Sarah hatte die ganzen Eingriffe jetzt hinter sich und lag blass in ihrem Bett, im Moment noch im Aufwachraum, denn nach einer Spinalanästhesie musste man trotzdem überwacht werden, weil durchaus Narkosemittel nach oben im Spinalkanal aufsteigen konnte und auch nach der eigentlichen OP zur Atemlähmung führen konnte. Erst wenn das Gefühl langsam zurück kam und bei den Oberschenkeln angekommen war, durfte man die Patienten verlegen und so hieß es warten. Sie kam aber nicht zur Ruhe, erstens aus Sorge um Ben und dann auch, weil sie so eine wahnsinnige Sehnsucht nach ihrer kleinen Tochter hatte. Neun Monate hatte sie sie in ihrem Bauch getragen und jetzt war es einfach unnatürlich Mutter und Kind zu trennen, obwohl der Verstand natürlich sagte, dass es keine andere Möglichkeit gab.
Inzwischen war es früher Abend geworden und Sarah hatte die Augen geschlossen, als plötzlich ihre Kollegin und Freundin um die Ecke bog. „Sarah-ich habe im PC gesehen, dass du jetzt im Aufwachraum bist und mache gerade meine Pause-du weisst ja-meinem Laster muss gefrönt werden!“ sagte sie grinsend und wies auf die Zigarettenschachtel, die ihre Tasche ein wenig ausbeulte. „Aber was ich dir eigentlich sagen wollte: Ben ist jetzt bei uns angekommen, er wurde ordentlich versorgt, hat alle notwendigen Zugänge, ist tief sediert und wir haben ihn herunter gekühlt. Er braucht nur wenig Noradrenalin, die Pupillen reagieren gut und sein Freund sitzt an seinem Bett und passt auf, dass wir alles richtig machen!“ berichtete sie salopp und jetzt war Sarah irgendwie wohler. Wenn Semir bei Ben war, dann tat dem das gut, egal wie tief er sediert war, denn diese beiden verband eine innige Freundschaft und so konnte sie sich, als ihre Freundin sich wieder verabschiedet hatte, um im Rahmen ihrer Pause noch schnell zum Rauchen zu gehen, doch ein wenig entspannen und als wenig später das Gefühl begann zurück zu kehren, wurde sie auch sofort von den Schwestern der Entbindungsstation abgeholt.
Kaum im Zimmer stand auch schon die Kinderschwester mit einer hungrig brüllenden Mia-Sophie vor ihr, reichte sie Sarah und die legte sie auch sofort an. „Da war jetzt nichts mehr zu machen-sie hat sich von meiner Glucoselösung nicht beeindrucken lassen-sie möchte etwas Richtiges!“ sagte sie lächelnd und beobachtete, wie das Baby so energisch saugte, dass Sarah gleich das Gesicht verzog. „Ich sag nur: Klein, aber oho, die weiss schon sehr genau, was sie will!“ bemerkte die erfahrene Kinderkrankenschwester grinsend und bettete die Kleine nun noch bequem auf ein Stillkissen, damit Sarah es leichter hatte. „Aber du bist ja eine erfahrene Mama-du hast das schon im Griff!“ erklärte sie dann und nun fühlte sich Sarah gleich ein wenig besser. Das Wärmebettchen wurde gegen ein normales Babybett mit einer Wärmflasche darin ausgetauscht, aber Sarah behielt ihre Kleine auch nach dem Stillen bei sich im Bett, bewunderte die kleinen Fingerchen und strich liebevoll über das winzige Köpfchen, das jetzt mit einer weichen Mütze bedeckt war. Was Tim wohl sagen würde, wenn er sein Schwesterchen zum ersten Mal sah?
Plötzlich klopfte es an der Tür und als Sarah „Herein!“ rief, standen gleich darauf Andrea und die beiden Mädchen vor ihr. Lilly war noch ein wenig schüchtern und drückte sich eng an ihre Mutter, aber Ayda war mit wenigen Schritten am Bett und streckte Sarah zwei schön eingepackte Geschenke entgegen, die die lächelnd entgegen nahm, nicht ohne zuvor Mia-Sophie unter ihrer Decke hervorgeholt zu haben, die sich aber nicht stören ließ, sondern einfach friedlich weiter schlief. Ayda musterte das Baby und sagte dann unsicher: „Die ist aber winzig!“ und nun musste Sarah lachen. „Da hast du Recht, Ayda. Mia-Sophie ist auch wirklich klein, aber die wächst schon noch, keine Sorge!“ erklärte sie. Andrea war an ihr Bett getreten, hatte sie stumm umarmt und an sich gedrückt und sagte weich: „Trotz aller Sorgen: Herzlichen Glückwunsch und die Kleine ist ja wirklich wunderhübsch!“ und das musste Sarah nun stolz bestätigen. Wenig später taute auch Lilly auf, vor allem als die beiden Mädchen jetzt nacheinander das Baby kurz halten durften, natürlich assistiert von Andrea, die aufpasste, dass sie alles richtig machten. Sarah packte derweil die Geschenke aus-das eine war eine kleine Robbe, ein Babyspielzeug, das die Mädchen hatten aussuchen dürfen, dazu eine winzige Jeans mit einem passenden Oberteil und im anderen Paket war eine Schachtel bester Lindt-Pralinen „Damit du wieder zu Kräften kommst!“ meinte Andrea und gerührt bedankte sich Sarah.
„Wir haben eigentlich Semir´s Tasche gebracht, aber der ist nicht in seinem Zimmer, sondern bei Ben auf der Intensivstation. Die Schwester hat gemeint, sie ruft dort an, damit die ihm ausrichten, dass er Besuch hat, aber bis er kommt, sind wir gleich mal zu dir gekommen, die Mädchen wollten doch unbedingt das neue Baby sehen!“ erklärte sie und versprach Sarah dann, am nächsten Tag ihre Krankenhaustasche aus dem Haus zu holen und ihr zu bringen. „Ich habe gerade eine Woche Überstundenfrei, kann das also gut gleich in der Früh erledigen, während Ayda und Lilly morgen in der Schule und im Kindergarten sind. Ich gieße dir auch die Blumen durch und wenn du mir sagst, was ich für Ben mitbringen soll, dann packe ich auch für den was zusammen!“ versprach sie und nun klopfte es erneut und Semir stand plötzlich im Zimmer. Die Mädchen begrüßten den Papa aufgeregt und erzählten, dass sie schon das Baby hatten halten dürfen. Aber Semir musste jetzt, bevor er sich mit seinen Kindern beschäftigte erst noch etwas los werden: „Sarah, ich komme ja gerade von Ben-der Arzt sagt, er ist momentan stabil, wird jetzt bis zum morgigen Nachmittag gekühlt und dann sehen wir weiter!“ richtete er ihr aus. „Ich werde nachher in mein Zimmer gehen und auch zu schlafen versuchen, aber die Schwestern haben mir versprochen, mir sofort Bescheid zu geben, wenn sich etwas an seinem Zustand verändert!“ teilte er ihr mit und musste dann doch wieder husten. „Ich glaube, ich sollte dann wieder mit diesem komischen Zeugs inhalieren-das tut echt gut!“ sagte er und so verließen wenig später alle vier Besucher das Zimmer wieder.
Sarah ließ sich nun noch von den Schwestern das Telefon bringen und rief Hildegard an, die sehr erleichtert war, als sie mit Sarah persönlich sprechen konnte und die ihr einen kurzen Lagebericht gab. „Tim hat gerade gebadet-das war aber auch dringend notwendig, er hat nämlich Hund gespielt und ist auf allen Vieren durch den Garten gekrabbelt, hat sich gewälzt und die beiden Hunde haben es ihm gleich getan. Er kriegt jetzt dann noch was zu essen und dann ist Zapfenstreich!“ erklärte Hildegard, gab dann aber zuerst noch den Hörer an den kleinen Mann weiter. „Tim-die Mama ist dran!“ sagte sie und schon ertönte ein „Hallo, hallo!“ aus dem Telefon. Sarah kamen fast die Tränen-es war nur gut, dass sie Hildegard hatten, die machte das schon, aber so sagte sie zu ihrem Sohn: „Tim-du hast jetzt eine kleine Schwester, wie dir Hildegard schon gesagt hat, das Baby ist jetzt nicht mehr in Mama´s Bauch, sondern auf der Welt. Morgen kommst du uns im Krankenhaus besuchen und darfst es dann halten!“ versprach sie. „Und ein Geschenk kriegst du dann auch!“ fügte sie hinzu und nun ertönte ein vergnügtes Lachen aus dem Hörer-für Geschenke war Tim immer zu haben und da hatte Sarah schon was für ihn in ihrer Kliniktasche. Sie machten aus, dass Hildegard mit Tim am nächsten Vormittag zu Besuch kommen würde und mit ihrer mütterlichen Art konnte sie Sarah die nötige Kraft übermitteln, die sie gerade so notwendig brauchte. „Ich rufe auch noch Konrad an, wenn es dir Recht ist!“ sagte Hildegard und nun wurde Sarah erst bewusst, dass ja außer dem engsten Kreis bisher noch niemand Bescheid wusste, was überhaupt geschehen war, denn die sogenannte Alarmliste, wie Ben scherzhaft die von der Geburt zu verständigenden Personen in seinem Handy genannt hatte, war natürlich nicht abgearbeitet-beim letzten Mal hatte er das selber erledigen können. „Tu das und Danke!“ sagte sie gerührt und als sie aufgelegt hatte, wählte sie noch die Nummer ihrer Eltern und sagte denen Bescheid, was die allerdings aus allen Wolken fallen ließ. „Kind-wir kommen dich morgen gleich besuchen, informieren deine Geschwister und für dich und Ben alles Gute!“ wünschte ihr ihre Mutter und so konnte Sarah, nachdem ihre Kollegen mit ihr noch aufgestanden waren und alles wieder funktionierte, doch die Augen schließen und ein wenig schlafen. Sie konnte jetzt sowieso nichts machen, außer abwarten und für ihre Kinder da sein, die hoffentlich auch morgen noch beide Eltern hatten.