Sarah hatte am Abend noch mehrmals versucht, Hartmut zu erreichen und sich schließlich, als die Kinder im Bett waren, aufseufzend an Ben´s PC gesetzt und die Daten herüber gezogen. Es war ja nicht so, dass sie das nicht konnte, aber wenn man einen Mann hatte, der sowas gerne machte und dann noch ein Computergenie im Bekanntenkreis hatte, der das mit links erledigte, tendierte man dazu, solche Aufgaben abzugeben. Sie hatte mit den Kids und dem Haus auch normalerweise genügend zu tun. Der Verkäufer hatte ihr auch versprochen, dass die Ersatz-SIM-Karte per Express noch am nächsten Vormittag geliefert werden würde und Ben war so schlau gewesen, ihr eine Vollmacht mit zu geben und für Rückfragen die Telefonnummer der Autobahnpolizei anzugeben-ein Anruf des Telefonnetzbetreibers bei der Chefin hatte genügt und die neue Karte mit Ben´s alter Nummer machte sich auf den Weg. Es war kurz nach Mitternacht als Sarah sich endlich zur Ruhe begab und auch sofort einschlief.
Hartmut und Semir keuchten zwar alle beide noch ziemlich herum, aber mit Inhalieren und bronchienerweiternden Sprays wurde es immer besser, Hartmut hatte zwar Ganzkörperschmerzen und auch Semir war nach der Explosion ganz schön hart aufgeschlagen, aber sie waren beide froh, am Leben zu sein und wurden am nächsten Morgen auch planmäßig entlassen. Semir hatte Andrea am Telefon beruhigen können und hatte sie zur Arbeit geschickt-sie würden von Jenni abgeholt werden, nur hatten beide nicht vor, sofort nach Hause zu gehen, sondern sie wollten an ihre Arbeitsstellen-Hartmut in die KTU und auch Semir in sein Büro, um heraus zu finden, wer das Attentat auf Hartmut verübt hatte. Andrea hatte Semir noch davon berichten wollen, dass nun Lilly schon zweimal von einem fremden Mann nach ihm gefragt worden war, der immer dann, wenn Andrea mit ihm sprechen wollte, verschwunden gewesen war, aber dann vergaß sie es, auch vor Erleichterung, weil es ihrem Mann wieder gut ging.
Hartmuts Telefon hatte neben ihm auf dem Beifahrersitz gelegen und war bei der Explosion zerstört worden und Semir hatte seines ebenfalls im Wagen gehabt, wo es auch noch lag, als man endlich die Unfallstelle geräumt hatte, den BMW in die PASt fuhr und dort auf dem Parkplatz abstellte. Der Akku war fast leer und Semir hatte zwar mit einem Blick eine Menge Anrufe darauf gesehen, aber da konnte er sich momentan nicht drum kümmern-jetzt gab es Wichtigeres zu erledigen! Ein wenig keuchte er zwar noch vor sich hin, aber dann fuhr er den PC hoch und ging die Fälle der letzten Zeit durch, wo Hartmut involviert gewesen und sein Name auch genannt worden war, um irgendwelche Übeltäter zu überführen. Nachdem die das meistens erst bei der Gerichtsverhandlung erfuhren, wenn Hartmut über seine Erkenntnisse berichtete und so mit seinen Beweisen und logischen Schlussfolgerungen die Verurteilung wasserdicht machte, ging Semir weiter und weiter zurück und sah auch die Listen der kürzlich aus der Haft entlassenen Verbrecher durch. Nur eine Verbindung nach Nordschwaben stellte er nicht her-dazu war ja auch noch nichts Wesentliches auf seinem PC!
Ben hatte in den Fängen des sedierendes Medikaments vor sich hin geschlafen. In der Nacht war er nochmals kurz wach geworden und hatte dringend verlangt, seinen Freund anrufen zu dürfen-er musste einfach wissen, was mit dem und Hartmut war, aber die Nachtschwester hatte das verweigert und ihm eine weitere Beruhigungsspritze verabreicht. Was fiel ihrem Patienten denn ein? Anscheinend war der doch noch ein wenig durcheinander-man konnte doch nicht mitten in der Nacht alle möglichen Leute aus dem Bett hauen! Aber er war kreislaufstabil, das Kathetern hatte die Schwester für ihn übernommen und er hatte es in seinem Dämmerschlaf kaum mitgekriegt. Am frühen Morgen roch es auch unangenehm im Zimmer und so hatte man Ben, der davon überhaupt nichts mit bekommen hatte, sauber gemacht und er war erst kurz nach sieben wieder völlig zu sich gekommen. Er hatte zwar noch einen Kopf auf, als wenn er drei Tage durch gesoffen hätte, aber immerhin war er wieder klar und als er nun der Frühdienstschwester, die zum Waschen kam, erklärte, warum er sich gestern so aufgeregt hatte und dass er befürchtete, dass ein guter Freund bei dem schrecklichen Unfall gestern in Köln ums Leben gekommen und dass sein Partner auch nicht erreichbar gewesen war und er deswegen in furchtbarer Sorge lebte, nahm die seine Befürchtungen ernst und ließ ihn vom Stationstelefon aus erneut Semir anrufen-allerdings weiterhin erfolglos. Bei den Gerkhans zuhause ging auch nur der Anrufbeantworter ran-Ben hatte unglücklicherweise Andrea knapp verpasst, die kurz zuvor das Haus verlassen hatte und dann brauchte man das Telefon und Ben bekam erst einmal Frühstück, denn die Reha würde pünktlich weiter gehen, außer der Arzt schrieb ihn krank.
Ben kam sich ziemlich verlassen vor, aber dann beschloss er, seinen ersten Physiotermin mit aller Kraft wahr zu nehmen-er konnte, was auch immer geschehen war, seinen Freunden nur helfen, wenn er wieder fit war und danach hatte er eine Pause von einer Stunde bis zur nächsten Anwendung, da würde er-von welchem Telefon aus auch immer-in der PASt anrufen und sich diesmal nicht von Susanne abwimmeln lassen, denn inzwischen war er überzeugt, dass die ihm etwas verheimlicht hatte, um ihn nicht aufzuregen. Mit etwas Abstand konnte er das auch verstehen-man hatte ja gesehen, wie er auf die Erkenntnis reagiert hatte, die er aus den vorliegenden Informationen gezogen hatte-das war weder professionell noch sonst etwas gewesen, sondern die pure Panik und die Angst um seine Freunde hatte ihn austicken lassen. Wenn etwas geschehen war, konnte er es sowieso nicht ändern und so turnte er mit aller Kraft unter Anleitung in seinem Bett und heute konnte er sich schon viel länger ohne Schwindelattacke aufrecht halten.
Nach der Sporteinheit verlangte er-nun wieder halbwegs ruhig- das Stationstelefon, das ihm auch gleich gebracht wurde und als er nun die Nummer der PASt wählte und Susanne ran ging, ließ er sie erst gar nicht zu Wort kommen. „Susanne-ich weiß, dass gestern ein schlimmer Unfall passiert ist und du mich nur schützen wolltest, aber die Ungewissheit ist furchtbarer als alles andere!“, sprudelte er hervor. „Bitte sag mir jetzt und gleich, was mit Hartmut und Semir passiert ist-ich kann es ertragen, egal, was du mir jetzt mitteilst!“, aber statt ihm eine Erklärung zu geben, knackte es in der Leitung und als Ben nun Semir´s vertraute Stimme hörte, die sich ein wenig rau mit „Gerkhan!“, meldete, schossen ihm vor Erleichterung die Tränen der Freude aus den Augen-so viel zum Thema, was er gerade alles aushalten konnte.
„Semir-wie geht es dir und was ist mit Hartmut und warum konnte ich dich seit gestern nicht erreichen?“, wollte er auch sofort wissen und Semir bekam erst in diesem Augenblick ein schlechtes Gewissen. Er hatte zwar schon kurz daran gedacht, Ben Bescheid zu geben, war aber dann der Überzeugung gewesen, dass der von dem Unfall ja überhaupt nichts mitgekriegt hatte und man ihn deshalb auch nicht unnötig beunruhigen musste. Jetzt verheimlichte er aber nichts mehr, sondern teilte seinem Freund einfach der Reihe nach mit, was gestern geschehen war und dass Hartmut zwar verprellt und hustend, aber ansonsten weitgehend unversehrt, in der KTU hockte und voller Kummer die Überreste seiner Lucy untersuchte.
„Ben-ich komme dich heute Abend besuchen-wann ist es denn vom Zeitlichen gesehen günstig?“ fragte er nun und Ben teilte ihm nach einem Blick auf den Rehaplan den Zeitpunkt mit, wann er mit allen Anwendungen fertig war. „Und Semir!“, fügte er noch hinzu. „Hier gibt es abends immer nur kaltes Abendbrot. Kannst du mir, wenn du eh in diese Richtung fährst, bitte eine Currywurst mit Pommes von unserem Lieblingsimbiss mitbringen?“, bat er und Semir versprach schmunzelnd, das zu tun. Das war wieder sein alter Ben und ab jetzt würde der überall wieder mit einbezogen werden-in drückte ordentlich das schlechte Gewissen, dass er ihn hatte außen vor halten wollen.
Bei Ben wurden danach die Fäden am Rücken gezogen, was aber nur ein wenig zwickte, er lauschte danach einem Vortrag, wo Markus heilfroh war, ihn wieder munter zu sehen und ließ dann erneut die manuelle Therapie über sich ergehen. Heute tat es schon nicht mehr ganz so schlimm weh wie gestern-anscheinend war die Sedierung gar nicht so schlecht gewesen, weil sich da auch die Muskulatur entspannt hatte.
Eine Ergotherapeutin bearbeitete nach dem überaus gesunden Mittagessen seine Beine, folgte mit ihren Griffen und Hilfsmitteln den Nervenbahnen und heute war das Gefühl schon wieder ein Stück weiter nach unten gewandert. „Herr Jäger, das wird!“, freute sie sich mit ihm und mit neuer Motivation legte sich Ben ins Zeug. Nach weiteren zwei Therapien-diesmal in der Gruppe, wozu nur er und der beatmete Patient im Bett gebracht wurden, war sein Tagesprogramm endlich beendet und Ben hätte sich jetzt nach einer Dusche gesehnt. Er würde nachher Sarah bitten, ihm beim Frischmachen ein wenig zu helfen, aber es war schon wohltuend, seine eigenen Sportklamotten zu tragen. Das Aufrichten klappte nun auch schon viel länger und als dann erst Sarah mit den Kids und seinem neuen Handy und kurz darauf Semir mit der Currywurst eintrafen, hatte Ben endlich wieder das Gefühl zu leben!