Swastika

  • Straße - 5:20 Uhr



    Rocky konnte vor sich nur den dunkelgrauen Asphalt, den etwas helleren Bordstein und die Abflussrinne sehen. Er spürte die kalte Waffe in seinem Genick, er hörte sein rasselndes und Semirs heiseres Atmen hinter sich. Die Rollen waren vertauscht, nun sollte er, der stolze Neonazi von einem Türken erniedrigt werden. Und Rocky fühlte sich verdammt unwohl in dieser Rolle, denn er konnte den Polizisten hinter sich nicht einschätzen. War der psychische Schaden so groß, dass Semir nun alle Moral, alle Gesetze über Bord warf und ihn töten würde, wenn er nicht gehorchte. Wollte er ihm nur Angst einjagen? Der Druck der Waffe auf das Genick wurde stärker. "Du weißt nicht, was du da tust.", sagte Rocky halb drohend, halb flehend. "Ich weiß verdammt nochmal genau was ich tue!", gab ihm Semir nur mit Hass in der Stimme zur Antwort.
    Rock spürte, wie Semir die Waffe fester drückte. Es kam ihm vor, als würde er sich nicht freiwillig langsam nach vorne beugen, das Gesicht näher an den Bordstein ran, bis die Lippen den kalten rauen Asphalt berührten. "Beiß rein!"
    hörte er erneut und sein Herz schlug schneller. Verdammt, der Bulle war wahnsinnig. Der würde sich durch nichts mehr stoppen lassen. "Weißt du, wie sich das anfühlt? Wenn man den Schädel zertreten bekommt? Weißt du das??", rief Semir, als er sah dass Rocky tatsächlich die Lippen um den Bordstein legte, und Semir selbst sich aufrichtete, um ihm den Fuß an den Hinterkopf zu setzen. Ein leises Geräusch kam aus Rockys Mund, als der Druck auf die Zähne stärker wurde. Es war kein Flehen, kein Jammern, eher nur ein schwacher Widerstand.


    Ein leises Klicken klang unheilvoll, und Semir ließ die letzte Partrone in die Kammer gleiten. Es war kein dominierendes Gefühl, den Kerl am Rand des Bordsteins knien zu sein, es war kein befreiendes Gefühl, ihm den Fuß an den
    Hinterkopf zu setzen, und es war kein gutes Gefühl zu hören, wie er sich dagegen sträubte aber Angst hatte, sich zu bewegen. Nein, nichts von dem fühlte sich gut an für Semir. In seinem Inneren brannte es, der Kopf sagte ihm, dass
    das, was er gerade tat, nicht gut sei. Aber sein Herz war beschädigt, seine Psyche angeknackst von dem Märtyrium, was er heute Nacht erleiden musste. Die Hilflosigkeit, als Rocky dem gedemütigten Sammy den Kopf zertreten hat, die nackte Angst, als er in dieser Gaskammer saß und einen längst vergessenen Horror am eigenen Leibe miterlebt hatte und als er selbst an der Bordsteinkante kniete und bis auf die Knochen von einem Menschen gedemütigt werden sollte, der seine Herkunft, seine Hautfarbe als etwas Besseres sah, als den Rest der Welt.
    In Semir war etwas zerbrochen. So etwas wie Moral, das Glaube an das bisschen Gute. Er hatte so vieles gesehen. Mörder aus Habgier, Mörder aus Eifersucht, Mörder die selbst einer psychischen Krankheit zum Opfer fielen. Aber diese hässliche Fratze der Kriminalität war Semir bisher bei seiner Polizeiarbeit verborgen geblieben. Er wusste von ihrer Existenz, er bekam sie am Rande mit und er las natürlich auch die Zeitung. Doch in einem solch extremen Ausmaße damit konfrontiert zu werden, traf ihn psychisch wie ein Hammerschlag. Langsam ging er in die Hocke, das Knie angewinkelt, den Fuß immer noch auf dem Hinterkopf, und die Waffe nach vorne auf den Hinterkopf gerichtet.


    Von links hörte Semir plötzlich Geräusche, schnell laufende Schuhsohlen auf Asphalt. Er blickte nicht zur Seite, sondern war besessen von dem Mann, der vor ihm im Staub kniete. "Semir! Hör auf damit!", hörte er die laut schreiende
    Stimme seines Partners Ben, doch er war noch etwas von ihm entfernt. Die beiden Polizisten kamen näher an das Schauspiel und verlangsamten ihren Lauf, den beide waren einigermaßen fassungslos. Es war Semirs Blick, Semirs Ausdruck in den Augen, der sie zum Anhalten gezwungen hatte, denn er hatte etwas befremdliches. Etwas eigenartiges. Das war nicht Semir, und deswegen wollten die beiden nicht einfach auf ihn zustürmen, und ihn von dieser Szenarie wegreißen, weil sie nicht wussten, wie er reagierte.
    "Semir... leg die Waffe weg. Wir nehmen den Kerl fest!", sagte Ben und bemühlte sich um eine ruhige Stimme. Er hatte beide Arme ausgestreckt, die Handflächen zum Boden zeigend, eine beschwichtigende Körperhaltung. Beide sahen dass Semirs Hand mit der Waffe zitterte, der erfahrene Polizist wusste selbst, dass er nicht einfach zu treten könnte um den Nazi zu töten... aber einfach den Abzug drücken... das war leicht. Das war nur eine Bewegung, ohne Kraft, ein Knall und es war vorbei.


    Kevin stand regungslos neben Ben und überließ ihm das Wort weil er wusste, dass Ben zu Semir einen engeren Draht hatte. Der Polizist war übel zugerichtet, das Blut, teilweise schon vertrocknet, war ihm aus beiden Nasenlöchern und einem Cut an der Augenbraue gelaufen. Jetzt stand er nur da und keuchte von dem erneuten Lauf durch die Straße. "Semir, bitte! Hör auf. Denk an deine Familie." Semir biss die Zähne zusammen und sah nun erst herüber zu Ben. Der Ausdruck in seinen Augen und die Klangfarbe seiner Stimme ängstigte Ben. "Ja genau! Ich denke an meine Familie! Wenn es stimmt, was dieser Eggestein gesagt hat, dann geht dieses Drechschwein doch im Leben nicht in den Knast." Das Zittern seiner Hand wurde stärker, und seine Stimme heiserer. "Nur so kann ich meine Familie schützen!"
    Ben sah verzweifelt aus, er schluckte, er sah kurz zu Kevin. Wie konnte man seinen Partner nur stoppen, vor sich selbst schützen. "Semir, tu es nicht. Du machst alles kaputt!", sagte er mit emotionaler Stimme. Sie mussten das hier
    beenden, bevor das SEK mitbekam, was hier lief. Sie würden sonst Semir niemals rausboxen können, wenn hier etwas schief lief. "Du bist nicht wie die, Semir.", sagte Kevin dann mit seiner monoton klingenden Stimme, so dass es Semir und Ben eine Gänsehaut bescherte. Was tat Semir da, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Er war kurz davor, einen Menschen hinzurichten... so wie sie ihn hinrichten wollten... so wie sie Sammy hingerichtet haben. Doch der Finger hatte sich um den Abzug gelegt, und der Mechanismus im Kopf, hatte sich ausgelöst, den Finger zu krümmen. Der Schuss war laut und hallte durch die ganze Straße, so dass viele Lichter in den Fenstern angingen.


    Kevin und Ben hatten sich beide erschrocken. Rocky rollte zur Seite, schrie laut vor Schmerzen und hielt sich das rechte Ohr mit beiden Händen. Semir hatte die Waffe zur Seite gezogen, die Mündung von Rocky weg, dass die Kugel, die vom Asphalt abprallte weder ihn, noch Ben oder Kevin treffen konnte. Doch weil er die Waffe direkt neben Rockys Ohr gehalten hatte, drang der Klang tief ins Trommelfell des Nazis ein und verursachte einen stechenden Schmerz, verursachte ein lautes Piepen und ließ alle Umwelttöne um ihn herum verschwimmen.
    Mit einem Mal änderte sich Semirs Gesichtsausdruck. Alle Emotion, aller Hass fiel von ihm ab, als er sich aufrichtete, und auf den, sich windenden Mann blickte. Er ließ die Waffe klackernd auf den Boden fallen, und drehte sich weg.
    Beinahe hätten sie gewonnen... beinahe hätten sie Semir zum Monster gemacht. Kevin machte zwei schnelle Schritte um die Waffe zu nehmen, doch die Sorge war unbegründet. Rocky war ausser Gefecht und bekam nicht mit, dass die Waffe zu Boden gefallen war, und ausserdem war es Semirs letzter Schuss. Der Punk drehte den wimmernden Nazi auf den Bauch und fesselte ihn mit Handschellen, wobei er ihm leise sagte: "Von einem anständigen Führer hätte ich wenigstens nen ordentlichen Selbstmord erwartet." Er war sich nicht sicher, ob der Ohrengepeinigte Nazi den zynischen Spruch überhaupt gehört hatte.


    Semir ging an Ben vorbei, ohne ein Wort zu sagen. "Hey... Semir..." Der Polizist griff zu, und hielt Semir fest. "Was ist da drin passiert?" Sein bester Freund hatte sich zu ihm umgedreht, blickte müde drein auf einmal, die Schultern hängend und sah auf Rocky, der von Kevin auf die Beine gehoben wurde. Es schien, als würden ihm die Worte nicht einfallen wollen. "Ich geh schon mal vor.", sagte Kevin und trieb den gefesselten, wimmernden Anführer der Sturmfront vor sich her, um ihn von Semir wegzubekommen, und Ben alleine mit ihm zu lassen.
    So hatte Ben seinen Partner noch nie erlebtn... so voller Hass, so voller Wut wie gerade eben. Damals, als seine Tochter entführt wurde, und einer der Entführer nicht auspacken wollte, war es ähnlich, aber nicht genauso. Es musste
    irgendetwas schreckliches in der Kneipe passiert sein. "Es kann jetzt nichts mehr passieren... was war da drin los?", fragte er nochmal mit Nachdruck, aber sensibel genug um keinen Druck zu machen. Semir zuckte kurz die Schulter, Semir schüttelte kurz den Kopf... er sagte mit tonloser Stimme: "Ich bin da drin gestorben.", und Ben überfiel ein Schaudern. Dann brach Semir in Tränen aus, er verzog den Mund, das Gesicht und begann zu weinen wie ein kleines Kind. Dabei ließ er sich von einem überforderten Ben sofort in die Arme nehmen, der sofort das Zittern in Semirs Körper spürte, ihn festhielt, ihm Halt gab, aber nicht wusste, was er tun sollte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Semirs Haus - 6:00 Uhr


    Der erfahrene Polizist hatte sich nur langsam beruhigt. Nach seinem emotionalen Zusammenbruch sagte er sich von Ben los, der ohne Worte blieb und seinen besten Freund nur mit Gesten unterstützte. In den Arm nehmen, Hand halten, aufmunterndes Schulterklopfen. Die Sanitäter, die zu dem Einsatz gerufen wurden, waren professionell und stellten keinerlei Fragen, als sie Semirs Durchschuss am Oberarm behandelten, und schon gar nicht als sie seine Wunde am Hals mit einem großen Pflaster bedeckten. Sie konnten sich denken, dass der Polizist nicht mit so einem sichtbaren Symbol irgendwo gesehen werden will. Der älteste der Sanitäter sagte fast väterlich, dass er sich keine Sorgen machen solle, dass man sichtbare Narben heute kosmetisch entfernen lassen kann. Er hoffte, den schweigenden Polizisten damit ein wenig aufmuntern zu können.
    Auch Kevin wurde verarztet, ihm klebte man ein Pflaster über die aufgeplatzte Augenbraue, Ben sah am unversehrtesten aus. Dann setzten sich die drei Polizisten in den Dienstwagen und fuhren in Richtung Köln, in Semirs Wohnsiedlung. Semir saß im hinteren Teil des Wagens und sah einfach nur stumm aus dem Fenster. Er hatte nur einzelne Dinge gesagt, nur auf Fragen des Arztes geantwortet, seit der zu weinen angefangen hatte. Ben sah immer wieder besorgt in den Rückspiegel um den Beamten zu beobachten, und war ebenfalls voll Sorge, wie Semir dieses Abenteuer, diesen Horror, verkraftet hat. Und vor allem fragte er sich: Was hatte er erlebt?


    Andrea war nicht mehr eingeschlafen, seit ihr klar war, dass Semir verschwunden war. Sie lief im Haus umher, möglichst leise, um Ayda und Lilly nicht auf zu wecken. Bei jedem Autogeräusch lief sie ans Fenster in der Hoffnung, dort den silbernen BMW von Semir, oder den Mercedes von Ben zu sehen, aus dem Semir dann ausstieg. Angst hatte sie vor der Vorstellung, dass Ben und Kevin alleine aus dem Mercedes aussteigen würden, und sie schlechte Nachrichten hatten. So auch jetzt... ihr Herz rutschte bis in die Fußsohlen, als der Mercedes vor dem Haus hielt, und erstmal nur von vorne Kevin, der ein Pflaster im Gesicht hatte, und Ben ausstiegen. "Oh nein...", flüsterte die Mutter zweier Kinder und hielt sich zitternd die Hand vor den Mund.
    Erst als Ben die hintere Tür aufmachte, und ein, sichtlich benommener Semir ausstieg, liefen die Tränen bei Andrea. Vor Freude, denn Semir lebte und war wohl nicht schwerer verletzt, auch wenn er ein großes weißes Pflaster am Hals hatte, und der Ärmel der Jacke deutlich aufgeschnitten war, um etwas am Arm zu behandeln. Aber darin hatte sie ja, weiß Gott, genügend Erfahrung. Der Arm war sowas wie Semirs Lieblingsstelle für Schusswunden. Andrea lief, bereits seit Stunden in Alltagskleider angezogen, zur Tür und öffnete diese, noch bevor die drei Polizisten den kompletten Weg zurückgelegt hatten. Sie fiel ihrem Mann um die Arme, und auch er schloß seine Arme fest um seine Frau. Es war die erste schnelle, kraftvolle Bewegung, die ersten emotionalen Reaktionen in Semirs Gesicht, seit er eben zusammengebrochen war. Die Anwesenheit und Nähe seiner Frau gab ihm sofort wieder Kraft.


    Sie hielten sich für einige Sekunden, vielleicht auch eine oder zwei Minuten, ganz innig fest. Kevin und Ben sahen sich kurz unbeteiligt an, und nickten sich gegenseitig zu. "Du... kommst ohne uns klar?", fragte Ben vorsichtig in
    Semirs Richtung, der sich mit müden Augen kurz umdrehte und nickte. "Danke...", sagte er mit ebenso müder Stimme. Danke, dass ihr mich nicht hängen gelassen habt. Danke, dass ihr für mich da seid. Danke, dass ich euch habe. Im Inneren hatte Semir für soviele Sachen den beiden Polizisten danken können, doch momentan fehlte ihm einfach die Kraft dafür. Momentan wollte er einfach in sein Haus, unter die Dusche, diesen gefühlten imaginären Dreck abwaschen und schlafen... am liebsten morgen aufwachen, und sich an nichts mehr erinnern. Doch das Pflaster auf seinem Hals würde ihn noch lange erinnern an das, was geschah.
    Kevin und Ben gingen zusammen zurück zu Bens Dienstwagen und stiegen ein. Ein tiefes Durchatmen, bevor der Polizist mit dem Wuschelkopf den Motor startete und den Wagen zurück auf die Spur brachte. "Ich hab Semir noch nie so niedergeschlagen erlebt.", meinte er nachdenklich. Er kannte Semir natürlich schon viel länger als Kevin, der allerdings nickend zustimmte... er hatte Semir immer als starken Charakter kennengelernt, der zwar angeschlagen war, als seine Tochter entführt wurde, aber diesen Druck in Energie umgewandelt. Jetzt schien der Polizist einfach nur ausgebrannt und müde. "Zeit heilt Wunden.", sagte Kevin leise, ohne zu Ben herüber zu schauen. "Hoffentlich...".


    Semir besah sich im Spiegel... seine Kratzer im Gesicht von dem Sturz auf dem Boden, als er vom Auto fiel... es sah fast normal aus nach einem Einsatz. Aber das weiße Pflaster am Hals war wie ein Brandmal, eine Wunde die aufklaffte, obwohl er sie nicht sah. Er spürte den Kleber der Haftstellen auf seiner Haut, er spürte das Pflaster beim Schlucken und er spürte ein Brennen von der Wunde. Hinter ihm erschien Andrea und legte ihre Arme um den Oberkörper ihres Mannes, den Kopf seitlich auf seinen Nacken. "Ich bin so froh, dass nichts passiert ist.", sagte sie. Sie meinte natürlich "dass du noch lebst, dass du nicht schwer verletzt bist, dass du wieder da bist." Dass "nichts passiert" falsch war, konnte sie an seinen Augen erkennen.
    "Wo... wo warst du denn? Was war denn los?", fragte sie dann doch zaghaft, als sie spürte dass keine der beruhigenden Worte von Semir kamen, dass alles okay sei, dass jetzt nichts mehr passieren würde. Semir hatte sich auf das
    Waschbecken aufgestützt, und betrachtete sich selbst im Spiegel. "Ich... es... es hatte mit den Neo-Nazis zu tun.", sagte er nur mühsam, als müsse er sich jedes Wort erkämpfen. Andrea sah an ihm vorbei in den Spiegel, wo sie sich beide gegenseitig betrachteten, als würden sie ein anderes Pärchen beobachten. Dabei sah Andrea in die Augen ihres Mannes... müde Augen, gebrochene Augen, Augen ohne Willen. Die Frau merkte plötzlich, dass mehr passiert war, als Semir mit kurzen Worten hier sagte.


    "Semir... sag mir bitte, was passiert ist..." Der Polizist biss sich auf die Lippen, sein Blick senkte sich zum Waschbecken. Auf einmal hatte er das Gefühl, das links und rechts von ihm ein Zischgeräusch zu vernehmen war, dass die
    Badezimmertür versperrt war, und er jetzt und hier sterben müsse. "Sie... sie haben mich in eine Gaskammer gesperrt. Sie... sie haben mir das Gefühl gegeben, ein Untermensch zu sein... wie früher." Seine Stimme zitterte und vor seinem inneren Auge kamen Bilder hoch. Eine Mischung schrecklicher Bilder, Bilder von dem kleinen Sammy blutüberströmt am Boden, Bilder von diesem schrecklich klinischen Duschraum, Bilder von KZ-Lagern, die er mal in einer Dokumentation gesehen hatte. Alles vermische sich zu einer dunklen Fratze, und so bekam er den geschockten Ausdruck in Andrea's Augen gar nicht richtig mit.
    Semirs Frau stellte sich nun neben ihn und drehte sich zu ihm. Sie packte seine Arme zärtlich um ihn ebenfalls zu sich zu drehen, damit sie sich gegenüber standen. Andrea schluckte, sie bemühte sich stark zu bleiben und die Tränen zurück zu halten... etwas, was Semir erneut nicht gelang, auch wenn er nicht wieder laut los weinte, sondern ihm nur stumm die Augen feucht wurden. Ihre zitternden Finger berührten das Pflaster, und wollten es langsam abziehen, doch Semirs Hand schloß sich um das dünne Handgelenk seiner Frau. "Bitte... nicht.", sagte er tonlos, doch Andrea nahm langsam und mit aller Vorsicht und Zärtlichkeit seine Hand von ihrem Handgelenk weg. Sie wollte für ihn da sein, sein Halt sein wie es Ben vorhin war. In Semir stieg Scham hoch... nicht, weil er schwach vor seiner Frau war, sondern ob seiner ungeheuerlichen Brandmarkung.


    Langsam mit leisem Geräusch zog Andrea das Pflaster langsam von Semirs Haut. Die roten Linien mit getrocknetem Blut kamen zum Vorschein, immer mehr, immer deutlicher welches Muster, welches Symbol sie ergaben. Die Hand, die das Pflaster letztlich komplett entfernte begann zu zittern, entsetzt trat Andrea einen Schritt zurück. Sie wollte so nicht reagieren, aber es überkam sie... sie verlor alle Stärke ob des Symbols der Swastika auf Semirs Hals, eingeritzt in sein Fleisch. Während der Polizist nur stumm die Augen schloß, schlug seine Frau die Hände vor den Mund, die Augen weit aufgerissen und schüttelte den Kopf vor Grausamkeit und Abscheu vor den Menschen, die ihrem Mann so etwas angetan hatten. Auch sie begann mit einem leisen "Oh mein Gott..." zu weinen an.
    Für einen Moment standen sich die beiden Eheleute gegenüber, Semir gebrochen und schwach, Andrea geschockt und fassungslos, und weinten für sich... bis sie, wie mit einem stummen Signal, sich gemeinsam in die Arme fielen und festhielten. Sie waren beide schwach... und stärkten sich mit dieser Schwäche.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Raststätte - 07:30 Uhr



    Ben und Kevin legten auf dem Weg zur Dienststelle nur einen kleinen Zwischenstopp ein, um sich zu stärken. Bei Schoko-Crossaint, belegtem Brötchen und zwei Tassen starkem Kaffee standen die beiden an einer Autobahnraststätte am Stehtisch. Sie hatten nicht viel gesprochen, sie hatten gegenseitig gemutmaßt, was Semir bei den Neo-Nazis passiert sein könnte, doch sie konnten sich nichts so Schlimmes zusammenreimen, was den erfahrenen Polizisten, der schon so viele unangenehme, brenzlige Situationen überstanden hatte, so aus der Bahn werfen konnte. "Er kommt schon wieder auf die Beine, Ben.", sagte Kevin in seine Kaffeetasse, quasi als Abschluß der Diskussion und erntete ein nachdenkliches Nicken.
    "Was war eigentlich los mit dir? In der Kneipe?" Ben wollte seinen Partner nicht ansehen, er blickte lieber in das schwarze Getränk in der Tasse. Kevin sah ihn an, ohne die Augen zu senken, und wartete auf eine Antwort. "Ich... ich habe in letzter Zeit Probleme...", begann sein Freund langsam, stellte die Tasse ab und änderte den Blick nach vorne, an Kevin vorbei. "Probleme?" "Ja... seit ich in dem alten Krankenhaus angeschossen wurde. Dass das so knapp war, dass ich nur aus purem Glück noch am Leben bin. Ich... ich hab mir da so meine Gedanken gemacht." Ben sprach zu Kevin, wie er immer mit Semir sprach. Offen, geradeaus. Er vertraute dem Mann, denn im Gegensatz zu Kevin hatte er keinen Grund für Misstrauen.



    Bisher war Ben nie mit Problemen zu Kevin gekommen. Nie von sich aus. Als es knapp auf knapp kam, als er einen massiven Anfall von seiner Platzangst erlitt, da öffnete er sich Kevin. Er erzählte. Semir weiß heute immer noch nichts von Bens Klaustrophobie, denn sein junger Partner hatte dicht gehalten. Ben dagegen hatte Kevins Geheimnis damals verraten, was das Vertrauen aus der Sicht von Kevin zerstört hatte. Es muss erst mühsam wieder aufgebaut werden, was bei dem jungen Mann, der sowieso große Probleme hatte, anderen Menschen zu vertrauen, dauern würde. "Davor das mit dem Unfall im Wald... davor auf dem Fabrikgebäude...", sagte er langsam und blickte nun Kevin endlich an, der sich die Bilder ins Gedächtnis zurückrief... auch wenn ihm an die Situation letzten Winter einen Schauer über den Rücken jagte. "Ich hab einfach irgendwie das Gefühl, dass mein Glück langsam aufgebraucht ist."
    Bevor Ben das Risiko einging, und eine emotionale Reaktion auf seine Worte folgen ließ schaute er wieder in seine Kaffeetasse. Kevin unterließ solche Phrasen wie "ich verstehe dich.", und "Ich kann das nachvollziehen." Er nickte einfach nur, er konnte den Gedanken nicht nachvollziehen, weil er solche Gedanken nicht hatte. Schlicht einfach, weil Kevin in den letzten Jahren nicht am Leben hing. Ihm ging es lange Zeit so schlecht, auch während des Polizeidienstes, er hatte (ausser Kalle) Niemanden, so dass es ihm recht egal war, ob er im Dienst sein Leben verlor oder nicht. "Ich habe sogar darüber nachgedacht, auf zu hören.", meinte Ben dann leise in seine Kaffeetasse. "Dann hättest du andere Probleme, glaub mir.", sagte Kevin nun, denn den Gedanken konnte er nachvollziehen. Die Zeit zwischen dem Ausstieg aus der Szene und dem Beginn der Polizei-Ausbildung, war die Schlimmste in seinem Leben.



    Stumm standen sie an dem Stehtisch, schräg zueinander und hingen beide ihren Gedanken nach. Plötzlich zuckte ein Lächeln über Bens Gesicht und er sah Kevin seitlich an. "War gut gestern Abend, oder?", meinte er. Bei dem Versuch, seine Gedanken aufzuhellen war ihm der gestrige Abend eingefallen, als die beiden Musik machten, Lieder spielten, über Kevins alte Texte sinnierten. Der wiederum lächelte ebenfalls und nickte. "Ja, war gut. Können wir öfters machen.", meinte er sofort. Es tat beiden gut, sie vergassen ihre Probleme, Ben seine Ängste, Kevin seine Sehnsucht nach seinem alten Leben, die durch das Treffen mit Annie wieder aufgeflackert war. Doch Annie war für ihn heute Nacht gestorben, und das tat ihm weh.
    "Du, es tut mir immer noch wahnsinnig leid, was ich damals verbockt habe. Wir... ich fand uns so ein gutes Team bei dem Fall, und es hat mir so weh getan, als ich gesehen habe, was danach mit dir passiert ist. Und dann noch die Sache mit Jenny...", sagte Ben, denn er fand gerade, dass sich das Vertrauen zu Kevin langsam wieder aufbaute und sie auf einem guten Weg waren, und obwohl er sich schon einmal bei ihm entschuldigt hatte, fand er dass es ein guter Zeitpunkt war, diese Entschuldigung nochmal zu erneuern. Doch Kevin winkte nur ab: "Es ist okay... ich bin ja auch nicht unbedingt leicht zu handhaben.", meinte er selbstkritisch, und Ben konnte ihm nicht widersprechen. Kevin war für ihn immer noch, wie ein Buch mit sieben Siegel... und hatte man vier Siegel geöffnet, und nahm fürs Fünfte den falschen Schlüssel, schnappten sofort alle vier Siegel wieder zu, und man konnte von vorne anfangen.



    Die beiden Polizisten fuhren in die Dienststelle, wo sie sahen dass die Chefin Besuch von zwei Anzugträgern hatte. "Oh weia...", meinte Kevin leise zu Ben, als sie eintraten. "Was denn?" "Der Typ da mit der Glatze bei der Chefin. Das ist Krüger vom Staatsschutz. Ich kenne den, der hat damals einen Aufstand gemacht, als ich zur Polizei gekommen bin, weil ich noch in irgendeiner Akte aufgetaucht bin, als Mitglied des linksextremen Spektrums." "Dann wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn du dich ganz klein machst." Die beiden redeten und sahen dabei beide in Richtung des Büros der Chefin, doch beim letzten Satz sah Kevin seinen Freund etwas sarkastisch von der Seite an. "Weil ich das auch so gut kann, was?"
    Jenny kam gerade vom Flur, und sah die beiden Männer. "Sag mal, bist du eigentlich wahnsinnig?", fragte sie aufgebracht in Kevins Richtung. Sie hatte leichte Schatten unter den Augen, ein untrügliches Merkmal, dass sie nicht lange geschlafen hatte in dieser Nacht. "Ich bin fast gestorben vor Angst! Warum rufst du mich nicht an, und sagst mir wo du bist?" Sie schwang Ernst in ihrer Stimme mit, und war scheinbar tatsächlich sauer. "Sorry... ich habs vergessen. Ich bin das noch nicht so gewohnt, dass ich mich bei jemandem melden muss...", sagte Kevin, doch es klang eher wie eine halbherzige Ausrede, was Jenny noch wilder machte. In diesem Moment rief die Chefin von der Tür aus die beiden Beamten herein, und Kevin murmelte nochmal ein "Sorry", bevor sie sich beide umdrehten. "Gerettet, was?", flüsterte Ben leicht grinsend. "Abwarten... wir haben uns gerade von den Löwen abgewendet um nun auf den Abgrund zu zu steuern.", meinte er fast schon philosophisch.



    "Meine Herren, das sind Krüger und Schmidt vom Staatsschutz. Die Hauptkommissare Jäger und Peters." Die Männer schüttelten sich die Hände, wobei Krüger etwas süffisant bemerkte: "Aha, Peters. Wo sind denn ihre grünen Haare geblieben?" Kevin lächelte nur ein wenig, eine Mischung aus Überheblichkeit und Arroganz. "Krüger... ich schätze dort, wo ihre restlichen Haare jetzt sind.", spielte er auf das fehlende Kopfhaar des Staatsschutzbeamten an. Ben unterdrückte grunzend ein Lachen, während Anna Engelhardt ebenfalls etwas unterdrückte... nämlich einen Wutanfall. "Wir sind heute Morgen über den SEK-Einsatz in der Kneipe "Germania" informiert worden. Der Einsatz wurde von ihnen angeordnet. Dürfte ich vielleicht erfahren, warum?", fragte Krüger ohne auf Kevins Provokation einzugehen. "Wir waren einer Hetzjagd der Faschos ausgesetzt, die in der Entführung unseres Kollegen gipfelte. Ausserdem wurde ein junger Mann von den Nazis getötet.", sagte Ben mit ruhiger Stimme.
    Nach und nach erzählten sie die Vorkommnisse, und obwohl sie eigentlich mit Entrüstung, Drohung der Suspendierung und weiterem gerechnet hatte, nickten die beiden Beamten der anderen Abteilung nur und machten sich Notizen. "Wir haben nicht gezielt gegen die Sturmfront ermittelt, wir mussten uns wehren.", schloß Ben den Bericht ab. "Und warum haben sie uns nicht informiert?", fragte Krügers Kollege. "Weil sie dann den Fall zwar übernommen hätten, aber wir der Gefahr immer noch ausgesetzt gewesen wären.", antwortete der Kommissar mit den Wuschelhaaren.



    Für einen Moment herrschte Stille im Büro, dann erhob sich Krüger. "Na schön. Ich will nicht sagen, dass ihr uns einen Dienst erwiesen habt. Aber aufgrund ihrer Gefährdung kann ich ihre Vorgehensweise... nachvollziehen." "Wie meinen sie das, dass wir Ihnen keinen Dienst erwiesen haben? Wir haben einen gefährlichen Rechtsradikalen des Mordes und der Freiheitsberaubung überführt.", sagte Ben ein wenig verwirrt, obwohl ihm die Antwort bereits dämmerte. "Falsch. Wir haben einen seiner Kontakte zu noch gefährlicheren Neo-Nazis des Mordes und der Freiheitsberaubung überführt. Und einen Mord vertuscht man eben nicht so einfach, wie das Sprühen eines Hakenkreuzes auf einer Hauswand, nicht wahr?", meinte Kevin mit provokantem Unterton. Krügers Gesicht schien einzufrieren, und er schien den jungen Beamten mit seinen Blicken an die Wand zu nageln. "Es wäre besser für sie alle, wenn sie sich ab jetzt aus der ganzen Sache raushalten."
    Er nickte kurz und wollte sich schon zum Gehen wenden. "Also ist es wahr?", fragte Ben fassungslos, als er sich vorstellte dass vielleicht viele der Kerle in dieser Gruppe nun straffrei ausgingen, während die Chefin ruhig sitzen blieb, weil sie diese Praktiken kannte. Ob man sie guthieß oder nicht, war Nebensache. "Diese Kerle haben meinen Partner seelisch fertig gemacht. Die gehören alle hinter Gitter. Die haben tatenlos mit zugesehen, wie einem jungen Menschen der Schädel eingetreten wurde.", sagte er laut. "Ich habe gesagt, dass für sie hier Endstation ist. Der Mörder wird seine gerechte Strafe erfahren, und gegen den Rest wird ermittelt.", sagte Krüger, während Anna Engelhardt Ben ein Zeichen gab, nicht weiter nach zu haken. Gegen den Staatsschutz kam auch die, bei der Polizei hoch angesehene Chefin nicht an. "Und ich kann Ihnen den Ausgang der Ermittlungen sagen. Sorry, mir ist das zu blöd...", sagte Kevin, der natürlich emotional auch betroffen war davon, dass einige der Typen, die ihn fast umgebracht hätten, den Kopf aus der Schlinge zogen. Sein Vertrauen in seine Arbeit generell stärkte das auch nicht, und plötzlich konnte er Annies Haltung wieder etwas verstehen.



    Gerade als der junge Polizist an der Tür nach draussen war, hörte er Krügers Stimme. "Sie sollten sich lieber gut überlegen, was sie sagen, Peters. Nicht dass ich doch noch ein paar Akten mehr über ihre Zeit in der linken Szene finde. Ich weiß nicht, ob das für ihre Polizei-Zukunft so förderlich ist." Kevin drehte sich langsam zu Krüger um und sah ihn an. Ben hielt die Luft an, den er kannte diesen kalten Gesichtsausdruck von seinem Partner, und er sah die Katastrophe schon kommen. "Wenn das hier der Auftakt zu einer Erpressung sein sollte...", hörten die Männer die scharfe Stimme der Chefin... "dann sollten sie sich jetzt gut überlegen, was sie sagen. Denn auch der Staatsschutz ist nicht unantastbar, und es sind zwei Zeugen im Raum, Krüger."
    Ben, wie Kevin, war stolz. Die Chefin hatte Kevin verteidigt, was ihr in letzter Zeit immer noch schwer fiel, weil sie sich an den Polizisten mit krimineller Vergangenheit noch gewöhnen musste. Krüger und Schmidt verließen danach das Büro, und Kevin bedankte sich bei Frau Engelhardt. "Trotz allem kann ich ihnen nur raten, sich an die Anweisungen zu halten. Ich weiß, wie schwer ihnen das fällt. Aber wenn der Staatsschutz es auf sie abgesehen hat, kann ich nichts mehr für sie tun." Und mit ernster Stimme und Mimik setzte sie hinzu: "Ich meine das wirklich ernst." Da war Ben und Kevin klar, dass es diesmal keine leere Drohung war, doch beiden schmerzte diese Erkenntnis.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Friedhof - 3 Tage später, 14:00 Uhr



    Die Temperaturen waren weiter gefallen, und der späte Herbst zeigte sich winterlich. Der Boden gefror, die Bäume hatten in einem heftigen Sturm in den letzten beiden Tagen allerlei Blätter endgültig abgeschüttelt und die Luft roch nach Schnee. Ein paar Flocken hatten sich an diesem kalten Nachmittag bereits gezeigt und verharrten nun stumm auf der Erde, die auf dem Friedhof an einer Stelle aufgebrochen war. Ein Pastor hatte eine kleine Trauergemeinde, die vom äusserlichen her gar nicht so auf einen Friedhof passen wollte, von der Kirche auf den Friedhof geführt, um Samuel Pensina, kurz Sammy, zu Grabe zu tragen. Die, an diesem Tag, todunglücklichen Eltern, die ihren Sohn zuerst an die Straße und nun endgültig verloren hatten, schritten an den Armen eng umschlungen hinter dem Sarg her. Neben ihnen ging ein junger Mann, Sammys Bruder. Er war das totale Gegenteil von Sammy, hatte trotz seines jungen Alters bereits den Sprung in die oberen Geschäftsetagen geschafft, trug Anzug und Krawatte und sah älter aus als 28 Jahre, die er war.
    Ihnen folgten einige ältere Menschen aus dem Bekanntenkreis der Familie, die den Jungen in Kindheitstagen kannten, und seine Verwandlung teilweise mit Grausen und Kopfschütteln verfolgt hatten. Ärger in der Schule, Ärger mit der Polizei, Streit zu Hause. Ausgerissen, abgestürzt und nun auf der Straße gestorben. Diejenigen, die der Bekanntenkreis insgeheim dafür verantwortlich machten, dass er diesen Absturz zu Lebzeiten hinlegte, ging dahinter. Die bunten Haare der Punks, die hinter der Gemeinschaft hergingen, wirkten an diesem Tage grau und farblos.



    Annie ging als Erste der Gruppe und trug in ihren Händen ein eingerahmtes Foto, das sie und Sammy zusammen zeigte. Ihre Augen waren rötlich, sie hatte wenig geschlafen in den letzten Tagen, weil ihr Kopf nicht wollte, dass sie einschlief. Ihr Kopf wollte, dass sie sich Gedanken machte. Dass sie sich Gedanken machte über Sammy, über Kevin als Mensch, über Kevin als Bullen und über den Polizisten, dem sie nicht geholfen hatte. Doch ein Ergebnis brachte das Denken nicht, ausser dass sie nur im Halbschlaf vor sich hindöste, das Kopfweh sie wahnsinnig machte, und sie sich vor den anderen fast komplett zurückzog. Sie schlief momentan in dem besetzten Haus, wo sie nur einige Leute kannten. Ole hatte sie immer mal besucht und gesagt, dass er in der Gang alles im Griff habe.
    Auch Ole ging mit, direkt hinter Annie. Seine Sicht hatte sich, zumindest was Kevin anging, ein wenig verändert. Der Punk nahm dem Polizisten ab, dass er im Herzen noch etwas für seine alten Freunde, für sein altes Leben übrig hatte, als er die Punks in der Lagerhalle in Schutz nahm. Das hatte er Annie auch erzählt. Er würde zwar deswegen nicht reumütig vor der Polizei werden oder die, in den Augen der Punks, gewaltätige Staatsmacht akzeptieren, aber zumindest Kevin sah er nicht als Polizisten, sondern als ehemaligen Punk, der jetzt einfach einen Beruf hatte, und ein anderes Leben führte. Den Kevin sah sich als das Gleiche... ein Punk mit Polizeimarke. Davon war Ole überzeugt.



    Einige Kränze wurden niedergelegt, nachdem die Totengräber den Sarg langsam in die Grube sinken ließen. Die Rede des Pastors hatte vor allem die Eltern zu Tränen gerührt, und auch einige Mädels der Gang schluchzten. Annie ertrug die Trauer leise und stumm, und nicht nur Ole fand, dass sie sich in den letzten Tagen sehr verändert hatte. Auch blieb sie am Grab stehen, als sich die gesamte Gang langsam zerstreute. "Kommst du nicht mit?", fragte Ole leise, als er der Letzte war, der noch bei Annie stand, doch nur ein stummes Kopfschütteln war ihre Antwort. Der junge Punk akzeptierte ihr lautloses Nein, nickte und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die eiskalte Wange, bevor er den Friedhof verließ. Am Ausgang des Hofes traf er auf Kevin, dessen Cut überm Auge etwas verheilt war. Ein paar der Schneeflocken lag auf seinen zackigen Haaren, und er hatte die Hände in seiner Manteltasche vergraben.
    "Hi. Alles klar?", fragte er Ole und gab dem Mann die Hand. "Geht so. Sammy wurde gerade beerdigt." "Ich weiß, deshalb bin ich hier.", meinte der Polizist und nickte. Ole kratzte sich etwas verlegen am Kopf und sah kurz in die Richtung, von der er gekommen war. "Ich hab Annie erzählt, dass du mich in Schutz genommen hast. Ich hab ihr gesagt, dass du kein übler Kerl bist, nur weil du ein... ein Bulle bist." Kevin lächelte kurz, doch es geriet sarkastisch. "Annie weiß, dass ich kein übler Kerl bin. Aber trotzdem Danke. Die Sache ist vorbei, sie hätte in einer Situation beweisen können, ob sie mich nur als den Typ mag, der ich mal war oder als den Typ mag, der ich jetzt bin. Sie hat sich entschieden." Dabei zuckte er kurz mit den Schultern. Ole verstand nicht alles, was Kevin sagte, doch er nickte nur, denn er kannte Annies radikale Ansichten. Sie verabschiedeten sich und Kevin ging in Richtung des frischen Grabes.



    Er konnte schon aus der Entfernung die roten Haare seiner Ex-Freundin erkennen. Seine Hände vergruben sich noch tiefer in die Manteltaschen, als könne er sich selbst so kleiner machen. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung nach so langer Zeit vor einigen Tagen, er erinnerte sich als sie beide in Erinnerung schwelgten und sie ihm gestand, dass er letztendlich der Richtige gewesen wäre. Er hatte sich dabei erwischt, wie er diesen Gedanken schön fand und darüber nachdachte, ob das was er jetzt "sein Leben" nannte wirklich das Leben war, was er wollte. Und er erinnerte sich an seine hilflose Wut in der Lagerhalle, als sie ihn nur als eine Berufsbezeichnung ansah, und nicht als Menschen. Und als sie ihm die Hilfe verweigerte, um Semir zu retten.
    Stumm, ohne ein Wort des Grußes zu sagen, stellte er sich mit nun vor ihm vorschränkten Händen vor das Grab und sah auf die Kränze, die dort abgelegt worden sind. Er würdigte Annie keines Blickes, doch natürlich hatte sie den Polizisten sofort kommen gesehen, und spürte quasi seine Anwesenheit neben sich. Kevin hätte wohl 2 Minuten da stehen können, und wieder gehen können. Er hätte dann kein Wort mit Annie gewechselt und hätte sie mit Ignoranz bestraft. Doch das wollte er nicht. Er wollte, dass sie mit ihm redete, und er konnte nicht mal sagen warum. Annie tat ihm den Gefallen nach einigen Minuten mehr, als sie ihn von der Seite ansah. "Es tut mir so leid, was ich getan habe." "Was tut dir leid?", fragte Kevin nach einer kurzen Pause, ohne den Blick vom Grab zu nehmen. "Dass du mich behandelt hast, als wäre ich irgendein x-beliebiger Bulle, der dich mal aus einem besetzten Haus geschleift habe, und nicht der Typ, mit dem du so viel erlebt hast? Oder was tut dir leid?"



    "Alles tut mir leid, Kevin. Ich... ich hab die Kontrolle verloren. Es hat sich über die Jahre soviel Wut und Hass aufgestaut... dass..." Annie schluckte. Sie wusste, dass sich diese Art der Entschuldigung nicht glaubhaft anhörte, aber verdammt, das war es was sie in ihrem Herzen spürte. Misstrauen und Hass auf das System, die Gesellschaft. Und dann wurde ausgerechnet einer der überzeugendsten Punks von damals zum Bulle? Den sie auch noch liebte? "Du hast mir nicht vertraut, Annie.", sagte Kevin und sah kurz auf den gefrorenen Boden, der von weißen einzelnen Schneeflocken durchsetzt war. "Warum? Welchen Grund hattest du, mir nicht zu vertrauen?" Nun erst drehte er den Kopf zu Annie, die leise schluchzte. "Und warum hast du mir nicht geholfen, als ich dich brauchte? Weißt du, wer mir geholfen hat? Jerry hat mir geholfen. Jerry hat meinem Partner geholfen! Er hat ihm das Leben gerettet, weil er auf seine Prinzipien von vor Jahren gepfiffen hat, und weil er wusste, dass er sich auch andersrum auf mich verlassen kann." Kevins Stimme blieb, während er redete ruhig und monoton, es war keinerlei Aufregung oder Erregung zu hören. "Das hättest du auch wissen können, Annie.", setzte er noch hinzu. "Ich habe mir selbst nicht getraut. Du stolperst wieder in mein Leben und ich hätte nie gedacht, dass meine Gefühle für dich noch so stark sind...", sagte Annie leise und Kevin spürte einen Stich in seiner Brust. "Es hatte sich angefühlt, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht, und alles wäre wieder so wie früher. Aber dann..." "...dann hast du erfahren, dass ich ein Bulle bin.", ergänzte Kevin das Ende des Satzes. Die junge Frau hätte am liebsten laut los geweint, denn ihr wurde klar, wieviele Dinge sie falsch gemacht hatte, und welche Chance sie gehabt hätte, den jungen Mann vielleicht doch zurück zu erobern. Sie drehte sich zu ihm, er drehte sich zu ihr, beide standen sich gegenüber, nur wenige Centimeter voneinander getrennt. So gerne hätte Annie sich jetzt von ihm in den Arm nehmen lassen, sich trösten lassen, und er hätte ihr verziehen als sie leise zu ihm sagte: "Ich liebe dich immer noch. Ich kann nichts dagegen tun. Egal wie sehr ich dich versucht habe zu hassen, weil du Polizist bist, ist die Liebe zu dir immer stärker geworden."



    Für einen Moment blieben die beiden stumm, während sie sich ansahen. Das Geständnis, das Kevin ja eigentlich kannte, traf in trotzdem bis in den hintersten Winkel seiner Seele. Doch die Enttäuschung saß zu tief. "Ich hatte immer gehofft dir sagen zu können, nachdem das alles vorbei ist, dass mein Versprechen von vor einigen Tagen immer noch steht. Dass ich immer für dich da sein werde.", sagte er mit leiser Stimme und blickte fest in Annies Augen. Dann schüttelte er den Kopf. "Aber ich kann nicht. Es geht nicht. Ich bin nicht der, den du liebst. Der, den du liebst, ist vor Jahren gestorben und er wird nie wieder zurückkommen. Und den, den du jetzt vor dir hast, den hast du vor drei Tagen verloren." Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen ob der Worte des Polizisten und der Tatsache, dass er scheinbar recht gefasst dabei war, obwohl in ihm Kämpfe tobten. Er senkte den Kopf für einen Moment und wollte an Annie vorbeigehen um den Friedhof zu verlassen, wobei er noch einmal auf ihrer Höhe stehen blieb. "Es ist vorbei, Annie. Es ist vorbei, bevor es noch einmal hätte beginnen können. Tut mir leid."Dann verließ er den Friedhof.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Club - 21:00 Uhr



    Doch, er war schon ein bisschen nervös. Vier Wochen hatte Kevin jetzt mit Bens Band zusammen geprobt, er konnte alle Stücke auf der Gitarre auswendig. Einige Coversongs bekannter Rocksongs, die er sowieso blind spielen konnte, viele von Ben selbstgeschriebene Lieder, in denen er vorzugsweise nur die Rythmusparts übernahm. Zwei Lieder hatten er und Ben noch zusammen geschrieben mit zwei Texten aus Kevins Jugendtagen, die der Polizist mit dem Wuschelkopf auf Deutsch singen wollte. Dabei ging es aber nicht um Wut und politische Themen, sondern einmal war es ein Liebeslied über eine verflossene, wobei der Protagonisten froh war, dass die Beziehung vorbei ist, und das zweite handelte davon, dass Leben möglichst unbeschwert zu genießen.
    Ben fand beim Komponieren, dass dieser Text momentan wohl auf alle drei Freunde sehr gut passte. Bei den Proben hatten sie auch immer wieder das Lied gespielt, was die beiden Freunde am Abend vor Semirs Entführung geschrieben hatten, mit Annies Text. Ben hatte dem Lied damals einen flotten und eigentlich recht positiven Gitarrenrythmus verpasst, und Kevin hatte jedes Mal Bauchschmerzen, wenn er es im Proberaum singen sollte. In ihren Stimmen unterschieden sich die beiden sehr stark. Während der geübte Sänger Ben eine sehr kräftige, eher dunkle und bei Bedarf sehr rockig-raue Stimme hatte, klang Kevin etwas klarer, ein wenig heller und konnte in den Tonarten nicht so sehr variieren, wie sein Partner. Bei der Punkmusik, die er damals spielte, brauchte er das auch nicht.



    Nach einer Woche Proben brach Kevin die Probe während des Liedes ab. "Das Lied gefällt mir nicht. Es gefällt mir so einfach nicht. Ich will es nicht mehr singen." Die Zeilen verfolgten ihn wie ein Alptraum, immer wieder tauchte Annie vor ihm auf, die ihn anflehte doch bitte nicht einfach weg zu gehen, und sie auf dem Friedhof stehen zu lassen. Er hatte es trotzdem getan, und trotz der tiefen Überzeugung, das Richtige getan zu haben, kam er sich selbst unheimlich herzlos vor, weil er früher, als er selbst nach vielen Fehlern am Boden war, immer auf diese helfende Hand gewartet hatte. Ben fragte nicht nach dem Grund, sie hatten immer eine tolle Stimmung während der Probe und er spürte, wie sehr Kevin beim Musik spielen aufblühen konnte. Er lachte, er redete mit den anderen Musikern und fühlte sich wohl. Einzig, dass Semir nach den Geschehnissen von der Polizeipsychologin erst einmal krank geschrieben wurde, und sich noch wenig blicken ließ, dämpfte die Laune der beiden Freunde. Doch ihr erfahrener Partner sagte immer wieder, dass sie Spaß haben sollten.
    In einer Pause setzte sich Kevin ans Klavier, das im Proberaum herumstand. In ihm war plötzlich eine Melodie, die ihn nicht mehr losließ, und er versuchte sich auf dem Klavier zu spielen. Hin und wieder musste er in der Bar seines Vaters die ein oder andere Tanzaufführung am Klavier begleiten, bevor er, nachdem er ausgerissen war, Gitarre spielen lernte. Die erste Gitarre hatte er bei einem Einbruch in einem Musikgeschäft geklaut. Die Melodie klang traurig, sehnsuchtsvoll, aber irgendwie auch positiv. Er spielte sie einmal, er spielte sie noch einmal, bis die anderen Musiker mit Ben sich in seine Nähe setzten. Der junge Polizist brachte mit wenigen Tönen immer mal ein paar Akzente herein, während Ben auf einer Akkustikgitarre begann, die Melodie zu begleiten. In einer dreiviertel Stunde hatten sie das Lied mit Annies Text, von dem nur Kevin wusste, dass der Text von seiner Ex-Freundin stammte und eigentlich um ihn handelte, umgeschrieben. Der Text blieb gleich, doch das Stück hatte sich von einer flotten Gitarrennummer zu einem melanchonischen Klavierstück mit Gitarre gewandelt. Es änderte auch seinen Namen von "Hilf mir", was eher eine Aufforderung war, in "Verloren". Kevin war stolz darauf, und wollte es beim Auftritt unbedingt singen.



    Jetzt, 5 Minuten vor dem Auftritt, spürte der junge Polizist doch Lampenfieber. Das letzte Mal, dass er auf einer Bühne stand, war etliche Jahre her. Und damals gröhlte er vor einer Horde Punks, denen es egal war, ob das Stück richtig gespielt war, oder der Text stimmte. Dieses Mal waren Menschen da, die für die kleine, aber stadtbekannte Rockband Eintritt bezahlt hatte, und dementsprechend auch einen guten, lauten Abend erwartete. Ben, der diese Aufregung längst gewohnt war, kam zu seinem Freund und klopfte ihm auf die Schulter. "Wird schon schief gehen.", meinte er lachend.
    Nacheinander liefen die Musiker auf die Bühne, Joe setzte sich ans Schlagzeug, Kevin kam mit seiner Gitarre um den Hals als vorletztes, bis zum Schluß Ben, ebenfalls mit Gitarre um den Hals und Mikro in der Hand auf die Bühne kam. Die 500 Zuschauer in dem kleinen Club klatschten, bevor Kevin das erste Stück "Carry on" anstimmte. Bens eigene Stücke waren meist groovende Gitarrenstücke, oder langsame Rockballaden. Lieder, in denen Musiker sich auf der Bühne nicht alzu viel bewegten, vor allem Ben war natürlich als Sänger an seinen Mikrofonständer gebunden. Kevin aber war es, aus alten Punktagen gewohnt, umher zu laufen, zu springen und zu den treibenden Musikstücken sich zu bewegen, und dieses Bedürfnis verspürte er jetzt auch. Hielt er sich bei Bens Stücken noch vornehmlich zurück, so war der Sänger der Band erstaunt, als sein Freund bei "Smoking on the water" plötzlich aus sich herausging.



    Punkmusik und Rockmusik unterschieden sich nicht in sovielen Dingen. Klar war Rockmusik musikalisch anspruchsvoller, vielschichtiger während der Punk absichtlich primitiv blieb und von seiner Schnelligkeit, Energie und Brutalität lebte. Während man Rockmusik, die Ben liebte, eher genoß wie einen guten Whisky, kippte man den Punk so schnell es ging wie Bier hinunter um möglichst schnell betrunken zu werden und sich von der Stimmung anstecken zu lassen. Der Song mit Kevins Text darüber, dass man das Leben genießen solle, hatte er am ehesten einen schnellen Punkrythmus, und auch bei diesem Lied hielt es Kevin nicht auf seinem Platz, wobei sich auch Kalle, der Bassist, anstecken ließ und mit ihm die Plätze tauschte. Den Refrain des Liedes hing Kevin dann plötzlich direkt neben Ben und beide gröhlten gemeinsam in ein Mikrofon, während sich ihre Gitarrenhälse beinahe berührten.
    Im Publikum klatschte und sand auch Jenny mit, die immer wieder Augenkontakt zu Kevin suchte. "Ich hab meinen Kater noch nie so doll herumtollen gesehen.", würde sie am Abend froh in ihr Tagebuch schreiben. Sie hatten beide kein Wort mehr über den Karton verloren, in den sie hineingeschaut hatte. Kevin hatte einfach nichts mehr dazu gesagt, sie hatte sich für ihren Ausraster auf der Wache entschuldigt, nachdem Semir befreit wurde, und sie versucht tagtäglich das Gefühl zu unterdrücken, dass etwas Unsichtbares zwischen ihnen stand, was Jenny nicht erklären konnte, obwohl alles toll zwischen ihnen lief. Jetzt sah sie mit leuchtenden Augen, wie ihr Freund, der so scheu und manchmal unnahbar wirkte, bei einer Sache so aus sich rausging und offenbar alle Sorgen seiner Welt vergessen hatte.



    Gerade als die letzten Takte von "This Time" verklungen waren, verschwand zum ersten Mal das Lächeln aus Kevins Gesicht. Zwischen all den Köpfen, lachenden und schwitzenden Gesichtern konnte er, wie einen Markierungspunkt, Annies rote Haare am äussersten Rand des Raumes erkennen. Sie hatte sich auf eine der Hocker gesetzt, die um den Besucherraum aufgestellt waren, und schien ihren Blick nicht von Kevin zu nehmen. Oft hatte sie auch bei Kevins Punkkonzerten im Publikum gestanden, und während sie zusammen waren ihn nicht aus den Augen gelassen, ihn mit ihren dunkelblauen Augen verfolgt, dass der junge Punk gerne mal den Text vergessen hatte. Und auch jetzt spürte er diesen Blick auf sich, doch sie lächelte nicht wie damals.
    "Jetzt bist du dran.", raunte Ben ihm zu, als er die Gitarre ablegte und sich an das Klavier setzte. Ben würde das Klavier spielen, denn er beherrschte es besser als der ehemalige Punk, dem es schwerfiel gleichzeitig zu singen und ein Instrument zu spielen. Die Gitarrenbegleitung übernahm Kalle, während Kevin sich an den Mikrofonständer stellte, und seine Augen kurz auf Jenny richtete, die ihn aufmunternd anlächelte. Die Anspannung in Kevins Blick konnte sie bis nach unten ins Publikum spüren, doch sie tat es als gesteigerte Nervosität ab. "Dieses Lied hier ist nochmal ein Neues, und die Musik ist von mir und meinem Kumpel erst vor einigen Tagen geschrieben worden.", sagte Ben ins Publikum. "Der Text ist geschrieben von... ja, Kevin. Von wem eigentlich?", fragte er dann noch und sah schräg nach vorne zu seinem Partner, der ins Mikrofon nur mit "Von einer Bekannten", antwortete wobei sein Blick automatisch von Jenny herüber zu Annie schwebte. In ihren Augen konnte er für einen Moment so etwas wie Verwunderung ablesen. "Leute, das ist unser Finale, und ich kann nur sagen: Holt nochmal die Feuerzeuge raus."



    Der junge Polizist am Mikrofon spürte, wie seine Knie ein wenig weich wurden, als er die ersten Töne des Klaviers hinter sich hörte. Annie ging es genauso, denn eine innere Ahnung befiel sie, der Blick von Kevin als er sagte, dass der Text von einer Bekannten geschrieben worden sei. Die ersten Klänge, der erste Melodiebogen und das leise Einsetzen der Gitarre konnte sie natürlich noch nicht deuten. Doch der Blick, der Augenkontakt zwischen ihnen band sich fest, wie ein unsichtbares Seil, dass sich von der Bühne bis herüber zu Annie spannte, als könnten sich beide daran entlang hangeln und sich in der Mitte treffen.
    Bei den ersten Sätzen schloß Kevin für einen Moment die Augen, während seine Ex-Freundin von einer Gänsehaut befallen wurde, als sie das Lied erkannte. "Ich bin es so leid, ohne dich zu sein...", erklang Kevins Stimme, und immer wieder wechselte sein Blick während des Liedes zwischen Jenny und einer sichtlich ergriffenen Annie, die nicht wusste ob sie in Tränen ausbrechen sollte oder glücklich sein sollte. Die salzigen Tropfen, die ihre Augen letztlich doch verließen, als Kevin zum ersten Mal den Refrain sang, entstanden letztlich doch aus Trauer, aus der Erkenntnis, etwas Großes verloren zu haben...


    Annie's Lied anhören:

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    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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