Es dauerte bis zur Mittagszeit bis Ben seine normale Körpertemperatur wieder erreicht hatte. Er war zwischendurch einmal abgesaugt und ein wenig anders hingelegt worden, allerdings blieb er die ganze Zeit flach auf dem Rücken, man stopfte nur einen dünnen Keil unter die Weichlagerungsmatratze, um den Schwerpunkt zu verändern, aber für die nächsten Tage war es wichtig, dass der junge Polizist auf dem Rücken liegen blieb. Der dicke Verband wirkte noch wie eine Kompression, weil ihn das Körpergewicht gegen die Matratze presste und das war auch dringend nötig, denn die Wunde blutete nach und auch die Drainagen füllten sich wieder und wieder mit Blut, so dass man beim nächsten Wechsel der Redonflaschen mit einer sterilen Entlüftungskanüle den Sog wegnahm. Man kontrollierte die Blutgase und die anderen wichtigsten Laborwerte und entschied sich, Ben noch zwei weitere Blutkonserven zukommen zu lassen.
Semir wurde immer nach draußen geschickt, wenn an seinem Freund etwas gemacht wurde-es war hier nicht wie in der Uniklinik Köln, wo er sozusagen zum laufenden Betrieb gehört hatte, man kannte ihn nicht und wusste ja auch nicht, dass er durchaus nicht umfallen würde, wenn er Zeuge von medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen an seinem Freund wurde, aber Semir war froh, dass man ihn überhaupt dableiben ließ, denn ein Schild draußen vor der Tür hatte eigentlich streng auf die eingeschränkten Besuchszeiten hingewiesen und er war redlich froh, dass man sich in seinem Fall nicht daran hielt. Von dem Platz mit dem Handyempfang in der Besuchsecke informierte er bei so einer Gelegenheit Hartmut und der erzählte ihm seinerseits, dass es ihnen gelungen war die Pläne zu verändern und Klaus wieder wie gewohnt mit den gefakten Daten im Handy zur Arbeit gegangen war, während er sich heute im Haus die Zeit vertrieb, unter anderem mit dem Findelkater und nicht mehr nach Augsburg zu dem Kongress gefahren war. „Weisst du-meinen vorbereiteten Vortrag habe ich gestern gehalten und es war eine lange Nacht für uns alle. Außerdem hatte ich nicht den Eindruck als könne ich da noch viel lernen, die anderen Themen, die am Dienstag auf dem Programm standen, waren für mich eher langweilig, ich habe mich mal für heute dort krank gemeldet!“ berichtete er. Was Hartmut nicht wusste war, dass der Bewacher draußen ein paarmal eine Bewegung hinter den Fensterscheiben wahrgenommen hatte und jetzt zufrieden an seinen Partner weiter gab: „Corinna ist im Haus, Klaus hält sich an unsere Abmachungen!“ und so war die Anwesenheit des rothaarigen Technikers sogar von Vorteil.
Als Semir nach einer Weile langweilig wurde, begann er Ben von seinem Gespräch mit Sarah zu erzählen. „Weißt du Ben-ich bin mir ganz sicher, dass niemand außer deiner kranken Tochter fähig war, deine Frau davon abzuhalten, zu dir zu kommen, aber sie hat sich dafür gleich telefonisch mit dem Pflegepersonal hier verbündet, um Auskunft zu erhalten. Aber ich bin ja schon froh, dass ich bei dir bleiben darf, denn ich hätte keine ruhige Minute, wenn ich nicht an deinem Bett sitzen dürfte. Und mach dir keine Sorgen wegen der Lähmung-der Professor hat einen sehr kompetenten Eindruck auf mich gemacht, der konnte hoffentlich was für dich tun und wenn nicht, dann kriegen wir das trotzdem-du bist doch fit und sportlich und ich habe mal bei einem Rollstuhlbasketballspiel zugesehen-du meine Güte, da gings vielleicht zur Sache!“ sprach er mit seinem Freund, so als wenn der nicht schlafen würde. Die betreuende Schwester hatte mit einem Schmunzeln von draußen gehört, wie der türkische Polizist mit seinem beatmeten Freund redete-ja der machte das nicht zum ersten Mal- und sie beschloss, ihn nun nicht mehr unbedingt nach draußen zu befördern, wenn sie etwas an ihrem jungen Patienten machte. Allerdings schickte sie ihn mittags noch in die Cafeteria und trug ihm auf, etwas zu essen, Kaffee und Wasser hatte sie ihm bereits gebracht, aber jetzt würde es an die Extubation gehen und da würde er sich in der ersten Zeit danach vermutlich nicht mehr wegbewegen, so wie sie ihn einschätzte, den kleinen Mann mit dem großen Herzen, wie sie ihn bei sich nannte.
Die Blutkonserven waren eingelaufen, die Körpertemperatur im Normbereich und sogar Ben´s Gesicht war weitgehend abgeschwollen, so dass er wieder ziemlich normal aussah. Man hatte die letzte Stunde schon allmählich die Sedierung reduziert, den Beatmungsmodus auf CPAP umgestellt und somit alles gut vorbereitet. „So-wir schalten jetzt die Sedierung aus und warten ab, was passiert. Machen sie gerne weiter wie bisher, sprechen sie mit ihrem Freund-dem wird die vertraute Stimme gut tun und wenn er komplett selber atmet und auch nicht panisch wird, dann versuchen wir den Tubus heraus zu ziehen!“ erklärte die Schwester den Plan und Semir nickte-jetzt war er gefragt, das hatte er schon mehrfach mit erlebt und Ben dabei immer nach bestem Wissen unterstützt. Auch er selber war ja schon auf der Intensivstation gelegen, ebenfalls kritisch krank und beatmet und wusste, wie froh man war, wenn einem da jemand beistand, den man kannte, denn auch wenn alle zu einem sehr nett und freundlich waren, man war dieser Gerätemedizin irgendwie hilflos ausgeliefert und jedes bekannte Gesicht, jede vertraute Stimme war ein Trost in dieser schwierigen Situation, zumal es bei Ben jetzt auch noch um ganz andere Dinge ging und der anscheinend überhaupt nicht mit einer Querschnittlähmung umgehen konnte, wie der Selbstmordversuch in der Eishöhle zeigte.
„Schwester-wie sind denn ihre Erfahrungen-müsste er jetzt gleich seine Beine wieder spüren, wenn er wach wird und die Operation geglückt ist?“ fragte Semir deshalb noch nach, aber die erfahrene Pflegerin schüttelte den Kopf. „Das wäre eher unwahrscheinlich, den Enderfolg wird erst die Zeit zeigen aber warten wirs ab, vielleicht spürt er ja mehr als wir denken, aber das ist erst der zweite Schritt-jetzt müssen wir ihn zuerst von der Beatmungsmaschine trennen!“ erklärte sie und kontrollierte nach dem Ausschalten der Perfusoren, ob die Handfixierungen stramm saßen.
Wie geplant schlug Ben nach einer Weile die Augen auf und blickte erst ein wenig panisch um sich. Er hatte zwar schon eine ganze Weile Geräusche um sich herum wahr genommen, vor allem auch Semir´s vertraute Stimme, aber es war ihm durch die Schlafmittel egal gewesen. Jetzt tauchte er wie ein Schwimmer in einem See an die Wasseroberfläche und konnte sich auf einmal wieder erinnern. Gleichzeitig begann ihn der Tubus in seinem Hals zu stören und er kannte sich momentan nicht aus. Moment er war doch operiert worden, aber warum war dann Semir da? Und was war noch gleich der Grund für die OP gewesen? Oh Gott-seine Beine, er konnte seine Beine nicht spüren-oder vielleicht doch? Allerdings war jetzt seine Wahrnehmung durch den kratzenden Tubus eingeschränkt, er wollte etwas sagen, er bewegte die Lippen, aber das ging nicht und jetzt wollte er nach oben fassen und sich den Fremdkörper einfach heraus reißen. Semir´s Gesicht erschien über ihm und der sagte: „Ben, bleib ganz ruhig-gleich kommt der Arzt und dann bist du den Schlauch los!“ und zugleich drückte er tröstlich seine angebundene Hand. Ein fremdes Männergesicht erschien jetzt über ihm und eine Stimme fragte: „Herr Jäger-können sie mich verstehen?“ und Ben kämpfte die aufsteigende Panik nieder und nickte. „Machen sie bitte den Mund auf-ich sauge den Speichel ab, wie beim Zahnarzt!“ sagte dann der Mann, den Ben nun als Arzt identifizierte und er folgte dessen Aufforderung. Als die Mundhöhle sauber war, wurde er noch ein letztes Mal endotracheal abgesaugt, was bei vollem Bewusstsein sehr unangenehm war, aber dann machte man an seinem Gesicht herum, löste die Tubusfixierungen, entblockte den Schlauch und schon war der draußen, was Ben mit einigen kräftigen Hustenstößen, die schmerzhaft in seinen Rücken fuhren, quittierte. „Schon gut Herr Jäger-jetzt haben sie es geschafft!“ sagte nun eine weibliche Stimme, während sie erst sein Gesicht mit einem kühlen feuchten Lappen abwischte und dann eine Sauerstoffmaske locker darauf befestigte, um ihm das Atmen zu erleichtern, denn der bronchopulmonale Infekt war ja noch nicht besser geworden, allerdings eben auch nicht so schlimm, dass man ihn deswegen beatmen musste. Normalerweise hätte man jetzt das Bettkopfteil höher gestellt und den Beatmungsschlauch vielleicht auch ein wenig früher heraus gezogen, bevor der Patient ihn als dermaßen unangenehm wahr nahm, aber bei Wirbelsäulenpatienten war das leider nicht möglich, denn die mussten flach auf dem Rücken bleiben. Ben sog gierig die Luft ein und für einen Moment war seine Aufmerksamkeit jetzt von anderen Dingen als seinem Unterkörper in Anspruch genommen und er schloss nach dieser Tortur kurz die Augen, aber dann öffnete er sie wieder, fixierte Semir und sagte tonlos: „Ich spüre meine Beine immer noch nicht, aber mein Rücken tut höllisch weh!“ und dann brach er in Tränen aus.