Semir hatte sich nochmals kurz ins Auto gesetzt, um zum Anwesen von Fitz zu fahren. Hartmut sollte jetzt mit ihm kommen-sie würden gemeinsam das Wäldchen untersuchen und dann vielleicht nochmals zum Haus zurück kehren-vier Augen sahen mehr als zwei!
Hildegard hatte Tim inzwischen gewickelt, packte noch ein paar Sachen für ihn ein, denn sie wusste ja nicht, wie lange dessen Aufenthalt bei ihr dauern würde und Semir ihre Handynummer gegeben. Sie gingen gemeinsam aus dem Haus, zuerst fuhr Semir, nachdem er abgeschlossen hatte und dann packte Hildegard zunächst die Hunde ins Auto und rief dann Tim, der wie ein Blitz in der Remise verschwunden war, deren Tor ja immer noch offen stand. Ja so einen Zweijährigen zu beaufsichtigen war wie einen Sack Flöhe hüten-sie waren schon sehr mobil, begannen auch immer besser zu sprechen, aber andererseits kannten sie noch keine Gefahr. Sie wollte soeben losspurten, um ihn zu holen, aber dann lockte sie ihn mit einem Eis und wie erwartet kam das kleine Leckermäulchen sofort angelaufen, setzte sich brav in seinen Kindersitz und ließ sich anschnallen.
Als sie losfuhren, sagte er „Papa da!“ und zeigte entschlossen auf die Remise, aber momentan gab Hildegard nichts darauf. Tim plapperte weiter vor sich hin, sprach mit einem imaginären Spielfreund, aber auch der Papa kam immer wieder in dem vor, was er da von sich gab. Hildegard überlegt kurz, fuhr dann an den Straßenrand und rief Semir´s Nummer an. Als der sich meldete, sagte sie zu ihm: „Herr Gerkhan, vielleicht klingt das jetzt blöd, aber bevor ich losgefahren bin, ist Tim in die Remise gelaufen und hat danach voller Überzeugung gesagt: „Papa da!“-sie haben sich da schon gründlich umgesehen?“ fragte sie voller Bangen, denn inzwischen hatte sie schon Horrorvisionen, dass Ben da irgendwo tot in der Ecke lag, denn ansonsten hätte er sich doch bemerkbar gemacht und sein unbedarfter Zweijähriger, der noch keine Ahnung davon hatte, was tot sein hieß, hätte ihn gefunden und versuchte das jetzt mitzuteilen. Semir stutzte kurz-klar waren die Aussagen Zweijähriger nicht sehr verlässlich, aber trotzdem würde er sich dort nun gemeinsam mit Hartmut nochmals gründlich umsehen und das teilte er Hildegard auch mit, die dann ihr Handy weglegte und weiter fuhr. Egal was die Polizisten jetzt fanden-fürs Erste wer Tim auf jeden Fall bei ihr gut aufgehoben und sie hatte alle Informationen die sie hatte, weitergegeben, jetzt mussten sich die Profis darum kümmern und Tim´s Eltern auffinden.
Als Semir in den Hof des verfallenen Anwesens bog, waren nach einer ergebnislosen Durchsuchung viele Menschen geschäftig dabei Spuren zu sichern und inzwischen war auch ein Autotransporter eingetroffen, mit dem man Ben´s Fahrzeug in die KTU zur eingehenden Untersuchung bringen würde. „Hartmut-ich brauche dich jetzt-gerade hat mich die Kinderfrau der Jägers angerufen, Tim würde immer vom Papa erzählen und er wäre auch kurz zuvor in der Remise gewesen. Ich hatte eigentlich gedacht, ich hätte mich da gründlich umgesehen, aber jetzt wäre mir doch wohler, wenn du da auch noch einen Blick hinein werfen würdest!“ bat er den rothaarigen Techniker und der nickte, schälte sich aus seinem weißen Ganzkörperanzug und stieg zu Semir ins Auto.
In diesem Moment fiel Semir´s Blick zufällig in den Hof des Nachbaranwesens und jetzt stockte ihm beinahe der Atem. Da stand jetzt ein alter weißer Mercedes Diesel und auf der Ablage befanden sich eine umhäkelte Klorolle und ein Hut. Mit einem Fluch raste Semir mit quietschenden Reifen um die Ecke so dass Hartmut sich verzweifelt am Haltegriff festklammerte und der alte Bauer, der nach dem Mittagessen, das seine Frau und Felix in Form eines Grillhähnchens mitgebracht hatten, jetzt noch kurz über die Felder fahren wollte, um zu sehen, wie das Wintergetreide stand, blieb in der bereits geöffneten Autotüre stehen, als der silberne BMW um die Ecke schoss. „Herr Gerkhan-womit kann ich ihnen dienen?“ fragte er erstaunt und Semir war im selben Moment bewusst, dass der alte Mann fast mit Sicherheit keine Ahnung davon hatte, zu was man seinen Wagen zweckentfremdet hatte. „Wo ist ihr Enkel?“ fragte Semir scharf, der die Zusammenhänge immer besser begriff: „Der ist vorhin mit dem Fahrrad weggefahren, er wollte nicht einmal mit uns zu Mittag essen!“ antwortete der Bauer verblüfft und deutete unbestimmt in die Richtung zum Nachbarort, wo Semir gerade her kam. „War das, nachdem er bemerkt hatte, dass wir das Auto in der Garage gefunden haben?“ fragte Semir scharf und der Bauer nickte betreten. „Felix ist ein lieber Junge!“ verteidigte er seinen Enkel, aber Semir war schon aus dem Hof gerast und nahm die Verfolgung auf.
Allerdings war weit und breit kein Radfahrer zu entdecken, anscheinend war dessen Flucht doch schon eine Weile her und Semir ließ sich nun von Susanne das Passfoto von Felix Hintersteiner schicken und das glich exakt der Beschreibung, die die Ladenbesitzer abgegeben hatten. Felix hatte die illegalen Raubkopien bei den Händlern abgeholt, er war bisher polizeilich noch nicht aufgefallen-aber wo steckte er jetzt und wo war sein Komplize mit den feingliedrigen Händen?
Nach kurzer Überlegung fuhren sie nun doch zunächst zu Ben´s Anwesen, stürmten in die Remise und sahen sich dort nochmals um, allerdings ohne Ben oder etwas anderes Auffälliges zu finden. Semir sperrte mit zitternden Fingern das Haus auf, er fühlte, gerade geschah etwas Schreckliches mit seinem Freund, aber verdammt, wo war der? Sie durchsuchten gemeinsam das Haus und plötzlich blieb Hartmut in dem verwinkelten Zwischengang, der zur Remise führte und wo der Zählerkasten stand, stehen. „Verdammt noch mal-wer verbraucht denn hier gerade so wahnsinnig viel Strom?“ wunderte er sich, denn das Rädchen, das den Verbrauch anzeigte, drehte sich rasend schnell, bis es plötzlich beinahe still stand. Hier war gerade der Energiedieb am Werke gewesen, um den er sich kümmern sollte, da war sich Hartmut ziemlich sicher, aber wo steckte der und hatte das Verschwinden ihrer Freunde vielleicht genau mit dem zu tun?
Ben war inzwischen wieder zurück bei Frau und Kind. „Sarah, stell dir vor-Tim war ganz in der Nähe der Geheimtür in der Remise, ich habe auch Hildegards Stimme gehört, ich wollte ihn dazu bringen, Hilfe zu holen, aber er hat nicht verstanden, was ich ihm mitteilen wollte!“ erzählte er ein wenig mutlos. „Immerhin suchen sie anscheinend schon nach uns-vielleicht kommt ja bald Hilfe!“ versuchte Sarah ihm und auch sich selber Mut zu machen, als plötzlich das Licht wieder anging und sie aus dem großen Raum Geräusche hörten. Ben hatte die Tür hinter sich ein Stück weit zugezogen, aber sowohl durch den Spalt am Boden als auch durch die Türritze konnten sie hören, was gesprochen wurde und der Polizist überlegte verzweifelt, was er nun machen sollte. Man konnte vom Gewölbekeller her durch die Verwinkelung nicht sehen, dass die Tür ein wenig offen stand, aber wenn er jetzt hinaus stürmte, verriet er ihren Entführern, dass er frei war und verspielte somit den Überraschungseffekt. Nachdem er ja nicht wusste, wie man das Eisengitter öffnete, waren sie dann genauso weit wie vorher und so legte er seinen Zeigefinger auf den Mund und signalisierte Sarah dadurch, leise zu sein und die nickte. Mia-Sophie lag friedlich schlummernd, warm eingepackt auf ihrem Lager und Sarah hatte sich ein wenig hingesetzt und sich gezwungen viel zu trinken, um den Blut-und Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Bisher hatte sie noch Milch und ihrem Baby ging es gut-sie wusste nur nicht, wie lange das so bleiben würde.
Einige scharrende Geräusche waren zu hören gewesen und dann hörte man plötzlich schnelle Schritte und ein aufgeregter junger Mann rief panisch: „Lars-stell dir vor, die haben das Auto der Jägers gefunden! Gerade als ich mit meiner Oma vom Einkaufen gekommen bin, waren da eine Menge Polizisten auf Peter´s Anwesen!“ rief er, aber Lars beruhigte seinen Freund. „Na und-deswegen führt doch keine Spur zu uns und schon gar nicht in unser Versteck. Wir erledigen jetzt unsere Gefangenen, dann gibt es keine Zeugen und daraufhin warten wir hier unten in aller Ruhe ab, bis sich die Lage beruhigt hat-vielleicht bringen wir zuvor noch den Wagen weg, aber das weiss ich noch nicht. Ich habe auch schon alles mitgebracht, was wir dafür brauchen, um das Pack auszuräuchern!“ sagte er und hielt Felix die eine Gasmaske hin, die zweite hatte er schon um den Hals hängen. „Was hast du vor?“ fragte Felix verwundert und griff langsam nach der Gasmaske. „Wir werden die jetzt mit den alten giftigen Maulwurfspatronen, die mein Opa noch aus Zeiten, als die Viecher noch nicht unter Naturschutz standen, aufgehoben hat, vergasen. Wenn wir die in den Gang und unter der Tür durch werfen, werden sie sterben, wie früher die Juden in der Gaskammer!“ erklärte er und Sarah´s und Ben´s Augen hatten sich geweitet, als sie hörten, was ihr Los sein sollte. Verdammt-jetzt musste er etwas unternehmen und vielleicht konnte Ben an das Mitgefühl und die Menschlichkeit des zweiten Mönchs appellieren, dessen Stimme klang nämlich jung und ängstlich, während der Wortführer, der anscheinend der Anführer war, völlig skrupellos schien.
So stieß er verzweifelt die Tür weit auf, trat an das Gitter, wo wenige Meter von ihm entfernt zwei junge Männer in Mönchskutten standen und beide eine Gasmaske in den Händen hielten. Der eine der beiden hatte neben sich eine Schachtel mit Patronen, die ein wenig aussahen, wie die Rauchgaspatronen, die sie bei der Polizei oft einsetzten. „Ich bitte euch verschont doch meine Frau und meine neugeborene Tochter-wir werden niemandem von euch und euren Geschäften erzählen, wenn ihr uns freilasst und ich stelle mich auch als Geisel zur Verfügung, wenn ihr das möchtet. Wenn es um Geld geht-ich bin reich und kann euch sicher finanziell gut stellen, wenn ihr uns nur verschont!“ bat er und trat wie vorhin, als er den Gewölbekeller gemustert hatte, an das Gitter und umfasste es mit beiden Händen, als er plötzlich einen gurgelnden Schrei ausstieß, seine Haare zu Berge standen und seine Hände sich um das Eisen verkrampften, als der Strom durch seinen Körper floss.