tiefe das blutende Gefäß entdeckt, wenn es ihm gelang das abzuklemmen, konnte er weiter machen. Jetzt war es gut, dass sein Patient bereits tief bewusstlos war, so brauchte er sich nicht um eine Narkose zu kümmern und als er jetzt ein weiteres Mal den jungen Mann mit Gesten aufforderte, zur Seite zu gehen, zog er schnell sterile Handschuhe an und unter der Beleuchtung über seine Stirnlampe und den tastenden Finger schaffte er es, das blutende Gefäß aufzufinden und abzuklemmen. Das sah nach einer Schussverletzung aus, aber als er den jungen Mann-nachdem er einen gepolsterten Verband angelegt hatte, der die Klemme an Ort und Stelle hielt, nun aufforderte ihm zu helfen und den Patienten zu drehen, war keine Austrittswunde zu entdecken. So legte er nun auch dem älteren Syrer noch einen Zugang und jetzt bekam der junge Mann, der dem bewusstlosen Patienten sehr ähnlich sah-vermutlich der Sohn-die Infusion zu halten und endlich wandte er sich Ben zu.

    Als er sich nun allerdings zu dem hinunter beugte, erstarrte er. In dessen rechter Hand lag eine altertümliche Pistole und gerade hatte sich der Notarzt gefragt, wo der andere Mann wohl die Schussverletzung her hatte und so zog er sich jetzt langsam Richtung Höhlenausgang zurück, während ihm der Angstschweiß ausbrach.


    Inzwischen war ein österreichischer Gendarm, der ebenfalls in der Einsatzzentrale gesessen hatte, zum Hotel aufgebrochen. Der Hotelbesitzer wies ihm die drei Frauen, die wie erstarrt in der Hotellobby zusammen saßen. Die jüngeren Kinder wurden professionell im Kinderland betreut, Knut´s Teenagerkinder hatten sich zum Surfen im Internet auf ihre Zimmer zurück gezogen und die drei Frauen schwiegen sich voller Sorgen an, als der Gendarm auf sie zukam. Voller Bangen betrachteten sie sein ernstes Gesicht-ihnen war sofort klar, dass der keine guten Nachrichten hatte. „Was ist los, bitte spannen sie uns nicht länger auf die Folter-nichts ist schlimmer als diese Ungewissheit!“ brach dann Knut´s Frau das Schweigen. „Sind sie Frau Hansen?“ fragte der Polizist und sie nickte. „Herr Gerkhan wurde unverletzt im Gebirge gefunden, er war gerade dabei Hilfe zu holen.“ begann er und nun brach Andrea vor Erleichterung in Tränen aus. „Laut seiner Aussage allerdings, ist Herr Hansen bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen und Herr Jäger wurde schwer verletzt. Der Hubschrauber ist bereits unterwegs und das Kriseninterventionsteam wird in Kürze bei ihnen sein!“ sagte er sanft und nahm dann Frau Hansen, die gerade heulend zusammen gebrochen war, mitleidig in die Arme, während sich Sarah mit versteinerter Miene an Andrea festklammerte. „Immerhin lebt er noch!“ flüsterte sie, aber dennoch wich ihr die Farbe aus dem Gesicht.

  • Ben hatte den Blick des Notarztes gesehen, aber zunächst nicht gewusst, was den so beunruhigte. Als er dann allerdings an sich herunter sah, kam ihm die Erleuchtung. Verdammt-die Pistole-der musste ja denken-ach du liebe Güte! und schon versuchte er seine Hand von der Waffe zu lösen. „Tut mir leid-ich bin Polizist!“ rief er ihm nach. „Wir wurden hier überfallen und ich habe uns nur verteidigt-ich war das nicht, der den Arzt angeschossen hat!“ flüsterte er noch schwach, aber der Notarzt war schon durch die Tür und teilte seine neuesten Erkenntnisse via Funk der Hubschrauberbesatzung mit. „Bloß keine Eigengefährdung!“ beschlossen die und rieten dem Arzt davon ab, die Höhle nochmals zu betreten. „Ihr seid auf deutscher Seite-wir verständigen die Kollegen, dann sollen die ein SEK schicken und den Attentäter entwaffnen, bevor wir uns weiter um die Patienten kümmern!“ gab der Helikopterpilot durch und so wurde es gemacht. Die Hubschrauberbesatzung holte den Notarzt in seinem Rettungsgeschirr wieder ab und landete dann ein ganzes Stück weiter außer Sichtweite, so dass der Heli auch nicht von einer Kugel getroffen werden konnte. Erst sollten die Beamten der deutschen Polizei die Lage bereinigen und dann würden sie wieder ihrem Job nachgehen und Leben retten!


    Semir und die Bergretter kamen gut voran. Erstens hatte Semir sich schon wieder ein wenig regeneriert, bis die bei ihm eintrafen und zweitens wollte er nun unbedingt wieder zu seinem Freund und dem beistehen, wenn der nicht inzwischen schon im Krankenhaus war. Sie hatten schon über die Hälfte der Strecke überwunden und der Anführer der Rettungstruppe hatte über Funk-wenn sie nicht gerade hinter einem Bergmassiv verschwunden waren und das mal wieder nicht funktionierte- inzwischen erfahren, dass der Hubschrauber das Biwak gefunden hatte und ein Notarzt abgeseilt worden war, weil dort keine Möglichkeit zur Landung bestand. Semir nickte, als man ihm das mitteilte. Gott sei Dank-jetzt bekam sein Freund die dringend notwendige medizinische Betreuung und der kleine Murat ebenfalls. Vermutlich waren die schon weg, bis sie an der Höhle eintrafen, aber nichtsdestotrotz würde Semir die Retter jetzt auf dem kürzesten Weg zum Biwak führen, das war er dem Patriarchen und den jungen Männern, die Ben ausgegraben hatten, schuldig, denn sonst würde der schon nicht mehr leben!
    Es war auch nicht sinnvoll jetzt stur seinen Spuren zu folgen, die er bei der Abfahrt hinterlassen hatte, denn er hatte oft nicht den Kürzesten, sondern den vermeintlich sichersten Weg genommen und so war es gut dass er als Führer dabei war. An Steilpassagen nahmen die Retter Semir sogar ans Seil und geleiteten ihn sicher hinauf-diese Männer hier waren wie die Gemsen, die in dieser Region lebten: Trittsicher, schwindelfrei, eine Megakondition und dabei noch fröhlich, denn während des zügigen Aufstiegs machten sie noch kleine Späße und munterten Semir auf, der das erleichtert zur Kenntnis nahm. Die Rettungsaktion lief und binnen weniger Stunden wäre Ben außer Gefahr, Murat würde hoffentlich auch überleben und man würde irgendwie auch die restliche Gruppe sicher vom Berg bringen. Er hoffte, wenn in dieser Nacht das neue Jahr anbrach, dass dann alle in Sicherheit und außer Lebensgefahr waren-bis auf Knut, von dem konnte man leider nur noch die Leiche bergen und wenn Semir daran dachte, wie verzweifelt die Frau und die Kinder sein würden, dann hatte er einen dicken Kloß im Hals.


    Sie hatten bereits drei Viertel der Strecke hinter sich, da funktionierte plötzlich die Funkverbindung wieder, was zuvor eine Weile nicht gegangen war. Semir hatte ein Motorengeräusch gehört und einen Heli aufsteigen und hinter der nächsten Bergkuppe verschwinden sehen. Da waren sicher Ben drin und der kleine Junge und eine große Erleichterung überkam ihn und unwillkürlich lief er ein wenig langsamer-jetzt eilte es nicht mehr-sein Freund war in Sicherheit, da sah er wie die Miene des Bergretters am Funkgerät plötzlich ernst wurde und der stehen blieb und sich dann an Semir wandte. „Herr Gerkhan-sie haben uns doch erzählt, dass in der Höhle ein Verletzter und ein krankes Kind sind. Gerade bekomme ich die Durchsage, dass der Notarzt zwei Verletze dort oben angetroffen hat, plus das kranke Kind. Einer der Verletzten hatte eine Schusswunde im Thorax und war bewusstlos und der andere hat den Notarzt mit einer Waffe bedroht, so dass sich der zum Eigenschutz in Sicherheit gebracht hat. Die deutschen Behörden wurden bereits verständigt, aber aktuell kann wegen der unklaren Gefährdungslage keiner der Verletzten abtransportiert werden-können sie sich vorstellen was da los ist?“ fragte er Semir, aber der wurde blass und schüttelte den Kopf-um Himmels Willen, was war dort oben während seiner Abwesenheit geschehen?


    Der Bergführer und der Schlepper waren inzwischen wieder zurück und verbargen sich in der Nähe der Höhle. Erst wollte der Einheimische schon enttäuscht umkehren, als er den Heli hörte und sah, wie sich einer der Insassen mit einer roten Jacke und dem bekannten Kreuz darauf abseilte, aber als sie dann ein wenig gewartet hatten, kam der plötzlich aus dem Biwak gerannt und wurde kurz darauf vom Hubschrauber wieder abgeholt. Was auch immer der Grund dafür war-die Bahn war jetzt frei und ohne auf irgendwelche Folgen zu achten-der Bergführer würde zumindest diesen Jäger jetzt killen, das war ihm ein persönliches Bedürfnis. Wie stand schon in der Bibel? Auge um Auge-Zahn um Zahn-er würde sich jetzt für die Schmerzen in seiner Schulter und zudem das entgangene Geld rächen!

  • Semir dachte fieberhaft nach. Wer war der Patient mit der Schussverletzung? Das musste ja fast Ben sein, denn der hätte mit Sicherheit nicht den Notarzt mit der Waffe bedroht. Um Himmels Willen-er musste so schnell wie möglich da rauf! Sicher war es einem zivilen Helfer nicht zuzumuten unter Selbstgefährdung Leben zu retten, aber er als Polizist würde sich da anders verhalten können. Er fragte in die Runde: „Hat einer von ihnen eine Waffe dabei?“ aber die Bergretter schüttelten stumm den Kopf. Trotzdem gingen sie nun zügig weiter-sie würden erst einmal in die Nähe der Höhle gehen und dann weiter entscheiden, was zu tun war. Die österreichische Leitstelle hatte inzwischen Kontakt mit den deutschen Kollegen aufgenommen und im Polizeipräsidium in Kempten liefen inzwischen die Vorbereitungen für einen SEK-Einsatz in großen Höhen. Allerdings würde es sicher noch mindestens eine Stunde dauern, bis der Polizeihubschrauber die Männer der Elitetruppe dort oben abgesetzt hatte und ob die Verletzten so lange überleben würden, wagte der Notarzt zu bezweifeln.
    Semir zermarterte sich den Kopf. Hatte vielleicht der Bergführer die Spur der Flüchtlinge aufgenommen und Ben angeschossen? War er dabei irgendwie selber verletzt worden und bedrohte jetzt den Notarzt, weil der seine Flucht sonst vereitelte? Die verrücktesten Gedanken schossen durch seinen Kopf, aber eines war Semir klar-er würde seinen Freund nicht im Stich lassen!


    In der Höhle waren inzwischen die Menschen völlig verwirrt. Einige von ihnen spähten hinaus, aber der Hubschrauber und mit ihnen der Retter waren schon wieder weg und hinter der nächsten Bergkuppe verschwunden. Der Notfallrucksack stand zwar noch bei den Verletzten und auch die Rettungstrage lag im Schnee vor dem Eingang, aber vom Arzt war nichts mehr zu sehen. Murat´s Mutter begann vor Verzweiflung zu weinen-wie sollte es jetzt weiter gehen? Ben bat mit Gesten die jungen Männer ihm die Pistole abzunehmen und direkt hinter dem Eingang auf den Boden zu legen. Wenn der Retter zurück kam und ihn unbewaffnet sah und er dann sofort zu erklären begann-vielleicht half es was, aber langsam glaubte er nicht mehr daran, denn er merkte, wie er immer schwächer wurde und manchmal kurz wegdämmerte. Semir war der Einzige der die verzwickte Situation aufklären konnte, aber der war vermutlich inzwischen im Hotel und schloss seine Frau und seine Kinder in die Arme. Ob er das wohl nochmals tun würde, oder war der Abschied vor der Schneeschuhwanderung das letzte Mal gewesen, dass er seine Familie in diesem Dasein gesehen hatte? Langsam begann Ben mit seinem Leben abzuschließen, wie es vorher der Patriarch schon getan hatte und er schloss die Augen.


    Inzwischen waren der Bergführer und der Schlepper näher gekommen. Sie hatten sich noch kurz verborgen und so hatten die Flüchtlinge, die nach draußen gespäht und den Abflug des Notarztes beobachtet hatten, sie nicht bemerkt. Sie warteten noch eine Weile und der Bergführer erklärte dem Schlepper seinen Plan. Der Schlepper selber war unsicher. Er hatte dem Einheimischen auch nicht erzählt, dass dieser Deutschtürke mit Skiern ins Tal gefahren war-eigentlich wollte er am liebsten verschwinden und so tun, als hätte er von dieser Flüchtlingsgruppe nie etwas gesehen oder gehört. Die Menschen bedeuteten ihm zwar nichts, aber er würde auf gar keinen Fall jemanden töten, soviel war klar, allerdings traute er sich auch nicht, das dem Bergführer mitzuteilen, denn ansonsten war er vermutlich der Erste, der mit einem Messer zwischen den Rippen in der Schlucht lag!
    Langsam näherten sie sich der Höhle und der Bergführer hatte zuvor seinen Plan erklärt: Sie würden sich rechts und links vom Höhleneingang postieren und dann ein paar Signalraketen dort hineinschießen. In der allgemeinen Verwirrung würden die Menschen zu fliehen versuchen und er würde sie nacheinander mit dem Messer erledigen. Die Aufgabe des Schleppers wäre es die Leichen beiseite zu legen, damit er sich dem Nächsten widmen konnte-der Einheimische hatte nämlich sehr wohl gesehen, dass der Schlepper wohl keinen töten würde, da war der zu feige dazu, während ihn selber ein Gefühl der Macht über Leben und Tod durchzogen hatte, als er den jungen Syrer niedergeschossen hatte. Was gab es Schöneres!
    So machten sie es. Wenig später standen sie rechts und links der Tür, das Messer lag bereit-es war auch noch ein Keramikmesser, das würde nicht so leicht stumpf werden-und nachdem er die Tür einen kleinen Spalt aufgerissen hatte schoss der Bergführer kurz hintereinander drei Patronen mit Signalmunition ins Innere der Höhle, wo sofort Menschen panisch zu schreien begannen und nachdem er die Tür wieder zugemacht hatte, wartete er kalt lächelnd auf sein erstes Opfer.

  • Die Sorge um Ben verlieh Semir neue Kräfte. Plötzlich war seine Erschöpfung wie weg geblasen, als das Adrenalin seinen Körper durchströmte. Mit neuem Elan schritt er zügig aus und wenig später bogen sie um einen Bergvorsprung und konnten das Biwak ausmachen. Davor lagen immer noch bunte Tücher im Schnee, eine Rettungstrage stand verloren daneben und gerade konnte Semir erkennen, wie sich zwei Männer zum Eingang schlichen. Er legte nochmals einen Zahn zu, so dass die Retter sich erstaunt ansahen-so ein Tempo nach einem derartigen, doch anstrengenden Aufstieg und der für den Ungeübten mühevollen Abfahrt davor, hätten sie dem kleinen Deutschtürken nicht zugetraut! Sie hielten allerdings mühelos mit-wenn man in den Bergen aufwuchs, war das tägliche Konditionstraining sozusagen selbstverständliches Programm und so mancher der Männer, der auf einem höher gelegenen Hof aufgewachsen war, hatte schon auf dem Weg zur Schule und zurück täglich eine halbe Bergtour bewältigt, also passten die ihr Tempo mühelos ihrem kleinen Anführer an, der regelrecht von neuer Energie durchpulst wurde. Als sie sahen wo das Biwak lag, kamen sie aber übereinstimmend zu dem Schluss, dass das keiner von ihnen kannte und es mit Sicherheit auch nicht in einer von ihnen gebrauchten Karte eingezeichnet war. Gut-es lag auf deutscher Seite, vielleicht hatten es die dortigen Bergführer angelegt, aber normalerweise funktionierte die Kommunikation im Grenzgebiet zwischen den Ländern hervorragend und vielleicht hatte es mit diesem Unterschlupf auch eine ganz andere Bewandtnis! Aber nichtsdestotrotz sahen auch sie zwei Männer in Winterausrüstung näher schleichen und irgendwie war denen schon anzusehen, dass die nichts Gutes im Schilde führten.

    Semir erkannte auch sofort die Kleidung des Bergführers und ihm wurde beinahe schlecht vor Sorge. Der hatte gestern schon einmal versucht, sie alle miteinander umzubringen, bei Knut war ihm das auch gelungen und hiermit war seine Theorie bestätigt, dass der die Lawine ausgelöst hatte. Der andere allerdings war einer der Flüchtlinge, mit dem er auf Türkisch ein paar Worte gewechselt hatte, allerdings kamen Semir nun doch Zweifel-der hatte als Einziger eine ordentliche Winterausrüstung mit gescheitem Schuhwerk gehabt und sich deshalb schon von der Menge abgehoben. So wie es aussah, steckte der mit dem Bergführer unter einer Decke! Er wandte sich zu seinen Begleitern um und teilte ihnen flüsternd mit, dass der Rechte ihr Kollege war und der eine der Bergretter nickte. Auch er hatte den Mann aus der Entfernung erkannt und erneut schämte er sich dafür, dass in ihrem Berufsstand solche schwarzen Schafe vertreten waren!

    Während sie lautlos näher hetzten, sah Semir voller Entsetzen, wie der Bergführer eine Waffe-nein er musste sich korrigieren, auf den zweiten Blick sah er, dass das eine Signalpistole war- hervor zog, die Tür ein Stück öffnete und dann nacheinander drei Schuss direkt in die Höhle abfeuerte. Um Himmels Willen-dort drinnen war kein Fenster, da würde jetzt das Inferno und völlige Panik ausbrechen und die Menschen würden versuchen, so schnell wie möglich hier raus zu kommen, um nicht zu ersticken und Ben, der sich ja nicht rühren konnte, war da drinnen gefangen! Aber was hatte der Bergführer vor? Als Semir dann allerdings das lange spitze Messer sah, das der jetzt aus der Tasche zog, wurde es ihm klar-hier sollte jetzt ein großes Morden beginnen und als jetzt die Tür von drinnen einen Spalt aufgestoßen wurde und die erste Frau mit ihrem Kleinkind auf dem Arm panisch zu fliehen versuchte, holte der Bergführer schon aus und in diesem Moment war Semir, der mitsamt den Tourenskiern an den Füßen zu rennen begonnen hatte, über ihm und nun begann ein Kampf auf Leben und Tod.


    Der türkische Schlepper drehte sich auf dem Absatz um und versuchte abzuhauen, als er sah, dass der Bergführer von dem kleinen Deutschtürken angegriffen wurde. Aber er lief direkt den Bergrettern in die Arme, die sich auf ihn stürzten und ihn zu Boden rangen. Die anderen Retter, die von Semir´s Spurt ein wenig überrascht worden waren, wollten ihm zu Hilfe kommen, aber in diesem Moment flog die Tür zur Höhle vollends auf und vor Panik schreiende Menschen fluteten heraus und hinter ihnen quoll dichter Rauch aus der Höhle. Nachdem die Menschenmenge nun wie ein Keil zwischen Semir und den Bergrettern war, war der auf sich alleine gestellt und die Retter hatten jetzt Mühe die Flüchtlinge vor dem Absturz zu bewahren, denn die wollten sich schreiend in Sicherheit bringen, aber rund um das Biwak waren lauter steile Felsabbrüche-ohne den vollen Einsatz der Helfer, die die momentan geblendeten Menschen beruhigten und fest hielten, hätte es Tote gegeben.
    Semir war zwar eigentlich völlig außer Atem, aber mit dem Mute der Verzweiflung war er jetzt dem Bergführer in den Arm gefallen, der gerade mit dem Messer hatte zustoßen und die Frau und das Kind erledigen wollen. Der Bergführer war momentan überrascht, aber er hatte sich sofort wieder gefangen und klar war er ein wenig verletzt, aber erstens war er ausgeruht, hatte nicht viel Blut verloren und die Schmerztabletten taten ebenfalls ihre Wirkung. Zusammen mit dem Adrenalin, das auch durch seine Adern tobte, war er ein ernst zu nehmender Gegner, der zudem auch größer und sicher 20 kg schwerer als Semir war, den jetzt auch noch die Tourenskier an den Füßen behinderten.
    Sofort disponierte der Bergführer um. Er hatte das Messer ja fest gepackt und ließ auch nicht los, als Semir seinen Arm ergriff und ihm versuchte die Waffe zu entwinden. Im Gegenteil-er probierte die so zu positionieren, dass er damit Semir erstechen konnte, der wie ein Schraubstock seinen Unterarm umklammert hielt. Sie fielen beide erst auf die Knie und als sich die Messerspitze bedrohlich in Semir´s Herznähe begab, setzte der seine Nahkampfausbildung ein und lockerte klug taktierend für einen Augenblick seinen Griff, um dann mit einem Karatetrick den Bergführer über seine Schulter zu werfen. Fast gelang es auch, aber gleichzeitig bemerkte Semir, als der schwere Körper an ihm vorbei sauste, dass die Spitze des schwarzen Messers durch seine Kleidung drang, die dadurch aufgeschnitten wurde und ein scharfer Schmerz durchzog ihn. Nun allerdings sprang er auf und endlich löste die Bindung aus und einer der Tourenski fiel von seinem Fuß. Semir holte aus und trat mit Wucht gegen das Handgelenk mit dem Messer und mit einem Schmerzensschrei ließ der Bergführer es fallen. Semir hechtete sich darauf-gegen diesen Mann brauchte man eine Waffe-und er hatte es auch ziemlich schnell erreicht, obwohl es fast zwei Meter weit weg geflogen war. Im Unterbewusstsein sah er hinter sich eine rote Spur im Schnee, aber er war gerade nur auf das Messer fokussiert, packte es und drehte sich dann um, um jetzt damit den Bergführer in Schach zu halten-aber der war weg-einfach weg! Immer noch liefen die Menschen panisch durcheinander, aber wenig später war der erste der Bergretter bei ihm eingetroffen: „Wo ist das Schwein?“ fragte er, aber auch er konnte den verräterischen grellorangen Anorak nirgendwo entdecken.


    Der Bergführer hatte sich, als er sah, dass er verloren hatte, blitzschnell zur Seite hinter einen Vorsprung gerollt. Er war hier ortskundig und hatte sich nach unten ein Stück einen Steilhang hinunter rutschen lassen und war dann um einen Felsvorsprung verschwunden. Dort wendete er in aller Ruhe zunächst seinen Anorak-der hatte ein weißes Futter und dasselbe machte er dann mit seiner Schneehose, auch die war innen weiß gefüttert. Eine weiße Sturmmaske, die er immer bei sich hatte, um sich im Schnee ungesehen zu machen und weiße Handschuhe vervollständigten seine Verwandlung und dann begann er den Abstieg zu einem weiteren Biwak nicht weit entfernt, wo er sich kurz verschlüpfen und dann mit den dort gelagerten Skiern im Tiefschnee auf unbekannte Routen ins Tal Richtung Deutschland fahren konnte. Im Kleinwalsertal hatte er Bekannte, die würden ihm Unterschlupf gewähren und dann würde man weiter sehen!


    Der Bergretter musterte Semir: „Sie sind verletzt Gerkhan, lassen sie mich mal sehen!“ sagte er, aber Semir schüttelte den Kopf, gab ihm stattdessen das Messer und bevor sich der Bergretter versah, war Semir in der Höhle, aus deren Tür dicke Rauchschwaden drangen, verschwunden.

  • Als der Bergführer die Signalpistole abgefeuert hatte, waren die Höhleninsassen erst einmal wie erstarrt und wussten nicht was das sollte. Die drei Geschosse prallten zunächst gegen die gegenüberliegende Höhlenwand, wobei sie wie durch ein Wunder niemanden verletzten und begannen dann unter Zischen und starker Rauchentwicklung knallrot zu leuchten-das internationale Zeichen für Gefahr! Eines der Geschosse setzte die Decken und Tücher in Brand, die am Boden lagen und dann begannen die Menschen schon schreiend und voller Panik dem Ausgang zuzustreben. Auch die Mutter des kleinen Murat packte ihr Kind und rannte wie von Teufeln gehetzt Richtung Tür-sie war der Meinung der Weltuntergang habe begonnen und die Höllenpforten haben sich geöffnet. Die Infusion rutschte zwar heraus, aber der kleine Junge hatte schon beinahe die ganze Flasche erhalten und dank des Sauerstoffs und der Flüssigkeit hatte er bereits wieder begonnen sich zu regen.


    Der Sohn des Patriarchen stand wie erstarrt mit seiner Infusion da, während die Flammen langsam begannen neben dem dichten Rauch, der nun die Höhle ausfüllte, nach den beiden Patienten zu lecken. Der Rauch war momentan oben noch dichter und begann langsam nach unten zu wabern. Der Patriarch war anscheinend durch das Stehen der Blutung und die Infusion, die seinen Kreislauf stützte, wieder zu Bewusstsein gekommen. Er wusste zwar nicht genau was los war, aber als er die rettende Tür aufspringen sah und seine Familie da hinaus drückte, checkte er den Ernst der Lage. Wichtig war jetzt, dass die Menschen an die frische Luft kamen, damit sie nicht an einer Rauchgasvergiftung erstickten. „Geh-geh sofort hinaus!“ herrschte er seinen Sohn an, der als Letzter bei ihm verharrte, aber der schüttelte nur stumm den Kopf. „Vater-ich werde dich nicht ersticken und verbrennen lassen!“ sagte er und versuchte dann, ihn an den Armen Richtung Ausgang zu zerren, aber das war ein sinnloses Unterfangen, denn der junge Mann hatte inzwischen bereits so viel Rauch eingeatmet, dass ihn nach kurzer Zeit die Kräfte verließen. Ben hatte ebenfalls verzweifelt versucht Richtung Ausgang zu robben, aber er war einfach zu schwach dazu-er würde es nicht schaffen. Außerdem begann sein Verstand sich schon ein wenig zu verwirren und er war dankbar, als der Patriarch nun nach seiner Hand griff und sie festhielt. Mit strengen Worten schickte der nun seinen Sohn hinaus, der sich dem Willen des Vaters beugte, der ihn ja zum nächsten Familienoberhaupt bestimmt hatte und mit letzter Kraft ins Freie taumelte. Die Flammen kamen näher und begannen bereits eine unerträgliche Hitze auszustrahlen und Ben hoffte nur, dass er durch das Rauchgas jetzt bitte bald bewusstlos würde, damit er die unendlichen Schmerzen nicht aushalten musste, wenn er bei lebendigem Leib verbrannte.


    Fest hielten der Heiler und er sich an den Händen und erwarteten den unvermeidlichen Tod. Die Lippen des Patriarchen bewegten sich, er betete, aber Ben, der nicht so christlich war, konnte nur voller Kummer an seine Familie denken, die er jetzt zurücklassen musste und dann war plötzlich jemand über ihm, mit dem er nicht im Entferntesten gerechnet hatte. Semir hatte zwar sein Shirt nach oben über den Mund gezogen, aber trotzdem musste er heftig husten. Wenn er nicht gewusst hätte in welcher Ecke der Höhle Ben zu finden war, hätte er keine Chance gehabt, denn er konnte eigentlich fast nichts sehen, außer dem geisterhaften Züngeln der Flammen und dem dichten Rauch darüber. Semir packte seinen Freund mit dem Mute der Verzweiflung unter den Achseln und zerrte ihn Richtung Ausgang. „Semir-der Heiler-er ist auch noch da!“ keuchte Ben, denn er hatte bis zuletzt dessen Hand festhalten wollen, aber der löste nun energisch die seine aus der Ben´s. Er würde in Kürze im Jenseits bei seiner Frau und seinem Sohn sein und ein anderer Richter würde sich seiner annehmen und befinden, ob ein guter, oder ein schlechter Mensch gewesen war.

    Ben liefen die Tränen über die Wangen-Tränen des Schmerzes, aber auch des Kummers und der Verzweiflung-nein er wollte nicht gerettet werden und ein anderer musste an seiner statt sterben, aber schon war er aus der Höhle im kalten Schnee und nun wechselte Semir keuchend ein paar Worte mit einigen rot gekleideten Männern und die krochen daraufhin gemeinsam mit ihm nochmals in die Höhle und zogen wenig später den jetzt bereits bewusstlosen Patriarchen ebenfalls ins Freie. Semir ließ sich nun ebenfalls völlig erschöpft in den Schnee fallen und als wenig später ein heftiger Knall ertönte, als die Sauerstoffflasche im Notfallrucksack von der Hitze explodierte, zuckte er nur kurz zusammen und konzentrierte sich dann wieder darauf, neben dem Husten noch genügend Luft in seine Lungen zu pumpen.

  • Der eine der Retter hatte sofort seine Jacke ausgezogen und Ben, der unten herum ja nur seine Skisocken anhatte, damit zugedeckt und ein wenig weiter vom Höhleneingang weg gezogen. Der Anführer der Bergwacht zückte sein Funkgerät und hatte binnen Kurzem die Frequenz des Hubschraubers und auch der Einsatzzentrale im Tal, zu der allerdings aktuell keine Verbindung bestand. „Wir haben die Höhle nach einem Brand evakuiert, hier ist niemand bewaffnet, aber vor Ort sind zwei schwer verletzte Männer, dazu einer mit ner Rauchvergiftung und nem Kratzer und ein krankes Kind!“ blaffte er in das Funkgerät. Am liebsten hätte er noch hinzu gefügt, dass der Notarzt schnellst möglich seinen Hintern her schwingen sollte, aber er wollte ja auch keine Aggressionen provozieren.

    Wenig später, während einige der Retter Erste Hilfe-Ausrüstungen und vor allem golden glänzende Thermoschutzfolien auspackten, in die sie zunächst die beiden Verletzten und den kleinen Murat mitsamt seiner Mutter hüllten und danach Folien teilten und erst einmal die Kinder der Gruppe warm einpackten, denen der Schock ins Gesicht geschrieben war, hörte man schon ein Knattern näherkommen und kurz darauf schwebte der Notarzt erneut an einem Seil zu Boden. Man hatte ihm mitgeteilt, dass keine Gefahr für ihn bestand und er hatte die nötigsten Dinge aus dem Hubschrauber zusammen gepackt und in eine Tasche geworfen-der Verlust des Notfallrucksacks wog schwer, aber bald würde ja der zweite Heli eintreffen und der hatte wieder Ausrüstung dabei.
    Als der Notarzt Ben´s ansichtig wurde, zeigte er auf ihn und berichtete abweisend: „Das ist er-dieser Mann hat mich mit einer Waffe bedroht!“ aber nun richtete Semir sich auf, der gerade für einen Moment aufhören konnte zu husten: „Jetzt schlägts aber dreizehn!“ keuchte er zornig. „Das ist mein Kollege Kriminalhauptkommissar Ben Jäger von der Autobahnpolizei und wenn der sie bedroht hat, weil sie ihm und den anderen helfen wollten, dann fress ich nen Besen!“ sagte er und rutschte nun näher zu Ben, der ebenfalls wie wild am Husten war und nahm dessen Kopf auf seinen Schoß. Ben konnte gerade nicht erklären was geschehen war, denn das Husten verursachte ihm durch die Erschütterung fürchterliche Schmerzen im Bauch, am Bein und in der Schulter aber vermutlich hatte er auf den Attentäter gezielt, der die Gruppe ausräuchern wollte und der Notarzt hatte das fehlinterpretiert. Das war jetzt allerdings auch egal, wichtig war, dass sie Hilfe bekamen.


    Murat hatte die Augen wieder offen, saß bei seiner Mutter warm eingepackt auf dem Arm und lutschte am Daumen, da musste man aktuell nichts machen. Der Notarzt wollte sich jetzt gerade Ben anschauen, da sagte plötzlich der Bergretter, der sich neben den bewusstlosen Patriarchen gekniet hatte und dessen Vitalparameter überwachte, während ein anderer Bergwachtler die Infusion hielt, die wie durch ein Wunder noch im Arm des Heilers steckte und bei der Rettung auch nicht heraus gerutscht war: „Er hat soeben zu atmen aufgehört!“ und jetzt war höchste Eile geboten. Der Notarzt war binnen Kurzem mit seiner Tasche beim Heiler, holte einen Ambubeutel und eine Maske heraus, überstreckte dessen Kopf und begann ihn zu beatmen, was Gott sei Dank auch gut funktionierte, so dass der Helfer den Ambu übernehmen und er alles zur Intubation vorbereiten konnte. Er tastete nach dem Puls, der zwar schwach und schnell war, aber immerhin das Herz schlug noch. Der Notarzt drehte jetzt die Infusion voll auf und hielt die nächste bereit. Er musste den Mann jetzt intubieren und ihm Volumen zukommen lassen. Narkose brauchte er keine, denn er war tief bewusstlos, wie er feststellte, als er die Augenlider nach oben schob. Die Bindehaut war sehr weiss, also war der Patient wahnsinnig ausgeblutet und rund um den gepolsterten Verband an der Brust breitete sich gerade wieder ein Blutsee aus. Also korrigierte der Notarzt nun zunächst den Sitz der Klemme, die anscheinend verrutscht war und sofort stand die Blutung nach außen wieder. Natürlich hatte sich im Brustkorb des Heilers jetzt ein Hämathothorax, also eine Blut-und vermutlich auch Luftansammlung gebildet, die jetzt ein sofortiges Eingreifen erforderte, wie er nach dem Abhören diagnostizierte. Der Notarzt griff momentan zu einer etwas altertümlichen Methode, denn er hatte hier und jetzt keine Thoraxsaugung bereit, die musste in der Klinik gelegt werden, aber er zog ein sogenanntes Heimlichventil aus seiner Tasche, dazu ein Skalpell und einen dünnen Schlauch und ging ohne Desinfektion und zu zögern, denn Zeit hatten sie jetzt keine mehr und erst Recht nichts mehr zu verlieren, zwischen der zweiten und der dritten Rippe seitlich ein und führte das Schläuchlein ein. Wie er vermutet hatte, schossen dort Blut und blubbernde Luftblasen heraus, aber durch die Druckentlastung konnte sich nun wenigstens die andere Lungenhälfte wieder entfalten und damit keine Luft durch das Schläuchlein, das er jetzt mit grobem Faden und ein paar Stichen festnähte, wieder in den Brustkorb gesogen wurde, setzte er das Ventil auf, so dass nichts mehr rein, aber alles rauslaufen konnte.


    Der Heiler hatte nicht einmal gezuckt und jetzt intubierte der Notarzt den Mann noch und dann setzte der Bergretter die Beatmung mit dem Ambu-jetzt eben direkt auf den Tubus aufgesetzt- fort. Im Hubbi würde man ihn mit Druck beatmen, denn dort waren ein Beatmungsgerät und eine große Sauerstoffflasche, aber das war jetzt alles, was der Notarzt aktuell für seinen Patienten tun konnte. Durch das Funkgerät meldete sich nun der HEMs aus dem Hubschrauber, der auf dem Plateau in der Nähe gelandet war: „Der zweite Heli ist in etwa zehn Minuten da!“ und so fiel die Entscheidung jetzt den Syrer schnellstmöglich in die Klinik zu bringen, vielleicht das Kind noch dazu und die Versorgung der anderen Verletzten dem zweiten Notarzt, vielmehr der Notärztin, zu überlassen, die bereits im Anflug war. So packte man den Patriarchen jetzt auf die Rettungstrage, der Hubschraubernotarzt zog das Geschirr an, drückte dabei rhythmisch auf den Ambubeutel und klinkte das Seil ein, als der Hubschrauber nun über ihm schwebte. Die beiden wurden nach oben gezogen und staunend sahen sie Kinder zu wie der Opa mit dem fremden Mann über die Schlucht schwebte, am Plateau gegenüber abgesetzt wurde, der Hubbi daneben landete und man ihn dann dort auf die Trage umlagerte und einlud.
    Nachdem die Beatmung und alles am Gerät eingestellt war, zog diesmal der HEMs das Rettungsgeschirr an und ließ sich hinunter schweben. Man reichte ihm den kleinen Murat, der sich zwar erst noch verzweifelt an seiner Mutter fest klammerte, aber dann doch los ließ und nun laut brüllend im Kinderrettungsgeschirr und den Armen des HEMs mit der Winde nach oben gezogen und jetzt ohne Zwischenlandung ins Innere des Helikopters zu seinem Großvater gepackt wurde. Die Mutter hatte zwar die Augen voller Tränen, aber einer der Bergretter legte den Arm um sie, tröstete sie und bot ihr heißen Tee aus der Thermoskanne an . Auch wenn sie seine Worte nicht verstand, als er zu ihr sagte, dass es zum Besten für ihr Kind war und sie bald zu ihm gebracht würde, aber den Sinn des Gesagten verstand sie und nahm nach kurzem Zögern einen tiefen Schluck und ihre Tränen versiegten.

    Nun hörte man ein erneutes Knattern und ein diesmal gelber Helikopter, also ein Christoph aus Deutschland, flog heran und während sich die kleine, zierliche Hubschraubernotärztin jetzt routiniert mit ihrem Equipement abseilte, bog auch schon der deutsche Polizeihubschrauber mit fünf Mann des SEK um den nächsten Berggipfel. „Das SEK brauchen wir jetzt zwar eigentlich nicht mehr, aber jede helfende Hand ist willkommen!“ beschloss der Einsatzleiter der Bergwacht und so seilten sich Minuten später die fünf schwarz vermummten Männer ab, die aber gleich ihre Masken abnahmen und begannen sich ebenfalls um die Flüchtlinge zu kümmern-und deren Personalien fest zu stellen.

  • Inzwischen war die Notärztin vom Zugführer der Bergwachttruppe begrüßt worden. Helfende Hände nahmen die abgeseilte Trage und den Notfallrucksack entgegen, was der zierlichen Frau ein Schmunzeln entlockte. Das war sozusagen ein Frauenbonus, sie wusste, dass männliche Kollegen nicht so bevorzugt behandelt wurden, aber ihr sollte es Recht sein-je eher sie so zu ihren Patienten kam, desto besser. Laut Voranmeldung wusste sie schon, dass sie einen schwer verletzten jungen Mann versorgen sollte und evtl. mehrere Opfer mit Rauchgasvergiftung, aber als sie nun zu Ben und Semir gebracht wurde, war sie dennoch erschüttert über die fahle Blässe des jüngeren Mannes, der eingehüllt in Thermofolie und einen Bergwachtanorak mit geschlossenen Augen vor ihr im Schnee lag, den Kopf auf dem Schoß eines hustenden und nach Rauch stinkenden etwas älteren Mannes, der ebenfalls verletzt schien, wenn auch nicht lebensbedrohlich.


    Sie kniete sich neben den jungen Mann und sprach ihn an: „Grüß Gott-ich bin Dr. Berger und werde sie jetzt versorgen-können sie mir sagen, was passiert ist?“ fragte sie und war fast überrascht, als der dunkelhaarige und wie sie beiläufig bemerkte, gut aussehende Mann die Augen öffnete. Sie hatte eigentlich fast gedacht, dass der nicht mehr ansprechbar wäre, so ausgeblutet und schockig wie er wirkte. Sie würde sich jetzt kurz einen Überblick über seine Verletzungen verschaffen, ihn dann monitoren und einen Zugang legen und dann nichts wie ab in die Klinik! Ben versuchte auf die Frage der Ärztin zu antworten, aber nur ein leises Flüstern kam über seine Lippen. Als sie sich vorbeugte konnte sie eigentlich nur wenige Worte verstehen: „Lawine und Schmerzen“ bevor ein schmerzhafter Hustenstoß ihren Patienten erschütterte und ihn das Gesicht verziehen ließ und darum sagte sie begütigend: „Sie bekommen gleich von mir etwas gegen die Schmerzen, ich muss sie zuvor nur kurz durch untersuchen!“ denn das war für die Wahl des Schmerzmittels ausschlaggebend.


    Semir war inzwischen wieder zu Atem gekommen und konnte gerade ein wenig aufhören zu husten. „Er wurde gestern von einer Lawine verschüttet, wir haben ihn ausgegraben, ein syrischer Arzt, der jetzt selber weg geflogen wurde, hat seine Schulter eingerenkt, den Beinbruch geschient und dann auch noch einen Blasenstein operiert!“ und jetzt blieb der Ärztin der Mund vor Erstaunen offen stehen. „Und in der Nacht hat er auch noch heftig nachgeblutet und der Heiler hat die Blutung mit einem glühenden Schraubenzieher gestillt-und jetzt wäre er in der Höhle, in der ein Feuer ausgebrochen war, beinahe erstickt“ berichtete Semir weiter und der Ärztin, die ja trotz ihrer Jugend-sie war Mitte dreißig, wirkte aber jünger- schon viel gesehen hatte, lief es eiskalt den Rücken herunter.

    Trotzdem begann sie jetzt systematisch Ben von Kopf bis Fuß anzuschauen und zu betasten. Sie leuchtete in seine Augen und checkte die Pupillenreaktion, die aber völlig normal war, nur die Augenbindehaut war schneeweiß, ein Zeichen für einen hohen Blutverlust. Bei der Gelegenheit schob sie ihm gleich eine Sauerstoffsonde in die Nase und clipste einen Sättigungsfühler ans Ohr-die Finger waren zu kalt dazu. Auch an der Halswirbelsäule war nichts Auffälliges zu bemerken, aber als sie jetzt die Schulterpartie abtastete, verzog Ben das Gesicht. „Die linke ist die Schlimmere?“ fragte sie und Ben nickte. Als sie vorsichtig unter den Anorak fasste, konnte sie aber mit den Fingerspitzen tasten, dass das Gelenk in seiner Führung lief, da würde man erst einmal einfach nur ruhig stellen und sich das in der Klinik ansehen. Sie zog das Stethoskop aus der Tasche ihre Overalls und hörte, indem sie das Shirt und den Anorak ein wenig nach oben schob, den Brustkorb ab. Die Lungen waren seitengleich belüftet, wobei da trotzdem, vermutlich wegen des Brandes ein Rasseln zu hören war. Das Herz schlug zwar sehr schnell, aber regelmäßig und ohne auffällige Nebengeräusche. Sie befestigte bei dieser Gelegenheit gleich noch spezielle Klebeelektroden auf Ben´s Brust, die per Funk das EKG an den Monitor neben ihr senden würden.


    Nun tastete sie vorsichtig den Bauch ab-der Oberbauch war weich, nur im Unterbauch spannte ihr Patient dagegen. Sie warf einen Blick in die Runde: „Ich muss mir das Tiefparterre mal kurz ansehen!“ sagte sie im besten Allgäuer Dialekt, denn sie war ein Kind der Berge und die Männer verstanden. Die Frauen und Kinder sollten jetzt keine für ihren Patienten peinlichen Einblicke bekommen, daher hielten zwei der Bergretter eine weitere Thermofolie, die sie aus dem Notfallrucksack kramte, als Sichtschutz hoch und für einen Moment nahm die Ärztin nun den Anorak, mit dem der Bergretter Ben zugedeckt hatte weg. Die Ärztin hatte keine Ahnung wie der fremde Arzt wohl hier unter den einfachsten Bedingungen, ohne Narkose, Endoskop oder sonstige Hilfsmittel einen Blasenstein entfernt hatte. Sie hatte eigentlich einen Einschnitt am Unterbauch erwartet und da hätte sie selber Angst gehabt, dass man dabei den Darm verletzt hatte, aber als sie nun den Zugang am Damm sah, wurde ihr die Sache klar.
    Sie hatte an der Uni Medizingeschichte gebüffelt und so hatte man im Mittelalter Blasensteine entfernt und die Blutstillung hatte man damals ebenfalls mit Ausbrennen bewerkstelligt, denn Ligaturen und Umstechungen waren erst im siebzehnten Jahrhundert sozusagen erfunden worden. Auch wenn die Wunde und das umliegende Gewebe stark geschwollen waren und die schwarz umrandeten verkohlten Ränder ihr kalte Schauer über den Rücken laufen ließen-der Patient lebte und die Blutung stand, wobei sie sich nicht vorstellen wollte, was das für eine Tortur für ihn gewesen war. Schnell drückte sie mit ihren behandschuhten Händen eine sterile Kompresse auf die Wunde und deckte die Thermofolie wieder darüber und Ben, der sich völlig verspannt hatte, erstens vor Scham und dann auch vor lauter Angst, dass man ihm wieder weh tun würde, seufzte erleichtert auf.

    Die Ärztin prüfte nun noch die Beckenstabilität, die aber in Ordnung war, fragte ihn, ob der Rücken weh täte, was der junge Polizist aber mit einem Kopfschütteln verneinte und nachdem sie neue Handschuhe angezogen hatte, sah sich die Ärztin noch das geschiente Bein an. Freilich könnte man da jetzt eine Vakuumschiene befestigen, aber dazu musste man den Fuß erst wieder bewegen und das würde unnötige Schmerzen verursachen. Sie beschloss deshalb, nachdem sie die Fußpulse geprüft hatte, die in Ordnung waren, die provisorische Schiene zu belassen und dachte hochachtungsvoll an den unbekannten syrischen Arzt, der mit einfachsten Mitteln den Patienten korrekt versorgt hatte. Sie maß jetzt noch Ben´s Blutdruck, der zwar nicht berauschend war, aber doch mit dem Leben vereinbar und entschied sich für Ketamin als Schmerzmittel und Anästhetikum. Der Vorteil dieses Medikaments in der Notfallmedizin war, dass es den Blutdruck nicht senkte und man die Dosierung von einfacher Schmerzstillung bis zur Narkose hochfahren konnte, wenn es nötig war. Man konnte Operationen damit durchführen, der Negativpunkt war allerdings, dass die Patienten sehr geräuschempfindlich und schreckhaft darunter waren, was natürlich beim Hubschraubertransport nicht so ideal war. Aber es gab einige einfache Tricks und so schaute sie sich jetzt Ben´s rechten Unterarm und Handrücken an, um ihm eventuell dort eine Nadel zu legen, aber er war doch so zentralisiert und kalt in der Peripherie, dass das wohl nichts werden würde. Also entschied sie sich für einen Zugang an der äußeren Halsvene und bat den Freund des Patienten, der ihn die ganze Zeit-obwohl selber verletzt und immer wieder von Hustenstößen geschüttelt- liebevoll betreute, den Kopf von Herrn Jäger, wie sie inzwischen erfahren hatte dass ihr Patient hieß, ein wenig zur Seite zu drehen. „Augen zu, Herr Jäger, jetzt stichts!“ bat sie ihn freundlich, denn ihr Patient sollte nicht sehen, was für eine dicke Nadel sie ihm jetzt in den Hals stoßen würde, aber das war ein großes Gefäß und er brauchte entsprechend Volumen, das musste jetzt sein. Kurz desinfizierte sie die Einstichstelle und Ben verzog zwar das Gesicht, gab aber keinen Mucks von sich, als er den Pieks spürte, da hatte er in den vergangenen Stunden Schlimmeres mit gemacht! Routiniert zog die Ärztin den scharfen Mandrin aus Metall heraus, schraubte einen Dreiwegehahn auf und schloss dann die Infusion, die sie zuvor vorbereitet hatte, an. Einer der Bergretter bekam die zum Halten und nun zog die Ärztin das Ketamin in eine große Spritze auf und injizierte Ben eine mittlere Dosis, was den dazu brachte, sich ein wenig zu entspannen und die Augen zu schließen. Sofort steckte sie ihm einen Gehörschutz in beide Ohren, das würde ihn abschirmen und war ein alter Trick unter Hubschraubernotärzten.


    Erst jetzt konnte auch Semir ein wenig locker lassen und bemerkte in diesem Moment, wie seine Schnittverletzung brannte.

  • Als hätte die Ärztin seine Gedanken gelesen, sagte sie zu Semir, indem sie kurz den Fingerclip von Ben´s Ohr abzog und an Semir´s Finger steckte: „Wir lagern ihren Freund jetzt auf die Trage und dann sehe ich sie mir an!“ und ihre Worte ließen keine Widerrede zu. Sie hatte die schlechte Sättigung registriert und auch Semir´s ständiges Husten und die rot verfärbte Schneejacke. Einige Bergretter fassten mit an, wobei die beiden, die mit Semir in der verqualmten Höhle gewesen waren ebenfalls von einem Hustenreiz gequält wurden, was die engagierte Ärztin sehr wohl registrierte, aber eines nach dem anderen.

    Kaum lag Ben, der nun ziemlich zugedröhnt und beinahe schmerzfrei war, warm zugedeckt und angeschnallt auf der Rettungstrage, bat die junge Frau Semir, seine Jacke aus zu ziehen. Mit Hilfe des Zugführers gelang es ihm, wobei er schon ziemlich das Gesicht verzog, aber das war kein Wunder, denn wie man erst jetzt erkennen konnte, überzog ein tiefer und langer Schnitt seinen Oberarm. Die Wundränder klafften auch ein wenig und die Ärztin sagte, während sie ein paar sterile Kompressen auflegte und fest klebte: „Das muss genäht werden und sie haben noch Glück gehabt-nur ein wenig tiefer und die Arterie wäre verletzt worden. So wird das schön verheilen, wenn man eine ordentliche Wundversorgung macht, aber wegen der Rauchgasvergiftung werde ich sie gleich mit dem Hubbi mit in die Klinik nehmen. Ziehen sie wenn möglich ihre Jacke wieder an, ich sehe mir inzwischen die anderen beiden Helden an!“ sagte sie und betonte das Wort: „Held!“ denn in ihren Augen war jeder der ein Leben rettete ein Held. Die beiden anderen Bergretter hatten zwar gute Sättigungen, was der weiter gereichte Clip bestätigte, aber dennoch war mit Rauchgasvergiftungen nicht zu spaßen. „Sie müssen zwar nicht während des Transports ärztlich betreut werden, aber sie sollen sich nicht anstrengen, also bitte kein Abstieg zu Fuß und danach mit dem Krankenwagen in die nächste Klinik!“ ordnete die Ärztin an und nach kurzer Beratschlagung mit dem Leiter des SEK wurde beschlossen, dass die beiden verletzten Bergretter und die Kinder der Gruppe mit dem Polizeihubschrauber ins Tal geflogen würden. Der würde für die Erwachsenen passendes Equipement, also warme Winterkleidung und Schneeschuhe mitbringen und abwerfen und die Polizisten, bis auf einen der den Tatort bewachte und die unverletzten Bergretter würden dann mit dem Rest der Flüchtlinge ins Tal absteigen. Wenn die Höhle, die aktuell noch sehr verqualmt war, dann genügend gelüftet war, würde man dort die Spurensicherung einfliegen und die Leiche dort drin bergen, denn inzwischen wusste man in etwa, was in der Höhle passiert war. Auch nach Knut´s Leiche würde man Ausschau halten, obwohl die vermutlich inzwischen wieder unter einer Schneeschicht lag, aber nachdem Semir und die Flüchtlinge laut Karte ziemlich detailliert den Ort bestimmen konnten, wo der tote Familienvater lag, würde man ihn schon finden und ebenfalls bergen können.


    Obwohl sich die Polizisten umgeschaut hatten, hatten sie von dem mörderischen Bergführer nichts entdecken können und nachdem der mit dem Hochgebirge hier vertraut war, sahen sie wenige Chancen, ihn dort oben zu erwischen. „Aber der geht uns schon noch ins Netz-wir haben schließlich seine Personalien, da mache ich mir keine Sorgen!“ vertraute der Einsatzleiter des SEK, der natürlich von Semir über die Zusammenhänge informiert worden war, seinem Kollegen von der Kripo Autobahn an.


    So schwebte wenig später zuerst Ben zusammen mit der Notärztin über die Schlucht, wurde am Plateau erst abgeladen und dann in den Hubschrauber verfrachtet und dann stand der Hubbi erneut mit lautem Rotorengeräusch über dem Biwak und nun bekam Semir das zweite Rettungsgeschirr und die Ärztin und er wurden kurz darauf mit der Winde ins Innere des Helis gezogen, der nun sofort abdrehte und Kurs auf Innsbruck nahm, wo die Universitätsklinik die weitere Versorgung der Verletzten übernehmen würde.

    Inzwischen war der Mittag des Silvestertags angebrochen. Das Kriseninterventionsteam hatte Knut´s Frau und die Kinder abgeschottet und kümmerte sich um sie und Sarah und Andrea warteten, fertig mit den Nerven, sehnsüchtig auf eine Nachricht oder ein Lebenszeichen ihrer Männer. Der Gendarm war nochmals zu ihnen gekommen und hatte sie auf dem Laufenden gehalten, dass Semir wieder mit aufgestiegen war, um die Retter einzuweisen, aber mehr wusste er ja aktuell auch nicht und was Sarah vor allem interessierte-wie schwer ihr Ben verletzt war-das konnte ihr niemand beantworten. „Sarah-er wird es schaffen und wenn Semir bei ihm ist habe ich ein gutes Gefühl!“ versuchte Andrea sie zu trösten, aber trotzdem blieb die unendliche Anspannung.
    Nun flog erst ein österreichischer Rettungshubschrauber durchs Tal Richtung Inntal, dann eine Stunde später ein deutscher Christoph und kurz darauf sah man auf dem Sportplatz einen Polizeihubschrauber landen und jetzt hielt es Sarah nicht mehr aus. Sie sprang ins Auto, während Andrea im Hotel bei den Kindern blieb und fuhr zum Sportplatz, wo zwei Bergretter und mehrere ängstlich weinende Kinder gerade vom Hausarzt der Gemeinde und mehreren Einheimischen in Empfang genommen wurden. „Bitte-ich bin Frau Jäger-sagen sie mir was mit meinem Mann ist!“ rief Sarah flehend und der eine der leicht verletzten Bergretter nahm ihre Hand, bevor er in den wartenden Sanka stieg und sagte: „Er ist gerade zusammen mit Herrn Gerkhan auf dem Weg nach Innsbruck in die Uniklinik. Er ist zwar schwer verletzt, aber er war ansprechbar und auch nicht intubiert, ich bin zwar kein Arzt, aber ich denke er wird es schaffen!“ berichtete er und nun stand Sarah´s Entschluss fest-sie musste jetzt so schnell wie möglich nach Innsbruck zu ihrem Mann!

  • Sarah fuhr nun zum Hotel zurück, dass der Schnee nur so staubte. Andrea erwartete sie in der Eingangshalle. „Und gibt’s was Neues?“ fragte sie bang und Sarah nickte. „ Semir und Ben sind mit dem Hubschrauber unterwegs nach Innsbruck in die Uniklinik. Wir sollten dort hinfahren-ich habe nämlich keine ruhige Minute mehr, bevor ich Ben nicht gesehen habe-geht´s dir nicht genauso wegen Semir?“ fragte sie und Andrea nickte. Ihre letzte Information war zwar noch gewesen dass Semir unverletzt sei, aber vielleicht war er ja zu Ben´s Beruhigung mitgeflogen?
    Sarah trat nun entschlossen zum Hoteldirektor: „Wir reisen ab-unsere Männer sind nach Innsbruck geflogen worden, wir müssen einfach zu ihnen!“ sagte sie. Der Manager nickte mit dem Kopf. „Das ist mehr als verständlich-allerdings wird es schwierig werden in der Silvesternacht dort ein Hotelzimmer zu bekommen, meistens sind die Hotels da schon Monate vorher ausgebucht!“ sagte er. „Aber ich werde mal meine Kontakte spielen lassen, vielleicht kann ich etwas für sie tun!“ erklärte er und suchte auch schon aus dem PC einige Telefonnummern heraus, während Andrea und Sarah auf die Zimmer gingen und packten.

    Winkler war mit einem Drink in der Ecke gesessen, während Estelle noch auf der Piste war. Verdammter Mist-dieser Jäger und sein Kumpel lebten noch, aber gut dass er wusste, wo sie sich jetzt aufhielten-er musste da jedenfalls mal einen Kontaktmann darauf ansetzen, vielleicht konnte der was machen!


    Als die Frauen eine halbe Stunde später herunter kamen-auch wenn sie keinen Appetit hatten, würden sie jetzt trotzdem mit den Kindern noch was essen, bevor sie aufbrachen, denn sie mussten bei Kräften bleiben und gerade Sarah wollte vermeiden, dass vor lauter Stress ihre Milch versiegte und deshalb bedienten sie sich dennoch am Buffett und die Kinder waren ganz enttäuscht, dass sie schon abreisten. Als sie allerdings gesagt bekamen, dass die Papas in einem Krankenhaus waren, wollten sie die dann doch besuchen, zumindest Ayda und Lilly-der kleine Tim plapperte mehr oder minder nach, was die Großen ihm vorsagten. Als sie sich noch ein kleines Dessert holten, trat der Hotelmanager an ihren Tisch: „Ich habe bei meinem Cousin angerufen, der hat direkt in der Innsbrucker Innenstadt, nicht weit von der Klinik entfernt, für sie noch eine Suite mit zwei Schlafräumen. Er stellt ihnen ein Kinder- und ein Beistellbett hinein, aber ansonsten ist Innsbruck sozusagen dicht-es ist ja morgen auch noch das Neujahrsskispringen!“ erklärte er und Sarah wäre ihm beinahe um den Hals gefallen-da mit evtl. weinenden Kindern im Auto auf Zimmersuche zu gehen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen und laut Google Maps dauerte die Fahrt nach Innsbruck zwar nur eineinhalb Stunden, aber bei diesen Witterungsverhältnissen am Silvestertag da hin- und her- zu pendeln war sicher keine allzu gute Idee.
    Als Sarah ihre Scheckkarte zücken wollte, um die Rechnung zu bezahlen, winkte der Hotelmanager ab. „Frau Jäger-das erledigen wir später, wenn ihr Mann wieder gesund ist, machen sie sich deswegen keine Sorgen!“ sagte er väterlich und so saßen wenig später die beiden Frauen am Steuer der Geländewagen und machten sich bei strahlend schönem Winterwetter auf den Weg über die schneebedeckten, aber mit Splitt gestreuten Fahrbahnen Richtung Inntal. Außer Ayda schliefen alle im Wagen und so verlief die Fahrt ruhig und nachdem das Innenstadthotel sogar über Parkplätze verfügte, kamen sie relativ stressfrei am Nachmittag dort an.


    Semir war inzwischen im Hubschrauber vom HEMs auf einem Sitz angeschnallt worden. Ben lag ebenfalls fest gebunden auf der Trage und seine Kreislaufparameter wurden über Funk auf den Monitor übertragen. Er hatte inzwischen auch eine Sauerstoffmaske auf und die Infusion tropfte zügig in den Zugang am Hals. Auch Semir bekam eine Sauerstoffmaske und bevor der Hubschrauber Geschwindigkeit aufnahm, legte ihm die Ärztin ebenfalls noch einen Zugang in die Hand, durch den nun eine Infusion tropfte und erst jetzt, als er zur Ruhe kam, merkte Semir, wie fertig er eigentlich war. Er lehnte sich ein wenig zurück und hatte auch keinen Blick mehr für die grandiose Bergwelt unter ihnen, sondern betrachtete statt dessen seinen käsebleichen Freund, dessen Nase spitz aus dem eingefallenen, rußgeschwärzten Gesicht hervorragte und der ebenso wie er, immer wieder von schmerzhaften Hustenstößen geschüttelt wurde. Das Ketamin begann schon wieder ein wenig ab zu flauen, aber die Ärztin beobachtete ihren Patienten genau-wenn er es aushielt war es besser er kam nicht so stark sediert in der Klinik an, dann konnte man ihn eingehender untersuchen und fragen wo es weh tat.


    Nach kaum zwanzigminütigem Flug landeten sie auf dem Dach der Innsbrucker Uniklinik, die mitten in der Stadt lag. Via Funk waren sie bereits avisiert und das riesige Krankenhaus war perfekt auf Zugänge aus der Luft eingerichtet, denn die meisten verunglückten Skifahrer wurden mit dem Heli eingeliefert, das war in den Bergen einfach so. So rollte man die Trage mit Ben heraus, für Semir hatte man einen Rollstuhl bereit gehalten und erst wollte er abwehren, aber als dann beim Aussteigen seine Knie nachgaben, setzte er sich doch ohne Widerworte hinein und wurde neben Ben in den Aufzug geschoben. Noch auf der Fahrt nach unten in die Notaufnahme machte die Ärztin an den Notaufnahmearzt Übergabe, man lagerte Ben dann sofort auf eine Untersuchungsliege um und brachte ihn in einen Schockraum. Semir legte man im Zimmer daneben ebenfalls auf eine Liege, ließ aber die Tür offen, denn Ben hatte nach ihm gesucht und war deutlich ängstlich gewesen, als er ihn nicht gesehen hatte-eine Reaktion auf das Ketamin. So verabschiedete sich die junge Ärztin nun von ihren beiden Patienten und zog auch noch die Ohrstöpsel aus Ben´s Gehörgang-jetzt war es nicht mehr so laut und er sollte ja verstehen, wenn ihr Kollege ihm Fragen stellte. „Herr Gerkhan-ich wünsche ihnen und ihrem Freund alles Gute und hoffe, sie kommen trotzdem wieder mal in unsere Berge!“ sagte sie herzlich und Semir bedankte sich bei ihr und dann waren sie und der HEM´s mit ihren Geräten auch schon wieder verschwunden-das Dach musste frei gemacht werden, denn der nächste Hubbi war bereits im Anflug.

  • Ein Arzt kam zu Semir, man half ihm sich auszuziehen und ein schickes Krankenhaushemdchen anzulegen und dann wurde zweimal Blut entnommen-einmal aus der Arterie und dann nochmals aus der Vene. Semir hielt beim arteriellen Stechen kurz die Luft an, das tat nämlich schon ziemlich weh, aber als der Arzt ihm dann erklärte, dass man diese zwei Blutproben wegen der Rauchgasvergiftung vergleichen musste, verstand er die Notwendigkeit. „Wenn das Hämoglobin anstatt mit Sauerstoff mit anderen giftigen Substanzen beladen ist, können sie ersticken, obwohl wir ihnen Sauerstoff geben-das ist die eigentliche Gefahr bei diesen Vergiftungen, mal ganz abgesehen von der Lungenreizung und der Gefahr der Wasseransammlung in der Lunge!“ erklärte er. Natürlich hatte man zusätzlich noch einige Röhrchen fürs Routinelabor abgenommen, der Arzt besah sich Semir von Kopf bis Fuß, aber Gott sei Dank war er zwar überall stark verprellt und grün und blau, aber außer der Schnittverletzung am Arm schien er keine sonderlich schweren Verletzungen zu haben. Man schrieb noch kurz ein routinemäßiges EKG und dann richtete die Notaufnahmeschwester alles zur Wundversorgung her und danach begann der Arzt in routinierter Handarbeit die tiefe Wunde erst einzuspritzen und dann sorgfältig in mehreren Schichten zu nähen. „Nachher machen wir noch eine Röntgenaufnahme der Lunge, ob sich da Flüssigkeit angesammelt hat und ich würde sie wenigstens über Nacht gerne ein wenig überwachen, wenn sie nichts dagegen haben. Diese verflixten Rauchgasvergiftungen sind manchmal ziemlich tückisch und mir wäre wohler dabei!“ sagte er, als er den letzten Faden abschnitt und sein Werk begutachtete und Semir nickte-war ihm doch egal wo er die Nacht verbrachte, aber so hatte er doch eher eine Chance zu Ben zu kommen und dem bei zu stehen, denn gerade ertönte aus dem Nebenzimmer ein lautes Stöhnen.


    Kaum war die Notärztin um die Ecke verschwunden, stürzten sich mehrere Ärzte und Schwestern regelrecht auf Ben, denn das war eindeutig ein lebensbedrohlich verletzter Patient mit mehreren Baustellen, die man sozusagen jetzt der Reihe nach abarbeiten musste. Die Notärztin hatte erklärt wie sie Ben aufgefunden hatte, welche Diagnosen sie gestellt und was ihr Semir und die Bergretter zur Sache erzählt hatten. „Er wurde anscheinend mit einfachsten Mitteln von einem syrischen Arzt notfallversorgt. Der hat ihm-nachdem er in einer Lawine verschüttet war- die Schulter eingerenkt, das gebrochene Bein eingerichtet und geschient und danach noch eine Blasensteinoperation wie im Mittelalter vorgenommen. Laut Aussage von Herrn Gerkhan kam es in der Nacht dann zu einer schweren Nachblutung, die mit einem glühenden Schraubenzieher gekautert wurde!“ hatte sie erzählt und mitleidige Blicke hatten den jungen Mann gestreift, der noch ein wenig benommen vom Ketamin, gut zugedeckt auf der Liege lag.

    Allerdings war allen Anwesenden klar, dass der Syrer damit das Leben des Patienten gerettet hatte und sie wussten auch sehr genau um wen es sich handelte, denn der Patient war in eben diesem Schockraum versorgt worden und war jetzt gerade im OP, wo die Herz-und Gefäßchirurgen um sein Leben kämpften. Den kleinen Murat hatte der Kinderarzt sofort nach seiner Ankunft intubiert und der lag jetzt beatmet auf der Kinderintensiv, da wartete man darauf, dass irgendwann die Mutter hergebracht wurde. Da hatte sich ein regelrechtes Drama in den Bergen abgespielt und jetzt war es ihre Aufgabe, die Folgen so gering wie möglich zu halten.


    „Herr Jäger-wir werden sie jetzt erst einmal ausziehen und uns ihre Verletzungen anschauen!“ sprach ihn der leitende Oberarzt der Notaufnahme an. Ohne Gegenwehr entfernte man nun Ben´s Kleidung, soweit sie noch vorhanden war. Man quälte ihn auch nicht damit irgendwo raus zu schlüpfen, sondern schnitt einfach alles mit der Schere auf und warf es weg. Als die Notärztin ihre kabellosen Übewachungsgeräte mitgenommen hatte, hatte die Anästhesieschwester wie selbstverständlich die Elektroden zur EKG-Überwachung gegen ihre ausgetauscht, einen hauseigenen Blutdruckapparat angelegt und den Sättigungsfühler ausgewechselt. Immer noch war Ben zentralisiert und während Hände und Füße eiskalt waren, glühte er am Stamm regelrecht und die wächserne Blässe imponierte auf den ersten Blick. Die Anwesenden sahen sich an: „Wir brauchen sofort nach der ersten Diagnostik einen ZVK, eine Arterie und einen Blasenkatheter falls möglich. Es werden Wetten entgegengenommen, aber ich vermute, dass der Hb-Wert unter sechs ist!“ sagte der Anästhesist und niemand widersprach ihm. Ben musste gerade wieder husten und verzog dabei das Gesicht und wie als Antwort ertönte aus dem Nebenraum, wo Semir gerade genäht wurde, ebenfalls ein Keuchen.

    Der Notaufnahmearzt sprach Ben direkt an, bei dem das Ketamin langsam aufhörte zu wirken: „Herr Jäger, ich taste sie jetzt ab und möchte, dass sie mir dann sofort sagen, wo ihnen etwas weh tut!“ sagte er ruhig und deutlich und Ben nickte müde mit dem Kopf. Natürlich hätte man ihn jetzt durchs Notfall-CT schieben können und dadurch Einblicke gewinnen, wo überall noch Verletzungen waren, aber dagegen sprach, dass der Patient bei Bewusstsein war und konventionell untersucht werden konnte. Wenn er mit diesen schweren Verletzungen schon eine Nacht auf dem Berg überlebt hatte, war zu erwarten, dass keine starken Blutungen nach innen vorlagen, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machten. So ein CT war erstens teuer und zweitens war auch die Strahlenbelastung fünfunddreißig Mal stärker als bei einer normalen Röntgenaufnahme und wie man wusste, konnten Röntgenstrahlen Krebs auslösen und deshalb wägte man solche Untersuchungen durchaus ab.
    So begann der Arzt jetzt beim Kopf und der HWS, aber da war alles unauffällig, wie auch schon die Notärztin festgestellt hatte. Parallel zu diesen Untersuchungen bereiteten der Anästhesist und seine zuarbeitende Fachschwester bereits alles vor, damit man zunächst eine Arterie und dann den ZVK legen konnte. Beim Betasten des Brustkorbs verzog Ben das Gesicht und sagte leise „Au!“ vermutlich hatten da ein paar Rippen was abbekommen. Allerdings hörte es sich, als der Arzt nun sein Stethoskop zückte, nicht so an, als würde da ein Pneumothorax vorliegen und freilich hatte Ben blaue Lippen trotz Sauerstoffgabe, aber die waren durch den Blutverlust und die Rauchgasvergiftung erklärbar. Beim Betasten der Schulter allerdings zuckte er zurück. Die war geschwollen und tat einfach weh, aber auch der Notaufnahmearzt fühlte nach dem Gelenkspalt und stellte fest, dass die ordnungsgemäß reponiert war. Sicher würde man da nachher röntgen, um knöcherne Verletzungen auszuschließen und auch in den nächsten Tagen mal eine MRT machen, aber fürs erste war die ordentlich versorgt und würde einfach mit einem speziellen Verband ruhig gestellt werden.

    Der Oberbauch war nicht druckschmerzhaft, was man vom Unterbauch nicht behaupten konnte. Ben begann sich jetzt zu genieren, denn so langsam bemerkte er erst, dass er ja splitterfasernackt vor den musternden Augen von mindestens fünf Menschen lag. Die Schwester die den Schockraum betreute, hatte Ben´s Erstarren bemerkt und legte jetzt einfach ein dünnes weisses Laken über ihn. Es war zwar eigentlich egal und das Personal hier sah den ganzen Tag nackte Körper, aber sie konnte das nur zu gut verstehen, dass sich der Patient genierte und sein dankbarer Blick fiel nun auf sie. Man rollte das Ultraschallgerät näher und der Notfallmediziner bestrich jetzt Ben´s Bauch dick mit kaltem Sonographiegel und sah sich der Reihe nach die Bauchorgane an. Gott sei Dank waren die unauffällig, nur als er zum Unterbauch und der halb gefüllten Blase kam, stöhnte Ben auf. „Da brauchen wir einen Urologen dazu und von einem DK lassen wir besser auch die Finger!“ beschloss der Notaufnahmearzt, während er das Gel abwischte, das Tuch wieder zurecht zog und sich jetzt den Beinen widmete-vor allem natürlich dem Geschienten. Bei Ben wurden jetzt die Schmerzen wieder stärker, dazu hatte er auf einmal schreckliche Angst, die Wirkung des Ketamins ließ weiter nach und als jetzt eine Nierenschale aus Metall scheppernd zu Boden fiel, wäre er vor Schreck beinahe vom Tisch gehüpft und nun begannen seine Tränen zu fließen, bis plötzlich eine vertraute Stimme ihn ansprach und Semirs warme Hand nach der seinen griff.

  • Semir hatte es kaum erwarten können, bis der Verband angelegt und eine Schiene an gewickelt war, die vom Oberarm bis zur Hand reichte. „Damit wollen wir erstens vermeiden, dass durch eine Bewegung die Naht wieder aufreißt und zweitens verhindert die Kompression auch eine weitere Schwellung!“ erklärte der Arzt. „Wenn die Lokale nachlässt werden sie vermutlich Schmerzen kriegen-melden sie sich, sie bekommen dann entweder eine Tablette oder auch was in die Infusion, auf eine Antibiose verzichten wir momentan, aber wenn sie starke Schmerzen, Schüttelfrost und Fieber bekommen, melden sie sich bitte sofort!“ bat er Semir, der allerdings im Augenblick gar nicht richtig zuhörte, sondern nur auf die Gespräche aus dem Nebenzimmer lauschte und als er Ben vorher hatte stöhnen hören, wäre er am liebsten sofort zu ihm geeilt. Sein Hustenreiz hatte ein wenig nachgelassen und der Arzt ordnete noch Inhalationen mit zwei verschiedenen Medikamenten an, die die gereizten Atemwege beruhigen sollten.

    Als jetzt allerdings im Nebenzimmer eine Nierenschale aus Metall laut schepperte und über Ben´s Lippen ein Schrei der Angst und des Entsetzens kam und der Arzt und zwei Schwestern sich regelrecht auf ihn warfen, damit er nicht vom Tisch fiel, kannte Semir kein Halten mehr: „Ich muss sofort zu meinem Freund!“ beschloss er und erhob sich mit wackligen Beinen. „Setzten sie sich wieder hin-ich fahr sie rüber!“ drückte die Schwester ihn zurück in den Rollstuhl, drehte die Infusion ab, gab sie ihm in die Hand und packte den fahrbaren Untersatz, um ihn in den Nebenraum zu schieben. „Nachher fahren wir noch zum Röntgen!“ verkündete sie, aber sie hatte an der Reaktion Semir´s gesehen, dass der jetzt nirgendwohin gehen würde, bevor er nicht nach seinem Freund geschaut hatte. Und so war er wenig später am Kopfende der Untersuchungsliege und beugte sich über Ben, der sich gerade nicht mehr auskannte, Schmerzen hatte und völlig überfordert war. Semir griff mit seiner gesunden Hand nach der seines Freundes und sagte leise und ruhig: „Ben-ich bin da und lass dich jetzt nicht mehr alleine!“ und jetzt gelang es dem, sich wieder ein wenig zu beruhigen und die Tränen versiegten.


    Inzwischen hatten der Notaufnahmearzt und eine Schwester die Schiene am rechten Bein abgewickelt und Ben hatte erneut gestöhnt. Der Unterschenkel war massiv geschwollen und blutunterlaufen-da war die provisorisch reponierte Fraktur. „Mein Freund hat da von einem Unfall vor wenigen Monaten oberhalb des Knöchels noch Metall drin, das sollte in einigen Wochen entfernt werden!“ erzählte Semir und jetzt war den Ärzten die Lokalisation des Bruchs klar. Sie hatten sich schon gewundert, denn an dieser Stelle kamen Frakturen eher als sogenannte Schuhrandbrüche beim Abfahrtsskifahren zustande, wenn der Knochen oberhalb des hohen Skistiefels splitterte, aber laut den Aussagen der Notärztin war Herr Jäger ja bei einer Schneeschuhwanderung von einer Lawine erfasst worden, da trug man normalerweise keine dermaßen hohen und starren Schuhe. „Wir werden uns das gleich auf dem Röntgenbild ansehen!“ sagte der Notaufnahmearzt, legte vorsichtig eine Vakuumschiene um das Bein und besah sich auch gleich noch die Lokalisation der alten OP-Narben. Abgeheilte Narben hatte sein Patient gerade genug, aber er war aktuell noch nicht in der Lage für eine ausgedehnte Anamnese, dazu musste man ihn erst stabilisieren.

    Das war jetzt die Absicht des Anästhesisten, der sich inzwischen steril gewaschen und grün vermummt, sein Eingriffstischchen vorbereitet hatte und nun darauf wartete, an Ben ran gelassen zu werden. Mit einem Kopfnicken trat jetzt der Notaufnahmearzt zur Seite. „Mein Kollege wird ihnen jetzt ein paar Zugänge legen, Herr Jäger, dann haben wir auch bald Laborwerte und können uns dann überlegen, was wir als Nächstes machen!“ sagte er und der Anästhesist wollte Semir jetzt hinausschicken. Ben, der sich an seinem Freund festgehalten hatte, schüttelte den Kopf: „Ich lasse nur was machen, wenn Herr Gerkhan dabei bleiben darf!“ sagte er mit schwacher Stimme und jetzt zuckte der Narkosearzt mit den Schultern. „Na meinetwegen-ich hoffe nur, sie kippen uns nicht aus dem Stuhl!“ sagte er zu Semir und nun nahm die Anästhesieschwester entschlossen Ben´s unverletzten Arm und Semir musste loslassen. „Den brauchen wir jetzt zum Arterie legen!“ sagte sie, lagerte ihn nach außen gedreht auf ein saugfähiges Einmaltuch und unterpolsterte ihn mit einer zusammen gerollten dicken Kompresse. „Ich werde ihnen jetzt einen arteriellen Zugang in den Unterarm legen!“ begann der Arzt zu erklären, aber als er fortfahren wollte, den Grund und die Vorgehensweise zu erklären unterbrach ihn Ben mit schwacher Stimme: „Ich habe sowas schon gehabt und weiss wozu man das braucht-machen sie bitte schnell, damit ich`s hinter mir habe!“ sagte er und schloss dann die Augen. Der Arzt stutzte einen Moment, begann aber dann den Unterarm und das Handgelenk steril abzustreichen und abzudecken. Semir hatte seine Hand beruhigend auf Ben´s Schulter gelegt und beobachtete ihn mitleidig, als der Arzt auf der Suche nach der Arterie mit einer spitzen Nadel oberhalb des Handgelenks herum bohrte. Endlich war ein Treffer zu vermelden, über einen Seldingerdraht wurde das Schläuchlein vorgeschoben und steril mehrere Spritzen mit Blut abgenommen. Dann verklebte man das Ganze, befüllte einige Blutkulturen und brachte die ganzen Blutproben dann ins Labor, mit der Bitte um Blutgruppenbestimmung und dem Kreuzen von vier Konserven, was allerdings eine ganze Weile dauern würde, die anderen Werte würde man ziemlich schnell haben. Über ein Druckbeutelsystem und einen Messdom konnte man nun kontinuierlich den Blutdruck invasiv messen und als nächsten Eingriff würde Ben noch einen zentralen Venenkatheter über die Schlüsselbeinvene in die untere Hohlvene gelegt bekommen.


    Noch während der Arzt dabei war abzustreichen, kam der hinzu gerufene Urologe bei der Tür herein und nun wurde Ben fast panisch, als der die Zudecke wegnahm und sich kurz sein Tiefparterre besah und mit behandschuhten Händen betastete, während der andere Arzt derweil an seinem Hals rumfummelte und piekte und ihm einbläute, sich nicht zu bewegen.
    „Bringen sie ihn nachher, wenn er erstversorgt ist in die Urologie-ich muss mir das gründlich ansehen, das geht hier nicht!“ sagte der Urologe kurz und Semir konnte innerlich nur den Kopf schütteln, der hatte ziemlich unfreundlich gewirkt und sich auch nicht vorgestellt, was ja wohl das Mindeste war, bevor man einem Patienten einfach die Zudecke wegriss. Ben lag inzwischen wieder schreckensstarr unter seiner dünnen Decke und wünschte sich Lichtjahre entfernt. Oh je-was würde da noch auf ihn zukommen!

  • Nachdem der ZVK angelegt war, brachte man Semir und Ben alle beide in die Röntgenabteilung. Bei Semir wurde eine Lungenaufnahme im Stehen gemacht und er war zwar noch klapprig, aber langsam beruhigte sich sein Kreislauf und die Erschöpfung ließ ein wenig nach. Auch tat ihm einfach die Flüssigkeit gut, die man ihm infundiert hatte, denn das war Vollelektrolytlösung und da waren einfach viele Stoffe darin, die sein Organismus gerade dringend brauchte. Allerdings wurde er immer noch, wie auch Ben, von Hustenanfällen gequält, die seinen Körper erbeben ließen und ihn jeden blauen Fleck und jede geprellte Rippe doppelt spüren ließen-wie mochte das erst seinem Freund gehen?
    Der war mit der Anästhesieschwester und der Röntgenassistentin in einem Nebenraum und bei dem jungen Polizisten wurden wesentlich mehr Aufnahmen angefertigt. Gerade die Schulteraufnahmen in mehreren Ebenen waren schmerzhaft und wenn man ihn versuchte aufzusetzen, dann ging das einfach nicht, weil sofort sein Blutdruck absackte und ihm schwindlig wurde. So drehte und wendete man ihn, legte dicke Polster vor und hinter ihn, zog an seinem wehen Arm und plagte ihn ordentlich, bis endlich alle Aufnahmen im Kasten waren. Nur das Bein hatte man in der Vakuumschiene belassen können, die war röntgendurchlässig und solange man das nicht bewegte, waren die Schmerzen dort nicht so schlimm.


    Nach dem Röntgenmarathon kamen die beiden Freunde wieder zurück in den Schockraum. Man hatte inzwischen auch für Semir ein Bett auf der Intensiv organisiert und erleichtert erfuhr er, dass sie über Nacht ins selbe Zimmer kommen würden, obwohl Semir ja nur ein Überwachungspatient war, während man bei Ben die Segnungen der modernen Intensivmedizin brauchte, um ihn am Leben zu erhalten. Inzwischen war nämlich trotz massiver Flüssigkeitsgabe sein Kreislauf so eingebrochen, dass man ihm Katecholamine, also kreislaufstützende Medikamente, verabreichen musste und endlich waren auch die Laborergebnisse da. Der Blick des Notfallmediziners glitt erst über Semir´s Werte. „Herr Gerkhan, bei ihnen sieht es relativ gut aus. Natürlich sind die ganzen Muskelwerte wie CK erhöht, auch die Leukozyten, ihr Organismus ist übersäuert und es fehlt an Elektrolyten, aber das kriegen wir alles gebacken. Allerdings geben wir ihnen nur klare Flüssigkeit zu trinken, alles andere bekommen sie über Infusionen, denn diese Rauchgasvergiftungen sind nicht harmlos und eine leichte Flüssigkeitsansammlung in ihrer Lunge ist auch zu sehen, also ist die Überwachung mehr als gerechtfertigt. Allerdings denke ich, dass sie, wenn nichts dazu kommt, in ein bis zwei Tagen entlassen werden können-und gebrochen ist am Brustkorb auch nichts!“ erklärte er ihm und Semir atmete auf.


    „Anders sieht es bei ihnen aus, Herr Jäger, aber das war uns ja eigentlich vorher schon klar. Beginnen wir einmal von oben nach unten-was Gott sei Dank nichts abgekriegt hat, sind Kopf und Wirbelsäule. An der Schulter haben wir leider nicht nur eine reponierte Luxation gefunden, sondern auch ein gebrochenes Schlüsselbein. Wie die Bänder und die Gelenkkapsel aussehen, müssten wir bei Gelegenheit mit einer MRT kontrollieren, aber fürs Erste bekommen sie da trotzdem nur einen sogenannten Desaultverband, der Arm und Schulter ruhig stellt!“ und schon begannen die Ambulanzschwester und die Anästhesieschwester den anzulegen, was Ben einiges Stöhnen und Jammern entlockte, bis der Verband endlich kunstvoll angelegt war und er sich aufatmend zurück legte. „Die Rippen sind soweit in Ordnung, der ZVK liegt korrekt, aber auch bei ihnen ist ein beginnendes Lungenödem, also eine Flüssigkeitsansammlung in der Lunge zu entdecken, als Reaktion auf das Rauchgas!“ erklärte der Arzt weiter. Das war wieder mal ein Tanz auf dem Drahtseil-gab man zu wenig Flüssigkeit, würde der Kreislauf zusammenbrechen, gab man aber zu viel, würde der Patient sozusagen innerlich ersaufen-es war also ein schwieriges Flüssigkeitsmanagement.


    „Der Unterschenkel ist oberhalb der alten Osteosynthese am Wadenbein glatt durchgebrochen, allerdings besteht da die Gefahr von schweren Gefäßschäden, das heisst wir müssen das zeitnah, also heute noch, operieren. Dabei nehmen wir das alte Metall komplett raus und verplatten und nageln das Schien- und Wadenbein, was uns allerdings aktuell Sorgen macht, ist die dafür notwendige Anästhesie, aber dazu kommen wir später noch.“ fuhr der Arzt fort. „Der Urologe möchte sie jetzt sofort noch eingehend untersuchen, damit man sieht, ob da auch was gemacht werden muss, aber jetzt kommen wir zu ihren Blutwerten: In Anbetracht ihrer Jugend und ihrer körperlichen Fitness haben wir uns jetzt entschlossen, ihnen momentan keine Blutkonserven zukommen zu lassen, weil man inzwischen weiss, dass die das Immunsystem ganz schön durcheinander bringen können. Natürlich-wenn der Hb-Wert noch weiter abfällt, wird uns nichts anderes übrig bleiben und eigentlich haben sie die magische Grenze von sechs, die bei jungen Patienten gilt, mit 5,8mg/dl bereits unterschritten und wären ein Kandidat für eine Bluttransfusion. Allerdings können sie das momentan ganz gut kompensieren, bei dem nötigen Eingriff ist primär nicht mit größeren Blutverlusten zu rechnen, weil das in Blutleere operiert wird und wenn jetzt der Urologe nicht noch mit einer Hiobsbotschaft kommt, geben wir ihnen EPO, das sie wahrscheinlich als Blutdopingmittel aus der Presse kennen-beliebt vor allem bei Radrennfahrern und anderen Ausdauersportlern. Es hat aber primär die Wirkung, die Stammzellen im Knochenmark zu erhöhter Aktivität anzuregen, so dass sehr viel schneller als sonst neue rote Blutkörperchen gebildet werden und wir so die Anämie ohne Transfusion behandeln können-wir haben da sehr gute Erfahrungen damit!“ pries der Arzt die in ihrer Klinik, die dazu auch an einer Studie teilnahm, übliche Therapie an und Ben willigte ein. „Sie bekommen das im Genlabor hergestellte Erythropoetin einmalig von uns gespritzt und dann hoffen wir, dass sie sich schnell wieder erholen!“ sagte der Arzt und Ben nickte müde.
    „Nachdem bei der Lungenproblematik eine Intubationsnarkose, vor allem auch mit Narkosegasen nicht angebracht ist, würde ich eine Spinalanästhesie für die Knochenoperation vorschlagen, sie wären da zwar bei Bewusstsein, aber es wäre schonender für ihre Lunge!“ riet nun der Arzt noch und Ben blickte hilfesuchend zu Semir. Gerade prasselten so viele Informationen auf ihn herein und er wollte doch nur die Augen zumachen und seine Ruhe haben. So plätscherten die weiteren Erklärungen zu Elektrolytverschiebungen, erhöhten Entzündungswerten und andere Informationen an ihm vorbei, ohne dass er das so richtig verstehen konnte-nur als abschließend der Arzt sagte: „Und jetzt geht’s erst einmal noch in die Urologie und dann sehen wir weiter!“ schreckte er hoch, da hatte er schon schlimme Erfahrungen hinter sich und hatte gehofft, dort nie mehr in seinem ganzen Leben hin zu müssen!

  • Als die Schwester nun die Untersuchungsliege packte, um Ben in die Urologie zu bringen, schreckte der hoch, denn soeben hatte Semir seine Hand loslassen müssen. „Ich lasse mich nur untersuchen, wenn mein Freund mitkommt, der hat mir auch in der Höhle beigestanden!“ bestimmte er und nun sahen sich die behandelnden Ärzte seufzend an. „Meinen sie, sie schaffen das?“ fragte der Notaufnahmearzt Semir und der nickte. „Ich war beim letzten Mal, wo er so was ähnliches hatte, in der Urologie auch immer dabei!“ sagte er fest. „Aber da waren sie vermutlich selber nicht Patient?“ fühlte der Mediziner nach und Semir schüttelte den Kopf. „Nun gut, ich werde in der Uro-Endo anrufen und fragen, ob das möglich ist!“ beschloss der Arzt und hatte wenig später den behandelnden Urologen am Apparat. Sie diskutierten ein wenig am Telefon und Ben, der sich wieder verzweifelt an seinem älteren Freund fest hielt, bekräftigte nochmals, dass er nicht mitkommen würde, wenn Semir nicht dabei war und letztendlich stimmte der Urologe leicht verärgert zu. Es würde sowieso die Anästhesieschwester dabei bleiben, während der Narkosearzt sich nun bereits um den nächsten Skiunfall kümmerte, der soeben in den nebenanliegenden Schockraum 2 gebracht worden war.

    Man stöpselte Semir´s Infusion ab, gab ihm einen grünen langen Mantel, den er über das Krankenhaushemd zog und sogar grüne OP-Clogs in seiner Größe hatte man parat. „Wir können sie zwar sozusagen nebenbei unauffällig überwachen, aber sie dürfen in der Endo keine zusätzliche Arbeit machen-sonst bringen wir sie sofort auf die Intensivstation!“ sagte der Arzt und Semir nickte. Als er sich nun erhob, das Kopfende der Liege packte und langsam los lief, war er zwar schon noch wacklig und auch seine Atmung war beschleunigt und mühsam, aber es ging und er würde Ben jetzt einfach nicht alleine lassen!

    So kamen sie wenig später in der Urologie an, wo Ben sich Sekunden später auf dem Untersuchungsstuhl wieder fand und dort mit den Tränen kämpfte, so schlimme Erinnerungen kamen hoch. Er selber konnte vor Angst und Aufregung erst einmal gar nichts sagen und so erklärte nun Semir, dem man ans Kopfende des Untersuchungsstuhls gesetzt hatte, was in der vorherigen Nacht in der Höhle geschehen war und wie der syrische Arzt unter primitivsten Bedingungen ohne Narkose operiert hatte. Ein Anflug von Mitleid flog nun sogar über das Gesicht des primär übellaunigen Urologen-allerdings mehr mit seinem Arztkollegen als mit dem Patienten. „Hatten sie zuvor schon einmal Blasensteine?“ fragte er Ben, aber der schüttelte den Kopf, denn im Moment hatte es ihm die Sprache verschlagen. Die Wirkung des Ketamins hatte ziemlich nachgelassen und er hatte gerade wieder überall Schmerzen, getraute es sich aber nicht zu sagen, so schüchterte ihn die furchteinflößende Umgebung mit dem fensterlosen, grün gekachelten Raum mit den ganzen fremdartigen Geräten ein. Urologie bedeutete für ihn Angst, Scham und Schmerz und so hielt er sich jetzt an Semir wie ein Ertrinkender fest, schloss die Augen und ließ den Dingen ihren Lauf.


    Zunächst musste er die normale körperliche urologische Untersuchung über sich ergehen lassen, aber als der Arzt nun sagte, dass er sich die Blase nun von innen besehen würde, kam ein Entsetzenslaut über seine Lippen. Allerdings konnte man ihn davon überzeugen, dass es notwendig war und als man ihn 20 Minuten später zurück auf die Liege hob, um ihn danach erst mal auf die Intensivstation zu bringen, bevor man ihn am Bein operierte, waren zwar seine Augen gerötet, aber er war-genauso wie Semir-einfach nur froh, dass er es hinter sich hatte.
    Wenig später lagen er und Semir in zwei weichen Betten nebeneinander und auch sein Freund war erst einmal erleichtert, dass sie das gemeinsam durchgestanden hatten. Beide sogen nun über eine spezielle Verneblermaske ein die Schleimhäute beruhigendes Medikament und Sauerstoff ein und so fand sie Sarah vor, als sie wenig später nach einer wahren Odyssee durch das große Krankenhaus endlich vor Ben´s Bett stand und nach seiner immer noch kalten Hand griff.

  • Kaum hatten Sarah und Andrea sich mit den Kindern in der Suite ein wenig eingerichtet, stillte Sarah die kleine Mia-Sophie, die im Auto geschlafen hatte und jetzt fröhlich und ausgeruht war. „Andrea-hast du was dagegen, wenn ich jetzt so schnell ich kann ins Krankenhaus laufe und nach Semir und Ben suche-ich komme beinahe um vor Sorge!“ sagte Sarah und Andrea nickte. „Genau deshalb sind wir doch hergekommen-ich pass schon auf auf die Kids-sag mir nur so bald wie möglich Bescheid was los ist!“ antwortete Andrea und Minuten später war Sarah in ihren teuren modischen Kurzmantel geschlüpft, den ihr Ben geschenkt hatte und hatte das Hotel verlassen.


    Im Krankenhaus angekommen, durchlief sie die reinste Odyssee. Zunächst einmal wusste an der Aufnahme niemand über die beiden neuen Patienten Bescheid. Als sie sich dann zur Notaufnahme durchgefragt hatte, bekam sie zwar die Auskunft, dass die beiden dort behandelt worden waren und jetzt auf die Intensivstation verlegt seien, aber als sie dort läutete, versicherte ihr die Schwester an der Sprechanlage, dass sie keine Patienten namens Jäger und Gerkhan hätten und außerdem Besuche nur während der Besuchszeit von 15.00 Uhr-16.00 Uhr möglich wären und jetzt war es erst 14.45 Uhr. Sarah verdrehte innerlich die Augen-erstens konnte man jemanden der angeblich gar nicht da war auch nicht besuchen, ob innerhalb oder außerhalb der Besuchszeit und dann war es zwar auch bei ihnen ein Ärgernis, wenn fordernde Angehörige zu jeder Tages- und Nachtzeit aufschlugen und die Abläufe störte, aber sie wägten da immer den Einzelfall ab und entschieden zum Wohle des Patienten und außerdem war das bei Neuzugängen üblich, zunächst einmal mit den verständlicherweise besorgten Angehörigen zu sprechen, denen die Diagnosen und geplanten Behandlungen zu erklären und ihnen wenigstens einen kurzen Besuch zu ermöglichen. Als die Sprechanlage verstummt war überlegte sie, ob sie sich nicht einfach Zutritt zur Intensiv verschaffen sollte-als Frau vom Fach wusste sie, wie sie das anstellen musste, aber andererseits wollte sie das Personal dort ja nicht gleich am ersten Tag gegen sich aufbringen und so überlegte sie-angenommen die beiden waren wirklich nicht auf dieser Station, wo sie dann stecken konnten. Vielleicht wurden vorab noch irgendwelche Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt? Nur welche-und wie konnte sie das erfahren?


    Also führte ihr Weg wieder zurück in die Notaufnahme, dort hatte man ja bestätigt, dass die beiden Polizisten hier eingeliefert worden waren, das war immerhin schon was. Nachdem keiner der Ärzte greifbar war und auch niemand ihr sagen konnte, wer Ben und Semir überhaupt behandelt hatte, griff sie sich jeden Pfleger und jede Schwester, derer sie habhaft werden konnte, gab sich als Kollegin zu erkennen und irgendjemand meinte sich dann dunkel erinnern zu können, dass die beiden in die Röntgenabteilung gebracht worden waren. Als Sarah dort vorsprach, war die Dame sehr nett und konnte sich sofort auch an Semir und Ben erinnern. „Ich weiss zwar auch nicht, wo die jetzt stecken, aber ihr Mann war ansprechbar und eigentlich darf ich sowas ja nicht weitergeben, aber im Vertrauen gesagt, der hatte eine Fraktur, die unbedingt bald versorgt werden muss-vielleicht ist er gerade im OP?“ vermutete die und als Sarah nun diese Abteilung verließ, hätte sie sich schreiend die Haare raufen können. Wo steckten die beiden? Sie konnte doch jetzt nicht in die OP-Abteilung eindringen und die Säle durchsuchen-es musste in einer Uniklinik doch möglich sein, den Aufenthaltsort von zwei Patienten heraus zu finden, die konnten sich doch nicht so einfach in Luft auflösen? Als sie auf die Uhr sah, war es inzwischen bereits 15.30 Uhr und so klapperte sie systematisch die Funktionsabteilungen ab und sagte an der Rezeption jeweils ihr Sprüchlein, aber erst in der Uro-Endo wurde sie fündig. „Ja bis vor wenigen Minuten war ein Herr Jäger hier, aber jetzt wurde der auf die Intensiv verlegt!“ gab ihr eine sehr nette Schwester Auskunft und als Sarah jetzt um 15.55 Uhr dort erneut läutete, bekam sie doch tatsächlich die Mitteilung, dass Semir und Ben jetzt hier waren und stand atemlos wenige Sekunden später im Zimmer.

    Sie erschrak bis in Mark als sie Ben käsebleich und immer noch rußgeschwärzt, mit einer Verneblermaske auf dem Gesicht, mühsam atmend im Bett liegen sah. „Schatz wie geht’s dir?“ fragte sie voller Liebe, während sie nach seiner kalten Hand griff. Ihr geübter Blick hatte die Monitore der beiden Patienten und die laufenden Infusionen und Perfusoren gescannt und bei Semir lief nur eine Vollelektrolytlösung durch einen peripheren Zugang und der sah zwar erschöpft, aber gar nicht so schlecht aus, während bei Ben relativ hoch dosiert Noradrealin durch einen mehrlumigen ZVK floss, eine Arterie den Kreislauf überwachte und am Bett hing auch ein Urinbeutel, dessen Inhalt blutig war. Sein linker Arm war mit einem Desaultverband ruhig gestellt-da hatte er also eine Schulterverletzung, wie erst drei Monate vorher, sein rechtes Bein mit dem Metall drin, ruhte mitsamt einer Vakuumschiene in einer Braunschen Schiene, war aber noch nicht versorgt-was auch immer da kaputt war und die Verneblermasken, die die beiden trugen und die rußgeschwärzten Gesichter wiesen darauf hin, dass sie in irgendeinem Feuer gesteckt hatten. Ben öffnete mühsam die Augen und sah sie voller Schmerzen und unendlich müde an. „Sarah-ich kann nicht mehr!“ sagte er nur kurz und dann stand schon eine dickliche ältere Schwester im Raum und sagte: „Die Besuchszeit ist beendet!“

    Sarah weigerte sich zu gehen, verlangte einen Arzt zu sprechen, wollte wenigstens mit Semir reden, der vielleicht mehr wusste und auch mehrfach zu sprechen ansetzte, aber sie wurde unbarmherzig vor die Tür gesetzt und als sie in der Besuchsecke vor der Intensiv dann auf einen Stuhl sank war sie einerseits von Kummer und Sorgen erfüllt, aber andererseits hatte eine Riesenwut von ihr Besitz ergriffen. Verdammt-das konnten die doch nicht machen-sie wollte jetzt einen Arzt sprechen, aber als sie erneut läutete wurde sie kurz abserviert, dass Arztsprechstunde ausschließlich während der Besuchszeit war-sie solle morgen wieder kommen. Sarah zog in Erwägung sich irgendwoher Intensivklamotten oder Kleidung des Reinigungsdienstes, meinetwegen auch einen Arztkittel zu besorgen und da einfach rein zu marschieren, aber da öffnete sich gerade die Tür und Ben wurde heraus gefahren. „Was ist mit ihm und wohin bringen sie meinen Mann?“ fragte sie, sprang auf und lief neben dem Bett her, aber der junge Assistenzarzt, der den Transport begleitete sagte zwar: „In den OP!“ aber dann verstummte er, denn der Drachen von Schwester, der das Bett an der anderen Seite schob, hatte ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen. Assistenzärzte im ersten Jahr hatten an Angehörige keine Auskünfte zu erteilen-das machte bei ihnen der Oberarzt persönlich aber eben ausschließlich während der Arztsprechstunde. Die Patienten waren hier gut versorgt, Angehörige störten da nur, diese Tussi in dem teuren Mantel, die behauptete sie wäre eine Kollegin, sollte wie alle anderen auch, morgen wiederkommen, da würde sie Auskunft kriegen und als nun der Aufzug hielt und der Arzt und die Schwester da mit Ben hinein fuhren, drängte die Schwester Sarah einfach ab, die nun fassungslos draußen stehen blieb. Ihr blieb jetzt nur noch eines, nämlich Ben nicht zu beunruhigen, dessen schmerzerfüllter Blick von einem zum anderen gewandert war und der die Spannungen sehr wohl mitbekommen hatte. „Alles Gute Schatz-ich liebe dich!“ rief sie noch in den Aufzug, während die Türen sich schlossen und dann wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen, so nahm sie die ganze Situation mit. Zugleich begann aber auch ihr Busen zu spannen und erinnerte sie daran, dass Mia-Sophie vielleicht schon wieder Hunger haben könnte und das unfair Andrea gegenüber war, die mit einem vielleicht vor Hunger brüllenden Baby und noch drei weiteren Kindern, darunter dem lebhaften Tim, alleine in ihrem Quartier war und so machte sie sich niedergeschlagen auf den Weg zurück und während sie dann ihre Kleine stillte, die tatsächlich gerade zu weinen begonnen hatte, erzählte sie Andrea von ihren Erlebnissen und die sah sie fassungslos an.

  • Im Anschluss ging Andrea ins Krankenhaus-obwohl sie fast nicht glauben konnte, was Sarah erzählt hatte und zunächst dachte, die hätte vielleicht etwas Falsches gesagt oder getan, was ihren Kollegen aus Innsbruck sauer aufgestoßen wäre, aber sie machte die selben Erfahrungen. Von der Pforte wurde sie zur Intensiv geschickt, aber auch sie wurde durch die Rufanlage kurz abgefertigt, dass sie morgen zur Besuchszeit kommen solle und da auch mit einem Arzt sprechen könne. „Richten sie meinem Mann dann bitte wenigstens liebe Grüße und gute Besserung aus-ist er denn überhaupt schwer verletzt?“ versuchte Andrea noch etwas zu erfahren, aber die Rufanlage war schon verstummt.
    Der ausgebrannte ältere Intensivpfleger, der den Türruf bearbeitet hatte, ging wieder an seine Arbeit, allerdings richtete er tatsächlich im Vorbeigehen Semir den Gruß aus. Der starrte die ganze Zeit voller Sorge auf den leeren Bettplatz neben sich und fragte dann: „Kann meine Frau nicht wenigstens kurz herein kommen?“ aber der Pfleger schüttelte den Kopf. „Wir haben hier sehr strenge Vorschriften-außerhalb der Besuchszeit dürfen Angehörige nur herein, wenn wir sie anrufen und der Patient im Sterben liegt-wir sind eh personell total unterbesetzt und die Angehörigen stören die Abläufe. Also seien sie froh, dass sie gerade keinen Besuch kriegen-das bedeutet, dass sie reelle Chancen haben zu überleben!“ sagte er mit einem Anflug von Humor und war auch schon wieder verschwunden.


    Semir seufzte auf und versuchte sich irgendwie abzulenken, um nicht die ganze Zeit an Ben zu denken, der schreckliche Angst gehabt hatte, als er in den OP gebracht worden war. Semir hatte versucht zu fragen, ob er ihn dorthin nicht begleiten dürfe, aber der vernichtende Blick der Schwester hatte ihm gereicht die gesagt hatte: „Jetzt schlägts aber dreizehn-so ein OP ist nicht für Publikumsverkehr geeignet!“ und dann Ben´s Bett gepackt, dem noch ein grünes Mützchen übergezogen hatte und gemeinsam mit einem jungen, etwas eingeschüchterten Assistenzarzt los gefahren war. Der junge Arzt hatte vorher bei ihnen beiden noch kurz die Aufnahmeuntersuchung gemacht, hatte aber auch nicht viel gesprochen und Ben nur kurz die Einverständniserklärung für die Spinalanästhesie unterschreiben lassen. Man konnte an seinem Dialekt hören, dass er aus Deutschland kam-ach ja-so konnte man mit einem schlechten Notenschnitt im Abitur doch ohne Wartezeit Medizin studieren, war Semir da eingefallen. Allerdings waren das sicher nicht unbedingt die schlechteren Ärzte, die eben den Numerus Clausus nicht erreichten-der hatte ja mit praktischer Eignung überhaupt nichts zu tun. Allerdings hatten auf dieser Station eindeutig die alten Hasen-ob von ärztlicher, als auch von pflegerischer Seite- das Sagen und es herrschte ein völlig anderer Umgangston als in der Kölner Uniklinik, oder auch im Marienkrankenhaus, wo sie sonst meist behandelt wurden. Semir wollte den Medizinern nicht absprechen, dass sie wussten was sie taten, aber die menschliche Zuwendung fehlte hier einfach, er kam sich eher wie ein Werkstück vor, das man eben reparierte, ohne viel Erklärungen und Brimborium. Semir wäre sich sicher gewesen, dass Sarah ihren Ben vor dem OP noch fürsorglich gewaschen hätte-der lag jetzt seit der vorigen Nacht in seiner eigenen Soße, alle Körperteile die dem Feuer ausgesetzt gewesen waren, waren immer noch rußgeschwärzt, auch bei ihm und er hätte sich liebend gerne wenigstens die Hände und das Gesicht gewaschen, aber da war nicht daran zu denken-alle waren hier sehr gestresst und zeigten das auch!


    Ben war inzwischen im OP an die Anästhesieschwester übergeben worden. Die und auch der Narkosearzt waren hingegen sehr nett und kümmerten sich freundlich um ihn. Er war so überfordert und schmerzgeplagt, es hatte ihn sehr durcheinander gebracht, als man Sarah regelrecht von seiner Seite gerissen hatte, dabei hätte er sie jetzt so dringend gebraucht, aber der Drachen-wie Ben im Geiste die für ihn zuständige Schwester nannte, aber einen Namen hatte die ihm eh nicht genannt und er hatte auch keine Lust das Namensschild zu entziffern- hatte ihre Aversion gegen sie nicht verbergen können. Klar-seine Sarah sah einfach gut aus und trotz allem Stress und den anstrengenden Kindern, obwohl sie stillte und sicher die letzte Nacht kaum geschlafen hatte, hatte sie ausgesehen wie aus dem Ei gepellt und das Ganze ohne viel Schminke. Der neue Mantel stand ihr auch extrem gut und er hatte ihr den einfach kaufen müssen, obwohl der ein Vermögen gekostet hatte, allerdings sah man dem das an, dass das ein Designerstück war und vielleicht war es das, was die Schwester so abstieß. Aber vielleicht hatte das auch gar nichts mit ihnen persönlich zu tun und das war einfach so eine Bissgurke, er konnte es nicht einschätzen!


    Jetzt allerdings wurde es ernst und als er von der Schleuse auf den OP-Tisch umgelagert und dann in die Einleitung gefahren wurde, ergriff ihn die blanke Panik und seine Herzfrequenz schoss in die Höhe. Die Schwester, die den OP-Tisch und die daran angeclickten Perfusoren schob, sagte tröstend: „Herr Jäger-das wird halb so schlimm-sie werden von der Operation nichts spüren, es gibt jetzt nur einen Pieks in den Rücken und das wars!“ versuchte sie ihn zu beruhigen, aber trotzdem war Ben mega aufgeregt. Auf einem kleinen Tischchen war schon alles für die Betäubung vorbereitet und jetzt drehte man ihn auf die rechte Seite, denn auf der verletzten Schulter zu liegen war faktisch unmöglich. Die Anästhesieschwester und auch der Arzt hatten in der Schleuse schon missbilligend bemerkt, dass ihr Patient alles andere als sauber war, aber zum Intensivpersonal deswegen was zu sagen war sowieso sinnlos-die waren heillos überfordert, unterbesetzt und genervt, das war im ganzen Haus bekannt und so nahm die Schwester jetzt wortlos, als sie gemeinsam mit dem Narkosearzt, der sofort mit anpackte und ihren Patienten zur Seite gedreht hatte, mehrere Einmalwaschlappen mit Flüssigseife und wusch sorgfältig seinen Rücken und Po, wo sich Blut und Schweiss vermischt hatten, was Ben zusammenzucken ließ, sobald sie nur in die tieferen Regionen kam. „Das tut sehr weh, ja?“ fragte sie mitleidig und Ben nickte unter Tränen. „Ich bin ganz vorsichtig und die Betäubung wirkt nachher auch in diesem Bereich, das wird dann bald besser!“ erklärte sie und Ben fühlte sich trotz allem getröstet.


    Der Arzt hatte sich inzwischen die Hände desinfiziert und ließ sich jetzt einen sterilen Kittel und Handschuhe anreichen, dann öffnete die Schwester noch das Abdeckset und die benötigte Spinalnadel. Man zog ein spezielles Lokalanästhetikum auf und dazu ein bestimmtes Opiat, das man im Spinalkanal anwenden durfte. In eine andere Spritze mit einer feinen Nadel kam das Lokalanästhetikum für die Haut. Als alles vorbereitet, abgestrichen und abgedeckt war, trat die Schwester, die die Infusion jetzt sehr schnell gestellt hatte, vor ihn und griff ihm unter Knie und Nacken, wobei sie seinen Kopf nach vorne drückte. „Machen sie jetzt einen schönen Katzenbuckel, dann haben sie es bald überstanden!“ ermunterte sie ihn und kaum hatte sie das gesagt, fühlte Ben schon die tastenden behandschuhten Finger des Arztes an seiner Lendenwirbelsäule zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel. Er hielt momentan die Luft an, als es piekte, aber der Arzt setzte schnell eine Lokale an der Haut und hatte mit der Spinalnadel gleich darauf routiniert aufs erste Mal getroffen und als die klare Rückenmarksflüssigkeit aus der Nadel tropfte, setzte er die Spritze mit dem Gemisch aus Anästhetikum und Opiat auf und injizierte da eine genau abgemessene Menge davon langsam in den Spinalkanal. Dann zog er die Nadel heraus, klebte ein Pflaster darüber und jetzt drehte man Ben wieder auf den Rücken, das Kopfteil des OP-Tisches leicht erhöht und wartete auf das Einsetzen der Betäubung. „Sie werden jetzt erst ein starkes Wärmegefühl spüren und dann wird in etwa fünf bis zehn Minuten von den Füßen beginnend die ganze untere Körperhälfte taub!“ erklärte er und streckte nun den Kopf durch die Schiebetür in den Saal, aus dem man schon Instrumente klappern hörte, was Ben stärkstens beunruhigte. Und was war, wenn die Betäubung nicht wirkte? Er würde eine nochmalige Operation unter Schmerzen nicht aushalten-das in der Höhle war der pure Horror gewesen, aber nun bemerkte er plötzlich, wie seine Beine bereits schwer wurden und er immer weniger spürte, bis er schließlich von der Hüfte abwärts wie gelähmt war. Der Narkosearzt testete nun mit einer Nadel an den Beinen, ob Ben noch irgendwas wahrnahm, aber die Spinale saß. „Wir können anfangen!“ sagte er und schon wurde der Tisch in den Saal gerollt.

  • Ben sah sich um. Er war ja schon mehrfach in einem Krankenhaus operiert worden, aber da hatte er meistens entweder eine Narkose gehabt, oder war von irgendwelchen Betäubungsmitteln doch ein wenig müde und gedämpft gewesen. Jetzt hingegen war er hellwach, bekam alles mit, sah die grün vermummten Menschen, die metallenen, klappernden, glänzenden Instrumente, die grünen Tücher, seine Röntgenbilder auf dem großen Bildschirm an der Wand, mehrere fremdartige Geräte und hatte ehrlich gesagt ziemlich Schiss. Irgendwie war das schon viel besser, wenn man bei ner OP schlafen durfte und wenn man aufwachte war alles vorbei, aber die Erklärung des Arztes, dass eine Narkose für seine durch den Rauch geschädigte Lunge nicht gut wäre, hatte ihn überzeugt. Nun ja-inzwischen glaubte er den Ärzten wenigstens, dass er nichts spüren würde, denn nun war wirklich seine untere Körperhälfte wie ein Stück Holz und er konnte nichts mehr bewegen und spürte nur noch ganz entfernt Druck. So musste sich ein Querschnittgelähmter fühlen!


    Nachdem der Tisch in der Mitte des Saales auf dem steuerbaren Fuß fest arretiert war, clipste die Anästhesieschwester die Überwachungselektroden um, denn während der OP würde er trotz alledem mit dem Narkosegerät überwacht werden, das auch ein selbstständiges Protokoll mitschreiben würde, das nach der OP zu Dokumentationszwecken ausgedruckt wurde und ans Anästhesieprotokoll geheftet würde. Man gab ihm wieder eine Sauerstoffsonde in die Nase, denn ohne Sauerstoff waren seine Sättigungen nicht besonders gut. Das Noradrenalin floss in der selben Dosierung gleichmäßig in ihn hinein, die Infusion, die man inzwischen schon gegen die nächste ausgetauscht hatte, tropfte zügig und nun sah Ben zu, wie man ihm an den Oberschenkel des linken Beins eine Erdungselektrode klebte und dann zwei Mann anfassten, um um den Oberschenkel des kaputten rechten Beins eine breite Manschette zu legen und auch gleich die Vakuumschiene zu entfernen. Der OP-Pfleger rasierte nun noch das gebrochene Bein, wusch es ab und dann wurde die Manschette aufgepumpt, denn die OP würde in Blutleere stattfinden. Ben merkte nur den Druck, als sich die Manschette auf 300mm/Hg aufpumpte und dann wurde das Bein vom Pfleger gehalten und einer der Operateure strich es dreimal mit grell orangem Desinfektionsmittel vom Knie bis zu den Zehen ab, dann wurde es auf einem sterilen Tuch abgelegt und der Fuß in sterile Einmaltücher gehüllt und das Stück ab Mitte des Unterschenkels ebenfalls. Dann kam noch ein großes Steriltuch darüber und während sich nun die beiden Unfallchirurgen einander gegenüber aufstellten und die OP-Lampen mit sterilen Handgriffen justierten, war Ben mega erleichtert, denn jetzt hatte man um den sogenannten Narkosebügel, der seitlich am Tisch befestigt war, ein großes, ebenfalls steriles Tuch gebreitet, das sozusagen wie eine grüne Wand den sterilen OP-Bereich und den Bereich für die Anästhesie am Oberkörper trennte. Er hätte sonst ab sofort die Augen fest zugekniffen, denn einen Logenplatz bei der eigenen Operation einzunehmen, dazu taugten seine Nerven nicht. So aber konnte er zwar hören was gesprochen wurde und die Geräusche wahrnehmen, aber oberhalb des Bügels kümmerten sich der Narkosearzt, der auf seinem bequemen Stuhl Platz genommen hatte und die Narkoseschwester um ihn.


    Der Operateur ließ sich ein Skalpell anreichen und anhand der Röntgenbilder und der alten Narben, machte er zunächst einen Schnitt, ließ sich dann einen passenden Schraubenzieher geben und begann damit, zunächst die alten Platten zu entfernen. Nachdem die ganz schön festgewachsen waren, war das ein mühsames Unterfangen und man zerrte, zog, klopfte und riss ordentlich an Ben umeinander, dem es dabei ganz anders wurde. Er wartete immer darauf, dass es doch noch weh tun würde, aber so wie es aussah, hatte man ihm nicht zu viel versprochen-er hatte keine Schmerzen! Es klang wie im Hobbykeller, aber Ben musste sich sehr anstrengen, dass er an etwas anderes dachte, damit ihm nicht schlecht wurde. Dann allerdings hatte er plötzlich kein Ohr mehr für die Geräusche, obwohl inzwischen Bohrmaschinen liefen und das neue Metall, das die alte und die neue Bruchstelle stabilisieren sollte, eingepasst wurde, denn plötzlich bekam er ganz schlecht Luft. Die Sättigung sank und Ben begann mühsam zu atmen und hatte plötzlich fürchterliche Angst zu ersticken.


    Der junge spielsüchtige Pfleger sah in seiner Pause auf sein Handy. Er hatte eine Whats- App-Nachricht darauf. „Kümmere dich um Ben Jäger, finde heraus, was ihm fehlt und wenn er das Krankenhaus nicht lebend verlässt, bist du um 25 000 € reicher!“ stand da. Der Absender war der Mann, der den gut organisierten Schlepperring leitete. Karsten hatte seine Ausbildung vor zwei Jahren beendet und arbeitete jetzt in der Chirurgie. Durch seine Spielsucht war er immer in finanziellen Nöten und hatte so immer mal kranke Flüchtlinge gegen dessen Bezahlung mit geklauten Medikamenten aus dem Krankenhaus behandelt. Das funktionierte leichter als gedacht-er nahm die Medikamente nicht nur aus dem Schrank der eigenen Station, sondern stellte sich sehr geschickt an, indem er einfach auf allen möglichen Nachbarstationen vorsprach und dort-natürlich in Dienstkleidung- Medikamente, meist Antibiotika angeblich auslieh, weil sie auf seiner Heimatstation ausgegangen seien. Man gab ihm die und dann war die Sache erledigt, niemand dachte mehr daran. Bisher hatte er es vermieden mit Opiaten zu dealen, denn da war die Gefahr aufzufliegen viel zu groß-die wurden streng kontrolliert! Weil er während seiner Ausbildung ja auf vielen Stationen eingesetzt gewesen war, kannte er sich ziemlich überall aus, wusste um die Abläufe und konnte so das System unterlaufen. Bisher hatte sich seine Bezahlung immer so um die hundert oder zweihundert Euro bewegt, aber jeder Cent war ihm willkommen, denn inzwischen standen die Geldeintreiber der Spielsalons schon immer häufiger vor seiner Tür. Mit 25 000 € konnte er die ein für allemal bezahlen-wobei, er hatte da noch eine viel bessere Idee-da war am kommenden Wochenende ein illegales Pokerturnier-da würde er mit seinem Einsatz starten und gewinnen und seinen Gewinn vervielfachen! Wenn er es geschickt anstellte, konnte er die nächsten Jahre gut davon leben und deshalb stand er gleich nach seiner Pause am PC und suchte diesen Ben Jäger. Ah-der lag auf der Intensivstation, da musste er sich jetzt etwas einfallen lassen, um an den ran zu kommen!


    Semir dachte intensiv an Ben. Er selber merkte, dass er immer leichter Luft bekam und nach der Inhalation musste er auch deutlich weniger husten. Vermutlich würde er am nächsten Tag entlassen werden, aber was geschah dann mit seinem Freund? Ob der die Operation jetzt wirklich so völlig wach erleben musste, oder würden die ihm etwas geben, dass er ein wenig ruhiger wurde? Semir hatte den Eindruck gehabt, dass Ben die beiden furchtbar schmerzhaften Eingriffe in der Höhle sehr zugesetzt hatten, er würde es nicht nochmal aushalten, wenn man ihm weh tat. Hoffentlich war man im OP freundlicher zu ihm, als hier auf der Station. Mann jetzt wusste er es erst richtig zu schätzen, wie gut sie bisher immer in den Kölner Kliniken aufgehoben waren! So drehten sich seine Gedanken unentwegt um seinen Freund und er sah gar nicht, wie der junge Pfleger wenig später in das Zimmer spähte. Verdammter Mist-der Vogel war ausgeflogen, aber beiläufig fragte Karsten das Intensivpersonal ein wenig aus und es fiel gar nicht auf, denn er war ein hübscher junger Mann mit angenehmen Umgangsformen, beliebt bei Patienten und Kollegen-niemand hätte sich vorstellen können, dass er ein regelrechtes Doppelleben führte. „Mensch Karsten-wir haben so wenig Personal-kannst du dich nicht aufraffen die Fachweiterbildung zu machen und bei uns auf Intensiv zu arbeiten?“ fragte der ältere Pfleger, der schon wieder im Laufschritt unterwegs war. „Ich werde es mir überlegen!“ rief Karsten fröhlich und nahm das eingeschweisste Instrument, das er angeblich gefunden hatte und gedacht habe, es gehöre der Intensiv, wieder mit.
    Gut-das hatte er heraus gefunden: Sein Opfer war gerade im OP, es war nicht intubiert und hatte einen wachen Mitpatienten. Heute würde da nichts mehr gehen, aber vielleicht morgen? Er würde dran bleiben!

  • „Herr Jäger-was ist los?“ drang eine fragende Stimme in sein Ohr und sowohl der Anästhesist, als auch die Narkoseschwester hatten sich besorgt über ihn gebeugt. Ben rang verzweifelt nach Luft, die Sättigung war in besorgniserregende Tiefen abgefallen und mit einem Schlag hatte er Angst, auf der Stelle zu sterben. Die beiden Unfallchirurgen unterbrachen für einen Moment ihre Tätigkeit. „Können wir weiter machen, oder sollen wir euch helfen!“ fragten sie, aber der Anästhesist winkte ab. Eilig hatte man die Sonde in Ben´s Nase gegen eine Atemmaske ausgetauscht und den Sauerstoff auf 15 l hoch gedreht. Ein wenig besserte sich daraufhin die Sättigung und man hatte Ben´s Oberkörper noch ein bisschen weiter nach oben gefahren. „Ist die Spinale aufgestiegen?“ wollte einer der Chirurgen wissen, denn das kam zwar selten, aber doch immer mal wieder vor. Man musste dann den Patienten meist intubieren und unter leichter Sedierung ein paar Stunden beatmen, bis die Lähmung der Atemmuskulatur nachließ, allerdings wäre der Zeitpunkt ein wenig merkwürdig gewesen, denn das Stechen der Spinalen lag nun doch schon mehr als eine halbe Stunde zurück und meistens bemerkte man diese Komplikation schon sehr viel eher. Außerdem war das Medikament genau das richtige gewesen-eines das nach unten sackte und normalerweise rein physikalisch gar nicht aufsteigen konnte. Der Patient war die ganze Zeit mit leicht erhöhtem Oberkörper gelagert gewesen-eigentlich konnte gar kein Fehler vorliegen!


    Der Anästhesist ließ in Kürze die Diagnosen, die er von dem Patienten hatte, im Hinterkopf Revue passieren. Gut eine Schocklunge wäre möglich, chronische Lungenerkrankungen waren nicht bekannt, das hatte man präoperativ erfragt, blieb noch eine Komplikation infolge der Rauchgasvergiftung und als er sein Stethoskop zur Hand nahm und Ben´s Brustkorb abhörte, der sich mühsam mit jedem Atemzug hob und senkte und die ganze Atemhilfsmuskulatur dazu nahm, kristallisierte sich die Diagnose heraus, vor allem als Ben nun auch noch hustete. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu husten und aus seinem Mund kam nun auch eine Menge leicht blutiger Schaum-es war ein Lungenödem! Infolge der zügig laufenden Infusion und weil Ben´s Organismus auch ziemlich am Ende war, wegen des Blutverlusts zu wenig Eiweiß in ihm war, das ein Wasserbindungsvermögen aufwies und auch wegen der vorausgegangenen Strapazen, hatte sich die Flüssigkeit in der Lunge angesammelt und konnte aktuell nicht oder nur schlecht abtransportiert werden. „Sofort die Infusion stoppen und bitte 40mg Furosemid!“ ordnete der Arzt an und fuhr Ben´s Oberkörper nochmals ein bisschen höher. Nachdem das ausschwemmende Medikament noch ein wenig brauchen würde, bis es wirkte, entschloss man sich, ihm zur Beruhigung und damit sein Leidensdruck nachließ, ein wenig Morphium zu geben und so erlebte Ben den Rest seiner OP nicht mehr völlig bei Bewusstsein mit, er merkte nur, wie es allmählich besser wurde mit der Luftnot und man dann auch den Sauerstoff wieder herunter drehen konnte. Der Urinbeutel füllte sich mit nach wie vor leicht blutigem Urin, aber als der erste halbe Liter ausgeschieden war, bekam er wenigstens wieder so einigermaßen Luft.


    Routiniert beendeten die Unfallchirurgen den Eingriff, machten mit dem C-Bogen intraoperativ noch einige Röntgenaufnahmen, um die korrekte Lage der neuen Platten und Schrauben zu kontrollieren und nach Hautnaht und Einlage zweier Redondrainagen öffnete man die Blutleere und wickelte einen straffen Kompressionsverband bis zum Oberschenkel um sein Bein. „Na da haben sie uns aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“ bemerkte der Chirurg als er nun ans Kopfende trat. Der hatte den Eingriff dank einer sehr großen Routine in Rekordzeit durchgeführt. Wenn man als Orthopäde und Unfallchirurg inmitten vieler Skigebiete arbeitete, waren Osteosynthesen das tägliche Brot und als Patient konnte einem eigentlich nichts Besseres passieren, als von so einem Arzt operiert zu werden. „Wenn die Spinale nachlässt werden sie Schmerzen kriegen-ich denke das wird ziemlich weh tun, denn wir haben den Knochen ganz schön bearbeitet-melden sie sich bei der Schwester bevor es richtig los geht, hier werden keine Tapferkeitsmedaillen vergeben!“ sagte er freundlich und schon hatte man Ben aus dem Saal gebracht und die Intensivstation zur Abholung angerufen.


    Semir wandte sich erleichtert um-er hatte gerade ein kleines Nickerchen gemacht-als das Bett seines Freundes wieder herein gefahren wurde. „Und wie geht´s dir? Wars schlimm?“ wollte er wissen, fing sich aber gleich erst einmal einen Anpfiff von der unfreundlichen Schwester ein. „Lassen sie ihn in Ruhe ausschlafen, er ist jetzt sicher noch nicht sehr gesprächig!“ pampte sie Semir an, während sie an Ben herum zog und zerrte, bis der nach ihren Vorstellungen korrekt im Bett lag. Sie tauschte die Sauerstoffmaske wieder gegen eine Brille aus und verließ dann stampfend das Zimmer. Als eine Weile Ruhe eingekehrt war und man vom Flur kein Geräusch mehr vernehmen konnte, sagte Ben leise: „Es hat zwar nicht weh getan, aber ich hatte fürchterliche Angst zu ersticken!“ erklärte er seinem Freund und der hätte jetzt nichts lieber getan, als auf einem Stuhl neben Ben Platz zu nehmen und ruhig seine Hand zu halten-irgendwie hatte er das Gefühl, das wäre jetzt genau das, was der junge Polizist brauchen könnte, aber er getraute sich das Pflegepersonal nicht zu fragen und so sagte er nur weich: „Ich bin da-Ben, sag mir, wenn du Hilfe brauchst!“


    Inzwischen war die Silvesternacht eiskalt und klar über Innsbruck herein gebrochen. Erste Raketen und Knaller stiegen bereits in die Luft, dabei waren es bis Mitternacht noch ein paar Stunden. Sarah hatte nochmals auf der Intensiv angerufen und sogar die Auskunft bekommen, dass Ben´s Operation gut verlaufen war-sie wusste zwar nicht was operiert worden war-sie vermutete das Bein- aber immerhin klang das schon mal wenigstens ein bisschen positiv! Sie gingen im Hotel zum Essen, wo ein wunderbares Silvesterdinner aufgetischt war-wie es in ihrem Skihotel auch gewesen wäre und worauf Ben sich schon tierisch gefreut hatte. Wer hätte sich das träumen lassen, dass der Start ins neue Jahr so voller Sorgen und Ungewissheit ablaufen würde? Aber trotz allen Kummers mussten sowohl Sarah als auch Andrea immer daran denken, dass Knut´s Familie nie mehr mit ihm Silvester feiern würde und so waren sie betroffen und demütig ganz still-immerhin lebten ihre Männer!

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