In der Höhle hatten sich inzwischen die ersten Flüchtlinge ein wenig beruhigt. Der einzige überlebende Sohn des Patriarchen eilte mit einer seiner Schwestern zum Vater und gemeinsam zogen sie ihn vom immer noch ohnmächtigen Ben herunter und legten ihn flach auf den Boden daneben. „Er atmet noch!“ rief der Sohn und drückte dann fest mit dem ersten Lumpen den er erwischen konnte, auf die Brustwunde, aus der das Blut wie ein Wasserfall floss. Wenig später begannen die Augenlider des Syrers zu flattern und als er wieder langsam zu sich kam, sah er sich zunächst gehetzt in der Höhle um, um den Attentäter zu erspähen, aber der war weg. Nur seine Familie scharte sich nun besorgt um ihn, ein Stimmengewirr erhob sich, jeder wollte helfen und als er nun an sich herunter sah, wusste er auch warum. Das Blut floss aus seiner Brust und als er auf den jungen Verletzten neben sich sah, erschrak er nochmals, denn der lag regungslos mit geschlossenen Augen da und war vorne ebenfalls voller Blut, aber nun dämmerte es dem Syrer, das war wohl sein Blut. In der Hand hielt Ben allerdings immer noch die abgefeuerte Pistole, obwohl ihm deren heftiger Rückschlag schier die andere Schulter auch noch ausgekugelt hätte.
„Was ist passiert-und wo ist der Mörder meines Sohnes!“ rief der Patriarch und wollte sich erheben, um nach seinem anderen Kind zu sehen, das regungslos ein Stück entfernt am Boden lag, aber nun drückten ihn viele Hände zurück und sein zweiter Sohn sagte voller Kummer: „Vater-Jesaia ist wirklich tot, dem kann niemand mehr helfen!“ und nun liefen die Tränen der Verzweiflung aus den Augen des Patriarchen. Dann erzählte der Sohn, wie ihr Patient sich die Pistole gegriffen und damit den Bergführer und den Schlepper in die Flucht geschlagen hatte und voller Dankbarkeit drehte der Heiler sich nun zu Ben, der soeben ebenfalls langsam die Augen wieder aufschlug. Als der Patriarch nun aber den stetigen Strom aus seiner eigenen Brust fließen sah, sagte er voller Kummer: „Joshua-ich werde ebenfalls sterben, kümmere dich bitte um unsere Familie, du bist das neue Oberhaupt!“ und nun liefen die Tränen der Verzweiflung aus den Augen des zweiten Sohnes, der leise flüsterte: „Vater-du darfst nicht sterben!“ aber der Patriarch schloss nun einfach seine Augen und erwartete sein Schicksal.
Ben hatte den Kopf gedreht und voller Kummer die ergreifende Szene neben sich beobachtet. Sie konnten jetzt nur hoffen, dass es Semir bald gelang Hilfe zu holen, denn vielleicht konnte die westliche Medizin dem Patriarchen doch noch zu Gute kommen. Wenn er daran dachte wie schwer verletzt er schon einige Male gewesen war und wie gut ihn die Ärzte jedes Mal wieder hingekriegt hatten, dann gab er die Hoffnung noch nicht auf. „Deckt ihn gut zu und fest auf die Wunde drücken!“ ermunterte er den Sohn, der zwar kein Deutsch verstand, aber trotzdem intuitiv wusste, was Ben gesagt hatte. Der legte nun vorsichtig die Pistole ab und schob einen Teil seiner Decken zum Patriarchen hinüber, was ihm zwar vor Anstrengung den Schweiß auf die Stirn trieb, aber die Umstehenden hatten verstanden und deckten nun den Verletzten zu. Der Sohn drückte weiter auf die Brustwunde, der Blutstrom wurde jetzt auch ein wenig langsamer und jetzt konnten sie nur hoffen, dass bald Rettung von außen kam.
Endlich waren die ersten Retter bei Semir angelangt. Diese Männer waren in den Bergen aufgewachsen, sie hatten eine Megakondition und so bewältigten sie den Aufstieg fast mühelos. Semir war nun wieder zu Atem gekommen und hatte beschlossen, dass er auf keinen Fall ins Tal ab-, sondern mit den Bergrettern wieder zu dem Biwak aufsteigen würde-vielleicht fanden sie das sonst gar nicht und außerdem könnte er Sarah nicht entgegen treten und sagen: „Ich habe mich nun erst mal in Sicherheit bringen lassen-vielleicht können sie für Ben noch was tun, falls sie ihn rechtzeitig finden, aber egal-Hauptsache ich lebe!“ und deshalb setzte er sich jetzt in den Schnee und nutzte die Zeit zur Regeneration.
Im unverwechselbaren Vorarlberger Dialekt mit den harten Konsonanten, sprach der erste Bergretter Semir an. „Guten Tag, ich bin von der Bergrettung und ich vermute, sie sind Semir Gerkhan-was ist denn passiert?“ fragte er, denn natürlich hatten sie Bilder der Vermissten gesehen. Wenn nun einer alleine aufgefunden wurde, dann war das normalerweise ein schlechtes Zeichen und bedeutete vor allem, dass der Rest der Truppe entweder tot oder schwer verletzt war. Außerdem waren die mit einheimischem Bergführer unterwegs gewesen, wenn der als Ortskundiger nicht zurück kam, dann war er vermutlich unter den Opfern, aber sie waren für solche Fälle geschult, würden den in Bergnot Geratenen jetzt beruhigen, medizinisch grundversorgen und falls nötig den Heli anfordern, der ihn sicher ins Tal brachte. Der müsste jetzt sowieso langsam auftauchen, denn inzwischen war es völlig hell und es war Routine, dass der Hubschrauber von oben suchte, während sie vom Boden aus nachsahen, aber vielleicht war der sogar schon unterwegs und überprüfte derweil ein anders Tal. Erstaunt konstantierte der Helfer noch, dass der kleine Türke Carvingskier trug, dabei war ihnen gemeldet worden, dass die Vermissten mit Schneeschuhen zu einer Wanderung aufgebrochen und nicht zurück gekehrt waren.
„Wir wurden gestern von einer Lawine verschüttet, die vermutlich der Bergführer losgetreten hat. Einer der Tourengeher-Knut Hansen-ist tot und mein Freund Ben Jäger wurde schwer verletzt, aber gemeinsam mit einer Gruppe Flüchtlinge aus Syrien, insgesamt 17 Personen, die ebenfalls dort oben unterwegs waren, konnte ich ihn ausgraben. Er wurde von einem der Syrer medizinisch basisversorgt, der hat sogar eine Operation an ihm durchgeführt und jetzt wartet die Gruppe in einem hoch gelegenen Biwak in einer Höhle darauf, dass sie gerettet werden, denn von da oben kommt man ohne passende Ausrüstung nicht weg. Es befindet sich auch noch ein schwer krankes Kind bei der Gruppe, ich denke jetzt zählt jede Minute!“ fasste Semir kurz die Ereignisse des gestrigen Tages zusammen.
Der Bergretter sah ihn geschockt an. Erstens hatte Semir ihm gerade in bester Polizistenmanier eine kurze Zusammenfassung gegeben, die aber alles Wichtige enthielt, aber am meisten berührte ihn die Unterstellung, dass der Bergführer, den er flüchtig persönlich kannte, angeblich die Lawine verursacht habe. Das konnte er sich fast nicht vorstellen-wer sollte so etwas tun und warum und wo war der Übeltäter jetzt? Aber egal-jetzt mussten sie von Gerkhan genau wissen, wo das Biwak lag und dann sofort den Heli hinschicken und zusätzlich dorthin aufsteigen. „Meinen sie, sie können mir auf der Karte zeigen, wo das Biwak liegt? Zwei von uns werden sie dann ins Tal begleiten und wir anderen steigen zu den Verletzen auf und sorgen dafür, dass die ins Krankenhaus und die anderen Menschen sicher ins Tal kommen!“ erklärte er Semir seinen Plan und zog die Karte hervor. Semir musterte die ein wenig ratlos. Verdammt-er konnte da zwar persönlich hingehen, aber momentan fand er auf dieser Landkarte mit den eingezeichneten Geländemarkierungen nicht, wo das Biwak lag. „Mir geht es gut, ich bin auch nicht verletzt und werde sie dorthin bringen, aber wo sich genau das Biwak befindet, kann ich anhand dieser Karte nicht sagen!“ erklärte er. „Ich habe den Flüchtlingen aufgetragen draußen bunte Tücher auszulegen, damit der Helikopter sie sehen kann, aber mehr kann ich ihnen jetzt nicht mitteilen!“ sagte Semir. Der Bergretter holte zunächst seine Kollegen zusammen und fragte alle, ob ihnen in diesem Gebiet ein Höhlenbiwak bekannt wäre, aber alle schüttelten ratlos den Kopf. Über Funk, denn die Handyverbindung hier oben funktionierte nicht, informierte er die Zentrale im Tal, die sich im Rathaus der Gemeinde Warth einquartiert hatte, dass sie einen der Vermissten nach eigener Aussage unverletzt gefunden hatten. Knut Hansen war tot und Ben Jäger schwer verletzt. Über den Verbleib des Bergführers war nichts bekannt, aber er gab die Vermutung Semir´s, dass der die Lawine ausgelöst hätte, nicht weiter-was verstand so ein Flachlandtiroler wie dieser Türke aus Köln schon von den Verhältnissen im Gebirge, das war sicher ein unbegründeter Verdacht!
Man gab Semir heißen Tee, einen Isodrink und einen Müsliriegel, eine Sonnencreme, eine Skibrille und Lippenschutz wurden angelegt und aufgetragen und einer der Bergretter, der Kleinste, damit die Bindung auch passte, trat seine Tourenskier an Semir ab und übernahm dessen Abfahrtsski. Er würde damit ins Tal fahren und dort weiter koordinieren, denn wenn dort oben so viele Personen mit unzureichender Winterausrüstung waren, musste man da drauf eingehen, passende Kleidung beschaffen und vor Ort dann überlegen wie man die heil ins Tal brachte. Während die Gruppe nun wieder bergauf lief, wurde von der Einsatzleitung der Hubschrauber, der bisher in einer völlig verkehrten Ecke gesucht hatte, umdisponiert und machte sich auf die Suche nach dem Biwak und den ausgelegten bunten Tüchern.
Der Bergführer und der Schlepper waren am zweiten Biwak. Wie geplant warf der Verletzte zwei Schmerztabletten ein, verband sich mit Hilfe des Schleppers und nahm dann die Signalpistole und die Leuchtmunition aus diesem Biwak mit und dazu ein langes, spitzes und scharfes Messer. Damit würde er die Gruppe probieren auszuräuchern und wenn sie, falls sie das überlebten, geblendet ins Freie zu gelangen versuchten, konnte er sie mit dem Messer einen nach dem anderen erledigen, den er war Beidhänder, die Klinge führte er auch mit links!