Semir und Hartmut waren inzwischen bei den beiden geparkten Fahrzeugen angekommen. Die Kollegen der Streife waren derweil zu einem Verkehrsunfall in der Nähe abgerufen worden. Sie hatten ja mit der Meldung der beiden Autos ihren Auftrag erfüllt und waren in keine weiteren Einzelheiten eingeweiht. Der Besatzung des Streifenwagens, die ihre Gegend kannte wie ihre Westentasche, waren sofort die beiden teuren Wagen aufgefallen-sowas stand normalerweise hier nicht einfach so in der Gegend rum und wenn ja, konnte man darauf warten, dass die aufgebrochen, oder zumindest Reifen und Felgen geklaut wurden. Semir parkte seinen BMW direkt dahinter, Hartmut und er warfen beide mithilfe einer Taschenlampe einen Blick hinein, aber außer dass Ben´s Handy in der Mittelkonsole lag, konnten sie keine weiteren Hinweise erkennen.
Nun musterte Semir die Häuser rund herum. Einige schienen unbewohnt, zerbrochene Fensterscheiben und vernagelte Türöffnungen zeugten davon, aber in anderen schienen durchaus Menschen zu wohnen, auch wenn das hier eine deprimierende Wohngegend war. Insgesamt überwogen aber Werkstätten, Gewerbebetriebe, die nicht sonderlich gut zu laufen schienen und eben die alten Fabriken, von denen Hartmut am Herweg erzählt hatte. „Hartmut, weisst du was-wir laufen hier jetzt einfach ein wenig herum und schauen, ob uns etwas auffällt. Wenn wir nichts finden, dann werden wir am Morgen mit einer Truppe anrücken und die Wohnungen kontrollieren und die Anwohner befragen-irgendwo müssen Sarah, Ben und Felix ja stecken, aber was Besseres fällt mir gerade auch nicht ein!“, teilte er seinem Kollegen mit und der nickte. Zunächst gingen sie die Straße vor-und dann wieder zurück, dann bogen sie in die dunkle Seitenstraße ein und liefen da ein Stück weit vor. Plötzlich bückte sich Hartmut, der ein wenig voraus gegangen war, zückte sein Handy und schaltete dessen Taschenlampenfunktion ein. „Semir-da ist Blut, das man versucht hat mit einem Ölbindemittel zu entfernen-und das ist eine ganze Menge, so wie das aussieht!“, vermeldete er aufgeregt und jetzt rutschte Semir das Herz in die Hose. Um Himmels Willen, hier war mit Sicherheit kein Wildunfall passiert, also war es wahrscheinlich menschliches Blut-hoffentlich nicht von Ben! „Das ist aber schon ein paar Stunden alt-ich schätze der Fleck ist so am späten Nachmittag entstanden!“, fuhr Hartmut nun fort und jetzt war Semir irgendwie doch erleichtert-von Ben konnte es also nicht stammen, allerdings blieben dann immer noch Sarah und Felix! Als Semir seine Blicke nun schweifen ließ, entdeckte er sofort im Licht des Mondes, der gerade hinter einer Wolke hervor kam, die abgebröselte Mauer mit dem Pfeiler und ein Stück weiter vorne konnte man deutlich sehen, dass da jemand hinaufgestiegen war, denn am Boden hatte sich eine ganze Menge kleines Geröll gesammelt, das anscheinend lose gewesen war.
Mit ein paar Sätzen war er oben und spähte in den Innenhof der stillgelegten Fabrik. Sofort sah er ein geparktes Auto-eine Limousine-und gerade als er überlegte, ob er jetzt in den Innenhof springen und sich die näher ansehen sollte, kam plötzlich ein Mann aus dem Inneren des Gebäudes und eilte zum Tor, das er mit einem altertümlichen Schlüssel aufsperrte und sich dann anschickte, ins Auto einzusteigen. In der Dunkelheit konnte Semir das Gesicht nicht erkennen, aber er sah, dass das ein wuchtiger Muskelprotz war. Er entsicherte seine Waffe, warf einen Blick zu Hartmut unter ihm und legte einen Finger an seine Lippen, dass sich der ruhig verhalten sollte und der Rothaarige drückte sich jetzt eng an die Wand, um nicht sofort entdeckt zu werden. Der Fahrer startete jetzt den Wagen, fuhr durch das Tor auf die Straße und ließ den Motor laufen. Semir hatte richtig kombiniert-er stieg wieder aus, vermutlich um das Tor zu schließen, aber dann ging er stattdessen nochmals zurück Richtung Keller und trug etwas in der Hand. Im Licht der Scheinwerfer hatte Semir nun auch das Gesicht des Mannes erkennen können-es war der Türsteher aus dem Club, den er heute Abend unfreiwillig verlassen hatte. Jetzt war klar, dass der etwas mit der Sache zu tun hatte und die Vermissten vermutlich hier irgendwo in der Nähe waren. „Hartmut-ich schnapp mir den Fahrer-geh du zum Wagen und zieh den Schlüssel ab!“, flüsterte er und der Kriminaltechniker nickte.
Indessen kam der Mann rückwärts wieder die paar Stufen herauf, die anscheinend in einen alten Keller führten und rollte dabei etwas ab. Er hatte einen stabilen Kunststofffaden gespannt und bewegte sich jetzt langsam und vorsichtig Richtung Straße, immer darauf achtend, dass der Faden locker durchhing. Dann ging plötzlich der Motor des Wagens aus und im selben Moment sprang Semir von der Mauerkrone in den Innenhof. „Polizei, Hände hoch und keine falsche Bewegung!“ zischte er und im selben Augenblick roch er etwas, was ihn mit Entsetzen erfüllte. Hartmut hatte ebenfalls durch das offene Tor den Innenhof betreten und im gleichen Moment als Semir den Türsteher ansprach, rief er: „Semir-nicht schießen-hier strömt irgendwo Gas aus!“, und nun nutzte der Türsteher die Gelegenheit. Kurz hatte er überlegt, ob er sofort die Explosion auslösen sollte, sich aber dann im selben Moment dagegen entschieden. Er war noch nicht weit genug weg und wollte schließlich nicht selber mit drauf gehen. Drum schmiss er die Fadenrolle zu Boden und rannte dann, was das Zeug hielt, Richtung Tor. Er hatte den kleinen Mann ebenfalls erkannt-verdammt, der war ein Bulle, kein Glücksspieler, da hatte der Boss mal wieder den richtigen Riecher gehabt! Aber er vertraute darauf, dass der nicht lebensmüde war, deswegen nicht schießen würde und körperlich war er ihm bei weitem überlegen. Wenn da draußen keine Verstärkung war, würde er spielend mit den beiden Typen fertig werden, der andere sah eh nicht sonderlich gefährlich aus, vermutlich irgend so ein Sesselfurzer und immerhin hatte er ja auch noch sein Messer und wusste das einzusetzen!
Semir setzte dem Türsteher nach und sprang ihn mit Wucht an, so dass der strauchelte und zu Boden fiel. Binnen Kurzem waren die beiden in einen harten Kampf verwickelt und rollten sich keuchend über den Boden. Hartmut hatte derweil seelenruhig sein Handy gezückt und Susanne angerufen, anstatt ihm zu helfen. Semir war regelrecht empört deswegen-ließ der ihn alleine die Drecksarbeit machen und telefonierte derweil in der Gegend herum! Allerdings hatte er nun ein paar gezielte Schläge angebracht und sein Gegner war anscheinend einen kleinen Moment benommen. Semir lockerte seinen Griff und das nutzte der Türsteher, der damit gerechnet hatte und zückte sein Messer.
Im Keller war derweil plötzlich das Licht ausgegangen. Die fünf Menschen saßen im Stockfinsteren und immer noch zischte draußen das Gas und kroch mit seinem markanten Geruch durch den Türspalt der schlecht schließenden Holztür. „Das wars dann wohl!“, flüsterte Natascha und begann zu weinen. Sie war erst neunzehn, sie wollte noch nicht sterben und auch die beiden Damen in der Ecke auf den Matratzen begannen nun angstvoll vor sich hin zu jammern. Sarah drückte immer noch das Gefäß in Ben´s Bauch ab und überlegte, ob es nicht gnädiger war, das jetzt los zu lassen, vielleicht war Verbluten ein schönerer Tod, als bei einer Gasexplosion in Stücke gerissen zu werden. Ben war immer noch bei Bewusstsein. Unendlich müde sagte er: „Jetzt werden unsere Kinder Waisen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Sarah-ich liebe dich und habe dich immer geliebt, seitdem wir uns kennen gelernt haben. Und glaub mir-ich bin nicht fremd gegangen, auch wenn es für dich den Anschein gehabt hat, aber ich kann dir verzeihen, wenn du etwas mit Felix hattest-wir wollen jetzt nicht voller schlechter Gefühle sterben!“, flüsterte er und dann erstarb seine Stimme. „Ich hatte nichts mit Felix und du bist ebenfalls die Liebe meines Lebens!“, presste nun Sarah hervor, die einen Moment furchtbar geschockt war, dass Ben ihr ein Verhältnis mit Felix zugetraut hatte. Aber das war jetzt so furchtbar egal, im Angesicht des Todes und langsam tropften nun ihre Tränen auf den geliebten Mann vor ihr.
Sarah´s Gedanken schweiften zu ihren Kindern. Wer würde die nehmen und aufziehen? Von Hildegard war das nicht zu verlangen-vielleicht ihre Eltern? Die könnten ihren Beruf aufgeben, weil sie die letzten Beitragsjahre bis zu ihrer Rente dann nicht mehr brauchten-es war genug Geld da, dass die sich damit freiwillig versichern konnten, aber dann schob sie die Gedanken von sich. Sie konnte das jetzt eh nicht mehr bestimmen und sie hatten leider versäumt, für solche Eventualitäten vorzusorgen-wer dachte denn auch daran, dass sie beide sterben könnten? Gut Ben hatte ein detailliertes Testament beim Notar gemacht, das sie und die Kinder unabhängig machte-aber eben nur für seinen Tod geplant, weil er einfach einen gefährlichen Beruf hatte. Hoffentlich würde Konrad nicht das Sorgerecht für seine Enkel beanspruchen und die dann wie Ben und Julia von wechselnden Nannys betreuen lassen, dann von Nobelinternat zu Nobelinternat schicken, aber das Wesentliche versäumen-die Liebe, das Lachen, die Nähe, Geborgenheit und Wärme, die jeder Mensch, ob alt oder jung so dringend brauchte. Allerdings konnte sich der natürlich die besten Anwälte leisten und hatte deshalb bessere Karten als ihre Verwandtschaft!
„Ob sich Tim und Mia-Sophie später noch an uns erinnern werden?“, flüsterte nun Ben, dem anscheinend gerade dieselben Gedanken durch den Kopf gingen. „Ich weiß es nicht!“, antwortete Sarah und ihr war bewusst-ihre Tochter war noch viel zu klein und Tim würde sie vermutlich nur anfangs vermissen, aber sich dann in sein neues Leben fügen, das sie doch so dringend begleiten wollte, bis er alt genug war, um selber und aus freien Stücken das Haus zu verlassen. Sarah hatte unbewusst ihre Lage ein klein wenig verändert und Ben stöhnte nun schmerzvoll auf. Oh je-sie hatte fast verdrängt, dass der die ganze Zeit schreckliche Schmerzen aushielt, vielleicht war es gut für ihn, wenn sein Leiden bald ein Ende hatte. Ben suchte nun mit seiner ihre freie Hand und sie hielten sich voller Liebe aneinander fest und warteten auf das Ende.